Das Geheimnis von Chatton Heights - Joanna Hines - E-Book
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Das Geheimnis von Chatton Heights E-Book

Joanna Hines

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Beschreibung

Die Abgründe einer englischen Adelsfamilie: Der fesselnde Roman »Das Geheimnis von Chatton Heights« von Joanna Hines jetzt als eBook bei dotbooks. Eine mutige Frau – ein dunkles Erbe … Als Waise musste sich die junge Fern bislang allein durchs Leben schlagen – bis sie überraschend das imposante Anwesen ihres Großvaters in den Cotswolds erbt. Nun wagt sie zum ersten Mal auf etwas zu hoffen, was ihr bisher verwehrt war: eine Familie. Doch ihre Verwandten auf Chatton Heights begegnen ihr voller Argwohn; über den Tod ihres Großvaters und das Schicksal von Ferns Eltern breiten sie einen Deckmantel aus eisigem Schweigen. Immer mehr beschleicht sie das Gefühl, dass Chatton Heights ein dunkles Geheimnis verbirgt: Ist ihr Vater etwa gar nicht auf See verunglückt? Und was ist ihrer Mutter widerfahren, dass sie darüber zerbrach? Einzig dem Journalisten Adam scheint Fern vertrauen zu können – aber um die Wahrheit ans Licht zu bringen, werden sie einen hohen Preis zahlen müssen … Mitreißend und fesselnd verwebt Joanna Hines die ganz besondere Atmosphäre eines alten englischen Landhauses mit dem Gefühl ständig schwelender Gefahr. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Familiengeheimnis-Roman »Das Geheimnis von Chatton Heights« von Joanna Hines wird Fans von Katherine Webb begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 598

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Über dieses Buch:

Eine mutige Frau – ein dunkles Erbe… Als Waise musste sich die junge Fern bislang allein durchs Leben schlagen – bis sie überraschend das imposante Anwesen ihres Großvaters in den Cotswolds erbt. Nun wagt sie zum ersten Mal auf etwas zu hoffen, was ihr bisher verwehrt war: eine Familie. Doch ihre Verwandten auf Chatton Heights begegnen ihr voller Argwohn; über den Tod ihres Großvaters und das Schicksal von Ferns Eltern breiten sie einen Deckmantel aus eisigem Schweigen. Immer mehr beschleicht sie das Gefühl, dass Chatton Heights ein dunkles Geheimnis verbirgt: Ist ihr Vater etwa gar nicht auf See verunglückt? Und was ist ihrer Mutter widerfahren, dass sie darüber zerbrach? Einzig dem Journalisten Adam scheint Fern vertrauen zu können – aber um die Wahrheit ans Licht zu bringen, werden sie einen hohen Preis zahlen müssen…

Mitreißend und fesselnd verwebt Joanna Hines die ganz besondere Atmosphäre eines alten englischen Landhauses mit dem Gefühl ständig schwelender Gefahr.

Über die Autorin:

Schon in ihrer frühen Jugend begann Joanna Hines, mit Leidenschaft zu schreiben. Neben ihren Romanen veröffentlichte sie auch Kurzgeschichten und Artikel in »The Guardian« und »The Literary Review«; unter dem Namen Joanna Hodgkin schreibt sie außerdem Biografien. Die Autorin verbrachte viele Jahre mit ihrer Familie in Cornwall; heute lebt und arbeitet sie wieder in ihrer Heimatstadt London.

Bei dotbooks veröffentlichte Joanna Hines auch ihre Spannungsromane »Die Frauen von Briarswood Manor«, »Die Schatten von Glory Cottage« und »Das Erbe von Grays Orchard«.

Ebenfalls erschien bei dotbooks ihre historische Familiensaga »Die Rosen von Cornwall«:

»Sturmjahre – Band 1«

»Schicksalslied – Band 2«

»Sehnsuchtsleuchten – Band 3«

***

eBook-Neuausgabe Juli 2021

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1993 unter dem Originaltitel »Dora’s Room« bei Hodder and Stoughton, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 1995 unter dem Titel »Das verschlossene Zimmer« bei Droemer Knaur.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1993 by Joanna Hines

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1995 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/brickrena, George Hopkins und AdobeStock/isaac74

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-331-5

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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***

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Joanna Hines

Das Geheimnis von Chatton Heights

Roman

Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt

dotbooks.

Prolog

Rasch verwischte die winterliche Dämmerung die Konturen des Hauses auf dem Hügel; ein weißer Nebelstrom kroch vom Tal herauf, die Nacht würde Frost bringen. Die kalte Abendluft war so still, daß die Bewohner des Hauses, hätten sie gelauscht, das sachte Raunen der Bäume am Rande des Obstgartens hätten hören können. Und in dem Wäldchen am anderen Ende des Gartens war der Ruf einer Eule zu vernehmen, die sich mit ihrem Gefährten zur Jagd in den Hecken aufmachte. Ein einzelner Lichtstrahl warf seinen Schein auf den Rasen vor dem Haus. Er kam aus einem Zimmer im Obergeschoß, in dem ein alter Mann, umgeben von seiner Familie, im Sterben lag.

Er ging überraschend friedlich dahin, ließ still das Leben los, das er immer so grimmig und unerbittlich im Griff gehabt hatte. Man hatte es schon lange gewußt, und es gab keinen, der sein Dahinscheiden betrauerte, aber man mußte die Form wahren.

Die Pflegerin hatte sie hereingerufen, und nun standen sie in unbehaglichem Schweigen um das Bett herum: seine zweite Frau, sein Sohn und sein Enkel, gefangen in ihren Erinnerungen, als sie das von langer Krankheit ausgezehrte und gedemütigte Gesicht betrachteten, das noch immer die Herrschsucht ausstrahlte, die sie alle so lange in Bann gehalten hatte. In jedem von ihnen flackerte nun die Hoffnung auf, jetzt, da seine Tyrannei ein Ende nahm, endlich einen Anteil an dem lange ersehnten Vermögen zu erhalten.

Archie, sein Sohn, hatte die Fesseln der Abhängigkeit ins Mannesalter mitgeschleppt. Zu schwach, um zu bleiben und dem alten Mann die Stirn zu bieten, aber auch zu gierig, um sich zu lösen, hatte er ein Leben lang kleinliche Gängelung und Erniedrigung ertragen und seine Selbstachtung dahinschwinden sehen; doch nun war ihm zu guter Letzt Zutritt zur Männlichkeit in Aussicht gestellt.

Tillie, die zweite Frau des Sterbenden, sah ihn an und harrte geduldig an seinem Bett aus, wie sie es all die Tage und Monate und die graue Ewigkeit ihrer Ehe hindurch getan hatte; ihr Gesicht war reglos, gab kein Gefühl preis. Sie hatte die Ödnis der Krankenpflege erduldet, die ruhelose Qual schlafloser Nächte, all die Jahre hindurch, die ihren fragilen Zauber mit Furchen der Bitterkeit und gepeinigten Hoffnungen zunichte gemacht hatten, doch heute war der Lohn der Freiheit endlich in greifbare Nähe gerückt.

Gerald, der Enkel, betrachtete den alten Mann mit Zuversicht; er war noch jung genug, um sich seines Anteils sicher zu sein, einfach weil er verhätschelt und verwöhnt worden war. Er war fasziniert und zugleich abgestoßen vom Wirken des Todes, der einsamen Intimität des Sterbens.

Das rauhe Atmen von Lungen, die bald für immer schweigen würden, füllte den Raum, und die Leere des Todes legte sich um den alten Mann in seinem riesigen Bett. Aber ein letzter Moment von Klarheit war ihm noch vergönnt. Ohne die Augen zu öffnen, sah er die Szenerie an seinem Bett, und er kannte die Gedanken eines jeden. Er hatte sie immer gekannt.

Seine grauen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Es hatte einmal ein Kind gegeben, ein kleines dunkelhaariges Mädchen, das für kurze Zeit auf den weiten Rasenflächen am Haus gespielt und ihm Gänseblümchen zu seinem Stuhl gebracht hatte, bevor es für immer aus seinem Leben verschwunden war. Die Vision verblaßte. Er spürte das anhaltende Drängen der drei Tölpel an seinem Bett, aber nicht einmal jetzt, da er starb, entließ er sie aus seiner Herrschaft. Er hatte sie betrogen.

Umgeben von seiner Familie und mit einem Lächeln auf den Lippen, driftete der alte Mann ins Vergessen. Die Pflegerin, eine empfindsame Person, die die Familie noch nicht lange kannte, verkündete mit Tränen in den Augen, daß es ein schöner Tod gewesen sei.

Wenige Monate zuvor hatte es einen anderen Tod gegeben – weiß, steril, unpersönlich. In einer Klinik innerhalb der Klinik sahen zwei Krankenschwestern hin und wieder nach, ob es dem Ende entgegenging, dem zweiten Ende in einem Leben, das schon viele Jahre zuvor erloschen war. Das Gesicht auf dem Kissen schien alt zu sein, obwohl die Frau noch keine fünfzig war. Jahre des Wahnsinns hatten ihre einstige Schönheit und ihre Jugend zerfressen.

»Sie wird die Nacht nicht überleben«, sagte die Oberschwester. »Armes Ding. Es wird eine Erlösung sein.«

Es war nach Mitternacht, und es war still geworden auf der Station.

