Das Geheimnis von Darkmoor Hall: Das Amulett der Winde - Nina Scheweling - E-Book

Das Geheimnis von Darkmoor Hall: Das Amulett der Winde E-Book

Nina Scheweling

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Beschreibung

Die spannende Fortsetzung von  «Darkmoor Hall» – ein echter Abenteuerschmöker Das Geheimnis, das auf dem düsteren Herrenhaus Darkmoor Hall lastet, erweist sich als noch gefährlicher, als Kate, Gus und Billy es sich je hätten träumen lassen! Um das Vermächtnis des alten Augustus zu entschlüsseln und den vermeintlichen Schatz zu heben, müssen die drei tief in der Vergangenheit des Fischerdorfs Darkmoor-on-Sea stöbern. Dabei stoßen sie auf einen uralten, ungeklärten Raub – und auf einen ebenso alten Fluch! Ihre gefährliche Suche nach der Wahrheit und dem legendären Schatz führt sie nicht nur tief unter die Erde, sondern auch weit aufs Meer hinaus. Und dabei kommt ihnen ihr unbekannter Verfolger immer näher …

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Nina Scheweling

Das Geheimnis von Darkmoor Hall: Das Amulett der Winde

 

 

 

Mit Vignetten von Cornelia Haas

Über dieses Buch

Die spannende Fortsetzung von «Darkmoor Hall» – ein echter Abenteuerschmöker

 

Das Geheimnis, das auf dem düsteren Herrenhaus Darkmoor Hall lastet, erweist sich als noch gefährlicher, als Kate, Gus und Billy es sich je hätten träumen lassen! Um das Vermächtnis des alten Augustus zu entschlüsseln und den vermeintlichen Schatz zu heben, müssen die drei tief in der Vergangenheit des Fischerdorfs Darkmoor-on-Sea stöbern. Dabei stoßen sie auf einen uralten, ungeklärten Raub – und auf einen ebenso alten Fluch! Ihre gefährliche Suche nach der Wahrheit und dem legendären Schatz führt sie nicht nur tief unter die Erde, sondern auch weit aufs Meer hinaus. Und dabei kommt ihnen ihr unbekannter Verfolger immer näher …

Vita

Nina Scheweling war während ihres Studiums der Anglistik, Germanistik und Neueren Geschichte als Literaturübersetzerin tätig. Nach ihrem Abschluss entdeckte sie ihre Liebe fürs Kinderbuch und arbeitet seitdem als freie Übersetzerin, Lektorin und Autorin in der Nähe von Freiburg.

 

Cornelia Haas studierte Kommunikationsdesign mit dem Schwerpunkt Illustration an der FH Münster. Seit 2001 illustriert sie erfolgreich Bücher für Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene. Im Jahr 2018 erhielt sie den Ruf für eine Professur an der FH Münster im Fachbereich Illustration mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Lektorat Sophie Härtling

Covergestaltung Cordula Schmidt Design Hamburg

Coverabbildung Cornelia Haas

ISBN 978-3-644-01659-0

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Dieses E-Book ist nicht vollständig barrierefrei.

 

 

www.rowohlt.de

1Legenden

«Cormoran, Bolster, Trecobben – die Liste der Riesen, die in Cornwall gelebt haben, ist lang. Und wo Riesen leben, hinterlassen sie Spuren. So zeugen viele der Felsbrocken, die scheinbar wild verstreut in Küstennähe herumliegen, von der Lieblingsbeschäftigung der gewaltigen Kreaturen, die nichts lieber taten, als mit Steinen zu werfen.»

Der Fernseher war so laut, dass Kate den Ton bis in die Küche hören konnte. Kopfschüttelnd strich sie sich die ungekämmten Haare aus dem Gesicht und griff nach der Packung Schokopops, die offen auf der Arbeitsplatte stand. Steine werfende Riesen. So ein Quatsch.

Sie schüttete eine ordentliche Portion Pops in eine Schüssel, füllte sie randvoll mit Milch und trottete ins Wohnzimmer. Ihr kleiner Bruder Ben saß, im Schlafanzug und genauso ungekämmt wie sie selbst, vor dem Fernseher und sah sich eine Reportage über Cornwall an. Sie setzte sich neben ihn auf die Couch.

«Der Riese Cormoran baute sich mit seiner Frau eine ganze Insel, heute bekannt unter dem Namen St. Michael’s Mount, um darauf zu wohnen. Er wurde von Jack dem Riesentöter umgebracht, und sein steinernes Herz ist noch immer auf dem Weg zur Burg zu sehen.»

«Wir dürfen nicht auf der Couch essen», sagte Ben, ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen.

«Sagt der, der überall Schokopopskrümel verstreut hat», entgegnete Kate bissig.

«Wenigstens hab ich sie trocken gegessen. Krümel kann man wegwischen.»

Kate schnaubte bloß und streckte die Füße auf dem Couchtisch aus. Prompt schwappte Milch auf die Couch.

«Mist!», fluchte sie und versuchte, mit dem Ärmel ihres Pullis den Fleck wegzuwischen.

Ben kicherte und rückte vorsichtshalber ein Stück zur Seite.

«Hör auf zu lachen», beschwerte sich Kate. «Hilf mir lieber.»

«Nö.»

«Rotzlöffel.»

«Blöde Kuh.»

