DAS GEHEIMNIS - Martina I. E. Feldmann - E-Book

DAS GEHEIMNIS E-Book

Martina I. E. Feldmann

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Beschreibung

Tobi Lau, der zehnjährige Sohn des Landtierarztes Kurt Lau, ist der beste Freund von Alice Kern. Durch einen Zufall erfährt der Junge, dass der Vater seiner Freundin ein dunkles Geheimnis hat. Welches Geheimnis hütet Dr. Kern? Welche Rolle spielt dabei Kasper, der Hund? Eines Abends finden Alice und ihr Vater vor ihrer Blockhütte im Wald einen kleinen verletzten Hund. Früh am nächsten Morgen kommt Tobis Vater. Der Tierarzt will die jährlichen Impfungen bei den Tieren der Kerns durchführen. Er kümmert sich dabei auch um den verletzten Hund in der Blockhütte. Nach der Untersuchung benehmen sich Dr. Kern und Kurt Lau sehr eigenartig gegenüber Alice. Das Mädchen kann sich deren Verhalten nicht erklären und bittet ihren besten Freund um Hilfe. Bei einem Besuch in der Kunstgalerie seiner Mutter macht Tobi eine interessante Entdeckung. Bald sind die Kinder in ein spannendes Abenteuer verstrickt. Hilfreich steht ihnen dabei ihr großer Freund Julius Kramer, der berühmte Krimischriftsteller zur Seite

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Martina I. E. Feldmann

DAS GEHEIMNIS

Inhaltsverzeichnis

1. Flucht durch den Sturm

2. Der Landtierarzt

3. Ein unerwarteter Besuch

4. Einladung zum Skatclub

5. Die Suche nach der heißen Spur

6. Rätselhafte Gemälde und stille Gedanken

7. Die zwei Brüder

8. Der Flug nach New York

9. Ein Albtraum, der nicht enden will

10. Die Flucht

11. Im Chaos versunken

12. Neue Erkenntnisse

13. Was ist mit Alice los?

14. Die Diskette

15. Vater und Sohn gemeinsam

16. Das Gespräch im Restaurant

17. Julius auf Verfolgungsjagd

18. Ein Fremder in der Stadt

19. Leonard unter Verdacht

20. Anschlag auf Alice und Tobi

21. Lagebesprechung

22. Festnahme in der Klinik

23. Senora Caldo

24. Das Dunkel lichtet sich

25. Eine Aufregung nach der anderen

26. Eine Überraschung

27. Der Flugzeughangar

28. Wohin führen die Beweise?

29. Sylvia Lau, der Putzteufel

30. Lucia und ihre Grossmutter

31. Das geheimnisvolle Fax

32. Der Unfall

33. Der Einsatz

34. Eine neue Zukunft

Impressum

1. Flucht durch den Sturm

Wie von Furien getrieben rennt es durch die Nacht. Zweige, die tief hängen, peitschen das Gesicht. Die Tiere des Waldes schauen der fliehenden Gestalt nach. Eine Eule fliegt über es hinweg und lässt ihren Schrei hören. Voller Panik rennt das Wesen weiter. Weg, nur weg, allein dieser Gedanke treibt es immer tiefer in den Wald hinein.

„Papa, reich mir doch bitte mal die Butter!“ Alice ist gerade dabei, sich ein Wurstbrot fertigzumachen. Voller Behagen blickt sie über den gemütlich gedeckten Abendtisch mit dem wildwachsenden Strauß Waldblumen, den sie heute Morgen zusammen mit ihrem Vater gepflückt hat. „Papa!“ Alices Vater schreckt aus seinen Gedanken hoch. „Was ist, Kind?“ „Die Butter, Papa!“ Der Vater, ein großer sehr starker Mann, schaut das kleine Mädchen liebevoll an und gibt seinem Kind die Butterdose. „Wie das wieder stürmt, Kind, und der Regen dazu. Genauso wie damals, als deine Mutter…….“ „Als Mama? Bitte Papa, rede weiter!“ Dr. Kern, ihr Vater, macht eine Handbewegung über die Augen, als wolle er dort etwas Unangenehmes wegwischen. „Nichts, Alice, nichts ist mit Mutti!“ Alice sieht den Vater nachdenklich an. Warum ist Papa bloß bei Unwetter immer so komisch?

„Alice, hast du das gehört?“ Der Vater schaut sie fragend an. „Was, Papa?“ „Ich meine, etwas gehört zu haben. Aber vielleicht waren es nur die Zweige am Fenster.“ „Nein, Papa. Das sind nicht die Zweige, da ist irgendetwas draußen.“ Alice springt vom Stuhl auf und läuft zur Tür. Aber Dr. Kern, ihr Vater, ist schneller. Nachdem er die Haustür geöffnet hat, treibt der Wind Blätter, kleine Zweige und Regentropfen in die Stube. „Hallo, hallo, ist da jemand? Hallo, antworten Sie doch!“ Stille, nur der Sturm ist weiter zu hören. Alices Vater will schon wieder die Tür verriegeln, als seine Tochter ihn am Arm festhält. „Horch!“ Beide schauen angestrengt hinaus. Ein schwaches Winseln ist zu hören. Dr. Kern nimmt eine Taschenlampe vom Regal und zieht den Regenumhang an, der am Garderobenhaken hängt. „Du bleibst da!“ Streng blickt der Mann das kleine Mädchen an, als diese ebenfalls Anstalten macht sich anzuziehen. „Bitte, Vati.“ „Nein, Kind! Der Wind ist zu stark. Ich gehe allein!“ Nach diesen Worten tritt der große Mann auf die Veranda, knipst die Lampe an, und geht langsamen Schrittes Richtung Wald. Plötzlich bleibt er stehen. Vor ihm liegt ein kleines, weißes, blutverschmiertes Bündel. „Du armes Tier. Was ist bloß mit dir geschehen?“ Zärtlich streicht der Mann mit seiner Hand über den kleinen Kopf. Das Tier schaut ihn aus seinen großen dunklen Augen flehend an. Eine kleine Zunge leckt über die Hand von Dr. Kern. „Hilf mir, hilf mir!“ sagen diese Augen. Vorsichtig hebt der große Mann das Tier vom Waldboden auf und trägt es zum Haus. „Was hast du da, Papa?“ „Einen kleinen Hund, Alice. Er ist verletzt.“ „Oh!“ Alice schaut das zitternde kleine Bündel auf dem Arm ihres Vaters voller Mitgefühl an. Das arme Tier! „Lege bitte ein paar Decken vor den Kamin! Der Hund muss es warm haben.“ Nachdem das Tier vor dem Kamin liegt und Alice versucht hat, ihm etwas Wasser einzuflößen, geht Dr. Kern ins Badezimmer. Wenig später kniet er vor dem Hund. „Kind, wir müssen seine Wunden reinigen.“ Vorsichtig betupft er die verletzten Stellen und streut zum Schluss noch Wundpuder drüber. „So, mehr können wir im Augenblick nicht tun. Aber morgen kommt ja Onkel Kurt, unser Landtierarzt, um die jährliche Impfung bei unseren Tieren durchzuführen. Er wird den kleinen Hund untersuchen.“ Alice streicht vorsichtig mit ihrer kleinen Hand über das weiche Fell des Hundes. Mit der anderen versucht sie ein Gähnen zu unterdrücken. Sie will jetzt auf keinen Fall ins Bett. Aber dem Vater ist es nicht entgangen, wie müde das Kind auf einmal ist. „Komm, meine Süße, huckepack ins Bett!“ Spruchs und setzt das Mädchen auf seine starken Schultern.

2. Der Landtierarzt

Früh am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, hält der alte Landrover des Landtierarztes vor dem Blockhaus, in dem Alice und ihr Vater wohnen. Dr. Kern, der es liebt, den Sonnenaufgang auf der Veranda sitzend zu beobachten, erhebt sich und geht dem Freund entgegen, um ihn zu begrüßen. „Morgen, mein Lieber, du bist ja schon sehr früh hier. Kaffee?“ „Gute Idee, Ernst. Ich bin seit heute Nacht unterwegs. Eine Schafepidemie ist ausgebrochen. Bis jetzt war ich dabei, die kranken Tiere zu versorgen. Ein starker Kaffee kommt mir da wie gerufen, und zu einem deftigen Imbiss sage ich auch nicht nein.“ Die beiden Männer setzen sich an den Tisch. Während der Doktor dem Tierarzt Kaffee einschenkt und ihm den Korb mit den warmen Semmeln hinschiebt, holt dieser eine alte abgebissene Pfeife hervor und kaut darauf herum. Der etwas dickliche Tierarzt versucht schon seit längerem, sich das Rauchen abzugewöhnen. Das Kauen auf dem Pfeifenkopf gibt ihm das Gefühl, er würde noch rauchen. Seine Frau Sylvia hofft, dass das lästige Kauen auch bald aufhören wird. Verständlich, wenn Kurt Lau bedenkt, dass er selbst im Ehebett die Pfeife im Mund behält. Aber das ist ja nicht das Schlimmste, was seiner Frau am meisten nervt. Es sind die Kekskrümel im Bett. Kurz vor dem Schlafengehen genehmigt sich der Landtierarzt noch ein paar Schokokekse. Kurt Lau leidet seltsamerweise unter der Angst, er könne verhungern. „Na, dann wollen wir mal gleich nach euren Tieren sehen. Deswegen bin ich ja hergekommen.“ „Du kommst auch tatsächlich wie gerufen, Kurt. Gestern Abend haben Alice und ich einen kleinen verletzten Hund am Waldrand gefunden. Könntest du ihn dir bitte mal ansehen?“ „Kein Problem! Wenn wir mit den Impfungen fertig sind, sehe ich mir das Tier im Haus an. Ihr habt es doch in der Stube liegen?“ „Sicher, Kurt! Es schien mir für den Hund das Beste zu sein.“ Während die beiden Männer nach dem Frühstück an die Arbeit gehen, liegt Alice noch tief schlafend in ihrem weichen Federbett. Im Gegensatz zu ihrem Vater, liebt sie es, lange zu schlafen. Auch der kleine Hund liegt noch friedlich schlummernd vor dem Kamin. Er muss wirklich sehr erschöpft gewesen sein. Zwei Stunden später betreten die beiden Männer die Stube. Herr Lau beugt sich über das inzwischen erwachte Tier und untersucht es gründlich.

