Das geheimnisvolle Leben der Kröten - Armin Kaster - E-Book

Das geheimnisvolle Leben der Kröten E-Book

Kaster Armin

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Beschreibung

In der Familie von Fee müssen gegenwärtige Verbindungen hinterfragt werden, als Geheimnisse der vergangenen Beziehungen ans Licht kommen. Irgendwann haben alle Beteiligten im Mühlbachtal gelebt, nach Zerwürfnissen und Konflikten sind einige von dort weggezogen. Olga mit ihren Kindern Fee und Hugo in die Stadt, Fees Vater, Zoran, mit Nica, seiner neuen Partnerin, nach Holland. Hugos Vater, Finn, ist geblieben. Da ruft Olgas Großvater die Familie ins Mühlbachtal, um eine lang überfällige Wahrheit zu erzählen. Fee passt das gar nicht, sie möchte lieber in die Schule gehen und am Wochenende zu Zoran nach Holland fahren. Aber sie muss mit ihrer Patchwork-Familie zurande kommen, ihren Geheimnissen, verschiedenen Orten, an denen die geliebten Menschen leben, neuen Kontakten und am Ende sogar mit einem Umzug aufs Land. Denn alle gehen ihrer Wege, aber wie die Kröten kehren sie irgendwann wieder ins Mühlbachtal zurück.

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Seitenzahl: 192

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Armin Kaster

wurde 1969 in Wuppertal geboren. Als Junge las er Weltliteratur, die er nicht verstand, und wünschte sich dennoch, Schriftsteller zu werden. Nach exotischen Ausflügen in den Groß- und Außenhandel sowie die Wirtschaftswissenschaft, bog er ab zur Pädagogik und danach zur Kunst. Jetzt arbeitet er als freier Autor und Künstler und lebt mit seiner Familie in Düsseldorf. Seit Jahren führt er literarisch-künstlerische Projekte mit Kindern und Jugendlichen im In- und Ausland durch. Dabei begeistern ihn vor allem die originellen Lebenswelten junger Menschen, die er am liebsten in Geschichten verwandelt.

Ich möchte mich bei Hildegard Gärtner für ihr Vertrauen, ihre starke Meinung, ihren genauen Blick und ihren Humor bedanken. Danke!

eISBN 978-3-7026-5965-3

1. Auflage 2022

Illustrationen: Wioleta Waligorska

Einbandgestaltung: b3k

© 2022 Verlag Jungbrunnen Wien

Alle Rechte vorbehalten – printed in Europe

Druck und Bindung: FINIDR, Český Těšín

Wir legen Wert auf nachhaltige Produktion unserer Bücher und arbeiten lokal und umweltverträglich: Unsere Produkte werden nach höchsten Umweltstandards gedruckt und gebunden. Wir verwenden ausschließlich schadstofffreie Druckfarben und zertifizierte Papiere.

Armin Kaster

Das geheimnisvolleLeben der Kröten

Für meine Mutter

Inhalt

Personen, die in der Geschichte vorkommen

Winterstarre

Die Wanderung beginnt

Die Ankunft

Im Teich

Das geheimnisvolle Leben der Kröten

Zurück ins Sommerquartier

Drei Monate später

Personen, die in der Geschichte vorkommen

Anton und Hannes leben im Neubaugebiet und sind Brüder.

Bennet und Tim sind Umzugshelfer, haben aber für die Geschichte keine weitere Bedeutung, außer, dass sie schwer tragen können.

Dirk ist der Vater von Hannes und Anton. Wessen Vater er noch ist, erfährst du im Verlauf der Geschichte.

Fee ist zwölf Jahre alt und die Heldin der Geschichte.

Finn ist Hugos Papa und ein alter Freund von Zoran. Dass er Olgas neuer alter Freund ist, darfst du hier schon wissen.

Franziska ist Fees Ur-Oma, also Olgas Oma, also Ur-Hugos verstorbene Frau.

Heinz ist der verstorbene Opa von Hannes und Anton und der Vater von Dirk. Er hat vor vielen Jahren ein Bild gemalt, das ein lang gehütetes Geheimnis offenbart.

Herr Rabe ist Fees Lehrer, mehr nicht.

Hugo ist vier Jahre alt und Fees Bruder.

Isa und Lotte sind die frischgeborenen Zwillingsmädchen von Zoran und Nica. Vermutlich sprechen sie irgendwann mal Niederländisch und Deutsch.

Isabel ist die Mutter von Hannes und Anton.

Karl ist Franziskas Bruder und schon einige Jahre tot. Warum er nie geheiratet hat, erfährst du am Ende der Geschichte.

Maike ist eine Freundin von Zoran und Nica und verkauft in einem kleinen Städtchen in Holland Eis. Es gibt schlimmere Berufe …

Nica ist Zorans Frau und die Mutter von Isa und Lotte.