Ben streckte ihr die Zunge heraus, die von den Schokopops braun verfärbt war. Kate verdrehte die Augen, musste dann aber grinsen. Ihr Bruder war eine echte Nervensäge, doch in Wahrheit konnte sie ihm nie lange böse sein. Sie gab das Rubbeln auf dem Milchfleck auf und legte ihre Füße – diesmal etwas vorsichtiger – wieder auf den Couchtisch.

Auf dem Bildschirm war eine Insel zu sehen, die als kreisrunder Hügel aus dem Wasser herausragte. Zu dem kleinen Schloss auf der Spitze des Hügels führte ein Pfad hinauf. Gerade zoomte das Bild zu einem Stein neben dem Pfad, der aussah wie ein Herz. «Angeblich kann man», sagte der Sprecher, «wenn man das Ohr auf den Stein legt, den Herzschlag des Riesen hören.»

«Was guckst du da überhaupt?», fragte Kate und schob sich einen Löffel Schokopops in den Mund.

«So ’ne Doku … Legendäres Cornwall heißt die, glaub ich. Da geht’s um Meerjungfrauen und Kobolde und Riesen, die früher in Cornwall gelebt haben. Ist das nicht cool?»

Verwundert registrierte Kate das vor Begeisterung leuchtende Gesicht ihres Bruders. «Seit wann interessierst du dich denn für Riesen und Meerjungfrauen? Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, hast du ein Buch über schwarze Löcher im Weltall gelesen.»

«Psst, ich will das hören», entgegnete Ben und deutete unwirsch auf den Fernseher.

Kauend musterte Kate ihren kleinen Bruder – die verstrubbelten Haare, die Stupsnase, die schmalen Schultern in dem Schlafanzug mit Raketen und Planeten darauf. Den Weltraumforscher, der Bücher über das Universum verschlang, Raumstationen nachbaute und sich im All besser auskannte als auf der Erde. Nach ihrem Umzug nach Darkmoor-on-Sea hatte sich ihr Bruder noch mehr in die Weiten des Weltalls zurückgezogen – was vermutlich weniger mit Darkmoor, sondern mit der eisigen Stimmung zusammenhing, die zwischen ihren Eltern herrschte. Aber wenn Märchen von Riesen und Kobolden es schafften, ihn aus seinem Schneckenhaus zu locken, war es ihr recht. Sie selbst glaubte nicht an das ganze Legendenzeugs. Sie glaubte viel eher an einen Schatz, der irgendwo in Darkmoor versteckt war.

«Doch nicht nur an Land, auch auf dem Wasser gibt es zahlreiche Vorkommnisse, die Cornwall zu einer der geheimnisvollsten Gegenden Englands machen. Das Geisterschiff, das vor der Küste des kleinen Örtchens Darkmoor-on-Sea gesunken ist, ist nur ein Beispiel davon.»

«Hey», rief Ben aus. «Das ist ja hier bei uns.»

Kate nickte, während sie die letzten Schokopops aus der Milch fischte. «Die Geschichte kenn ich. Die hat mir der alte Marcus erzählt, ein Fischer unten bei der Bucht. Angeblich soll sogar ein Schatz an Bord gewesen sein. Der wurde aber, genau wie das Wrack, nie gefunden.»

«Wirklich? Ein echtes Geisterschiff? Ob dieser Marcus mir die Geschichte auch mal erzählt?»

«Klar, wieso nicht? Aber mach dir keine allzu großen Hoffnungen. Es war kein echtes Geisterschiff.»

«Wieso nicht?»

Kate verdrehte die Augen. «Weil es keine Geister gibt, Blitzbirne.»

Ben warf ihr einen beleidigten Blick zu. «Du musst es ja wissen.» Er stutzte und musterte sie von oben bis unten, als sähe er sie gerade zum ersten Mal. «Wieso bist du schon angezogen? Es ist Sonntag.»

«Deswegen ja.»

«Kapier ich nicht.»

Kate setzte die Schüssel an den Mund und trank die übrig gebliebene Milch aus. «Ist doch logisch», sagte sie und stand auf. «Ich geh zur Kirche.»

 

Kate grinste immer noch bei dem Gedanken an Bens verblüfften Gesichtsausdruck, als sie gut gelaunt die Treppe ins Erdgeschoss hinuntersprang. Vom Treppenhaus aus führte eine Tür direkt in die Küche des Sea Street Cafés, das ihre Eltern vor Kurzem von der alten Molly Crooker gekauft und neu eröffnet hatten. Als Kate eintrat, stieg ihr sofort der Duft von frisch gebackenen Kuchen, Törtchen, Muffins und Scones in die Nase. Ihr Vater, der für all die Leckereien verantwortlich war, sah von dem Teigklumpen auf, den er gerade zu einer flachen Platte ausrollte.

«Guten Morgen», sagte er verwundert. «So früh schon wach?»

«Nicht nur wach, sondern auch schon so gut wie weg», erwiderte Kate und drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. Dann stibitzte sie sich im Vorbeigehen drei Zitronenmuffins, die zum Auskühlen auf einem Gitter standen.

«Hey, Finger weg!», protestierte Mr Baker, doch Kate war schon halb durch die Verbindungstür ins Café verschwunden.

«Danke, Dad. Die Muffins riechen echt lecker», rief sie noch, bevor die Tür hinter ihr zufiel.