Oben auf der Treppe erscheint Alice. „Morgen, Papa, morgen, Onkel Kurt!“ „Na, ausgeschlafen, Kleines? Komm runter, iss dein Frühstück!“ Dr. Kern zeigt nach draußen auf die Veranda, wo noch das Gedeck für seine Tochter und eine Kanne mit Kakao steht. Der Tierarzt nickt dem Mädchen nur kurz zu, da er mit der Untersuchung beschäftigt ist. Aber Alice hat keine Lust auf Frühstück. Lieber will sie wissen, was mit dem kleinen Hund ist und kniet neben Onkel Kurt, dem Freund des Vaters, nieder. „Ist es schlimm?“ „Nein, Alice. Die Wunden werden heilen. Aber das Tierchen hat nicht nur diese Wunden, sondern auch ältere. Jemand muss das Kleine ständig misshandelt haben. Armes Tier!“ „Können wir es behalten?“ „Vorerst ja, es braucht Pflege und muss wieder aufgepäppelt werden. Man sieht ja direkt die Rippen unter dem Fell. So wie es aussieht, hat man es kaum gefüttert.

Herr Lau streicht dem Hund über das Fell und besieht sich dann die Ohren des Tieres. Plötzlich stutzt er und beugt sich tiefer. Seine Gesichtsfarbe, ein gesundes Braun, verfärbt sich. Er wird auffallend blass. Dr. Kern, der seinen Freund genau kennt, spürt, dass etwas nicht stimmt. „Alice, Kind. Sei doch bitte so lieb, ich habe meinen Rezeptblock im Auto vergessen. Holst du ihn mir bitte“ Alice erhebt sich und verlässt das Blockhaus. Als die Männer allein sind, winkt der Landtierarzt seinen Freund zu sich. „Sieh mal hier, hier hinter dem rechten Ohr. Wo hast du das schon mal gesehen?“ Alices Vater wird ebenfalls blass, nachdem er der Aufforderung des Freundes gefolgt ist. „Das, das kann nicht sein. Das ist nicht möglich. Nein, nein, nach all den Jahren.“ Stammelnd erhebt sich Dr. Ernst Kern. Blass und an allen Gliedern zitternd blickt er auf seinen knienden Freund. „Ist dir denn nicht aufgefallen, wie ähnlich das Tier ihr sieht? Die gleichen Merkmale, das gleiche Zeichen hinter dem rechten Ohr. Und Alice hat auch nichts bemerkt?“ Kurt Lau erhebt sich aus der hockenden Haltung und blickt seinen Freund an. „Nein, sie darf es auch nicht merken. Nicht auszudenken, wenn es ihr auffallen sollte.“ Nachdenklich zieht Kurt Lau an seiner Pfeife und sieht den Freund dabei an. Die beiden Männer kennen sich schon aus Kindertagen. Sie verbindet eine tiefe, innige Freundschaft. „Vielleicht hast du recht. Aber irgendwann muss die Wahrheit ans Licht. Du kannst dich nicht immer verstecken. Und vielleicht kehrt bei deiner Tochter eines Tages die Erinnerung zurück. Was dann?“ „Ich weiß nicht.“ Hilflos hebt Alices Vater die Schultern und erkundigt sich bei seinem Freund: „Bist du schon weiter mit deinen Nachforschungen gekommen?“ „Nein, alle Spuren verlaufen im Sand. Aber jetzt haben wir eine Fährte.“ Kurt Lau zeigt auf den kleinen Hund. „Dies ist eindeutig Merles Sohn, die damals, als deine Frau Margret ums Leben kam, ebenfalls starb. Wir müssen nur herausbekommen, woher das Tier gekommen ist und dann…“

„He, Onkel Kurt! Dein Block lag nicht im Auto, sondern auf dem Verandatisch neben deiner Kaffeetasse.“ „Ach ja, dein alter Onkel wird vergesslich. Gib mal her, Kind. Ich schreibe einige Sachen für das Tier auf!“ „Wie alt kann das Tier sein, Onkel Kurt?“ Alice kniet nieder und krault dem Tier das Fell. „Ich schätze den Kleinen hier auf ca. vier Jahre!“ Der Tierarzt reißt einen Zettel vom Rezeptblock und reicht diesen Dr. Kern. „Onkel Kurt, kann Tobi wieder bei uns übernachten? Papa, du hast doch auch nichts dagegen und außerdem sind Ferien.“ Alice legt den Kopf schief und blickt die Männer bittend an. „Ich weiß nicht, Liebes. Du weißt, ich muss die Bilder fertig malen, und dazu brauche ich Ruhe!“ „Ach bitte! Tobi und ich stören dich bestimmt nicht.“ Hilflos sieht der Vater seinen Freund an. Alice scheint Gott sei Dank davon nichts zu merken. Noch immer zittert sein Körper leicht, und er ist genauso blass wie der Landtierarzt. „Weißt du, Ernst“, wendet sich Kurt Lau an Alices Vater, „ich finde, das Kind hat Recht. Tobi sitzt sowieso viel zu oft vor seinem Computer. Bei euch müsste er raus an die frische Luft. Und Alice wäre hier draußen nicht so alleine. Außerdem hättest du Zeit, du weißt schon…“ Vielsagend sieht der Tierarzt seinen Freund aus Kindertagen an. Dieser versteht sofort. „Gut, Alice. Für ein paar Tage. Am besten, du fährst jetzt mit Onkel Kurt. Dann erledigst du die Besorgungen für den Hund. Du bringst doch sicher die Kinder am späten Nachmittag, Kurt?“ „Kein Problem, ich habe sowieso hier in der Nähe zu tun. Werde dann die beiden Rabauken bei dir abladen.“ „Prima, Onkel!“ Alice rennt die Treppe hoch zu ihrem Zimmer. „Ziehe mir nur schnell meine anderen Sachen an, dann können wir los:“

Als Alice in ihrem Zimmer verschwunden ist, wendet sich Lau an den Freund. „Merkwürdig,“ sagt er, „ausgerechnet nach so vielen Jahren taucht eine der verschwundenen Welpen von Merle auf. Wie viele hatte sie eigentlich noch? Drei, nicht wahr?“ gibt er sich selbst die Antwort. Dr. Ernst Kern schaut den kleinen Hund gedankenvoll an. „Drei“, wiederholt er mechanisch. Bilder steigen vor seinem geistigen Auge auf. Bilder aus der Vergangenheit, viele Jahre zurückliegend. Jahre des Glücks, der Liebe und der Harmonie. Er glaubt, wieder das helle Lachen von Margret, seiner Frau, zu hören, das Jauchzen seines kleinen Mädchens und das fröhliche Bellen eines kleinen weißen Hundes. Und dann dieser schreckliche Tag……Das Lachen erlosch, die Augen des Kindes verdunkelten sich. Nie sprach es über das, was an jenem besagten Tag geschah. Alles blieb im Dunklen. Auch der Vater, so sehr er sich auch bemühte, konnte den Schleier nicht lüften, mit dem sich Alice seit diesem Tag umgab. Nur ahnen konnte er etwas, aber er braucht handfeste Beweise.

„Bin fertig. Wir können los!“ Alice drückt ihrem Vater einen dicken Schmatz auf die Wange und läuft zum alten Landrover. „Bis heute Nachmittag, mein Lieber!“ Der Landtierarzt setzt seinen Hut auf und geht ebenfalls zum Auto.

3. Ein unerwarteter Besuch

„Tobi, komm endlich runter! Du willst doch nicht den ganzen lieben Tag im Zimmer verbringen?“ Frau Lau, Tobis Mutter, steht mit einer Teigschüssel unten an der Treppe und lauscht nach oben, ob endlich ihr Sprössling dem mütterlichen Ruf folgen würde. Eifrig rührt sie dabei weiter den Teig um. Heute wollte sie ihren berühmten Apfelkuchen backen, den sowohl ihr Mann als auch Tobi heiß und innig liebten. Derweil sitzt Tobi oben in seinem Zimmer am Computer. Soeben ist eine E-Mail von seinem Freund, dem Krimischriftsteller, angekommen, der ein paar Straßen weiter wohnt. Sein Freund arbeitet zurzeit an einem neuen Buch. Einmal die Woche ist der Junge bei ihm zu Besuch. Dann erzählt der Krimischriftsteller Tobi von den aufregenden Reisen, die er unternommen hat, um Stoff für seine Krimis zu finden. Auf diese Weise hat der Junge auch erfahren, dass einige Bücher seines älteren Freundes auf Tatsachen beruhen. Echte Kriminalfälle also. Der junge Krimischriftsteller hat nur Namen und Daten geändert. Am interessantesten fand Tobi den Fall, der vor Jahren angeblich in Italien passierte. Dort sollte eine wunderschöne junge Frau ums Leben gekommen sein. Ihr Mann und die kleine Tochter waren seit dieser Zeit spurlos verschwunden. Die Frau war eine berühmte Künstlerin gewesen und auch deren Ehemann trug einen nicht unbedeutenden Namen. Schnell tippt der 10.jährige, etwas dickliche Junge noch eine E-Mail an den Freund. Dann geht er zur Tür, um dem mütterlichen Ruf zu folgen.