Olga ist im Frühjahr immer hibbelig. Ansonsten ist sie ganzjährig die Mutter von Fee und Hugo.

Der Taubenschlag ist zwar kein Mensch, aber ein menschenfreundlicher Ort. Dort leben:

Bente, Daniel und Jim, Keto und Juli, sowie Paula und Ernie.

Der Tierarzt ist der Tierarzt.

Ur-Hugo ist Fees Ur-Großvater. Somit ist er Olgas Großvater und Veronikas Vater. Was er sonst noch ist, erfährst du am Ende der Geschichte.

Veronika ist Fees Oma und Olgas Mutter und Ur-Hugos Tochter.

Zerberus ist ein Hund, so groß wie ein Pony und so lieb wie das Liebste, was du kennst. Allerdings ist sein Fell stumpf und verstaubt.

Zoran ist Fees Papa und lebt mit Nica und den frisch geborenen Zwillingen Isa und Lotte in Holland.

Winterstarre

Es hat die ganze Nacht im Mühlbachtal geschneit. Hugo kratzt das Eis von der Fensterscheibe und sieht zum nahen Waldrand hin. Die Natur schläft unter Schnee und Frost. Doch in der Erde atmet es, sanft und still, durch viele kleine Krötenkehlen.

Die zarten Tiere liegen starr in ihren Mulden, während der Ostwind Schnee über die Weide trägt und mit tausend Nadelstichen alles trifft, was ihm im Wege steht. Es geht kein Mensch mehr vor die Tür, und alle Fenster sind geschlossen.

Hugo öffnet die Ofenklappe. Er bringt ein Bündel Reisig in die kalte Asche und lässt ein Streichholz auf die dünnen Zweige fallen. Als die Flammen in der rußgeschwärzten Öffnung züngeln, legt er Buchenscheite obenauf.

Nach wenigen Minuten ist es warm im Zimmer. Das Eis schmilzt in Bahnen an der Scheibe herab. Hugo sieht die weißen Flocken pfeilschnell näher kommen. Dabei denkt er an den Tag vor sechzig Jahren, als er mit seinem großen Koffer und dem Kontrabass hier eingezogen ist. Damals war es auch so kalt und die Bäume, die am Rand der Weide standen, reckten sich wie weiße Riesen in den Himmel.

„Sie muss jetzt die Wahrheit wissen“, murmelt Hugo und setzt sich an den Tisch, um einen Brief zu schreiben. Hier saßen sie vor sechzig Jahren – Franziska, Karl und er – und entschieden sich für ein Leben mit dem vaterlosen Kind und der geheimen Männerliebe.

Und während der Schneesturm um den Kotten geht, klingt in Hugo der Walzer, zu dem sie damals tanzten. Franziska in dem hellen Kleid, das sich beim Kreiseln bauschte, und Karl, der seinen Hut aus reiner Lebensfreude an die Decke warf.

Sechzig Jahre ist das her.

Seitdem schweigt der Kontrabass.

Die Wanderung beginnt

1

Immer, wenn der Frühling kommt, wird Olga wieder wach. In den Monaten zuvor ist sie träge, als hielte sie Winterschlaf. Dann sitzt sie halbe Tage auf der Heizung und döst vor sich hin, oder sie liegt mit einem Buch vor der Nase auf dem Sofa. Doch sobald es wärmer wird, springt Olga durch die Wohnung und wirft fiebrige Blicke auf die Straße vor dem Haus.

Fee kennt das.

Fee muss das kennen.

Fee ist Olgas Tochter.

„Die Straße vor unserem Haus führt überallhin“, sagt Olga an diesem sonnigen Abend Anfang April. „Stellt euch das mal vor! Wir können von hier bis in jeden Winkel der Welt fahren!“

„Das sagst du jedes Jahr“, murmelt Fee.

Sie sitzt neben ihrem Bruder Hugo auf dem Treppchen überm Garten. Es geht ein sanfter Wind, der nach Frühling riecht. Fee sieht auf den Teich im Park. Vor ein paar Tagen hatte es sogar nochmal geschneit.

„Wir könnten nach Marokko fahren“, sagt Olga. „Oder nach Kroatien oder Spanien oder Norwegen. Könnt ihr euch das vorstellen, wir können ü-ber-allhin?“

Fee sieht ihre Mutter entsetzt an. „Du willst Auto fahren?“ „Du kannst auch den Bus nehmen“, erwidert Olga und stupst Fee an.

„Ist genauso schlecht fürs Klima“, brummt Fee und legt ihren Kopf in die Hände. Sie fährt nur noch Fahrrad oder Zug oder geht zu Fuß. Busfahren scheidet auch aus. Bei der letzten Klassenfahrt musste sie gleich nach der ersten Kurve kotzen.