Im Café schlugen ihr die vertrauten Geräusche von klapperndem Geschirr und heiteren Gesprächen entgegen. Sonntagmorgens war meist eine Menge Betrieb, und ihre Mutter wuselte zwischen den Tischen und der Theke hin und her, nahm Bestellungen auf oder schenkte Tee aus. Gerade richtete sie Teller mit Kuchen und Gebäck auf der Anrichte und brummelte dabei leise vor sich hin. Sie schien sich über irgendetwas zu ärgern.

«Morgen, Mum», sagte Kate. «Ganz schön was los heute, oder?»

«Allerdings. Ich komme kaum noch hinterher.» Mrs Baker sah ihre Tochter finster an. «Ich würde ja jemanden einstellen, der mir beim Bedienen hilft, aber dein werter Herr Vater ist dagegen. Das kostet zu viel Geld, sagt er. Wir würden das auch so hinkriegen. Aber wenn’s drauf ankommt, verkriecht er sich in der Küche, anstatt mir zu helfen.»

Als Kate in das aufgebrachte Gesicht ihrer Mutter sah, war ihre gute Laune mit einem Schlag verflogen. Sie spürte ein unangenehmes Drücken im Magen, wie eine Kugel, die sich ausdehnte und wieder zusammenzog. Sie war wütend auf ihre Eltern. Entweder stritten sie miteinander oder sie schwiegen sich an. Etwas anderes schien es nicht mehr zu geben. Warum konnten sie sich nicht zusammenreißen? Warum konnten sie nicht klären, was zwischen ihnen los war? Andere Eltern schafften das doch auch.

Genervt blies sich ihre Mutter eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Ich weiß, dass ich versprochen habe, dich nicht im Café einzuspannen, aber könntest du mir ausnahmsweise helfen? Nur für ein paar Minuten?»

Kate sah stirnrunzelnd auf die Uhr. Es machte ihr nichts aus, im Café zu helfen, aber es war schon zwanzig nach neun. Sie musste los, wenn sie nicht zu spät kommen wollte.

«Ich bin verabredet», erwiderte sie bedauernd.

«Am Sonntagmorgen?», fragte ihre Mutter verblüfft, während sie zwei Tassen aus dem Regal nahm und je einen Teebeutel dazulegte.

«Ja. Der Gottesdienst fängt in zehn Minuten an.»

«Gottesdienst?» Ihre Mutter hatte eigentlich gerade heißes Wasser in die Tassen schütten wollen, verharrte jedoch mitten in der Bewegung und starrte sie an. Als Kate sie nur unschuldig anlächelte, wandte sie sich wieder den Tassen zu und murmelte: «Aha. Interessant, was ein Umzug in ein verschlafenes Küstendorf für eine Wirkung auf manche Menschen hat.»

«Irgendwie muss man sich ja hier die Zeit vertreiben», erwiderte Kate. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Mrs Farringdon, die an ihrem üblichen Platz am Fenster saß, mit ihrer leeren Tasse zu ihr herüberwinkte. «Ich bring Mrs F noch schnell Kaffee, dann muss ich los, ja?»

Ihre Mutter seufzte. «Okay. Danke. Und nenn sie nicht Mrs F», rief sie Kate nach, die sich bereits mit der Kaffeekanne auf den Weg gemacht hatte.

Mrs Farringdon hatte sich heute wieder besonders herausgeputzt. Den Schmuck, den sie trug, hatte die alte Dame aus Meerglas anfertigen lassen. Andere würden Mrs F vermutlich als verschroben bezeichnen, aber Kate mochte sie und hatte sich vorgenommen, später mal genauso extravagant zu werden.

«Guten Morgen, Mrs Farringdon. Haben Sie den ersten Kaffee schon auf?»

«Den zweiten, Darling, den zweiten.» Mrs Farringdon deutete auf den freien Stuhl neben sich. «Hast du Lust, mir ein wenig Gesellschaft zu leisten? Ich muss gestehen, dass ich schrecklich gern wissen würde, ob ihr den schwarzen König gefunden habt, von dem du mir erzählt hast.»

Kate schenkte die Tasse der alten Dame voll und zuckte bedauernd mit den Schultern. «Geht leider nicht. Ich hab eine Verabredung. Aber ein andermal sehr gern.» Sie machte eine kleine Kunstpause und fuhr dann theatralisch fort: «Nur das mit dem schwarzen König muss vorläufig ein Geheimnis bleiben, befürchte ich.»

Mrs Farringdon zwinkerte ihr mit einem Lächeln zu. «Gut so. Jeder sollte ein oder zwei Geheimnisse im Leben haben, findest du nicht auch?»

Kate brachte die Kaffeekanne zurück hinter die Theke. Dann packte sie die drei Zitronenmuffins in eine Papiertüte, stopfte sie in ihren Rucksack und winkte ihrer Mutter zum Abschied zu, die gerade dabei war, einen leer gewordenen Tisch abzuräumen. Unter dem Gebimmel der Türglocke trat sie hinaus auf die Straße.

Kalter Wind schlug ihr entgegen. Graue Wolken trieben über den Himmel, und es war Regen angesagt. Südenglischer Sommer. Kate schloss seufzend den Reißverschluss ihrer Jacke. Dann wandte sie sich nach rechts Richtung Kirche. Wieder musste sie grinsen, als sie an die verblüfften Gesichter ihres Bruders und ihrer Mutter dachte. Religion spielte im Leben der Bakers keine große Rolle. Kein Wunder also, dass die beiden vollkommen perplex gewesen waren bei der Vorstellung, dass Kate an einem ganz normalen Sonntagmorgen in die Kirche ging.