»Ich hätte nicht gedacht, daß es so schnell geht«, sagte die Oberschwester. »Ich hätte die nächsten Verwandten benachrichtigen sollen.«

»Ihre Tochter? Die kann sie doch kaum gekannt haben, die Arme.«

Die beiden Schwestern entfernten sich, um nach den anderen Patienten zu sehen. In der Stille des dunklen Zimmers rührte sich die Frau, die so lange geschwiegen hatte, und sprach. »Fern ...« murmelte sie, »Fern ...«

Als die Schwestern wieder hereinsahen, war die Frau tot. Und der Raum war erfüllt von Mondlicht.

Kapitel 1

Paula kurbelte das Wagenfenster herunter und streckte den Kopf in die eisige Kälte hinaus. »He, Mister! Sie da drüben!« Sie ging immer sehr gepflegt mit der Sprache um, und ihr wohlklingender Illinois-Akzent wirkte in der musealen Eleganz dieses honiggelben Dörfchens überaus fehl am Platz. »Wo geht's nach Long Chatton?«

»Das hier ist Long Chatton.« Der alte Mann, dem sie gerade hinterhergerufen hatte, schien ziemlich verstimmt wegen dieser amerikanischen Formlosigkeit.

»Ach, Mist!« Paula zog den Kopf wieder ein und blickte mich anklagend an. »Ich dachte, du hättest gesagt ...«

»Chatton Heights. Das Dorf heißt Long Chatton«, erläuterte ich, »aber das Haus, wo wir hinwollen, ist Chatton Heights.«

»Warum, zum Teufel, hast du das nicht gleich gesagt?« Sie streckte den Kopf erneut hinaus und rief noch lauter als vorher: »He!« Der Mann hatte sich schon zum Gehen gewandt, aber ihre schwatzhafte Art brachte ihn dazu, stehenzubleiben. »Meine Freundin Mary sagt, wir wollen zu einem Haus namens Chatton Heights. Kennen Sie das?«

»Verdammte Touristen«, murmelte er. »Natürlich kenn ich es. Jeder kennt es. Aber es ist der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Sie können da nicht rein.«

Diese Gelegenheit ließ sich Paula nicht entgehen. »O doch, können wir«, trumpfte sie auf. »Wissen Sie, meine Freundin Mary hier ist nämlich ...«

»Paula, sei ruhig!« Ich sagte es mit zusammengebissenen Zähnen, und ausnahmsweise tat Paula, worum ich sie bat. Widerstrebend kam der Mann zum Wagen zurück und beugte sich herunter, so daß er uns in die Augen sehen konnte. Er hatte ein vogelartiges Gesicht mit buschigen Brauen, das vor Kälte verkniffen war. Die Temperatur mußte um den Gefrierpunkt liegen, es wehte ein strammer Wind, und es sah nach Regen aus. Ich konnte verstehen, daß er sich nicht lange aufhalten wollte.

»Sie sind zu weit gefahren«, sagte er knapp, als wäre von zwei Touristinnen nichts Schlaueres zu erwarten. »Sie müssen die Hauptstraße zurückfahren, an der Post links abbiegen – das ist das Gebäude am Ende, an dem ›Postamt‹ steht –, etwa anderthalb Kilometer bergauf, und dann sehen Sie links die Abzweigung. Es liegt direkt hinter diesen Bäumen am Berg.«

»Danke.« Paula begann das Fenster hochzukurbeln, doch der Mann hielt sie plötzlich davon ab, indem er die Hand drauflegte.

»Moment mal«, sagte er. Sein Ausdruck hatte sich verändert. Mit den buschigen Augenbrauen, dem knochigen Gesicht und der Hakennase sah er aus wie ein Vogel mit Magenbeschwerden, ein Geier etwa oder ein Adler, der von zerklüfteten Felsen herabspähte. Jetzt funkelten seine Augen, als hätte der Vogel gerade etwas Hochinteressantes und möglicherweise Eßbares gesichtet. Er sah nicht mehr Paula an, sondern an ihr vorbei zu mir, und er blickte nicht mehr irritiert, sondern triumphierend. »Natürlich!« rief er und drückte mit arthritischen Fingern das Fenster hinunter. »Das muß ... es ist Fern, nicht wahr? Fern Miller.«

»Tut mir leid.« Paula verdrehte die Augen, als wollte sie mir zu verstehen geben, daß wir uns ausgerechnet den Dorftrottel von Long Chatton ausgeguckt hatten. »Sie müssen sie mit einer Cousine oder so verwechseln. Trotzdem, danke schön, wir ...« Aber ich unterbrach sie. »Ja«, sagte ich, »ich bin Fern.«

Und das war eigentlich der Anfang.

Nicht der Anruf des Anwalts, nicht einmal der Tod meines Großvaters, sondern dieser Augenblick am Rande von Long Chatton, wo das verwilderte Dorf in den Cotswolds in die Landschaft übergeht und die Straße in der einen Richtung zum Teich mit der Roßkastanie führt und in der anderen zu den adretten Häuschen in der Siedlung nahe Chipping Campden – dieser Augenblick, als Ted Bury mich zum erstenmal in seinem Leben sah und genau wußte, wer ich war. An seiner Nase hing ein Tropfen, und ich versuchte auf etwas zu kommen, worüber ich hinterher mit Paula lachen konnte, aber mir fiel nichts ein. Er starrte mich auf eine eigenartig besitzergreifende Weise an und sagte: »Wer hätte das gedacht, Fern Miller.« Und es war unheimlich und anheimelnd und erschreckend zugleich. Wie wenn man als Kind Versteck spielt und versucht, nicht entdeckt zu werden, aber trotzdem gefunden werden möchte. Ich wußte wirklich nicht, was ich davon halten sollte. Damals nicht. Lange Zeit nicht.

Paula starrte mich an, als hätte ich gerade gestanden, die letzte der Romanows zu sein, aber der alte Mann war hocherfreut. »Ich wußte es in dem Moment, als ich Sie sah. Sie sind Ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Das gab den Ausschlag. Ich löste die Handbremse und fuhr los, ohne etwas darauf zu erwidern. Mir fiel in diesem Moment nichts Sinnvolles ein.

»Fern? Fern! Soll das ein Name sein? Oder was?« Paula schleuderte mir das Wort quasi ins Gesicht. »Wer, zum Teufel, ist Fern? Was ist mit meiner alten Freundin Mary passiert? Ich dachte, du wärst ...«

»Schrei nicht so, Paula. Ich sitze direkt neben dir.«

»Aber Fern!«

»Das ist mein erster Vorname. Da ist nichts komisch dran. Viele Leute haben ihren zweiten Vornamen als Rufnamen. Fern Mary. Meine Familie hat mich Fern genannt, doch Dring zog Mary vor, und als ich in die Schule kam, gab ich Fern auf und nannte mich Mary. Es war irgendwie einfacher.«

»Das kann man wohl sagen. Warum hat deine Familie dich mit einem Namen wie Fern gestraft, um Himmels willen?«

»Hab ich nie gefragt. Und erinnere dich, ich bin während der Hippie-Zeit auf die Welt gekommen. Mitten in Flower-power und Peace und Love. Es gab jede Menge Eltern, die ihren Kindern komische Namen gaben.«

»Deine gehörten jedenfalls dazu. Ich meine, Flora oder Rosy oder so was könnt ich ja noch verstehen, aber Fern, das ist ja nicht mal eine Blume. Nur so ein Blatt, oder?«

Ich zögerte. Paula kennt sich auf vielen Gebieten bestens aus, doch Botanik gehört nicht dazu. Ich erwog, sie über das Wesen der Farne aufzuklären, schreckte aber vor diesen ganzen Sporen und der ungeschlechtlichen Fortpflanzung zurück. »Denk nur an Twiggy«, schlug ich statt dessen vor.

»Es hätte wohl noch schlimmer kommen können. Wer war der alte Knabe überhaupt?«

»Ich hab keinen Schimmer.«

»Er kannte dich aber. Was für eine undurchsichtige Gestalt bist du, Miß Mary Fern Miller?«

»Fern Mary.«

»Fern. Ich kann's einfach nicht glauben. He! Hier links abbiegen, denk dran. Bei dem Postamt mit dem Schild Postamt, hat der alte Mann gesagt. Was ist los? Wieso hältst du an?«

Ich fuhr den Renault an den Rand und stellte den Motor ab. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand eine Reihe solider Tudorhäuser; sie waren mit dem Geld wohlhabender Wollhändler und Textilhersteller erbaut worden und beherbergten jetzt Antiquitätenläden und kleine Hotels. Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, als wären ihre dunklen Fenster träge Augen, die mich beobachteten, die darauf warteten, was ich als nächstes tun würde.

Paula sagte: »Wir brauchen nicht noch mal zu fragen. Wir müssen hier links. Ich weiß es genau.«

»Das ist es nicht.«

»Was dann? Der alte Knabe hat dich durcheinandergebracht, nicht wahr? Du siehst ganz komisch aus.«

Es war nicht kalt im Wagen, aber plötzlich konnte ich kaum mehr sprechen, weil meine Zähne so klapperten. Was sich den ganzen Morgen wie nervöses Magenflattern angefühlt hatte, schien sich jetzt zu einer Welle kalter Übelkeit und Angst auszuwachsen. »Ich weiß einfach nicht, ob ich das durchhalte.«

»Natürlich tust du das, Mary. Fern. Herrje, wie soll ich dich denn nun nennen?«

»Mary ist okay.«

»Sei nicht so ein erbärmlicher Feigling, Mary. Du kannst jetzt nicht kneifen.«

Ich schwieg. Ich hatte absolut nichts dagegen zu kneifen. Mein einziger Wunsch war, den Wagen anzulassen, auf dem nächsten Weg nach Bristol zurückzufahren und nie wieder herzukommen.