„Mm, Mutti, wie das duftet. Kriege ich gleich ein Stück?“ Tobi betritt die große, gemütlich eingerichtete Küche und greift in die auf dem Küchentisch stehende Keksdose. Mit beiden Backen kauend redet er weiter. „Ist Papa noch nicht da? Was gibt es heute Mittag zu essen?“ Frau Lau sieht ihren Sohn missbilligend an. „Nein, er ist noch nicht da. Und es gibt Erbsensuppe zu Mittag. Musst du dir den Mund immer so vollstopfen? Als ob man dir was wegnehmen will.“ „Tschuldige!“ Schnell fährt er sich mit dem Ärmel über den Mund. Mütter! Frau Lau hat heute ihr Geschäft für einen Tag verlassen. Das tut sie jede Woche. Sie weiß, dass sie sich auf ihre zwei Angestellten verlassen kann. Tobis Mutter führt in der kleinen Stadt eine bekannte Kunstgalerie. Überhaupt scheint sie ein gutes Auge für Kunstwerke zu haben. Demnächst soll eine Ausstellung mit Bildern eines berühmten Malers stattfinden, der seit Jahren als verschollen gilt. Frau Lau hatte durch ihre guten Kontakte Verbindung zu einer Galerie in den Staaten. Diese erklärte sich bereit, die alten Werke des Malers leihweise für mehrere Monate zur Verfügung zu stellen. Tobis Mutter hofft auf eine hohe Besucherzahl in der Kunstgalerie. „Hallo, hallo, ist jemand zu Hause?“ Kurt Lau tritt in die Küche. Hinter ihm erscheint Alice. „Hallo“, grüßt sie freundlich. „Grüß dich, Kind.“ Frau Lau streicht dem Mädchen über den Kopf. „Na, mein Dickerchen, dich hat wohl eher der Hunger nach Hause getrieben.“ Leicht spöttelnd wendet sich Frau Lau ihrem Ehemann zu. „Was du immer von mir denkst,“ entrüstet sich dieser. „Es war die Sehnsucht nach dir.“ Aber seine Nase straft diese Worte Lügen. Sie schnuppert eindeutig Richtung Herd. „Hei, Junge, auch schon wieder unter den Lebenden. Nicht am PC?“ Der Tierarzt gibt seinem Sohn einen väterlichen Knuff in die Seite.

„Dann geh man gleich in dein Zimmer und pack deine Reisetasche. Alice und Onkel Ernst laden dich für ein paar Tage ins Blockhaus ein. Frische Luft tut dir ganz gut; und wir beiden Alten hier können uns mal von dir erholen.“ „Ich komme mit und helfe dir, Tobi“ Hilfsbereit läuft Alice neben Tobi nach oben. Wenn man den 10.jährigen auch sonst nicht vom Computer wegbekam, mit der Aussicht auf ein paar Tage bei den Kerns konnte man ihn jederzeit ködern. Alice besaß einen Stall voller Tiere; und Onkel Ernst nahm sich immer viel Zeit für die Kinder, wenn er nicht gerade am Malen war, im Gegensatz zu seinen Eltern. Im Wald konnte man spannende Erkundungsgänge unternehmen, und der klare See, den es dort gab, lud zum Planschen ein. Eine halbe Stunde später stehen die beiden mit der gepackten Reisetasche Tobis wieder unten Inzwischen hat die Mutter eine Kuchendose mit dem leckeren Apfelkuchen gefüllt. Sie übergibt diese wohlweislich Alice. Frau Lau kennt ihre beiden Männer eben sehr genau. Der Kuchen würde niemals das Haus Dr. Kerns erreichen, wenn die beiden Perlen der Schöpfung die Kuchendose in die Hände bekämen. Alice zwinkert Tobis Mutter zu. Sie versteht nur zu gut. „Bis nachher, mein Schatz!“ Frau Lau gibt ihrem Mann einen Kuss auf den Mund. Tobi drückt sie kurz an sich, dann dreht sie sich um und verlässt die Küche. Sie hat noch einige wichtige Dinge in Haus und Garten zu erledigen.

„Na, dann kommt mal ihr beiden!“ Der Landtierarzt nimmt seine Arztkoffer und Tobis Reisetasche vom Boden auf und geht mit den Kindern zur Haustür. Nachdem sie eine Stunde gefahren sind, biegen sie in den Weg ein, an dessen Ende sich die Blockhütte befindet, in der Alice mit ihrem Vater wohnt. Zehn Minuten später halten sie vor dem Haus. Dr. Kern steht auf der Veranda und winkt den Ankömmlingen freundlich zu. „So, Kinder, dann viel Spaß. Ich muss schnell weiter, ein krankes Pony wartet auf mich.“ Tobis Vater gibt seinem Sohn die Reisetasche aus dem Kofferraum, dann steigt er auch schon wieder ein und fährt laut hupend davon.

„Komm, Tobi, ich zeige dir unseren Patienten!“ Alice zieht den Freund am Arm hinter sich her. Dem dicklichen Jungen bleibt nichts anderes übrig, als mit der Tasche in der Hand seiner energischen Freundin zu folgen. Der kleine weiße Hund ist bereits wieder auf den Beinen. Zwar noch etwas wackelig, aber er erkundet mit der Nase am Boden die Hütte. Dr. Kern hat dem kleinen Kerl etwas Leichtes zum Futtern gegeben. Zu seiner Freude hat das Tier den Napf blitzblank ausgeleckt. Ein gutes Zeichen! Schweifwedelndund leise jaulend begrüßt der Hund Alice. „Beißt der?“ Tobi bleibt vorerst einmal in sicherer Entfernung stehen. „I wo, sieh, er ist ganz freundlich. Komm, kraule ihn hinter den Ohren, das mag er besonders gern.“ Zögernd streckt der Junge seine Hand aus. Aber als er merkt, dass der Hund ihm nichts tut, fasst er Mut und streichelt dem Hund genauso eifrig das seidige Fell wie Alice. Inzwischen hat Dr. Kern die Medikamente für den Hund ausgepackt und liest deren Anwendungen. Viel braucht man nicht zu beachten. „Alice", ruft er über seine Schulter, „hast du dich schon um deine anderen Tiere gekümmert? Wolltest du nicht vor dem Abendessen die Box von Shorty ausgemistet und die Kaninchenställe gereinigt haben? Außerdem ist bald Fütterungszeit. Tobi wird dir sicher helfen.“

Shorty ist Alices 5-jähriges Islandpony, Außerdem tummelten sich im Stall noch vier Kaninchen und zwei Meerschweinchen sowie die beiden Milchkühe Berta und Lotte, Ganz zu schweigen von den Vögeln, welche ab und zu im Stall nisteten. Alices Vater hatte sich zudem im Stall einen Raum eingerichtet. In diesem Raum konnte er an seinen Bildern ungestört arbeiten.. Ab und zu leistet Alice ihm Gesellschaft und malt an ihrer eigenen Staffelei. Der Vater hat die Staffelei extra für seine Tochter aufgestellt, weil er weiß mit welcher Hingabe sein Kind malt. Im Garten befindet sich zudem ein Gehege, wo die beiden Rehe Frieda und Floh leben. Die Tiere hatten verletzt als kleine Rehkitze im Wald gelegen. Liebevoll pflegten Alice und ihr Vater die Kitze gesund. Als sie sie wieder in Freiheit entlassen wollten, beschlossen Frieda und Floh, bei den Menschen zu bleiben, da sie es nirgends besser haben konnten.

Tobi und Alice öffnen die Stalltür. Shorty, das Islandpony, befindet sich draußen auf der Wiese. Es hat durch eine Extratür freien Zugang zu seiner Stallbox. Shorty kann gehen und kommen, wie es ihm beliebt. Berta und Lotte, die beiden schwarzweiß gefleckten Milchkühe, stecken neugierig die Köpfe über die Boxen und beäugen die Kinder, die am Werkeln sind. Während Alice die Heugabel nimmt, um die Box des Ponys auszumisten und neu einzustreuen, kümmert sich Tobi um die Kaninchen. „Du, Tobi, ich muss mit dir reden. Es geht um Papa.“ „Was ist mit Onkel Ernst?“ Tobi hält einen Augenblick mit der Arbeit inne und sieht seine Freundin an, die inzwischen die Futterbox von Shorty auffüllt. „Ich weiß nicht, Tobi. Irgendwie benimmt er sich komisch, seit der Hund da ist. Besonders schlimm wurde es, als dein Vater kam und das Tier untersuchte. Sie schickten mich unter einem Vorwand hinaus. Wahrscheinlich sollte ich von ihrem Gespräch nichts mitbekommen.“ „Sicher bildest du dir alles nur ein.“ „Nein, das glaube ich nicht, auch Onkel Kurt benahm sich nach der Untersuchung des Hundes sehr seltsam. Und was meinte dein Vater damit, er würde weitere Erkundigungen einziehen?“ „Keine Ahnung, Alice!“ Der Junge schüttelt den Kopf. „Es kann sein“, auf dem Gesicht von Tobi erscheint ein Lächeln, „dein Vater arbeitet an einem neuen Werk und mein Vater ist ihm, wie so oft, behilflich.“ „Glaubst du?“ Alice sieht ihren Freund vertrauensvoll an. Tobi weiß wirklich auf fast alles eine Antwort. Sie ist richtig stolz auf ihren klugen Freund. Bald haben es die Kinder mit der Stallarbeit geschafft. Schnell waschen sie sich noch die Hände in dem Becken, welches sich in der Sattelkammer befindet und laufen zum Haus zurück.