Eines hatten sie dabei jedoch nicht bedacht: Kate hatte mit keinem Wort erwähnt, dass sie auch am Gottesdienst teilnehmen wollte.

2Wiedersehen

Als Kate auf den Marktplatz trat, schlug die Kirchturmuhr halb zehn. Der Gottesdienst hatte bereits angefangen. Sie unterdrückte einen Fluch. Hoffentlich kam sie jetzt noch in die Kirche hinein, ohne dass irgendjemand sie bemerkte.

Sie eilte auf das riesige Gebäude zu und erreichte die mit Ornamenten verzierte Tür gerade in dem Moment, als Orgelmusik einsetzte. Kate musste grinsen. Orgelmusik hörte man in Darkmoor-on-Sea öfter, aber nur selten am helllichten Tag. Der Pfarrer der Kirchengemeinde war dafür bekannt, mitten in der Nacht komplizierte Orgelkantaten zu üben. Er war nicht der einzige komische Kauz in Darkmoor, dachte Kate. Aber der Einzige mit dauerhaften Schlafstörungen.

Kate öffnete die mächtige Eingangstür und schlüpfte ins Innere der Kirche. Niemand beachtete sie, was sicher dem dämmrigen Licht und dem dröhnenden Orgelspiel zu verdanken war. Neugierig sah sie sich um. Sie befand sich in einem kleinen Vorraum, hinter dem sich das ausladende Kirchenschiff mit seinen unzähligen Holzbänken erstreckte. Erstaunt stellte sie fest, dass fast alle Reihen besetzt waren. Sie hätte nicht gedacht, dass so viele Einwohner von Darkmoor zur Kirche gingen. Tatsächlich hätte sie nicht einmal gedacht, dass Darkmoor überhaupt so viele Einwohner besaß. Irgendetwas störte sie an dem Anblick, aber sie kam nicht gleich darauf, was es war. Vorsichtig trat sie ein paar Schritte vor.

«Kate! Hey, Kate. Hier drüben!», zischte es plötzlich rechts neben ihr. Kate zuckte zusammen, doch bevor sie ausmachen konnte, woher die Stimme gekommen war, wurde sie von einer Hand in eine Wandnische gezogen, die hinter einer steinernen Heiligenfigur verborgen war.

«Billy! Musst du mich so erschrecken?»

«Ich freu mich auch, dich zu sehen», erwiderte Billy grinsend und legte einen Finger auf die Lippen. «Aber sei bloß leise. Wenn der Kaplan uns hier sieht, kassiert er uns für die Kinderbibelstunde ein. Und glaub mir, das willst du nicht!»

Das Orgelspiel verstummte und der Pfarrer, ein kleiner, hagerer Mann mit schütterem Haar, begrüßte salbungsvoll die Gemeinde. Kate spähte vorsichtig hinter der Heiligenfigur hervor und ließ den Blick noch einmal über die Sitzreihen schweifen. Dann zog sie sich wieder in die Nische zurück und sah Billy mit gerunzelter Stirn an.

«Spinn ich, oder sitzen da keine echten Leute, sondern Pappfiguren?», wisperte sie.

Billy zuckte bloß mit den Schultern. «Jep. Macht der Pfarrer seit Jahren so. Es kommen immer weniger Leute in den Gottesdienst, und weil er keine Lust hat, vor leeren Bänken zu predigen, füllt er sie mit Pappfiguren auf.»

Kate schüttelte den Kopf. Dieses Dorf wurde immer kurioser. Wieder erklang die Orgel, und die Gemeinde stimmte den ersten Choral an. Die wenigen Menschen, die tatsächlich in der Kirche saßen, waren kaum zu hören.

«Hast du Gus schon gesehen?», fragte Kate etwas lauter, um die Musik zu übertönen.

Billy nickte. «Er sitzt ganz vorn neben seiner Tante. Erste Reihe, wie es sich für den Adel gehört.»

Kate reckte den Hals, konnte Gus aber aufgrund der vielen Pappbesucher nicht entdecken. Dafür erkannte sie in einer der hinteren Bänke Barnaby, den Butler der Grenvilles, dem es offenbar nicht zustand, sich zu seiner Dienstherrin nach vorn zu setzen. Erstaunt stellte Kate fest, dass er immer noch den Gehstock benutzte, den sie zum ersten Mal nach ihrem Abenteuer in der Mine bei ihm bemerkt hatte. Offenbar hatte er sich bei der Verfolgungsjagd in den dunklen Stollen schlimmer verletzt als gedacht. Plötzlich fuhr sein Kopf herum zu ihr, als spürte er, dass er beobachtet wurde. Rasch wich Kate zurück in die Nische.

Nachdem der Choral geendet hatte, erhob sich der Kaplan, der aussah wie eine jüngere Kopie des Pfarrers und so schmächtig war, dass er beinahe in seinem Talar zu verschwinden schien.

«Liebe Kinder», erschallte sein dünnes Stimmchen, «bitte folgt mir nun in die Seitenkapelle unserer schönen Kirche, damit wir uns fernab der Erwachsenen über die Heilige Schrift austauschen können. Ich habe für heute eine besonders interessante Bibelstelle herausgesucht, die uns fruchtbaren Gesprächsstoff liefern wird.»