„Also, jetzt mal ohne Klima!“, sagt Olga und setzt sich zwischen ihre Kinder auf das Treppchen. „Wir würden von hier aus starten – egal wie! – und kämen überallhin. Das ist doch cool, oder!?“

„Ja, cool!“, sagt Hugo und drückt sein Ohr gegen Olgas Hand.

„Ich will am Wochenende nach Holland“, entgegnet Fee. „Außerdem sind noch keine Ferien.“

Olga krault Hugos Ohr. Dabei sieht sie nachdenklich in den Himmel. Schließlich sagt sie: „Über das Wochenende müssen wir eh nochmal reden.“

„Darüber gibts nichts zu reden!“, sagt Fee streng. Sie will ans Meer, zu ihrem Vater Zoran, der da jetzt mit Nica wohnt, die schwanger ist.

„Wir müssen an einem anderen Wochenende nach Holland fahren“, sagt Olga. „Es ist nämlich so, dass mir mein Opa geschrieben hat. Er will mir irgendwas sagen.“

Olga sieht Fee aus den Augenwinkeln an.

„Und das bedeutet, dass wir morgen ins Mühlbachtal fahren.“

Es ist still, bis auf die Nilgänse im Park, die wie stotternde Hupen kreischen. Fee spürt, wie ihr Kopf zu kribbeln beginnt. Das passiert, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Meistens dann, wenn Olga hibbelig ist. Und hibbelig ist Olga im Frühling, also jetzt.

„Kannst du dich noch an meinen Opa erinnern?“, fragt Olga. Fee denkt an das alte Fachwerkhaus mit dem Wasserrad überm Bach. Da haben sie einige Zeit gelebt. Bei Olgas Opa. Mitten im Wald.

„Was denn für ein Opa?“, fragt Hugo schläfrig. Das Ohrkraulen scheint ihn zu beruhigen.

„Mein Opa“, erklärt Olga und zieht ein Foto hervor.

Darauf ist ein Mädchen mit einem alten Mann zu sehen. Der alte Mann hat strubbelige graue Haare, und das Mädchen streckt die Zunge heraus. Die beiden stehen vor einem krummen alten Haus, umgeben von Bäumen.

„Da ist Fee!“, sagt Hugo.

„Nein, das bin ich“, erklärt Olga. „Auf dem Foto bin ich so alt, wie Fee jetzt ist.“

„Warum siehst du aus wie Fee?“, fragt Hugo.

„Wegen der Gene“, erklärt Olga und zieht Hugo auf ihren Schoß. Sie vergräbt ihre Nase in seine blonden Locken und flüstert: „Mein Opa hat den gleichen Namen wie du.“

Hugo betrachtet das Foto. Dann sieht er seine Mutter an und fragt: „Hugo?“

Fee knurrt: „Hast du noch ’n Namen?“, und denkt an einen Ameisenhaufen, in dem ihr Kopf jetzt steckt, so sehr kribbelt das.

2

Fee ist zwölf Jahre alt und Hugo vier. Als Fee mit ihrer Mutter Olga in diese Wohnung zog, wussten sie noch nicht, wie laut Nilgänse schreien. Sie beginnen damit am frühen Morgen und enden, wenn es dunkel ist. Manchmal kreischen sie sogar in der Nacht, und wenn der Morgen kommt, geht es wieder von vorne los. Den ganzen Frühling über. Bis sie endlich ihre Eier gelegt und kleine Nilgänse in die Welt gesetzt haben, die ihrerseits im folgenden Jahr das gleiche Spektakel veranstalten.

Das ist der Grund, warum Olga im Frühjahr immer weg will. Sie kann einfach nicht schlafen bei dem Lärm.

Der andere Grund ist ihre Hibbeligkeit, die da ist, sobald es wärmer wird. Dann muss sie weg, egal wohin.

Für Fee beginnt dann immer eine schwere Zeit, weil sie so gerne zu Hause ist. Oder wenigstens an einem Ort, zum Beispiel in Holland, bei ihrem Vater Zoran. Fee mag es nicht, umherzureisen.

Als Fee noch nicht in der Schule war, zog Olga mit ihr ständig umher. Hier ein Festival, da eine Reise, und in den Wochen dazwischen Besuche bei Menschen im ganzen Land.

Olga sagt: „Wir fahren morgen nach dem Frühstück, dann sind wir am späten Vormittag im Mühlbachtal.“

Sie schneidet Möhren in kleine Stücke.

Fee sitzt noch immer auf dem Treppchen und starrt auf den See. Die Abendsonne ist gerade unter die Baumkronen gerutscht und färbt den Park in leuchtendes Orange.

„Ich habe morgen Schule“, sagt Fee. „Und am Freitag habe ich auch Schule. Und dann fahren wir zu Papa. Da wird das wohl nix mit morgen früh losfahren.“

Olga drückt Hugo eine Möhre in die Hand. Er sitzt auf dem Küchentisch und betrachtet seine nackten Füße.