Die Dämmerung hat eingesetzt. Alices Vater hat den Grill auf der Veranda angestellt. Es soll Bratwürstchen geben. Des weiteren stehen frischer Salat, Limonade und der Apfelkuchen von Tobis Mutter auf dem Tisch zum Essen bereit. Hungrig nehmen die Kinder Platz. Tobi legt sich gleich zwei Würste auf seinen Teller und häuft von dem Salat eine ordentliche Portion darauf. Dr. Kern und Alice sind zurückhaltender. Schließlich, nachdem Tobi vom Apfelkuchen das dritte Stück verputzt hat, legt er die Hände auf seinen Bauch und lehnt sich im Stuhl zurück. „Puh, ich bin pappsatt!“ „Das glaube ich gern“, lacht Onkel Ernst. „Du hast ja gefuttert, als hättest du eine Woche Hungerkur hinter dir.“ „Papa sagt“, verteidigt sich der Junge vehement, „Kinder im Wachstum müssen ordentlich essen!“ „Dann ist dein Vater sicherlich auch noch im Wachstum“, grinst Alice. „Onkel Kurt sieht auch nicht gerade schlank aus. Er schiebt ein kleines Bäuchlein vor sich her.“ „Nicht doch, Alice, sei nicht so gemein!“ Dr. Kern lächelt innerlich. Er weiß, wie oft Sylvia, die Frau seines Freundes Kurt, versucht hat, ihre Männer dazu zu bewegen, mehr auf ihren Körper zu achten. Leider bis jetzt ohne jeden Erfolg. Essen blieb für Tobi und seinen Vater das None-Plus-Ultra. Die Stallarbeit und das leckere Abendessen haben die Kinder müde gemacht. Gähnend erheben sich die beiden von ihren Stühlen. “Nacht, ihr beiden! Schöne Träume!“ „Nacht, Papa!“ „Gute Nacht, Onkel Ernst!“ Dr. Kern bleibt an diesem Abend noch lange mit dem kleinen Hund auf der Veranda sitzen. Immer wieder sieht er das Tier nachdenklich an. „Wenn du nur reden könntest“, murmelte er leise vor sich hin. Oben liegen Tobi und Alice in ihren Betten im tiefsten Schlummer.

Zuhause bei der Familie Lau geht es derweil ohne Tobi ruhiger zu. Die Eheleute sitzen im Kerzenschein bei einem romantischen Abendessen und lassen sich dazu einen köstlichen Rotwein munden. Diese Abende sind bei den Eheleuten äußerst selten. Darum genießen sie diesen umso ausgiebiger.

Am nächsten Morgen sind in der Waldhütte die Kinder schon früh auf den Beinen. Alice, die Schlafmütze, quält sich wegen des Freundes aus dem Federbett. Nach einem ausgiebigen Frühstück und nachdem sie die Tiere versorgt haben, legen sie dem Islandpony Shorty das Zaumzeug an und nehmen den Hund an die Leine. Die Rucksäcke werden noch schnell auf den Rücken gebunden, dann laufen die Kinder los zum Waldsee. „Wir sind heute Abend wieder zuhause, Papa!“ „Aber bitte vor dem Dunkelwerden. Ich will nicht, dass ihr dann noch im Wald seid!“ „Keine Sorge, Onkel Ernst", beruhigt Tobi ihn. „Ich habe eine Uhr. Gegen 16.30 Uhr sind wir wieder da.“

Die Kinder marschieren mit den Tieren los. Der kleine Hund läuft aufgeregt voraus, nachdem Alice ihn abgeleint hat. Ab und zu bleibt er stehen und überzeugt sich davon, ob Alice und Tobi auch noch hinter ihm herlaufen. Im Blockhaus begibt sich Alices Vater auf den Dachboden. In einem kleinen Verschlag, von dem seine Tochter nichts weiß, stehen ein paar Gemälde, die sorgfältig mit Tüchern abgedeckt sind. Dr. Kern nimmt eines der Bilder hoch, wickelt es aus und sieht es lange an. Es ist ein Ölgemälde und zeigt eine schöne junge Frau. „Ach, Margret“, spricht er zu dem Bild. „Was ist damals nur geschehen? Was hattest du an den Klippen zu suchen? Wäre ich doch wach gewesen, dann hätte ich das Unglück verhindern können. Und unsere Tochter, warum lag sie auf dir?“ Ernst Kern wischt sich über die Augen. Tränen rinnen über sein Gesicht. Die Polizei ging von Mord aus. Und er, ihr Ehemann, galt als Hauptverdächtiger. Alle Beteuerungen seiner Unschuld halfen nichts. Alle Indizien sprachen gegen ihn. Ihm blieb nur noch die Flucht, um seine Unschuld zu beweisen. Mit seinem damals vierjährigen Kind, welches er aus dem Krankenhaus entführte, wohin das verletzte Mädchen gebracht wurde, gelang dem verzweifelten Mann die Flucht bei Nacht und Nebel in ein anderes Land. Auf der Suche nach einem passenden Versteck für sich und sein Kind lief er den alten Schulfreund aus Kindertagen in die Arme. Dieser glaubte von Anfang an nicht daran, dass sein Freund ein Mörder sei und gab ihm sofort Unterschlupf. Außerdem half er dem Freund auf der Suche nach Beweisen, um den wahren Täter zu finden. Leider war das nicht leicht und die Suche all die Jahre vergeblich.

Dr. Kern packt das Gemälde sorgfältig wieder ein und stellt es zurück an sein Platz; dann steigt er vom Dachboden und geht Richtung Stall, um zu arbeiten. Am späten Nachmittag kehren die Kinder zurück. So vergehen die Tage. Jeden Tag schwimmen Tobi und Alice im Waldsee und unternehmen lange Ausflüge im Wald mit Shorty und dem kleinen Hund. Eine Woche ist vergangen, und das Auto des Landtierarztes hält vor dem Haus. Die Ferien neigen sich dem Ende zu, und die Kinder müssen in zwei Tagen wieder zur Schule. Alice hat ihren Koffer und die Schultasche gepackt. Sie fährt an diesen Tag mit Tobi zurück in die Stadt, Tobi und Alice besuchen beide dasselbe Landschulheim mit dem einen Unterschied, das Mädchen wohnt auch dort. Sie teilt sich mit vier anderen Schülerinnen dort ein großes Zimmer. Nur am Wochenende, wenn kein Unterricht ist, kehrt sie zu ihrem Vater in den Wald zurück.

4. Einladung zum Skatclub

Ein junger Mann mit zerzausten Haaren und Dreitagebart sitzt in seiner kleinen, etwas unordentlichen Wohnung. Julius hat einen Blackout. Selbst nach der zehnten Tasse Kaffee kann er keinen klaren Gedanken fassen. Hilflos sitzt er vor seiner Schreibmaschine. Rechts neben ihm liegen Zeitschriften und Zeitungen wild durcheinander. Bücher stapeln sich in dem kleinen Zimmer, in dem der 25.jährige arbeitet. Dieser neue Krimi, an dem er gerade schreibt, kommt einfach nicht richtig in Schwung. Ein Blick auf dem Kalender an der Wand zeigt Julius, dass der Abgabetermin für das Manuskript immer näher rückt. Sein Verleger hat gestern auch schon angerufen und sich erkundigt, ob er rechtzeitig fertig sein wird.

Entnervt setzt Julius die Tasse ab und steht auf. Am besten, er geht ein wenig an die frische Luft. Außerdem könnte er den Spaziergang gleich mit einem Einkauf im Supermarkt an der Ecke verbinden. Pfeifend springt der junge Mann die Treppen hinunter und betritt die Straße. Flotten Schrittes geht er den Gehweg entlang. Ein alter Landrover kommt ihm entgegen. Julius hebt den Arm und winkt. Jeder in der kleinen Stadt kennt dieses Vehikel. Der Landtierarzt und seine kleine Familie sind äußerst beliebt. Der Krimischriftsteller ist zudem Mitglied im selben Skatclub wie Kurt Lau, und mit Tobi verbindet ihn eine lockere Freundschaft. Auch Alice kommt ab und zu mit Tobi zu Besuch. Kurt Lau hält den Wagen an der Bordsteinkante an. Eifrig kurbelt Tobi das Fenster herunter. „Hallo, Julius, sehen wir uns übermorgen?“ „Klar, mein Bester! Kommst du auch mit, Alice?“ „Denk dran, Julius,“ mischt sich Tobis Vater in das Gespräch ein. „Am Samstagabend beginnen die Meisterschaften im Skatclub. Du kommst doch?“ Der junge Krimischriftsteller nickt seinem Skatgegner zu. „Mein Lieber, ich mache dir eine Freude. Diesmal bin ich in Zeitdruck wegen des neuen Buches. Muss also am Wochenende arbeiten. Der Sieg ist dir dank meiner Abwesenheit also sicher. Die anderen Spieler sind ja keine ernsthaften Gegner, so wie die spielen.“ „Nee“, Kurt Lau schüttelt den Kopf. „So ein leichter Sieg gefällt mir gar nicht. Aber wir haben ja, wie du weißt, ein neues Mitglied bekommen. Vielleicht ist der ja ein ganz passabler Gegner.“ „Dann macht es mal gut. Ich muss einkaufen, mein Kühlschrank glänzt durch gähnende Leere.“ Julius tritt vom Wagen zurück. Kurt Lau gibt Gas und fährt weiter.