Rascheln und Scharren erklang. Vielleicht sieben oder acht Kinder waren aufgestanden und gingen mit hängenden Köpfen den Mittelgang entlang. Sie schienen die Begeisterung des Kaplans ganz offensichtlich nicht zu teilen. Der Eingang zur Seitenkapelle befand sich im Vorraum der Kirche, und als die kleine Prozession an der Heiligenfigur vorbeikam, hinter der Kate und Billy sich versteckten, drückten sich die beiden tief in die Nische, um nicht gesehen zu werden.

Kate kannte noch nicht viele Gleichaltrige in Darkmoor, doch ein Junge kam ihr vage bekannt vor. Erst als er fast auf gleicher Höhe war, fiel ihr ein, warum sie ihn nicht sofort erkannt hatte. Normalerweise trug er keine Stoffhose, Hemd und Krawatte, sondern eine gelb-rot karierte Öljacke.

«Dan Hughes!», flüsterte sie ungläubig.

Der Junge stutzte und sah sich suchend um, und sein stechender Blick heftete sich auf die Heiligenfigur. Billy zog Kate in die Nische zurück und hielt ihr den Mund zu. Kates Herz schlug bis zum Hals. Ausgerechnet Dan Hughes! Wenn er sie hier entdeckte, war alles umsonst gewesen. Als sie kurz darauf sah, wie er an der Nische vorbeiging und dem Kaplan in die Seitenkapelle folgte, atmete sie auf. Im Übrigen hatte er einen Schokoladenfleck auf dem Hintern seiner schicken Hose.

«Das war knapp», raunte Billy und nahm die Hand von Kates Mund. «Wenn Dan uns entdeckt hätte …»

«Hat er aber nicht», erwiderte Kate rasch. «Hey, da ist Gus.»

Gus hatte sich ein bisschen zurückfallen lassen und tat nun so, als müsse er sich den Schuh binden, bis die anderen Kinder in der Kapelle verschwunden waren.

«Gus, hier sind wir», rief Billy leise. Gus sah auf. Als er sie entdeckte, stand er auf und quetschte sich neben sie in die Nische, was sich zu dritt als eine ziemlich enge Angelegenheit entpuppte.

«Hi», wisperte er mit dem Gesicht zur Wand.

«Selber hi», erwiderte Kate ächzend. Eine Kerzenhalterung bohrte sich schmerzhaft in ihre Schulter.

«Schhh», zischte Billy. Der Kaplan streckte den Kopf aus der Kapelle heraus und sah suchend den Mittelgang hinab. Als er niemanden mehr sah, zuckte er mit den Schultern und schloss die Tür.

«Die Luft ist rein», flüsterte Billy.

«Wärst du dann so freundlich und würdest von meinem Fuß runtergehen?», fragte Kate spitz.

«Hoppla, tut mir leid.»

«Du hast hoffentlich nicht vor, den Rest des Gottesdienstes in dieser Nische zu verbringen?»

«Quatsch. Ich weiß den perfekten Ort, wo wir uns ungestört unterhalten können.»

Es waren inzwischen zwei Wochen vergangen, seit sie in die stillgelegte Mine von Darkmoor-on-Sea hinabgestiegen waren. Heute sahen sie sich zum ersten Mal wieder.

Gus hatte Hausarrest bekommen, weil er sich über das ausdrückliche Verbot seiner Tante hinweggesetzt und sich weiter mit Billy und Kate getroffen hatte. Kate war von dem Ausflug in die Mine so zerschrammt nach Hause gekommen, dass ihre Eltern sie – aus purer Fürsorge, wie sie sagten – dazu verdonnerten, bei ihrem kleinen Bruder zu bleiben, der seine Zeit am liebsten zu Hause verbrachte. Und Billy hatte in der Zwischenzeit jeden Job übernommen, den er auftreiben konnte, um irgendwie das Geld für Lady Grenvilles zerbrochene Amphore zusammenzukratzen. Trotzdem war er weit davon entfernt, die Summe von 2000 Pfund für das antike Stück zusammenzubringen.

Schließlich hatten Kate und Billy beschlossen, dass es so nicht weiterging. Kate hatte Billys ältesten Bruder Davey, der bereits im Stimmbruch war, mit einem riesigen Stück Kirschtorte bestochen, auf Darkmoor Hall anzurufen. Mit der tiefsten ihm zur Verfügung stehenden Stimme hatte Davey vorgegeben, ein Lehrer von Gus’ Privatschule zu sein, der sich auch in den Ferien nach dem Lernfortschritt seiner Schüler erkundigte. Der Trick klappte, und Barnaby holte Gus an das einzige Telefon, das im Herrenhaus existierte, ein altersschwaches Gerät mit Wählscheibe in der Eingangshalle. Als Gus ihnen daraufhin erzählte, dass er für den Rest der Ferien Hausarrest hatte und Darkmoor Hall nur für den Kirchgang verlassen durfte, hatte Billy den Plan ausgetüftelt, sich während der Kinderbibelstunde zu treffen. Und diesen Plan hatten sie soeben äußerst erfolgreich in die Tat umgesetzt.

Von der monotonen Stimme des Pfarrers begleitet, der zu seiner halbstündigen Predigt angesetzt hatte, folgten Kate und Gus Billy eine schmale Treppe hinauf in einen weiteren Vorraum. Eine Tür führte hinaus auf die Empore, doch Billy steuerte auf die zweite zu, eine unscheinbare, dunkle Holztür.