»Schau«, Paula wechselte das Thema – ich nehme an, damit ich Zeit hatte, wieder Mut zu fassen –, »diese neugierige alte Kuh in der Post beobachtet uns.«

Das stimmte. Eine grauhaarige Frau mit Brille, die einen blauen Kittel trug, starrte zwischen einer Anzeige für Kaffeekränzchen zugunsten der Krebshilfe und einem Berg Briefpapier durchs Fenster zu uns herüber.

»Vielleicht weiß sie, wer du bist«, überlegte Paula laut.

»Nein«, sagte ich mit Nachdruck, »sie starrt dich an.«

Daran war ich gewöhnt. Die Leute starrten immer Paula an und warfen mir dann höchstens beiläufig einen Blick zu.

Paula kann nur als eindrucksvoll beschrieben werden. Mit hohen Schuhen und aufgesteckten Haaren mißt sie eins dreiundachtzig, und sie ist zaundürr. Ihr Haar ist so dunkelrot, daß es beinahe schmerzt, und ihre Haut milchweiß. Ihre Gesichtszüge sind uneben, und außerdem hat sie eine ziemlich große Nase und ein eckiges Kinn, aber das sind Einzelheiten, die man nicht an ihr bemerkt. Sie ist zweifellos nicht hübsch und scheint auch keinen Wert darauf zu legen, es zu sein. Solange sie Aufsehen erregt, ist sie zufrieden. Heute trug sie schwarze Wollhosen und ein schwarzes Oberteil, das halb Jacke, halb Umhang war, sowie ein riesiges Schultertuch in einem tiefen Rot, das sich entsetzlich mit ihrem Haar biß, auffallende Ohrringe und einen Haufen Ketten und Armreifen, die aussahen wie bei einem Maharadscha entwendet. Der Gesamteindruck war atemberaubend.

Wenn es Paulas Bestreben ist, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, so war es meines stets, unauffällig im Hintergrund zu bleiben. An mich wenden sich die Leute, wenn ihnen die Augen von Paulas lebhaften Kontrasten schmerzen. Nicht, daß mit meinem Äußeren etwas nicht stimmt – ich habe ziemlich ebenmäßige Gesichtszüge und eine Menge dunkles Haar, und ab und zu haben Leute mir ermutigend gesagt, daß meine Augen schön seien, doch mehr tut sich nicht. Ich sehe ausgeglichen und verläßlich und vielleicht etwas langweilig aus. Meistens trage ich Jeans und einen alten Pulli, die Uniform der jüngeren Twens, aber an diesem Tag hatte ich meinen besten Rock an, der marineblau ist und kurz unterm Knie endet, dazu einen beigen Pullover und einen blauen Anorak. Wie ich schon erwähnte, ich versuche, nicht aufzufallen.

»Sieh mal«, Paula, die lieber rabiat war, gab ihr Bestes, um überzeugend zu wirken, »die ganze Sache ist vorbei und wir fahren zurück, bevor du's merkst. Du brauchst deshalb nicht in Panik zu geraten.«

»Ich hab vergessen, warum ich hier bin.«

»Um den Anwalt zu treffen, Dummchen. Und das Haus anzuschauen. Du weißt doch, daß du ganz wild drauf warst, es wiederzusehen.«

»He, Paula, denk doch mal einen Moment nach.« Ich versuchte sie weich zu kriegen. »Stell dir nur vor, wie unangenehm es wird. Ich war zum letztenmal da, als ich sechs war, und jetzt plötzlich ...«

»Klar. Okay. Es wird am Anfang ein bißchen peinlich sein, aber das heißt doch nicht ...«

»Peinlich? Paula, sie werden mich verabscheuen. Und man kann's ihnen nicht verdenken.«

»Warum denn? Es ist schließlich nicht deine Schuld, daß dein Großvater dir alles vermacht hat.«

»Deshalb können sie mich trotzdem hassen.«

»Aber es sind deine Verwandten.«

»Das spielt keine Rolle. Nicht für mich. Dring ist die einzige Verwandte, die ich jemals hatte, und ich will niemanden außer ihr. Es ist zu spät für verlogene Familienvereinigungen. Ich hätte den Anwalt in seinem Büro treffen sollen. Das stimmt so alles nicht.«

»Du mußt dir das Haus doch irgendwann mal ansehen. Gut, vielleicht empfangen sie dich nicht mit offenen Armen wie den verloren geglaubten Sohn oder die Tochter oder Nichte oder sonstwas. Aber laß ihnen Zeit. Dein Charme und deine Persönlichkeit werden sie schließlich überzeugen. Lach nicht, Mary, ich meine es ernst. Alle Leute mögen dich, wenn du ihnen die Chance gibst, dich kennenzulernen. Und selbst wenn sie dir nicht aus der Hand fressen, was kann denn schlimmstenfalls passieren? Daß sie dich ablehnen, dich unfreundlich behandeln und es möglicherweise kein reines Zuckerschlecken wird. Aber das ist doch kein Weltuntergang, oder? Wenn sie mit deinem Glück nicht umgehen können, ist das ihr Problem, nicht deines, meine ich.«

»Vielleicht hast du recht.«

»Ich hab immer recht, und das weißt du. Irgendwann mußt du sie treffen. Am besten bringst du's hinter dich.«

Paula hatte mich überzeugt. Obwohl ein Teil von mir, und zwar ein ziemlich großer, wegrennen und nie wieder an diesen Ort zurückkehren wollte, sagte der andere Teil, daß ich keine Ruhe haben würde, solange ich mich meinen Verwandten nicht gestellt, mein seltsames Erbe nicht in Augenschein genommen hätte. Der Brief des Anwalts hatte meine Neugierde geweckt, die all die Jahre geschlummert hatte. Ich mochte sie ignorieren, aber in meinem tiefsten Innern wußte ich, daß ich nicht entkommen konnte. Also ließ ich den Wagen wieder an und fuhr den Berg Richtung Chatton Heights hinauf.

Wie Paula gesagt hatte: Es konnte nichts Schlimmeres passieren, als daß sie mich ablehnten.

Zumindest glaubte ich das damals.

Als wir das zauberhafte honigfarbene Dorf hinter uns gelassen hatten und auf die Straße nach Chatton Heights abgebogen waren, schien sich etwas von meiner Nervosität auf Paula übertragen zu haben. Vielleicht lag es an den Torpfosten an der Auffahrt. Steinerne Vögel thronten auf ihnen, die Flügel gespreizt wie zum Flug. Sie hatten Ähnlichkeit mit dem adlerartigen alten Mann aus dem Dorf. Und die Auffahrt selbst war mächtig eindrucksvoll; sie wand sich zwischen grünem Buschwerk hindurch, ohne daß vom Haus etwas zu sehen war. Während Paulas Befürchtungen immer stärker wurden, lösten sich meine auf. Plötzlich kam mir das ganze Geschehen unwirklich vor, schien nur das letzte alberne Ereignis in einer Reihe von Tagträumereien zu sein, die mit dem Brief des Anwalts in der Woche zuvor begonnen hatten. Seit ich ihn gelesen hatte, war ich unruhig und verwirrt gewesen, aber nun hatte ich plötzlich den Eindruck, weit entfernt von alldem zu sein. Ich hatte jedoch nicht das Gefühl, daß jemand anders alles erlebe – es war vielmehr, als wäre ich, durch ein dunkelgrünes Lorbeermeer Chatton Heights entgegenfahrend, nicht mehr dieselbe Mary Miller, die ich aus dem Alltag kannte. Es war ein höchst merkwürdiges Gefühl, aber weitaus weniger unangenehm als der scheußliche Anfall von Panik, den ich im Dorf bekommen hatte.

»Deine Verwandtschaft hat offenbar was für Grün im großen Stil übrig«, sagte Paula, und mir fiel auf, daß ihr amerikanischer Umgangston nur noch sehr verhalten durchdrang.

Sie klang ebenso eingeschüchtert wie enttäuscht, und ich wußte, weshalb. So eine lange Zufahrt hätte beeindruckend oder geheimnisvoll oder an einem bedeckten Wintermorgen wie diesem sogar ein bißchen unheimlich wirken sollen. Aber die Zufahrt zu Chatton Heights war nichts von alledem. Sie war lang, doch öde und monoton und beinahe beengend.

Ich fuhr langsam, denn da waren eine Menge Schlaglöcher. Der Weg schien kein Ende nehmen zu wollen.

»Dort stehen ein paar schöne Bäume«, sagte ich.

Es hatte zu regnen begonnen, und das schien irgendwie passend – Regentropfen, die auf große glänzende Blätter prasselten. Wir versanken in ein bedrücktes Schweigen, bis ich, ebenso zu meinem eigenen Erstaunen wie zu dem Paulas, plötzlich ausrief: »Schau, siehst du den Baum da drüben?« Ich deutete auf einen einzelnstehenden mächtigen immergrünen Baum, der alle anderen überragte. »Das ist die Steineiche! Das ist der älteste Baum des Gartens. Siehst du ihn?«

Paula blickte in die Richtung, aber sie überschlug sich nicht gerade vor Begeisterung. »Was ist so Besonderes an einem blöden alten Baum?«

»Ach, ich weiß nicht. Ich ... es ist nicht so wichtig.«

Ziemlich verwirrt verfiel ich wieder in Schweigen und war froh, daß Paula mir keine weiteren Fragen stellte. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht geahnt, daß ich wußte, wie eine Steineiche aussah, geschweige denn, daß es eine in Chatton Heights gab und daß sie der älteste Baum des Gartens war. Aber in der Sekunde, als mein Blick sie erfaßt hatte, diese massige Gestalt mit ihren grünschwarzen Blättern, war das Wissen klar und deutlich in meinem Hirn aufgetaucht. Und ich hätte mein Leben gewettet, daß ich recht hatte. Dennoch fragte Paula verständlicherweise, was denn so Besonderes an einem alten Baum sei.