Tobis Mutter stellt im Zimmer ihres Sohnes für Alice eine Schlafliege auf. Seit das Mädchen im Landschulheim wohnte, war es üblich, dass sie an den letzten zwei Ferientagen im Hause der Laus schlief und von dort dann zusammen mit Tobi zur Schule ging. Silvia Lau mag das kleine schwarzhaarige Mädchen mit seinen lustigen Zöpfen. Das Kind hatte ein einnehmendes Wesen und einen guten Einfluss auf Tobi. Nur manchmal blickten die Augen der Kleinen sehr traurig. Tobis Mutter hätte gern noch ein zweites Kind gehabt. Am liebsten so ein Mädchen wie Alice. Aber sie und ihr Mann waren so mit Arbeit eingedeckt, dass es bei diesem Gedanken blieb. Und ihr Sohn machte den Eheleuten weiß Gott genug Arbeit. Allein seine Chemieexperimente, die er ständig im Haus durchführte. Neulich hätte er bei einem dieser Versuche beinahe die Garage in die Luft gesprengt. Im letzten Moment konnte die Katastrophe verhindert werden.

Frau Lau sieht sich noch einmal im Kinderzimmer um, ob alles in Ordnung ist, dann verlässt sie den Raum. Ein Blick auf die alte Standuhr in der Diele sagt ihr, dass Kurt mit den Kindern jeden Moment die Auffahrt hochfahren muss. „He du,“ Tobi stupst seiner Freundin in die Seite. „Freust du dich auf die Schule? Ich nicht! Vor allem dieses doofe Englisch kann mir gestohlen bleiben!“ „Aber deine Englischlehrerin ist doch richtig nett!“ Alice sieht ihren dicklichen Freund verständnislos an. Wie konnte man die englische Sprache nicht lieben! Zuhause unterhielt sie sich mit ihrem Papa neben Deutsch auch auf französisch und italienisch. Alice liebt Sprachen und freut sich schon auf die dritte Klasse, dann lernt sie auch noch Englisch dazu. Das Mädchen ist im Gegensatz zu dem Jungen äußerst sprachbegabt. „Und außerdem“, Alice holt tief Luft, „ist doch Englisch sicher nicht so schwer?“ „Für dich sicher nicht! Du bist ja ein Sprachgenie! Außerdem ist diese dumme Ziege nicht nett. Brummt die mir doch einen Tag vor den Ferien eine saftige Strafarbeit auf.“ „Die du dir wirklich redlich verdient hast,“ mischt sich Onkel Kurt in das Gespräch der Kinder ein. „Man steckt doch keinen Frosch in die Aktentasche der Lehrerin!“ „Hi, hi, zu komisch.“ Alice hält sich den Bauch vor Lachen. Tobi hatte ihr von dem Vorfall erzählt. Die arme Englischlehrerin war, nachdem der Frosch aus ihrer Tasche gehüpft war, mit einem gewaltigen Satz auf das Lehrerpult gesprungen und hatte dort ihren Roch hochhaltend vor Angst kreischend gestanden. Die ganze Klasse lachte aus Leibeskräften. Im Land-schulheim war bekannt, dass die Gute große Angst vor Fröschen, Schlangen und ähnlichem Getier hatte. Tobi war in der ganzen Schule der Held des Tages, jedenfalls bei den Schülern. Die Lehrer dachten zu seinem Leidwesen anders darüber. Zur Strafe musste er den gesamten Schulhof fegen, den Klassenraum aller Viertklässler reinigen und sich zusätzlich noch bei der armen Lehrerin entschuldigen. „Tut dir meine Lehrerin denn leid, Papa?“ „Nee, Junge! Ich dachte eher an den armen kleinen Frosch. Welch ein Schrecken für das Tier, als plötzlich eine Brillenschlange es von oben anglotzt.“ Tobis Englischlehrerin trägt nämlich eine ziemlich große Hornbrille. „Kein Wunder, dass der Kleine versucht hat, blitzschnell aus der Aktentasche zu entkommen.“ Tobi und Alice grinsen. Sie wissen beide aus den Erzählungen von Tante Silvia, dass Onkel Kurt als Schüler auch der Schrecken der Lehrer an der Schule war. Mancher neue Lehrer betrat äußerst vorsichtig das Klassenzimmer, wenn er hörte, dass der kleine Kurt dieser Klasse angehörte. Man konnte ja nicht wissen, ob der Junge einen Streich gegen den neuen Lehrer geplant hatte.

Julius Kramer, der junge Krimischriftsteller, betritt mit vollen Einkaufstüten seine Wohnung. „Werde noch ein bisschen aufräumen, dann eine Kleinigkeit essen.“ Gerade ist er dabei, die Lebensmittel im Kühlschrank zu verstauen, als das Telefon klingelt. „Kramer“, bellt er ob dieser Störung äußerst ungehalten in den Hörer. „Hallo, alter Junge“, tönt ihm eine tiefe männliche Stimme entgegen. „Wie viele Leichen hast du diesmal?“ „Tag, Rudolf. Nett, mal wieder von dir zu hören. Was gibt es?“ „Wollte dich zu mir ins Präsidium einladen. Habe da einen interessanten Fall. Dachte mir, dass du ihn eventuell für deinen neuen Krimi verwenden kannst. Aber nur, wenn du gerade Zeit hast.“ „Bin gleich da!“ Julius schmeißt den Hörer auf die Gabel, schnappt sich seine Jacke vom Garderobenhaken und stürmt aus der Wohnung. Aufräumen konnte er später immer noch, dass lief ihm nicht davon.

Alice und Tobi sitzen im Kinderzimmer am Computer und spielen. „Kommt ihr runter zum Abendessen?“ Kurt Lau fährt mit der Hand über seinen laut knurrenden Magen. Er hat einen Bärenhunger. Wie üblich! Seine bessere Hälfte hat sicher was Köstliches zubereitet. Nur kann er zu seinem Erstaunen nichts riechen. Vielleicht gibt es kalte Platten. Auch was Feines. „Sylvia, Schatz! Hast du das Essen in den Kühlschrank gestellt?“ Keine Antwort! „Sylvia, wo bist du?“ Immer noch keine Antwort! Aber war da nicht ein Geräusch aus dem Arbeitszimmer seiner Frau? Kurt Lau öffnet die Tür und steckt seinen Kopf durch den Spalt. Frau Lau sitzt an ihrem Schreibtisch. Vor ihr liegt ein Kunstkatalog, in dem sie eifrig blättert. „Schatz!“ Der Landtierarzt tritt näher an den Schreibtisch heran. „Ist das Abendessen im Kühlschrank?“ „Das Abendessen?“ Frau Lau sieht ihren Ehemann irritiert an. „Ja das Abendessen, Liebes!“ „Aber das wolltest du doch heute machen, wenn ich mich nicht irre?“ „Ich????“ „Ja, du! Ich habe dir doch heute Morgen gesagt, dass ich keine Zeit habe. Ich muss die Ausstellung für nächsten Freitag vorbereiten. Außerdem bist du laut unserem Familienhaushaltsplan diese Woche für das leibliche Wohl zuständig.“ „Mist!“ Sylvias Ehemann läuft zur Tür. „Dann muss ich schnell was vorbereiten.“ „Tür zu“, ruft seine Frau ungehalten hinter ihm her. Aber die Worte verhallen ungehört. Dafür stehen jetzt ihr Sohn und Alice im Türrahmen. „Wann gibt es denn was zu essen? Vati hat uns extra nach unten gerufen und auf dem Küchentisch steht nichts.“ Tobi steckt sich genüsslich ein Stück Schokolade in den Mund. „Tobi, wenn dein Vater nicht vergessen hätte, dass er heute Abendessen machen sollte, könnten wir schon längst am Tisch sitzen. Nun müsst ihr wohl oder übel warten.“ „Na, das kann bei Papa dauern. Das kennt man ja bei ihm. Komm, Alice, gehen wir wieder nach oben. Habe noch ein paar Kekse irgendwo liegen.“ „Warte mal, Tobi!“ Alice wendet sich an Tante Sylvia. „Ist das da auf dem Schreibtisch ein Katalog über Bilder?“ „Ganz recht, Kind, Das hier vor mir ist ein Kunstkatalog. Am Freitag wird es in meiner Galerie eine Ausstellung über die Bilder des Künstlers geben die in diesem Katalog aufgeführt sind.“ „Tante Sylvia, darf ich mir die Bilder in deiner Galerie zusammen mit Tobi auch ansehen?“ Tobis Mutter sieht das kleine Mädchen freundlich an. „Warum nicht, Kind! Komm doch mit Tobi nach Schulschluss gleich zu uns. Dann fahr ich mit dir und Tobi zum Geschäft, und ihr könnt dann die Eröffnung gleich miterleben. Ich rufe nachher deinen Vater an und frage ihn um Erlaubnis. Ich werde dich dann, wenn die Ausstellung vorbei ist, nach Hause fahren.“ „Mutti, es wäre doch schön, wenn ich dieses Wochenende gleich bei Alice und Onkel Ernst bleibe.“ „Papa hat sicher nichts dagegen.“ Alice wusste genau, der Vater schlug ihr selten etwas ab. „Kinder, nun geht wieder.“ Tobis Mutter weist zur Tür. „Ich muss noch etwas arbeiten. Dazu brauche ich Ruhe!“

Sylvia beugt sich wieder über den Katalog und fängt an, auf einem Notizblock eifrig zu schreiben. Die Kinder beachtet sie nicht mehr. Diese schließen leise die Tür des Arbeits-zimmers und gehen die Treppe hoch in das Zimmer des Jungen. Kurt Lau steht derweil in der Küche und versucht ein schmackhaftes Abendessen zu zaubern. Eifrig durchforstet er den Kühlschrank und die Vorratskammer. Auf dem Küchentisch sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld. „Wo ist sie nur? Wo ist diese verdammte Wurst? Sylvia!“ Der Landtierarzt reißt mit Schwung die Tür zum Arbeitszimmer auf. Seine Frau am Schreibtisch zuckt vor Schreck zusammen und lässt den Terminkalender auf den Fußboden fallen. „Kurt, hast du einen Knall? Geht das nicht auch ein bisschen leiser? Da kriegt man ja einen Herzinfarkt. Was willst du? Siehst du nicht, dass du mich bei der Arbeit störst?“ „Wo ist die Salamiwurst, die du neulich auf dem Wochenmarkt gekauft hast?“ „Die Salamiwurst?“ Frau Lau sieht ihren Mann fragend an. „Aber Schatz, dass weißt du nicht mehr? Die hast du doch selbst vor zwei Tagen in einem Anfall von nächtlichem Heißhunger verputzt.“ „Ich???“ Der Landtierarzt steht da wie die Unschuld persönlich. „Ich, nee auf keinen Fall!“ „Doch du, mein Lieber. War doch dabei, als du die Wurst mit einem großen Glas kaltem Bier herunterspültest.“ „Dann eben ohne Wurst!“ Rums, die Tür fliegt knallend ins Schloss. „Man kann die Türen auch leise schließen!“, ruft Sylvia Lau dem Wüterich hinterher.