«Der Aufgang zum Turm», erklärte Billy auf Kates fragenden Blick.

Kate drückte die Klinke hinunter. «Die Tür ist abgeschlossen.»

«Jep. Aber ich weiß, wo der Schlüssel ist.»

Neben der Tür befand sich ein weiterer Kerzenhalter, genau das gleiche Modell, das sich Kate unten in der Nische in die Schulter gebohrt hatte. Billy griff in die Vertiefung, in der vor ewigen Zeiten eine Kerze für Licht gesorgt hatte, und zog einen alten Schlüssel hervor.

«Der Pfarrer hält nicht nur schrecklich lange Predigten, er hält sich auch für schrecklich einfallsreich», sagte er. Dann steckte er den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Dahinter kamen ausgetretene steinerne Stufen zum Vorschein. Sehr, sehr viele Stufen.

«Da sollen wir rauf?», fragte Kate ungläubig, nachdem sie einen Blick auf die sich in schwindelnde Höhen windende Treppe geworfen hatte. Gus machte ebenfalls keinen sonderlich begeisterten Eindruck.

Billy verdrehte die Augen. «Jetzt stellt euch nicht so an. Es lohnt sich. Versprochen.»

3Hoch hinaus

«Warum mussten sie diesen verflixten Turm bloß so hoch bauen?» Keuchend blieb Kate auf einem der Treppenabsätze stehen und blickte zur Spitze des Turms hinauf. «Das sind doch mindestens tausend Stufen bis ganz nach oben.»

«312, um genau zu sein», erwiderte Gus, der hinter ihr auf den Absatz trat. «Und sie haben den Turm deswegen so hoch gebaut, weil sie angeben wollten.»

«Womit? Wie gut sie Treppen bauen können?»

Gus lachte. «Nein. Wie reich sie sind. Nachdem damals die Dorfkapelle oben am Friedhof durch einen Brand zerstört worden war, haben die Leute beschlossen, die neue Kirche mitten auf den Marktplatz zu bauen und so groß, wie es nur ging. Sie wollten, dass alle ihren Reichtum sehen, den sie durch die Mine und den Schmuggel erworben hatten.»

«Lass mich raten: Du hast irgendein Buch über dieses Kaff in die Finger bekommen und weißt nun jedes Detail auswendig.»

Gus zuckte mit den Schultern. «Die Geschichte von Darkmoor-on-Sea. An der hat auch Mrs Gulliver von der Bücherei mitgearbeitet. Ich fand es interessant.»

«Hört auf zu quatschen und kommt lieber», rief Billy von irgendwo über ihnen. «Wir sind gleich oben.»

Seufzend setzten sich Kate und Gus wieder in Bewegung und quälten sich die letzten fünfzig Stufen hinauf. Als sie durch die Tür am Ende der Treppe traten, staunte Kate nicht schlecht. Sie befanden sich im sogenannten Glockenraum, in dessen Mitte eine Holzkonstruktion aus dicken Balken stand, an der mehrere riesige Glocken hingen.

«Wow», entfuhr es Kate. «Die sind ja größer als wir!»

Sie trat an die Konstruktion heran und legte eine Hand auf das Messing einer der Glocken. Es fühlte sich kalt und massiv an unter ihren Fingern.

«Cool, oder?» Billy grinste stolz, als hätte er die Glocken höchstselbst heraufgeschafft. «Aber glaub mir, wenn die anfangen zu läuten, willst du nicht direkt danebenstehen.»

Kate ging ein Stück um die Holzkonstruktion herum. Allein die Balken waren dicker als ihr Kopf. An der Rückseite fiel ihr Blick auf ein paar Buchstaben, die jemand in das Holz geritzt hatte. «Seht mal: E W E waren hier.» Sie grinste die Jungs an. «Sollen wir auch so was machen?»

«Warum nicht?» Billy kramte in seiner Hosentasche und förderte ein Taschenmesser zutage. «Damit geht’s bestimmt», sagte er und machte sich gleich ans Werk.

Während Billy K G B waren auch hier unter die anderen Buchstaben ritzte, ging Gus zu einem der schmalen Fenster und versuchte, hinauszuschauen. «Schade», sagte er. «Ich dachte, wenn wir schon so weit oben sind, könnten wir auch ein bisschen was sehen.»

Billy blies ein paar letzte Holzspäne von seinem Werk. «So, fertig.» Dann deutete er auf eine Leiter, die zu einer Falltür in der Decke führte. «Da geht’s zur Aussichtsplattform. Von da oben hat man einen irren Blick. Ich zeig’s euch.»

Er steckte das Messer wieder ein, kletterte die Leiter nach oben und schob die Falltür auf. Kate und Gus folgten ihm. Die Aussichtsplattform befand sich direkt unterhalb der Turmspitze, die hoch über ihnen aufragte. Ein Durchgang führte auf eine Brüstung hinaus, die einmal rund um den Kirchturm verlief.

Als Kate auf den schmalen Umlauf trat, empfing sie ein kalter Wind. Er schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen und zerrte trotzig an ihrer Jacke und ihren Haaren.

«Man kann einmal um den Kirchturm herumlaufen», rief Billy gegen den Wind an. «Kommt ihr mit?»