»Wer sind diese Leute eigentlich?« wollte sie jetzt wissen. »Wer wohnt hier?«

»Ich glaube, mein Großvater hatte wieder geheiratet, also nehme ich an, daß seine Witwe hier lebt. Und natürlich mein Onkel.«

»Ist der verheiratet?«

»Seine Frau ist vor einiger Zeit gestorben.« Ich ließ mich nicht weiter darüber aus, denn ich wollte nicht zugeben, daß ich meine Kenntnisse über die Familie vorwiegend aus Zeitschriftenberichten über meinen Onkel bezogen hatte.

»Kinder?«

»Ein Junge in meinem Alter.«

Bevor Paula das Ausmaß meines Unwissens weiter ergründen konnte, machte der Weg eine scharfe Biegung, und wir standen vor dem Haus.

Paula sog die Luft ein. »Großer Gott«, murmelte sie.

Ich sagte nichts, ich starrte nur. Das Haus verzerrte die Größenverhältnisse, ließ den Betrachter ganz klein erscheinen. Mein Renault wirkte plötzlich winzig, ein Ruderboot im Schatten eines kilometerlangen Tankers.

Beim ersten Anblick von Chatton Heights geriet ich in Erstaunen, wie ich es immer wieder tat, wenn ich das Haus eine Weile nicht gesehen habe – Erstaunen, daß soviel Arbeit und Zeit und Mühe auf etwas verwandt wurde, das so wertlos ist. Es war riesig und scheußlich. Um sich das volle Ausmaß der Leistung des Architekten vor Augen zu führen, muß man sich vergegenwärtigen, daß Long Chatton im Herzen der Cotswolds liegt und daß Chatton Heights wie alle Häuser in der Gegend aus dem einheimischen goldenen Stein erbaut wurde. Ein wunderschöner Stein – nur hier nicht.

Hier schien das Honiggelb zu einer Art galligem Gelb vergoren zu sein. Vielleicht war all das geschmacklose Beiwerk daran schuld, der rote Ziegel an den Eingängen, die irritierenden Buntglaseinlassungen. »Je mehr, desto besser« – das Haus eines Reichen. Ich schätze, man könnte den Stil wohl gnädig als »viktorianische Gotik« bezeichnen, aber mir schien das Haus immer mehr Ähnlichkeit mit einem dieser riesenhaften viktorianischen Gefängnisse denn mit irgendeiner Kathedrale zu haben. So als hätte der Architekt geahnt, daß viele der zukünftigen Bewohner des Hauses besser in eine Strafanstalt oder ein Irrenhaus gehört hätten als in ein normales Haus.

Tatsächlich erfuhr ich später, daß mein Ururgroßvater dieses Haus unter der Maßgabe erbauen ließ, es später als Aufbewahrungsort für seine einzigartige Gemäldesammlung zu benutzen, die er sich zulegen wollte, und der Architekt hatte den Auftrag, es so einbruchsicher wie möglich zu gestalten. Daher der Festungscharakter, die hohen, schmalen Fenster und die massiven Türen. Da ich mir nie vorzustellen vermochte, daß jemand verrückt genug sein könnte, gewaltsam in das Haus eindringen zu wollen, schienen mir die Befestigungsanlagen nur dazu zu dienen, eine etwaige Flucht zu verhindern. Mein auf Sicherheit bedachter Vorfahr starb übrigens bei einem seiner für ihn typischen cholerischen Wutanfälle, bevor er das Geld ausgeben konnte, das er mit soviel Einsatz angehäuft hatte, weshalb die Gemäldesammlung nie Gestalt annahm. Ich glaube, ein paar Tintorettos und einige andere Sachen waren da, aber sie wurden nach dem Ersten Weltkrieg verkauft, damit die Erbschaftssteuern bezahlt werden konnten.

»Du liebe Güte«, sagte Paula. »Groß ist es jedenfalls.«

»Ja.« Das war nicht abzustreiten.

Sie sah mich von der Seite an. »Und du bist sicher, daß das dir gehört?« Wie alle Amerikaner hielt sie das britische Klassensystem für unergründlich, aber Geld fand sie einleuchtend und imposant. Und Chatton Heights sah nach Geld aus. Schau mich an, schien es zu prahlen, ich bin das größte Haus weit und breit. Ich bin der Inbegriff von Geld. Ich kann es mir leisten, scheußlich zu sein. Nur die Armen und Mittelmäßigen müssen hübsch sein.

Und nun war dieses Monument viktorianischer Geschäftstüchtigkeit in meinen Besitz übergegangen, in den Besitz einer Person, die sich nicht mal lebenstüchtig fühlte.

»Scheint so«, sagte ich zögernd.

»Was machen wir jetzt?«

Das war eine vernünftige Frage. Ich hatte den Wagen vor der größten Eingangstür geparkt, die ich je gesehen hatte (diese Art von schwerer Holztür mit Eisenriegel und -beschlägen, die im Film von sechs nubischen Sklaven geöffnet werden muß), aber sie blieb verschlossen. Ich wußte, daß ich hingehen und klopfen oder nach einer anderen Tür Ausschau halten sollte, die aussah, als wäre sie in den letzten fünfzig Jahren einmal geöffnet worden, aber ich tat nichts dergleichen.

Paula trommelte aufs Armaturenbrett; ihre orangelackierten Fingernägel hüpften auf und ab. »Los, Mary«, sagte sie, »wir können nicht einfach ... oh, schau, da kommt jemand.«

In großer Entfernung eilte eine seltsame Gestalt um eine Hausecke und in unsere Richtung. Hastend, trippelnd, seitwärts hüpfend wie ein Insekt in einem Aufwind, mit flatterndem Mantel und schräg gelegtem Kopf.

»Wer, zum Teufel, ist das?« fragte Paula ungläubig.

Da ich nicht die leiseste Ahnung hatte, sagte ich nichts, stieg aber aus.

Die Insektenfrau rannte beinahe in mich hinein, und eine betäubende Geruchsmischung aus Mottenkugeln, Lavendel und muffigen Schränken stieg mir in die Nase wie bei alten Kleiderbündeln auf dem Flohmarkt. Ein Geruch, der von Zurückweisung und Ungepflegtheit kündete.

»Natürlich«, japste sie, »sicher ... so leid.«

Ihr Alter war schwer zu bestimmen. Sie hatte riesige vorstehende porzellanblaue Augen, die ein Schilddrüsenleiden vermuten ließen. Ihre Gesichtshaut war glatt wie die eines Babys, unnatürlich glatt für eine Frau in den Vierzigern. Doch um den Mund herum drängten sich zahllose kleine Fältchen, die wirkten, als hätte jemand ein Haarnetz über ihr Kinn gezogen, oder als ob sie vor langer Zeit ihre untere Gesichtshälfte in Spinnweben getaucht hätte, die nicht mehr zu entfernen waren. Der Kontrast zwischen der wachspuppenartigen Glattheit der oberen Gesichtshälfte mit den aufgerissenen blauen Augen und dem winzigen, in Spinnweben verfangenen Mund war beunruhigend. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß sie wahrscheinlich ein schrulliges altes Faktotum war, das die Familie aus Güte bei sich behielt.

»Guten Morgen«, sagte ich, »ich bin Mary ... ich meine Fern. Mr. Millers Enkelin.«

»Diese Tür wird nie ... Du mußt gedacht haben ... wir sind so froh, daß nun ... Familie!« Das letzte Wort sprach sie mit einer Betonung aus, die fast ein Stöhnen war, und dann fiel mir diese seltsame Frau um den Hals und drückte mir mit ihrem faltigen Mund einen Kuß auf die Wange. Meine spontane Reaktion war heftige körperliche Ablehnung, und ich schaffte es gerade noch, sie nicht wegzustoßen. Diese Reaktion, stellte ich später fest, rief die arme Person bei fast allen Leuten hervor.

Paula stieg auch aus und rieb sich die Hände, um ihren Kreislauf zu beleben. Die Frau übersah Paula, stürzte davon, rannte die fünf breiten Stufen zur Eingangstür hinauf und drehte heftig an dem wuchtigen Knauf. Wir dachten, sie wolle uns einlassen, und bewegten uns in ihre Richtung, aber sie wandte sich um und schüttelte lächelnd den Kopf. »Das ist die Haupt... aber ich kann nicht ... wenn wir außen herum ...« Nachdem sie so die Unbeweglichkeit der Tür demonstriert hatte, trippelte sie die Treppe hinunter und machte sich auf den Rückweg. Wir folgten schnellen Schrittes. Es war bitter kalt. Vereinzelte große Regentropfen klatschten auf den Kies. Wir betraten das Haus seitlich durch etwas, das in vergangenen Zeiten offenbar als Wintergarten geplant worden war. Der Raum hatte ein Glasdach und einen gekachelten Boden, aber nichts wies darauf hin, daß er jemals Pflanzen beherbergt hatte. Statt dessen waren da Gummistiefel, Regenmäntel, ein altes Hundelager, einige Packen vergilbter Zeitungen, ein vertrockneter Weihnachtsbaum und eine rostige Waschmaschine.