Im Polizeipräsidium geht es am Samstag wie auch sonst ziemlich ruhig zu. Überhaupt geschah in diesem beschaulichen kleinen Städtchen selten etwas Kriminelles. Julius Kramer begibt sich ohne Umschweife in das Büro seines Freundes Rudolf. „Da bist du ja schon!“ Der Leiter des Präsidiums winkt Julius zu sich. Oberinspektor Schramm tippt mit dem Zeigefinger auf das vor ihm liegende Protokoll.

Klingeling. Endlich Freitag und Schulschluss. Die Kinder der zweiten Klasse verlassen den Unterrichtsraum. Alice rennt gleich hoch in ihr Zimmer und pfeffert mit Schmackes die Schultasche auf ihr Bett. Dann reißt sie den Kleiderschrank auf, um sich schnell etwas anderes anzuziehen. Tobi, ihr dicklicher Freund, wird sicher schon ungeduldig auf sie warten. Dr. Kern hat seiner Tochter gestattet, die Bilderausstellung in der Galerie von Tante Sylvia zu besuchen. Auch dass Tobi am Wochenende bei ihnen bleibt, ist kein Problem. Alices Vater war mit seiner Arbeit so weit vorangekommen, dass er sich an diesen beiden Tagen ganz den Kindern widmen konnte. „Tschüss, bis Montag!“, verabschiedet sich Alice von ihren Mitbewohnerinnen, dann flitzt sie die Treppe hinunter. „Na endlich!“ Tobi hüpft ungeduldig von einem Bein auf das andere. „Dass man bei euch Mädchen immer so lange warten muss!“ „Stell dich nicht so an! Du kommst noch rechtzeitig zum Mittagessen nach Hause. Ein paar Minuten Verspätung werden wohl nicht schaden.“ „Hast du eine Ahnung. Heute gibt es Hasenbraten bei uns, und ich kenne meinen Vater. Von Mutti ganz zu schweigen. Die dreht durch, wenn gerade heute nicht alles wie am Schnürchen abläuft. Wo doch für sie solch ein wichtiger Tag ist.“ „Rede nicht!“ Das Mädchen läuft los. „Nimm die Beine in die Hand!“ Die Kinder rennen los. Nach ein paar Metern bleibt der dickliche Junge japsend stehen. Tobi ist im Gegensatz zu Alice die jeden Nachmittag Rollschuh läuft und sich auch sonst sportlich betätigt, bei weitem nicht so gut in Form. Vater und Sohn Lau halten nichts vom Sport, außer, sie sitzen dabei gemütlich vor dem Fernseher. „Sport ist Mord, mein Junge! Das sagte schon Winston Churchill, und der musste es ja wissen.“ Tobi und sein Vater halten sich eisern an diesen berühmten Wahlspruch. Einzige Ausnahme ist, wenn es ums Essen geht, dann werden die beiden auf einmal sehr bewegungsfreudig. „Halte durch, denk an den leckeren Braten, der auf dich wartet.“ Die aufmunternden Worte seiner kleinen Freundin geben dem 10.jährigen Jungen neue Kraft. Kurz darauf wird seine Anstrengung auch schon belohnt. Sein Elternhaus ist in Sicht. Schnuppernd hebt er die Nase in die Luft in der Hoffnung, den verführerischen Duft wahrnehmen zu können.

Nach dem Mittagessen wird es Zeit. Frau Lau nimmt ihre vollgepackte Aktentasche. Tobi und Alice sitzen bereits hinten im Wagen. In einer Stunde wird die Galerie eröffnet. Die Hotels, Pensionen und auch sonstigen Gästehäuser der kleinen Stadt sind wegen dieser Kunstausstellung vollständig ausgebucht. Sogar mehrere Reisebusse stehen auf den Parkplätzen. So viel Rummel hat die Stadt lange nicht erlebt. Presse und Fernsehen sind ebenfalls vertreten. Tobi und Alice schütteln über diese Aufregung verständnislos die Köpfe. „Die gehen doch nicht alle in deine Galerie, Tante Sylvia?“ „Mit Sicherheit nicht, Alice! Wir müssen die Besucher in mehrere Gruppen einteilen. Ich musste wegen den Führungen noch zusätzliche Leute einstellen.“ „Und alles wegen eines Pinselklecksers!“, mault Tobi auf dem Hintersitz des Autos vor sich hin. „Ich kann auch malen. Nur will keiner meine Bilder ausstellen. Nicht mal du, Mutti!“ „Junge!“ Tobis Mutter lacht hellauf. „Du bist schließlich kein berühmter Künstler. Dieser Maler hat Kunstgeschichte geschrieben. Viele angehende junge Maler sehen in ihm ein Vorbild. Solltest du es einmal so weit bringen, bekommst du sofort einen Platz in meiner Galerie!“

Wenige Minuten später betreten die drei das kleine Büro, in dem sich Tobis Mutter während der Arbeitszeit oft aufhält, um einige wichtige Telefonate zu führen. Am liebsten aber ist sie in den Ausstellungsräumen, um mit den Besuchern zu fachsimpeln.

5. Die Suche nach der heißen Spur

Kurt Lau will gerade die Tür zu seiner Praxis abschließen der letzte Patient, ein Graupapagei mit einem verletzten Flügel, hat die Behandlungsräume vor ein paar Minuten mit seinem Besitzer verlassen - als das Telefon klingelt. Seine Mitarbeiterin ist schon nach Hause gegangen, daher hebt Tobis Vater selber den Hörer ab. „Hallo, hier Ernst“, meldet sich die Stimme seines Freundes. Kurt, hast du inzwischen etwas wegen Merles Sohn herausfinden können?“ „Tja, das ist nicht so einfach. Du weißt ja, das Tier kam aus dem Wald. Ich habe mir während der Untersuchung seine Pfoten genau angesehen. Nach meiner Meinung muss der Hund aus der Nähe stammen, er kann unmöglich tagelang unterwegs gewesen sein.“ „Aber woher kam er?“ „Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Die nächste Stadt ist ca. zwei Autostunden entfernt. Es ist durchaus im Bereich des Möglichen, dass der kleine Hund von dort kam und….“ „Kurt“, unterbricht ihn Dr. Kern. „Ich muss dir nicht erst erzählen, dass uns der oder die Besitzer des Hundes sagen können, von wem sie Merles Sohn haben.“ „Das weiß ich auch, Ernst. Keine Sorge, ich fahre morgen Nachmittag in die Stadt und stelle Nachforschungen an.“ Der Landtierarzt setzt sich auf den Stuhl hinter der Rezeption und wippt leicht vor und zurück. Er kann förmlich sehen, wie sein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung mit seinen langen Beinen auf und ab schreitet. „Ernst, ich habe heute Morgen den dort ansässigen Tierarzt angerufen. Leider konnte er mit der Beschreibung des Hundes nichts anfangen. Ich bin aber Montag mit ihm in seiner Praxis verabredet. Er wollte vorab einige Hundebesitzer fragen und mich anrufen, wenn er etwas in Erfahrung bringen sollte.“ „Und?“ „Bis jetzt nichts. Aber wir können folgendes machen, vorausgesetzt, du bist einverstanden.“ „Kurt, wenn es der Aufklärung dient, bin ich sofort dabei. Also was sollen wir tun?“ Der Landtierarzt erklärt Alices Vater am Telefon seinen Plan. Dr. Kern hört aufmerksam zu. Am Ende der Ausführungen nickt er ins Telefon, dann fällt ihm ein, dass Kurt das ja nicht sehen kann. „Bin einverstanden. Werde mich gleich an die Arbeit machen!“ „Dann bis übermorgen. Du bleibst doch Sonntag zum Abendessen, wenn du die Kinder zurückbringst?“ „Darauf kannst du wetten. Freue mich, mit dir und Sylvia mal wieder einen gemütlichen Abend zu verbringen.“

Nachdenklich legt der Tierarzt den Hörer auf die Gabel. Sollte nach so vielen Jahren der Nachforschungen, die er zusammen mit seinem Freund durchgeführt hat, endlich eine heiße Spur in Sicht sein? Halten sie wirklich den passenden Schlüssel in Händen, der zum Mörder von Alices Mutter führt? Kurt Lau wünscht seinem besten Freund von ganzem Herzen, dass dieser Alptraum, der nun schon so viele Jahre dauert, endlich aufhört.