Gus folgte Billy, doch Kate schüttelte den Kopf. Sie stützte sich auf das Geländer, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ließ ihren Blick über das Dorf und die angrenzenden Felder schweifen.

Billy hatte nicht zu viel versprochen – die Aussicht war atemberaubend. Unter ihr lagen der Marktplatz und die Häuser von Darkmoor, so winzig, als seien es Spielzeughäuser. Sie konnte den einzigen Pub von Darkmoor erkennen, das Sea Street Café, Billys Haus, die Bücherei. Nördlich des Dorfes lag der Friedhof auf einem Hügel am Waldrand, rechts von Kate die Schafweiden, dahinter die Bucht mit den Fischerhütten und schließlich die Landzunge, an deren Ende die düstere Silhouette von Darkmoor Hall aufragte. Hinter den Klippen schimmerte das Meer, erstreckte sich bis zum Horizont wie ein endloser, grauer Teppich, aufgewühlt und mit weißen, schaumigen Flecken. Kate konntesogar den Leuchtturm erkennen, der in einiger Entfernung auf seiner kleinen Insel den Gezeiten trotzte.

Eine besonders starke Böe wehte das Blatt eines Baumes hinauf, das irgendwo von einem Ast gerissen worden war. Kate beobachtete, wie es durch die Luft wirbelte, immer höher getragen wurde und schließlich in Richtung Kirchturmspitze davonwehte. Kates Augen folgten seinem Flug, wie es um die goldene Wetterfahne herumwirbelte, als wollte es mit ihr tanzen, um dann von einer weiteren Böe davongetragen zu werden.

Lächelnd wandte Kate den Blick ab und sah Billy und Gus entgegen, die rechts von ihr wieder auftauchten; sie hatten die Umrundung des Turms beendet.

«Cool, oder?» Billy musste fast brüllen, so laut pfiff der Wind um sie herum.

«Ich glaube, an klaren Tagen kann man von hier aus bis nach Frankreich sehen.» Auch Gus musste schreien.

«Lasst uns wieder reingehen», rief Kate. «Hier draußen versteht man ja sein eigenes Wort nicht.»

Kate schob die Jungs ins Innere des Turms, wo es zwar immer noch zugig, aber deutlich leiser war.

«Besser», seufzte Kate, «viel besser.»

Sie öffnete ihren Rucksack und holte die Papiertüte heraus. «Ich hab uns ein zweites Frühstück mitgebracht.»

«Zitronenmuffins?», fragte Billy hoffnungsvoll.

«Exakt.»

Sie setzten sich auf den Boden, und Kate verteilte die Muffins.

«Lecker», sagte Billy mit vollem Mund. «Besser waren die von der alten Molly auch nicht!»

«Ich geb’s weiter», erwiderte Kate lächelnd. Dann wandte sie sich an Gus. «Jetzt erzähl aber mal. Hältst du es noch aus mit deiner Tante?»

«Tante Ethelda war wütend, weil ich mich mit euch getroffen habe», sagte Gus. «Aber sonst hat sie nichts erwähnt.»

«Kein Wort von dem Ausflug in die Mine?», fragte Kate überrascht.

Gus schüttelte bloß den Kopf.

«Barnaby hat uns doch garantiert angeschwärzt.»

«Offenbar nicht.»

«Komisch.» Billy schüttelte den Kopf. «Ich hätte gedacht, dass dich der alte Knacker zur Rede stellt und den Stein einfordert. Er weiß ja, dass wir das Amulett suchen.»

«Apropos», warf Kate ein. «Langsam wird es Zeit, dass die Jäger der Winde den nächsten Stein in ihren Besitz bringen.»

«Der Meinung bin ich auch.» Gus kramte einen Zettel aus der Tasche und faltete ihn auseinander. «Ich hab extra den Rätseltext aus dem letzten Brief noch mal mitgebracht.»

«Das ist gut», sagte Billy. «Ich hab nämlich nur die Hälfte behalten. Irgendwas mit Turm und Licht und Feuer oder so.»

Gus strich die Rätselseite glatt, die sie zusammen mit Notos, dem gelb funkelnden Diamanten und ersten der vier Winde, in der Mine gefunden hatten. «Okay, hört zu.»

Der zweite Wind verbirgt sich

in aufgetürmtem Licht,

wo falsches Feuer leuchtet

und Untergang verspricht.

 

Durch rußgeschwärzte Öffnung

die Flammen sind das Ziel.

Ein Spalt in glattem Boden,

wo Euros weilt im Spiel.

«Also ich finde, die Sache ist klar», sagte Kate. Sie hatte zwei Wochen Zeit gehabt, um sich über das Rätsel Gedanken zu machen, und eigentlich gab es nur eine vernünftige Lösung.

«Jep, finde ich auch», bestätigte Billy zu ihrer Überraschung. «Aufgetürmtes Licht. Licht und Turm. Damit kann eigentlich nur der Leuchtturm vor der Küste gemeint sein.»

«Glaub ich auch», sagte Gus. «Euros ist ein anderer Name für den Ostwind, und der Leuchtturm befindet sich im Osten von Darkmoor. Das passt alles zusammen.»

«Nur das mit dem falschen Feuer verstehe ich nicht», warf Billy ein.

«Wahrscheinlich ist das Signallicht vom Leuchtturm gemeint», sagte Kate. «Das ist ja kein richtiges Feuer wie in einem Kamin oder so, sondern eine Lampe.»