Als wir das Haus betraten, war mein erster Eindruck, daß die Temperatur sich kaum veränderte. Der endlose Korridor, den wir entlanggingen, strahlte vielmehr die muffige Kälte eines Mausoleums aus, und die feuchten Steinfliesen taten das Ihrige, um eine triste Gruftatmosphäre zu erzeugen.

Die Insektenfrau hastete vor uns her und warf uns gelegentlich Satzfetzen zu, aber ihre Diktion war so zusammenhanglos und ihre Stimme so leise und scheu, den Lauten einer Libelle gleich, daß es kaum möglich war, sie zu verstehen. Ich schnappte die Worte »Anwalt« und »Apfelstreusel« und »Sommer« auf, vermochte aber keinen Zusammenhang zwischen ihnen herzustellen.

Wir kamen in eine riesige Eingangshalle, von der aus eine breite Treppe eine Etage höher führte. An der Decke über dem oberen Treppenabsatz wölbte sich ein gläsernes Oberlicht. An den Wänden hingen Gemälde, überwiegend Landschaften, die offenbar in der Dämmerung entstanden waren; der Eindruck mochte jedoch auch durch diverse Schichten Firnis und einen gewaltigen offenen Kamin aus schwarzem Marmor entstehen. Inmitten dieser Nachbildung fürstlicher Ödnis wirkte der sachliche, moderne Schreibtisch mit Telefon und Telefonbüchern lächerlich fehl am Platz, vor allem da die Wand dahinter einige bedrohlich aussehende Spieße zierten; von einem baumelte der regionale Busfahrplan. Und dort, gegenüber der Treppe, befand sich die Tür, die uns den Einlaß verweigert hatte; wir hatten im Haus denselben Weg zurückgelegt wie außen.

Nun, da wir uns in der Eingangshalle befanden, schien die Frau sich plötzlich unschlüssig zu sein, wie sie weiter vorgehen sollte. Sie drehte sich langsam im Kreis, wie von einem unsichtbaren Faden gezogen. Dann stürzte sie abrupt los, als wollte sie eine der Türen öffnen, die von der Halle abgingen, überlegte es sich jedoch anders und kehrte in die Mitte zurück, wo sie zuerst Paula und dann mich mit wachsender Beunruhigung anblickte.

»Mr. Markham ist ... nicht warten lassen ... vielleicht nach dem Mittagessen?«

Paula erfaßte die Bedeutung der zerhackten Sätze rascher als ich. Sie zog ihr schwarzes Cape enger um die Schultern, und ihre Wangen nahmen allmählich einen zarten Blauton an, aber sie sagte beschwichtigend: »Das macht gar nichts. Ich weiß, daß Mary ... ich meine Fern ... Familiensachen regeln muß. Ich setze mich ans Feuer und warte. Das macht mir nichts aus.« In den merkwürdig ausdruckslosen blauen Augen zeigte sich Erleichterung, und der winzige Mund begann sich bebend zu bewegen, wobei tausend Fältchen nach außen liefen wie die Speichen eines Rads. »Ja, ja ... ich werde ... dem Anwalt zuerst ...«

Kurz bevor die Frau meine Hand packte, um mich zu Mr. Markham zu führen, hörte ich Paulas Stimme, die mir ins Ohr raunte: »Ich hoffe inständig, liebe Mary, daß du genetisch rein gar nichts mit diesem weiblichen Scheusal zu tun hast.«

Genau dieser Gedanke hatte gerade begonnen, mich ernsthaft zu beunruhigen.

Mr. Markham, der Anwalt meines Großvaters, war ein robuster Mann. Er strahlte männliche Vernunft und Sicherheit aus und war ganz der Typ, von dem man glaubte, daß er nie von Zweifeln oder Ängsten heimgesucht wurde. Für ihn schien das Leben so eindeutig wie ein juristisches Dokument – keine Grauzonen. Da in Mr. Markhams Weltsicht die Ziele der Menschen Geld und Macht hießen, stand es für ihn fest, daß ich vom Testament meines Großvaters begeistert war; man hätte über viel mehr Selbstsicherheit als ich verfügen müssen, um diese Meinung zu erschüttern.

Ich habe wenige Erinnerungen an dieses Treffen. Mr. Markham benutzte zahlreiche Wörter, welche mir neu waren, wie beispielsweise »gerichtliche Testamentsbestätigung« und »Nachlaßbegünstigter« – die mir allerdings später nur allzu vertraut werden sollten –, und obgleich ich glaube, daß er sie mir im Verlauf des Gesprächs erläuterte, war ich wohl viel zu sehr damit beschäftigt, die seltsame, unwirkliche Situation zu verarbeiten, als mich auf juristische Fachbegriffe zu konzentrieren.

Wir hatten links und rechts neben dem Kamin Platz genommen, in dem ein Feuer brannte, das den Raum jedoch kaum erwärmte. Meine Knie wurden heiß, während mir am Rücken eiskalt war, und ich war froh, daß die Frau uns nicht die Mäntel abgenommen hatte.

Mr. Markham teilte mir mit, daß dies das Studierzimmer meines Großvaters gewesen sei. Ich versuchte zu begreifen, warum ein wohlhabender Mann sich freiwillig in einem derart tristen Raum aufgehalten hatte – es gelang mir nicht. Er konnte seine Umgebung nicht wahrgenommen haben. Wie sonst hätte er diese düsteren Grau- und Brauntöne, diese grauenhaften Möbel ertragen können? Das Studierzimmer meines Großvaters hatte den Charme eines altmodischen Bahnhofswartesaals. Ich saß auf der Stuhlkante – in diesem Raum trug nichts zur Entspannung bei. Mr. Markham sprach unbeirrt und war von dieser Atmosphäre überladener Strenge völlig unberührt. Er hatte dunkles Haar, das über den Ohren weiß wurde. Seine Gesichtsfarbe war gesund, sein Körper kräftig. Er erinnerte mich an ein Porträt einer jener Gutsherren aus dem 18. Jahrhundert, die sich zum Frühstück ein kleines Fläschchen Sherry zu Gemüte führten und zum Mittagessen riesige Mengen Wildpastete und gekochten Hammel vertilgten. Ich merkte, daß er versuchte, einen beruhigenden Eindruck auf mich zu machen, aber je vertrauenerweckender und gelassener er sich gab, desto mehr fühlte ich mich wie ein Schulmädchen, das zum Direktor gerufen wurde. Als ich das später Paula erzählte, sagte sie, das sei lächerlich, weil ich den Mann schließlich bezahlte, und für wen er sich eigentlich halte? Aber in dieser Lage kam mir der Gedanke gar nicht, und wenn ich ehrlich bin, hätte das wohl auch nichts geändert.

Einiges kriegte ich dennoch mit, zum Beispiel, daß meine Angelegenheiten sich in einer Art Zwischenzustand befanden und dies bis zu meinem Geburtstag im August, an dem ich einundzwanzig wurde und das Erbe antreten konnte, so bleiben würde, daß die Frau, die uns empfangen hatte, die Witwe meines Großvaters war – nicht meine Großmutter, welche schon vor meiner Geburt gestorben war, sondern seine zweite Frau Tillie, die er zehn Jahre vor seinem Tod geheiratet hatte, und daß sie laut Testament berechtigt war, bis zu ihrem Tod in dem Haus zu wohnen. Ihr stand auch ein Teil des Erbes zu, eine Summe von achttausend Pfund jährlich, was mir viel erschien, als der Anwalt sie zuerst erwähnte, aber dann nicht mehr. Mir war, als reiste ich während des Gesprächs mit Mr. Markham durch unterschiedliche Geldzonen, wie man in Amerika durch unterschiedliche Zeitzonen reist. Er begann bald von Summen von Zehntausenden und Hunderttausenden Pfund zu sprechen, und ich verlor die Übersicht über all die Nullen, weshalb er meinen leeren Blick auf seine Bemerkung »Sie werden selbstverständlich eine zwischenzeitliche Zahlung erhalten, bis die gerichtliche Testamentsbestätigung abgeschlossen ist. Wären zehntausend genug?« als Enttäuschung interpretiert haben muß. Als ich vage äußerte: »Ich glaube schon«, sah er mich kurz an, sagte: »Fünfzehn wären vielleicht besser« und machte sich eine Notiz. Ich hatte Mühe, nicht mit einem Lachen herauszuplatzen.

Die ganze Sache hätte komisch sein können, wenn sie nicht so unheimlich gewesen wäre. An einem Punkt hatte ich den Eindruck, daß er sich fast entschuldigte, weil mein Großvater offenbar unklug spekuliert hatte und infolgedessen nach Begleichung der Erbschaftssteuern »nur« siebenhunderttausend Pfund übrigblieben. Da schwamm mein Kopf bereits vor Nullen, und ich fragte mich, ob ich damit Millionärin war.

Ich sagte, ich könne bestimmt irgendwie durchkommen, aber er sah ziemlich verwirrt aus.