„Komm mit!“ Tobi schubst Alice vorwärts. Seine Mutter ist vollauf mit den Presseleuten beschäftigt. Die Galerie wimmelte nur so von Besuchern. Die Angestellten haben alle Hände voll zu tun. Niemand achtet daher auf die Kinder. Alice und Tobi gehen in den Raum, in welchem die Bilder des Künstlers hängen. Das Zimmer ist voller Menschen. Tobi setzt seine Ellenbogen ein, um für sich und Alice eine Gasse zu bahnen. Das Mädchen folgt ihm dichtauf. Der Junge kommt sich vor wie ein Dschungelkämpfer. Die Kunstbesucher sind in seiner Fantasie Dornengestrüpp, das er mit seinem Dschungelmesser beseitigt. Hinter sich hören sie das Geschrei der Wilden. Entschlossen kämpft er sich vorwärts, seine Dschungelfreundin fest an der Hand haltend. Sie mussten einfach entkommen. Auf keinen Fall soll sie der Feind einfangen. Also vorwärts, immer weiter. Rechts und links schlägt Tobi mit seinem eingebildeten Messer zu.

Ein Galerieangestellter, der die Kinder beobachtet, bahnt sich ebenfalls einen Weg durch die Menschenmenge. Er kennt Tobi, den Sohn seiner Chefin, gut und eilt den Kindern zu Hilfe. „Hallo, ihr beiden, kommt mit mir. Es ist besser, ihr seht euch die Bilder erst an, wenn der Empfang beginnt. Dann ist es hier nicht mehr so voll.“ Alice blickt den Mann im dunklen Anzug dankbar an. Sie hat einige blaue Flecken abbekommen, weil Tobi unbedingt durch die Menge kommen wollte. Der nette Mann nimmt die Kinder an die Hände und führt sie zu einer Tür. Er schließt diese auf. Dahinter kommt eine Wendeltreppe zum Vorschein. Die drei gehen diese hinauf und stehen erneut vor einer Tür. Auch diese wird von dem Angestellten aufgeschlossen. Er fordert die Kinder auf hinein zu gehen. Alice und Tobi betreten einen Raum, der wie ein Sitzungszimmer aussieht. Der Angestellte geht auf eine Wand zu und betätigt einen Schalter. Die Wand, die anscheinend keine ist, fährt in die Höhe. Dahinter kommt ein großes Glasfenster zum Vorschein. „So, Kinder“, wendet sich der Mann wieder an sie. „Von hier aus könnt ihr alles sehen. Nachher, wenn der Empfang beginnt, hole ich euch und ihr könnt dann in aller Ruhe die Bilder betrachten.“ Der nette Angestellte verlässt den Raum, um sich wieder seinen Aufgaben zu widmen. Tobi nimmt einen der Stühle und stellt ihn vor das Glasfenster. Vor ihm liegen mehrere Gläser, so wie sie Opernliebhaber gerne benutzen. Er nimmt sich eines davon und hält es sich vor Augen. Klar und deutlich liegt der Ausstellungsraum vor ihm. Seine Mutter kann er ebenfalls sehen. Sie spricht gerade mit dem Bürgermeister der Stadt. „Alice, hier nimm dir auch ein Glas!“ Aber Alice sitzt längst auf dem Stuhl neben ihm und hat die Bilder im Visier. Die Tür geht auf. Tobis Mutter betritt das Zimmer. „Ich habe von Gerhard gehört, dass ihr hier seid. Es dauert nicht mehr lange, dann schließen wir. Im Schrank dort steht Saft, bedient euch.“ Sie deutet auf einen braunen Schrank, der in einer Ecke steht. Dann verlässt sie die Kinder und geht zu ihren Gästen zurück.

Nachdem sich Tobi und Alice zu trinken genommen haben, nehmen sie wieder vor der Glaswand Platz. Zu Ihrer Enttäuschung können sie die Bilder trotz der tollen Gläser nicht deutlich sehen. Also bleibt ihnen nichts anderes übrig, als auf Gerhard zu warten. Hoffentlich kommt er sie bald holen. Die Kinder legen die Gläser hin und öffnen die Fenster, welche zur Straßenseite zeigen. Soeben stürmt eine Frau mit wehendem Mantel auf die Galerie zu. Sie ist groß und hat auf ihrem künstlich frisierten Lockenkopf ein komisches Hütchen sitzen. Es ist die Leiterin des Landschulheimes, die wie einige andere wichtige Persönlichkeiten der Stadt ebenfalls zu dem anschließenden Empfang mit Büfett eingeladen ist. „Typisch!“ Alice beugt sich weiter aus dem Fenster. „Die sieht man auch nicht anders als mit diesem grauen Hut. Dabei steht der ihr überhaupt nicht!“ Nur wenige Schritte noch und die Frau ist außer Sicht. Tobi sieht auf seine Uhr. „Wenige Minuten noch, Alice, und Mutti lässt die Leute hinauswerfen um abzuschließen.“

Unten in der Galerie gibt Tobis Mutter einem ihrer Angestellten ein Zeichen. Dieser nickt und geht zum Empfangsbereich. Dort befindet sich unter dem Tisch ein kleiner Knopf, auf den er kurz drückt. Eine Bandstimme ertönt. „Die Galerie schließt in einigen Minuten. Bitte begeben sie sich in aller Ruhe zum Ausgang. Danke für ihren Besuch und beehren sie uns mal wieder.“ Zweimal noch wird die Durchsage wiederholt. Langsam bewegen sich die Besucher zum Ausgang. Pünktlich um 17.00 Uhr schließt die Galerie. Der Empfang kann beginnen. Die Angestellten reichen den geladenen Gästen gekühlten Sekt. Die kulinarischen Köstlichkeiten wurden in einem leeren Raum von einem Partyservice aufgebaut. Wer will, kann dann mit seinem Imbiss in den Ausstellungsbereich gehen, um sich dort noch einmal die Bilder des berühmten Malers anzusehen. Durch sein Glas kann Tobi alles beobachten. Auch die Leute, die gerade das Büfett aufgebaut haben. Lauter leckere Sachen. Ihm läuft das Wasser im Mund zusammen. „Wenn wir nicht bald geholt werden, ist von den Köstlichkeiten für uns nichts mehr übrig.“ Aber Tobi sorgt sich umsonst. Gerhard, der sie in den Raum geführt hat, öffnet die Tür. „Heraus mit euch. Es gibt Kuchen, Torte und vieles mehr dort unten. Sicher habt ihr Hunger!“ Alice verlässt als erste das Zimmer. Eiligen Schrittes läuft sie die Wendeltreppe hinab. Das Essen interessiert sie nicht die Bohne, die Bilder will sie sich ansehen. Mit Sicherheit kann sie von denen etwas lernen. Ihr Papa sagt ja immer, ein guter Kunstmaler lernt auch von anderen, wenn er sich deren Werke genau ansieht und versucht zu ergründen, was der Künstler in dem jeweiligen Bild zum Ausdruck bringen will.

Frau Lau spricht gerade mit der Besitzerin des Supermarktes, als sie ihren Sohn mit zielsicheren Schritten auf die Kuchen- und Tortenplatten zustürmen sieht. „Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment“, unterbricht sie freundlich den Redeschwall der Frau und läuft hinter Tobi her. „Halt, junger Mann! Finger weg von den Kuchenplatten!“ Mitten in der Bewegung hält der dickliche Junge inne. Er wollte sich gerade ein besonders großes Stück Sahnetorte auf den Teller legen. „Mutti, ich habe Hunger!“ Flehend sieht Tobi seine Mutter an. „Das sehe ich! Wo ist Alice?“ „Ach die, die klebt mit der Nase an den Bildern. Will was lernen.“ „Würde dir auch nicht schaden, Sohnemann. Nimm Dir ein Beispiel an Alice.“ „Bitte, Mutti! Nicht doch, mein Magen knurrt erbärmlich. Ich habe einen Riesenhunger.“ „Dann will ich mal nicht so sein. Aber aus diesem Riesenstück auf deinem Teller machen wir zwei. Du wirst das andere Stück deiner Freundin geben!“ Das passt dem Jungen zwar gar nicht, aber was soll man gegen die mütterliche Autorität ausrichten. Frau Lau schenkt noch zwei Gläser mit Apfelsaft voll und stellt alles zusammen auf ein Tablett. „Hier, junger Mann. Aber die Tortenstücke sind nicht für dich allein“, ermahnt sie Tobi noch, bevor sie ihm das Tablett gibt. Tobi trollt sich grummelnd. „Als ob ich von diesem winzigen Stück satt werde. Eines Tages findet man mich als ausgehungertes Gerippe auf der Straße, wo ich vor Schwäche zusammengebrochen bin. Hier, nimm!“ Der Junge reicht der Freundin den Teller mit der Sahnetorte und das Glas Apfelsaft. Wortlos nimmt diese beides entgegen. Wie gebannt starrt Alice auf das vor ihr hängende Ölgemälde. Es zeigt eine junge Frau mit pechschwarzen Haaren und einem wunderschönen tiefroten Kleid. Als einzigen Schmuck trägt die Dame einen Ring mit einem Rubin am Finger. „Wenn Papa jetzt hier sein könnte. Er wäre begeistert, als ob die Frau leben würde. So echt wirkt alles. Schade, dass er keine Zeit hat.“