«Aber warum verspricht es dann Untergang?», fragte Billy stirnrunzelnd. «Eigentlich soll es den Schiffen doch helfen.»

Kate winkte ab. «Keine Ahnung. Wenn wir erst mal auf der Insel sind, sehen wir bestimmt klarer. War bei der Mine genauso.»

«Ich hab befürchtet, dass du das sagst», seufzte Billy. «Hab ich schon mal erwähnt, dass das Betreten des Leuchtturms verboten ist?»

«War das Betreten der Mine auch.»

«Und dass die Überfahrt zur Insel lebensgefährlich ist?»

«War der Abstieg in die Mine auch.»

«Ehrlich, Kate. Die Felsen um die Insel sind so scharf wie Rasiermesser. Besonders die unter Wasser, die man nicht sieht. Wenn man vom Kurs abkommt, können sie einem das Boot aufschlitzen, und dann heißt es blubb blubb und auf Wiedersehen.»

Kate sah Billy herausfordernd an. «Sag bloß, du lässt dich von so etwas abhalten?»

«Dass ich ertrinken könnte?!», fragte Billy fassungslos. «Allerdings. Davon lasse ich mich sehr wohl abhalten.»

«Wir müssen eben aufpassen», entgegnete Kate unwirsch. «Dann kommen wir schon irgendwie rüber. Ich gebe auf jeden Fall nicht auf, bloß weil es ein bisschen gefährlich wird.»

«Und mit welchem Boot willst du fahren?», fragte Billy.

Kate zögerte. «Ähm … ehrlich gesagt, keine Ahnung. Aber da findet sich bestimmt eine Lösung.»

«Morgen trifft sich Tante Ethelda wieder mit ihren Freundinnen zum Bridge-Spielen», warf Gus ein. «Beim letzten Mal hat sie mich mitgenommen, aber das fanden ihre Mitspielerinnen nicht gut. Deswegen lässt sie mich dieses Mal zu Hause.»

«Perfekt», rief Kate und klatschte erfreut in die Hände. «Dann fahren wir also gleich morgen zur Insel rüber.»

«Auf keinen Fall», entgegnete Billy. «Selbst wenn wir tatsächlich so dämlich sein sollten, es zu versuchen, müssen wir warten, bis das Wetter besser ist. Bei den Wellen da draußen haben wir keine Chance, heil auf der Insel anzukommen.»

«Wir könnten doch …»

«Nein, Kate!», unterbrach Billy sie mit erstaunlichem Nachdruck. «Wir warten. Mit dem Meer ist nicht zu spaßen.»

Kate verdrehte die Augen und wollte schon etwas entgegnen wie Jetzt stell dich nicht so an oder Sei nicht so ein Angsthase. Doch dann biss sie sich auf die Lippen. Billy lebte schon sein ganzes Leben in Darkmoor-on-Sea und kannte sich mit dem Meer um einiges besser aus als sie. Und es wäre nicht das erste Mal, dass sie die Natur hier an der Küste unterschätzt hätte.

Sie verzog kurz das Gesicht und nickte ergeben. «Na schön. Warten wir.»

«Ich hätte einen Vorschlag, was wir stattdessen machen können», sagte Gus. «Wie wäre es, wenn wir in die Bücherei gehen und nach Informationen über das Amulett der Winde suchen?»

Jetzt verdrehte Billy die Augen. «Oh bitte, nicht schon wieder in die Bücherei.»

«Mir geht es in erster Linie um den Computer dort», erwiderte Gus. «Es sei denn, wir können bei einem von euch ins Internet? In Darkmoor Hall ist nach wie vor jede Technologie verboten, die jünger ist als dreißig Jahre.»

Kate und Billy schüttelten gleichzeitig den Kopf.

«Wir haben immer noch keinen Internetanschluss», sagte Kate bedauernd. «Und wenn ich mit dem Handy ins Internet gehe, bringt meine Mutter mich um. Das ist viel zu teuer.»

«Und wir haben immer noch kein Geld für einen Computer», sagte Billy achselzuckend. «Und mein Handy … na ja, du kennst das alte Ding ja. Der Akku hält nicht länger als ’ne halbe Stunde, deswegen hängt es ständig zu Hause am Strom. Bevor wir uns zu dritt neben die Steckdose hocken, gehen wir lieber in die Bücherei.»

Kate nickte widerstrebend. «Das ist zwar nicht ganz so spannend wie einen alten Leuchtturm nach einem Diamanten abzusuchen», sagte sie seufzend, «aber besser als nichts.»

Ein Geräusch an der Falltür ließ sie aufhorchen – ein Schlittern und Rumpeln, vermischt mit einem unterdrückten Fluch. Billy riss erschrocken die Augen auf, doch Kate legte einen Finger auf die Lippen und bedeutete ihm, zu schweigen.

Sie huschte zur Falltür und spähte in den Glockenraum hinab. Eine Gestalt lief davon, und sie konnte nicht viel mehr erkennen als eine Stoffhose und ein Hemd. Doch mehr musste sie auch gar nicht sehen.

«Ihr erratet nie, wer das war», sagte sie und ging zu den Jungs zurück. «Dan Hughes.»

«Oh Mist», erwiderte Billy und wurde bleich. «Ist er noch da?»

«Nee, er ist abgehauen.»

«Ob er gehört hat, wie wir uns über das Rätsel unterhalten haben?», fragte Gus.