Ich glaube, Mr. Markham war so erleichtert wie ich, als wir unser »kleines Vorgespräch«, wie er es nannte, beenden konnten. Ich war offenbar eine enttäuschende Erbin, wie ich da in einem billigen blauen Rock und einem hellblauen Anorak auf der Sesselkante hockte und vor Kälte zitterte. Ich ließ keinerlei Reaktion außer einem höflichen Interesse an Worten erkennen, denen ich nur mit halbem Ohr lauschte – aber er konnte auch nicht wissen, daß Fern Mary Miller es sich vor langer Zeit, bevor aus Fern Mary wurde, beigebracht hatte, nur die unverbindlichsten Gefühle zu zeigen.

Aber was hatte er erwartet? Im Rückblick glaube ich, so seltsam es scheinen mag, daß es Dankbarkeit war. Gemäß der Überlieferung, daß der Überbringer schlechter Nachrichten um einen Kopf kürzer gemacht wurde, so erwartete Mr. Markham meiner Meinung nach von mir, daß ich ihm dankbar war, weil er mir die erfreuliche Kunde vom Erbe meines Großvaters überbrachte. Es war nicht seine Schuld, daß mir Dankbarkeit zu diesem Zeitpunkt sehr fern lag.

»Nun, Miss Miller, wenn Sie keine Fragen mehr haben, wäre das, glaube ich, fürs erste alles. Sie können es sicher kaum erwarten, Ihre Verwandten zu sehen. Falls jedoch noch Fragen auftauchen sollten oder Sie irgend etwas abklären möchten, können Sie mich jederzeit im Büro oder zu Hause anrufen. Jederzeit. Das ist kein Problem. Das alles kam recht überraschend für Sie, es gibt viel zu verarbeiten, aber denken Sie bitte daran, daß ich Ihnen immer für Fragen zur Verfügung stehe.«

Ich lächelte höflich, dankte ihm für sein Angebot, glaubte jedoch nicht, daß ich jemals davon Gebrauch machen würde. Er war so geradlinig, so frei von Zweifeln und Irrungen, daß er die labyrinthischen Wege meiner Familie niemals begreifen würde. Die einzige Frage, die mich damals wirklich interessierte, würde er nie beantworten können.

Welche bösartige Anwandlung oder welch mißverstandener Anfall von Großzügigkeit hatte meinen Großvater bewogen, mich für eine derartige Zuwendung auszuersehen, mich, die ich vielleicht als einzige in der Familie nichts anderes als meine Ruhe haben wollte?

Ich fand Paula in einsamer Pracht in einem gigantischen Wohnzimmer – dem Salon, wie es in Chatton Heights hieß. Zu meinem Erstaunen war es in dem Raum fast wann. Im Kamin loderte ein Holzfeuer, und Radiatoren strahlten etwas Wärme ab.

Abgesehen von dem erfreulichen Temperaturunterschied, war dieser Raum so trübsinnig wie das Studierzimmer meines Großvaters. Drei Fenster gingen auf den Garten vor dem Haus hinaus – regennasser Kies und dahinter Rasen und eine riesige Armee von Lorbeersträuchern. Auf dem Boden lag ein sehr betagter Teppich mit einer Art rötlichbraunem Paisley-Muster, und die Wände zierte eine Velourstapete mit einem Muster aus Urnen und Schriftrollen in derselben Farbe. Paula saß auf einem ausladenden Ledersofa mit Zierknöpfen, und überall standen Möbel aus gemasertem Eichenholz herum.

Links und rechts vom Kamin – der wie sein Gegenstück in der Halle aus schwarzem Marmor gefertigt war – hingen zwei große Ölgemälde. Auf dem rechten Gemälde war in rußigen Tönen und an Turner erinnerndem Stil ein Schiff dargestellt, das in Fluten von etwas unterging, welches schwarzem Sirup glich, wohingegen auf dem linken Gemälde ein Hirsch mit zerfetztem, blutendem Schlund von drei geifernden Hunden zu Boden gerissen wurde. Die Augen des Hirschs waren zum Himmel gerichtet, und in ihnen lag ein Ausdruck, wie man ihn auch bei ehemaligen Märtyrern findet. Zufälliger und beabsichtigter Tod: Die Themen schienen angemessen morbid für Chatton Heights, und ich fragte mich, ob meine Verwandten sich heutzutage Bilder von Flugzeugabstürzen oder vom Robbenschlachten an die Wände ihrer Heime hängen würden. Wie das Studierzimmer meines Großvaters wirkte auch dieser Raum nicht im geringsten gemütlich, farbig oder elegant. Ich glaube, ich bin schon durch Unterführungen gekommen, die anheimelnder waren.

Paula, die es sich mit einem großen Glas Sherry in der Hand auf dem Sofa bequem gemacht hatte, schien zu einem anderen Urteil gelangt zu sein. »An so ein Leben könnt ich mich gewöhnen«, meinte sie. »Die Dame hat gesagt, ich soll mir von dem Sideboard einen Drink nehmen.«

Ich schenkte mir ein Tonic ein und erwiderte: »Die Dame ist übrigens die Witwe meines Großvaters. Meine Stiefgroßmutter sozusagen – keine genetische Verbindung.«

»Gott sei Dank, was? Komm, setz dich her und erzähl, wie es mit dem Anwalt gelaufen ist.«

»Ach, jede Menge Rechtskram.« Ich ließ mich neben ihr nieder, blieb mit meiner Antwort aber bewußt vage. Mein Instinkt riet mir, nicht über die Einzelheiten meiner Erbschaft zu reden. Es ist merkwürdig, wie sich die Menschen entsprechend ihrer Umgebung verändern. Paula war mit der Wucht und Dramatik eines Spitzenmimen, der in einem Laienspielkreis landet, in mein kleines Häuschen in Briston geplatzt. Aber hier, in den schmucklosen, zeitlos scheußlichen Salon in Chatton Heights paßte sie nicht, weil sie modisch zu zeitgemäß war. Dieser Raum verlangte nach kräftigen Frauen in Tweedröcken, Frauen, deren Hände rauh waren vom Kampf mit den Ranken im Rosenbeet oder vom Festzurren des Sattels ihrer Reitpferde. Paulas orangelackierte Fingernägel und ihre hochhackigen Stiefel gehörten zu Straßen und Apartments, nicht zu diesem Raum. Aber für mich war ihre knallige Erscheinung von Vorteil, und ich war aufrichtig dankbar, daß sie mitgekommen war.

Aus der Halle unterhalb des Salons drangen die Stimmen von Männern zu uns, die sich herzlich begrüßten. Die eine gehörte zu Mr. Markham, aber die andere, die süffisant und schleppend wirkte, war mir unbekannt – unbekannt, und doch auf eine seltsame Art vertraut. Mein Körper sagte mir, daß er diese Stimme schon einmal vernommen hatte.

Paula redete immer noch – ich glaube, sie erläuterte, wie sie den Raum gestalten würde, wenn es ihrer wäre –, aber ich vermochte nicht mehr zuzuhören. Die Stimme in der Halle faszinierte und bedrohte mich zugleich. Es war eine Stimme, die nach Portwein und Havannas klang, die das rauchige Timbre eines Rundfunksprechers aus vergangenen Tagen hatte.

Und als die Tür aufging, wußte ich, noch bevor er hereinkam, zu wem die Stimme gehörte.

Zu meinem Onkel, dem älteren Bruder meines Vaters. Archie. Natürlich hätte ich ihn aufgrund der Interviews und Porträts, die hin und wieder über ihn in Zeitschriften erschienen, ebenso wie Paula erkannt Ich sah, wie ihr Kinn nach unten klappte und ihre Wangen sich verfärbten, ehe sie den Mund fest schloß und mir auf die ihr eigene unmißverständliche Weise einen Blick zuwarf, der besagte: Warum, zum Teufel, hast du das vorher mit keinem Wort erwähnt?

Aber Paulas Überraschung war nichts gegen meine eigene.

Als mein Onkel eintrat und einen Moment verharrte, freundlich und liebenswürdig lächelnd, durchfuhr mich ein panikartiges Grauen wie ein elektrischer Schlag – ein Grauen, das ebenso lebendig und echt wie völlig unsinnig war.

Stellen Sie sich vor, Sie wurden Ihr Leben lang immer wieder von einem Traum heimgesucht, der sich zwar veränderte, in dessen Mittelpunkt aber eine einzige Person stand, ein Mann. Der Mann ist stattlich und hat ein attraktives, ein bißchen zu fleischiges, leicht südländisches Gesicht mit kohlschwarzen Brauen, dunklen Augen mit etwas hängenden Lidern und einem vollen sinnlichen Mund. An sich ist nichts Ungewöhnliches an ihm, doch jedesmal, wenn er erscheint, ist die Ich-Figur in Ihrem Traum wie gelähmt vor Angst – der urtümlichen Angst der Alpträume, dem Grauen des kleinen Kindes, das in der gesichtslosen Dunkelheit um einen Beistand fleht, der längst verschwunden ist.

Und dann stellen Sie sich vor, daß diese Traumfigur eines Tages völlig unerwartet in Ihre reale Alltagswelt tritt. Ein Vorhang wird kurz beiseite gezogen, und die dunklen Ängste Ihrer Traumwelt dringen herein, ersticken, würgen, blenden Sie …

Eine Angst, so mächtig, daß sie Sie umwirft.

Dann löst sie sich auf.

Im einen Moment packten mich die eisigen Hände der Panik, umklammerten, lähmten mich ... und im nächsten spürte ich, daß ich frei atmen konnte, wie ein Heliumballon, der sich von der Schnur löst, die ihn hält, und leicht und locker in die blaue Luft hinaufsteigt, wo es keine Angst gibt, wo es gar keine Gefühle gibt.