Tobi interessiert das Bild in keinster Weise, er widmet sich mit Hingabe seiner Torte. Mehr durch Zufall blickt er auch auf das Bild, als er beschließt, sich noch ein Stück Kuchen zu holen. Egal, was seine Mutter davon hält. Er hat einfach Hunger. Auf einmal stutzt Tobi und geht näher an das Ölgemälde heran. Irgendetwas an diesem Bild kommt ihm bekannt vor. Der dickliche Junge betrachtet sich das Frauenbild nun genauer. Dann weiten sich seine Augen. Der Ring, wo hat er diesen Ring schon einmal gesehen? Wo nur? Fieberhaft überlegt er. Zu seinem Leidwesen fällt es ihm nicht ein. „Alice, du hast doch in Muttis Katalog geblättert.“ Das Mädchen steht bereits vor einem weiteren Bild des Künstlers. Auf diesem Werk sieht man ein dunkelhaarig gelocktes Mädchen, welches höchstens zwei Jahre alt sein konnte. Es spielt mit einem kleinen weißen Hund. „Ja“, antwortet sie und geht weiter zum nächsten Bild. „Und was hast du über den Künstler und seine Bilder lesen können?“

„Ach, der Maler hat mich nicht so interessiert, eher seine Bilder.“ „Ja, und?“Langsam wird der Junge ungeduldig. „Was stand denn da über den Bildern?“ „Nichts weiter, dass es sich um seine Familie handeln soll. Es sind Porträts von ihnen.“

Familie? Tobis Hunger ist vergessen, seine Neugier geweckt. Der Junge sieht sich auch das Kind auf dem zweiten Gemälde und den Hund darauf an. An wen erinnert ihn dieses Kind auf dem Ölgemälde nur? Mittlerweile steht seine Freundin vor dem letzten Bild des Malers. Welch ein Künstler! Alice Kern ist total hin und weg. Papa muss unbedingt in Tante Sylvias Galerie kommen. Die Bilder muss er gesehen haben. „He, Tobi! Schau mal auf dieses Schild hier. Der Maler stammt aus Italien!“ „Aus Italien?“ Tobi stellt sich neben seine Freundin.“Wo ist das Schild?“ „Hier vorne. Bist du blind?“ Alice zeigt unter das letzte Bild, wo ein Schild angebracht ist. „Alberto Bertoli, der Name klingt wie Musik, nicht wahr?“ Begeistert stößt das Mädchen dem Jungen in die Seite. Alberto Bertoli? Mensch Tobi, wo hast du diesen Namen bloß gehört, der junge Lau denkt angestrengt nach. Doch es will und will ihm nicht einfallen. Julius, da kann ihm nur noch der Krimischriftsteller weiterhelfen. Am Montag nach dem Mittagessen wird er sofort zu ihm fahren. Kaum hat er diesen Entschluss gefasst, als sein Magen erneut zu knurren beginnt. Vorsichtig schleicht er auf das Büfett zu und legt sich ein großes Tortenstück auf den Teller. Zu seiner Erleichterung sieht seine Mutter gerade in eine andere Richtung.

6. Rätselhafte Gemälde und stille Gedanken

Erschöpft legt sich Dr. Ernst Kern auf das Sofa in der Wohnstube. Er hatte heute aus der Milch der zwei Kühe frische Butter und Käse hergestellt. Langsam fallen dem Mann die Augen zu. Wenige Augenblicke später ist Alices Vater eingeschlafen

In einer anderen Stadt, einem Viertel, in dem sich kein anständiger Bürger gern aufhält, sitzt ein Mann im gestreiften Unterhemd und einer Hose, die voller Flecken ist, an einem nicht gerade sauber zu nennenden Tisch. Vor sich hat er eine Flasche billigen Alkohols stehen, die zur Hälfte bereits geleert ist. Eine Zigarette hängt erkaltet in seinen Mundwinkeln. Schmutziges Geschirr stapelt sich in der Spüle und auf der Arbeitsplatte. Fliegen und Maden geben sich dort ein Stelldichein. Langsam hebt der Mann die Flasche an seinen Mund und trinkt. Torkelnd erhebt er sich vom Tisch, die Flasche in der Hand haltend, und geht mit unsicheren Schritten in ein anderes Zimmer. Ein ungemachtes Bett steht darin, sowie ein alter Holzkleiderschrank, deren Türen total schief in den Angeln hängen. Auf dem Bett liegen einige Tageszeitungen. Der Mann nimmt eine davon und setzt sich auf die Bettkante. Man sieht dieser Zeitung an, dass er diese schon mehrfach in Händen gehabt hat, denn sie ist zerknitterter als die anderen auf dem Bett. Auf der ersten Seite des Blattes ist ein Artikel über eine Kunstausstellung in der Nachbarstadt. Undeutlich kann man auf dem Zeitungspapier ein Bild erkennen. Es stellt eine Frau auf einem schwarzen Pferd sitzend dar. An der linken Hand trägt die Reiterin einen Rubinring „Margret, verflucht seist du! Warum lässt du mich nicht endlich in Ruhe?“ Weiter vor sich hin fluchend trinkt der Mann die Flasche vollends leer. Kaum hat er den letzten Schluck genommen, da fällt er rücklings aufs Bett. Die Zeitung entgleitet seinen kraftlosen Fingern. Mit offenem Mund fällt er in einen tiefen rauschähnlichen Schlaf, die leere Alkoholflasche neben sich liegend.

In einem Cafe´ sitzend trinkt Julius Kramer einen heißen Kakao mit Sahne. Einmal in der Woche gönnt er sich diesen kleinen Luxus. An einem dafür vorgesehenen Platz liegen verschiedene Zeitungen und Boulevardblätter. Auf eine Bitte von ihm legt die freundliche Kellnerin, die seit vielen Jahren in dem Cafe´ arbeitet, ihm eine Zeitung hin. Während er sich das heiße köstliche Getränk munden lässt, schlägt er langsam die Zeitung auf und fängt an zu lesen. Plötzlich stutzt er. Ein Name springt ihm ins Auge. Der Krimischriftsteller winkt aufgeregt die Kellnerin an seinen Tisch. „Klara, wann war die Ausstellung?“ Die Bedienung, die eben zwei alten Damen den Mokka bringen wollte, bleibt bei Julius stehen. „Heute, am Freitag, Julius. Wieso fragen Sie?“ „Ach nur so! Ob man die Bilder noch sehen kann?“ „Warum nicht? Aber die Galerie von Frau Lau ist geschlossen wegen des Empfangs. Sie öffnet erst am Dienstag wieder.“ „Danke, Klara!“ „Möchtest du noch einen Kakao trinken oder hast du sonst noch einen Wunsch?“ „Ein weiterer Kakao wäre nicht schlecht, aber diesmal ohne Sahne und dazu eins von euren leckeren Baiserstücken, die mich schon die ganze Zeit aus der Vitrine anlachen.“ Nickend geht die Kellnerin, um erst einmal den wartenden Damen ihren Mokka zu bringen.

Nachdem der letzte Gast die Kunstgalerie verlassen hat, schließt Tobis Mutter eigenhändig die Eingangstüren der Galerie und schaltet die Alarmanlage ein. Ein letzter prüfender Blick. Alles in Ordnung. Die Angestellten räumen auf und stellen das Geschirr zusammen. Montag wird eine Putzkolonne anrücken und alles auf Hochglanz säubern. „Lasst uns gehen“, wendet sie sich an die wartenden Kinder und klimpert mit den Autoschlüsseln.

Tobi hält in der rechten Hand ein Stück Kuchen und kaut hingebungsvoll vor sich hin. Alice hat aufgehört zu zählen, dass wievielte Stück Kuchen ihr dicklicher Freund gegessen hat. Sie hatte bereits nach dem zweiten Sahnestück genug.

Es dunkelt bereits, als sich die drei auf den Weg nach Alices Vater machen. Das Mädchen freut sich auf ihre geliebten Tiere. Sie leidet ein wenig darunter, dass sie nur an den Wochenenden Gelegenheit hat, sich um sie zu kümmern. Auch der kleine weiße Hund, den Alice den Namen Kasper gegeben hat, ist ihr schon ans Herz gewachsen. Tobi sitzt schweigend neben der Freundin im Auto. Was diese wundert. Meistens führt er endlose Diskussionen während einer Autofahrt mit ihr oder er kaut mit vollen Backen. Diesmal tut er weder das eine noch das andere. Tobi starrt nur schweigend aus dem Autofenster, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. Was ist mit ihm los? Alice ahnt nicht, dass Tobi in Gedanken bei den Gemälden des Malers Alberto Bertoli weilt. Den Jungen wurmt es, dass er nicht dahinterkommt, was ihm an diesen Bildern so bekannt vorkommt. Tobi zermartert sich den Kopf, an wen ihn die Frau und das Kind auf den Bildern erinnern und dann dieser Ring. Wo hat er das Schmuckstück schon einmal gesehen?

Frau Lau hat das Autoradio angestellt. Leise Musik ertönt und unterbricht die Stille im Wagen. „Bald sind wir bei Onkel Ernst, Kinder.“ Im Rückspiegel kann sie die Köpfe von Alice und Tobi sehen, die sich ihr wortlos zuwenden. Komisch, warum ist ihr Junge nur so still? Er wird mir doch nicht krank werden? Das fehlt mir noch, denkt sie. Ohne dass es Tobi auffällt, beobachtet ihn die Mutter genau. In letzter Zeit gab es in der Schule einige Fälle an Grippe. Nein, die Gesichtsfarbe Ihres Sprösslings ist normal, und er hustet auch nicht. Aber irgendetwas hat der Junge. Nur was? Frau Lau kann das Schweigen Tobis nicht länger ertragen. „Tobi, was ist los, du bist so still da hinten?“ „Nichts, Mutti, ich bin einfach nur müde. Heute beim Sport mussten wir doch tatsächlich einen Wettlauf absolvieren und dass mir, wo ich doch von Sport absolut nichts halte. Und dann danach deine Kunstausstellung.“