Losgelöst, über der kleinen Gruppe von Menschen schwebend, nahm ich an den artigen Ritualen des Kennenlernens teil: Paula, mein Onkel Archie, Mr. Markham, Paula Grove ... Mein Onkel schloß sich an: Fern, meine Liebe, du hast dich kaum verändert ... einen Drink für dich? Ah ja, ich sehe, du bist schon versorgt ... noch etwas für deine Freundin? Es kommt mir vor, als wär's erst gestern gewesen ...

Falls ich insgeheim befürchtet hatte, das Wiedersehen mit meinen Verwandten würde extrem peinlich ausfallen, hatte ich den weltläufigen Charme meines Onkels außer acht gelassen. Seine Stimme surrte wie der Motor eines Luxuswagens.

Wie war die Fahrt? Habt ihr das Haus gleich gefunden, nach so langer Zeit? Es hat sich einiges verändert seit damals ... der Garten ist verkleinert worden, zuwenig Personal, das übliche Problem, am Küchenflügel mußte das Dach erneuert werden ... dein Großvater lehnte Veränderungen immer ab.

Paula hatte ihren Schock überwunden und legte sich ins Zeug, um meinem Onkel zu gefallen. Sie zog zwar nicht die amerikanische Naiv-Nummer mit den großen Augen ab, das war nicht ihr Stil, aber sie strapazierte ihren amerikanischen Akzent, bis er zu reißen drohte, und brachte ihr gesamtes Repertoire an witzigen Bemerkungen zur transatlantischen Sittenkomödie zum Einsatz.

Bald waren Archie und sie ins Gespräch vertieft, und ich hatte Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten. Die Traumgestalt war in jene verschlossenen Bereiche meines Geistes zurückgekehrt, die sie bislang bewohnt hatte, und ich konnte mir nicht mehr vorstellen, was an der Erscheinung dieses attraktiven, liebenswürdigen Herrn in mittleren Jahren – dessen Gesicht mir zumindest von Fotografien hätte vertraut sein müssen – eine solche schockartige Panik auszulösen vermochte.

In seiner Jugend mußte er auf klassische Weise gutaussehend gewesen sein – stattlich, dunkel und zweifellos attraktiv –, aber in den vergangenen Jahren hatten sich mehr und mehr Linien in sein Gesicht gegraben, was ihn nicht weniger anziehend, sondern eher interessanter machte. Seine dunklen, tiefliegenden Augen schienen so viel zu verbergen, wie sie preisgaben; seine Lippen waren voll und sinnlich und zogen sich beim Lächeln nach unten. Bei der ersten Begegnung mit meinem Onkel schätzte man ihn als einen Mann ein, der Freud wie Leid in reichlichem Ausmaß erfahren hatte, ein Mann, dessen instinktive Zurückhaltung von seiner Weltläufigkeit nur zum Teil verborgen wurde. Seine Hände waren, wie ich bemerkte, rosa und sorgfältig manikürt, die ovalen Nagelspitzen strahlend weiß – die Hände eines Bestattungsunternehmers oder eines Zahnarztes. Der Archie, der sich in meine Kindheitsträume gestohlen hatte, war jünger, weniger ausgeprägt.

Tillie erschien in der Tür. »Fertig, wenn ihr jetzt ...« begann sie. »Mittagessen ist ... obwohl vielleicht Gerald noch nicht.« Archie lächelte auf eine Art, die geduldig und amüsiert zugleich war. »Tillies Sprache ist leider nicht von Klarheit geprägt«, sagte er leise zu mir und Paula. Tillie war nicht anzumerken, ob ihr bewußt war, daß man über sie redete; lediglich ein Zucken ihrer Hände mochte darauf hinweisen. Sie starrte mit leerem Blick irgendwo in die Mitte des Raums, und ihr Mund bewegte sich, als lutschte sie ein imaginäres Bonbon. »Im Lauf der Zeit wirst du es lernen, ihre Mitteilungen zu entschlüsseln«, fuhr er fort. »Sie hat uns soeben darüber informiert, daß zum einen das Mittagessen fertig ist und wir zum anderen schon anfangen sollen, statt auf meinen extrem unpünktlichen Sohn zu warten. Stimmt das, Tillie?«

Sie sah beinahe dankbar zu ihm auf und nickte. Noch immer lächelnd, legte ihr mein Onkel die Hand auf die Schulter, und sie gingen hinaus, dicht gefolgt von Mr. Markham.

In der Halle verabschiedete Archie den Anwalt, während wir Tillie folgten, die ihren Dunst von Mottenkugeln und muffigen Kleidern verströmte und uns einen breiten, spärlich beleuchteten Korridor entlang zum Eßzimmer führte.

Kurz bevor wir eintraten, grub Paula ihre orangefarbenen Fingernägel in meine Schulter und zischte mir ins Ohr: »Warum hast du mir verdammt noch mal nie erzählt, daß dein Onkel der Verfasser von Doras Zimmer ist?«

Doras Zimmer. Das Buch hatte einen kleinen Aufruhr verursacht, als es veröffentlicht wurde. Aber nur einen kleinen. Es war wunderbar geschrieben ... richtungweisend ... vereinte Lyrik und Prosa in sich ... ein Mythos unserer Zeit – aber Kritiker äußern häufig derartiges, und ungeachtet der Lorbeeren geraten die von ihnen rezensierten Bücher schnell in Vergessenheit.

Nicht so Doras Zimmer. Innerhalb weniger Jahre wurde es zu dem, was man häufig als »Kultbuch« bezeichnet, und gewann eine leidenschaftliche Fangemeinde. Ich wußte darüber nicht mehr als alle anderen. Und was ich auch nicht gewußt hatte, jetzt aber nicht mehr übersehen konnte, war die Tatsache, daß Paula einer dieser glühenden Fans war.

Sie ließ Archie nicht aus den Augen, als er nach der Verabschiedung von Mr. Markham hereinkam und seinen Platz am Kopfende des Tisches in diesem Speisezimmer einnahm, das so riesig und trostlos war wie alle anderen Räume, die ich bisher in Chatton Heights gesehen hatte.

Vor den Fenstern stand eine immergrüne Magnolie, durch deren Blätter nur wenig dunkelgrünes Licht in den Raum drang. An dem riesigen Eßtisch fanden bequem zwölf, ja mühelos auch zwanzig Personen Platz. Die fünf Gedecke, die aufgelegt waren, wirkten wie Strandgut in einem Ozean aus schimmerndem Holz.

Als ich mich umsah, fiel mir auf, daß sich die deprimierende Stimmung dieses Raums von der des Salons und des Studierzimmers unterschied, da hier jemand (wer?) versucht hatte, die gewaltigen Dimensionen und die trüben Lichtverhältnisse zu verbessern. Der Versuch war gescheitert. Die Chintzvorhänge mit dem heiteren Iris-Lilien-Muster konnten die Tatsache nicht verhehlen, daß die Fenster zu schmal waren und das Licht ausschlossen, statt es einzulassen. Die Gemälde, fröhliche Strandszenen in Pastelltönen (ein Junge mit Sonnenhut und Reuse, ein anderes Kind, das sein Bein schlenkerte, weil sich eine Krabbe daran festgebissen hatte, Fischerboote und Möwen), waren zu klein und zu weit voneinander entfernt und wirkten in der gigantischen Wüste der staubfarbenen Wand nur mehr läppisch. Einzig die Anrichte, ein monströses, mit Ornamenten überladenes Möbel aus dunklem Holz, konnte sich in diesem Raum behaupten. Und die Sammlung von Zinnkrügen und -tellern, die darauf stand, schien angebrachter als das Porzellangeschirr und die Gläser auf dem Eßtisch. Ich fand, daß man in diesem Raum das Fleisch mit Messer und Händen zerlegen und die Überreste den Hunden zuwerfen sollte.

Aber es gab keine Hunde, keine fröhlichen Sänger, die das Schweigen zu vertreiben vermochten, mein Schweigen, meine Unfähigkeit, mich zu äußern ...

Als wir mit dem Essen begannen, überlegte ich, wie ich das Thema meines Erbes anschneiden konnte, aber es war schwer, eine geeignete Lücke in der banalen Tischkonversation zu finden. Magst du noch etwas Suppe? Ja, ich möchte euch sagen, daß die Erbschaft meines Großvaters für mich eine ebenso große Überraschung ist wie für euch. Ich finde, wir sollten darüber sprechen. Jetzt gleich? Ja, jetzt gleich. Ich bin sicher, daß Paula den Stier an den Hörnern gepackt hätte, aber mir verlangte das eine gesellschaftliche Souveränität ab, zu der ich mich außerstande fühlte. Wenn man sein ganzes Leben lang darauf geachtet hat, unsichtbar zu bleiben, verfügt man kaum über gesellschaftliche Souveränität. Ich aß die Suppe, die erstaunlich gut schmeckte – hatte Tillie etwa ungeahnte Talente? –, und sagte nichts. Ich hoffte, daß sich nach dem Essen eine geeignetere Gelegenheit bieten würde.

Es stellte sich bald heraus, daß mein Onkel für den Nachmittag andere Pläne hatte.

»Nach dem Mittagessen bekommen wir von einem Journalisten Besuch. Ich dachte, das interessiert euch vielleicht. In diesem Sommer gibt es eine Neuauflage von Doras Zimmer. Nach so langer Zeit ist es ziemlich schwierig, irgend etwas Neues über das Buch zu sagen oder zu schreiben, aber ein Glücksfall wollte es, daß die Reinemachefrau beim Ausräumen des Zimmers deines Vaters ein paar alte Fotografien entdeckte. Auf einigen ist Clancy zu sehen.«

»Ah ja?«

Mein Mangel an Interesse war schmerzhaft offensichtlich. Aber was sollte ich sagen?

Clancy. Clarence. Wer war das?

Archie betrachtete mich freundlich. »Ich dachte, du wolltest sie dir vielleicht ansehen.«

Ich ballte die Hände zu Fäusten. Wollte ich? Nach einigem Erwägen stellte ich fest, daß ich nicht wollte. Nicht besonders gern. Eigentlich gar nicht. Mein Vater starb, als ich fünf war. Er war tot. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals seinen Vornamen gehört zu haben. Clarence. Abgekürzt Clancy. Warum erwartete man von mir, daß ich alte Fotos von ihm anschauen wollte? Ich rang die ersten Regungen von Neugierde und Unbehagen nieder. Mein Vater hatte nichts mehr mit mir zu tun; er war ein Fremder, eine unwichtige Gestalt aus der Vergangenheit. Laß die Toten ruhen ... ich hatte das immer für einen vernünftigen Ratschlag gehalten.

Deshalb sagte ich nur: »Oh!« und starrte peinlich berührt in meine leere Suppenschale, während Paula ihre Begeisterung kundtat. »Ich bewundere Ihr Buch, seit ich es damals in der Schule gelesen habe, Mr. Miller. Ich hatte das Gefühl, daß es sich direkt an mich wendet. Jetzt wird mir klar, wie erstaunlich das ist, da Sie hier in diesem Haus aufwuchsen, in einer so anderen Welt. Aber irgendwie durchdringen Sie einfach die oberflächlichen Unterschiede zwischen jungen Menschen und stoßen direkt zu den universellen Wahrheiten vor, die allen gemein sind – und man muß wirklich genialisch sein, um das zu schaffen.«

Ich errötete an Paulas Stelle. Das war schon sehr dick aufgetragen, sogar für ihre Verhältnisse, und einerseits hoffte, andererseits fürchtete ich, daß Archie eine spöttische Bemerkung machen und alles ins richtige Verhältnis rücken würde. Doch zu meinem Erstaunen zogen sich seine Mundwinkel in einem wahrlich katerhaften, selbstzufriedenen Grinsen nach oben, und er murmelte: »Nennen Sie mich doch Archie, liebes Kind.« Sein Blick richtete sich auf mich. »Und wie ist es mit dir, kleine Nichte, findest du auch, daß dein kluger Onkel mit Doras Zimmer ein genialisches Werk geschaffen hat?«

Ich hielt seinem Blick kurz stand, dann sah ich weg. »Ich weiß nicht«, sagte ich leise, »ich habe es nie gelesen.«

Schweigen. Verblüfftes Schweigen. Jetzt war es an Paula, sich meiner zu schämen. Aber Archie überspielte rasch die peinliche Situation. »Himmel, warum solltest du auch? Es gibt viele Bücher, die deine Aufmerksamkeit mehr verdient haben.«

»Oh, aber M ... Fern, du mußt es lesen. Du weißt gar nicht, was du dir entgehen läßt«, sagte Paula.

»Ich möchte ja auch ... irgendwie bin ich nur nie ...«

»Du hast viel Zeit«, meinte Archie lachend, »und ich habe sogar noch ein paar Exemplare hier. Wenn du möchtest, wäre es mir ein Vergnügen, dir eines zu schenken.«

»Natürlich ... danke.«

»Und sei froh, daß ich nicht weitschweifig bin. Es ist kein dickes Werk, durch das man sich durchbeißen muß, bloß ein schmales Bändchen. Meine Muse ist nur ein schmalhüftiges, kümmerliches Wesen, falls sie sich nicht inzwischen ganz in Luft aufgelöst hat. Was ich allerdings glaube.«

Paula fragte eifrig: »Arbeiten Sie wieder an etwas, Archie?«

»Und Sie bekommen auch ein Exemplar, meine Liebe.«

Mir fiel auf, daß er ihrer Frage ausgewichen war. Paula zerfloß vor Dankbarkeit, und das Gespräch zwischen den beiden plätscherte munter weiter. Ich sagte mir, daß ich ungehobelt sei, aber etwas an der liebenswürdigen Art war unstimmig und erfüllte mich mit Unbehagen.

Das fünfte Gedeck auf dem Tisch blieb während des gesamten Essens unberührt.

Nach dem Essen überkam mich das seltsame Gefühl.

Oder besser gesagt, es wurde so stark, daß ich es nicht länger verleugnen konnte. Denn seit der Brief des Anwalts mit dem Stempel Randolf & Miles anstelle der Briefmarke mich erreicht und ich ihn geöffnet und die unglaubliche Mitteilung gelesen hatte, daß ich als Haupterbe des Vermögens meines Großvaters eingesetzt worden war, hatten sich merkwürdige Veränderungen eingestellt, die ich hartnäckig zu ignorieren versuchte. Nichts Äußerliches, nichts Greifbares. Mein Alltag verlief wie immer. Ich kümmerte mich um Dring, ging zum Unterricht im College, machte meinen Teilzeitjob im Maklerbüro, aber in mir, in meinen Hirnwindungen, begann sich etwas zu regen, als würden Dinge, die dort jahrelang im Tiefschlaf gelegen hätten, plötzlich erwachen, sich strecken, sich zum Handeln vorbereiten. Ich konnte fast spüren, wie sie unter meiner Kopfhaut kribbelten, als wären diese namenlosen, erwachenden »Dinge« Motten, versteckte braune Motten mit pelzigen Körpern und brüchigen Flügeln, die in den dunklen Tiefen meiner Seele aus den Puppen schlüpften und ungeduldig flatternd darauf warteten, ans Licht zu kommen.

Natürlich war das Unsinn, völliger Unsinn. Ich hatte einen Brief erhalten, das war alles. Ein Brief, der große Veränderungen ankündigte, sicher, aber dennoch einfach ein Brief aus der realen Welt der Testamentsbestätigungen und Dividenden und Bankkonten. Ein Brief, der rein gar nichts mit Motten zu tun hatte, die unter meiner Schädeldecke aus den Puppen schlüpften. Ich erzählte niemandem von diesen Gefühlen, versuchte sogar, sie vor mir selbst zu verbergen. Ich stellte mir vor, daß Paula – wenn ich ihr davon berichten würde, was ich keinesfalls vorhatte – mir sagen würde, ich solle weniger Koffein und lieber zur Abwechslung mal ein anständiges Frühstück zu mir nehmen. Also befolgte ich ihren imaginären Rat.

Es war mir tagelang gelungen, diese seltsamen, unangenehmen Emotionen nicht zu beachten, aber nach dem Mittagessen an meinem ersten Tag in Chatton Heights konnte ich mich ihrer plötzlich nicht mehr erwehren.

Ich hatte dankend abgelehnt, als Tillie mir Kaffee anbot (weil ich immer noch versuchte, auf Koffein zu verzichten). Archie berichtete der verzückten Paula von seiner jüngsten Lesereise durch die Vereinigten Staaten und dem Motel in Milwaukee, wo man ihn bei der Gestaltung der »Doras-Zimmer«-Cocktaillounge um Beratung gebeten hatte. Paula hing an seinen Lippen, aber aus irgendeinem Grund, vielleicht weil ich das Buch nicht gelesen hatte, zerrte seine farbige Erzählweise an meinen Nerven, und ich ging zum Fenster und starrte hinaus auf den nassen Kies und die nassen Lorbeerbüsche und den wolkenschweren Himmel, der noch mehr Nässe verhieß.

Ich dachte gerade darüber nach, wie ich das Thema anschneiden konnte, das Archie und Tillie sicher ebenso beschäftigte wie mich, als draußen rechts vom Fenster ein quietschendes, knirschendes Geräusch zu vernehmen war und ein alter Mann, der bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Peter Rabbits Mr. McGregor hatte und eine Schubkarre schob, ins Blickfeld kam. Obwohl die Schubkarre leer war, schien ihm das Schieben einige Mühe zu bereiten. Seine dünne Jacke bot wenig Schutz gegen den anhaltenden Regen, und er war mager und ging gekrümmt. Er kam ziemlich dicht am Fenster vorbei – quietsch, knirsch, quietsch –, war aber so konzentriert, daß er mich nicht bemerkte. Nach einer Weile war er außer Sichtweite. Ich beobachtete, wie sich die Reifenspur der Karre mit Regenwasser füllte.

Wer war er? Warum war er hier? Archie hätte es mir sagen können – aber darum ging es nicht. Der alte Mann mit der Schubkarre war für mich plötzlich Sinnbild all der vielfältigen Vorgänge in diesem Haus, das jetzt mir gehörte, von dem ich jedoch nichts wußte. Vielleicht schob er da meine Schubkarre. Wahrscheinlich war er mein Gärtner. Mr. Markham hatte heute morgen einen Hausverwalter, Löhne und Pacht erwähnt – und ich hatte nicht zugehört. Es stand fest, daß der starrsinnig wirkende alte Mann, der sich mit gebeugtem Kopf durch den Regen kämpfte, wußte, welche Stellung er in diesem Haushalt einnahm, wußte, wo er mit der Schubkarre hinwollte und warum, und hätte er aufgeschaut und mich bemerkt, hätte er zweifellos auch genau gewußt, wer ich war, ebenso wie der Mann im Dorf.