„Komm schon, Süße“, sagt Olga und trommelt mit den Fingern auf dem Schneidbrett. „Mein Opa meldet sich nie. Ich mache mir etwas Sorgen um ihn. Die Schule kannst du ruhig mal ausfallen lassen.“

„Genau!“, sagt Hugo.

„Gehts noch?!“ Fee tritt einmal kurz auf die untere Treppenstufe und verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich will zur Schule!“

Seit Fee in der Schule ist, geht es ihr gut. Wegen der Schule kann Olga nicht mehr so viel herumfahren. Die Schule hält Olgas Hibbeligkeit klein. Das ist wohl der Grund, warum Fee so gerne in die Schule geht.

„In jedem Fall braucht ihr Gummistiefel“, übergeht Olga Fees kleinen Wutanfall, „und warme Pullover. Im Mühlbachtal ist es abends kühl, auch im April.“

„Ich dachte, wir fahren da nur mal kurz vorbei“, knurrt Fee, und Hugo springt vom Tisch und rennt in sein Zimmer. Er kräht: „Robbi braucht auch einen Pullover“, und kommt mit seiner Robbe unterm Arm zurück in die Küche.

Fees Kopf kribbelt und kribbelt. Sie erträgt es nicht, wenn etwas nicht normal läuft. Und normal wäre es, morgen und am Freitag zur Schule zu gehen und dann zu Zoran und Nica nach Holland zu fahren. Und zwar im Zug, so, wie sie es bereits vor Wochen geplant haben.

„Ich gehe morgen zur Schule“, verkündet Fee.

Olga tut so, als hätte sie Fee nicht gehört und schneidet die nächste Möhre klein.

Doch dann legt sie das Messer auf das Schneidbrett und setzt sich neben Fee auf das Treppchen.

„Es dauert nicht lange“, sagt Olga. „Außerdem habe ich eine Überraschung für euch.“

Fee wirft Olga einen kurzen Seitenblick zu.

Olga sagt: „Hab ich gesehen.“

„Was hast du gesehen?“

„Das!“ Olga macht Fees Blick nach. „Du bist neugierig, gibs zu!“

„Als ob“, sagt Fee und springt in den Garten.

3

Fee mag Gebratener Reis mit Speck am liebsten ohne Speck. Doch an diesem Abend, als sie im Garten unter dem Apfelbaum sitzen und Gebratener Reis mit Speck ohne Speck essen, mag sie gar nichts. Sie hört den Nilgänsen beim Turteln zu, auch wenn es mehr nach einer Panikattacke klingt, was die Vögel da veranstalten.

Hugo hat seinen Kopf an Olgas Schulter gelehnt, und Olga sagt: „Im Mühlbachtal ist es zum Beispiel total ruhig. Keine Gänse und so.“

„Am Meer ist es auch schön“, erwidert Fee.

Hugo pustet auf den dampfenden Reis, und Olga sieht Fee an, die das Essen nicht anrührt.

„Machst du Diät?“, stichelt Olga.

Fee zuckt mit den Schultern und schweigt.

„Pass auf, dass du nicht lachst“, sagt Olga und wuschelt durch Fees Haare, die im Gegensatz zu Hugos Locken einer glatten, dunklen Pferdemähne ähneln. Dann steht Olga auf und steigt über das Treppchen in die Wohnung.

„Ist Mamas Opa nett?“, fragt Hugo.

„Weiß ich nicht“, antwortet Fee. Sie hatte Olgas Opa fast vergessen. Und jetzt zerstört er ihre Pläne, zu ihrem Vater ans Meer zu fahren.

„Was ist das für eine Überraschung?“, ruft Hugo.

„Warts ab“, sagt Olga und kommt in den Garten zurück. Sie legt ein paar Fotos auf die Wiese.

„Ist das die Überraschung?“, fragt Hugo und nimmt ein Foto in die Hand, auf dem ein kleines Holzhaus abgebildet ist.

„Nein, das ist Hugos Toilettenhäuschen“, sagt Olga. „Das kann allerdings für böse Überraschungen sorgen, wenn die Grube voll ist.“

Jetzt hat auch Hugo aufgehört zu essen. Er starrt auf das Foto, und Fee ahnt, was in seinem Kopf vorgeht. Ein Toilettenhäuschen im Wald ist nicht gerade das, was Hugo kennt.

„Und was ist das?“, fragt Hugo.

„Was soll was sein?“, fragt Olga.

Hugo sagt: „Da!“, und tippt auf ein Foto mit einem großen runden Stein, der vor dem alten Fachwerkhaus liegt.

„Das ist ein Schleifstein“, sagt Olga. „Mit dem wurden damals Messer geschliffen.“

Hugo schüttelt den Kopf. „Nein, da!“, sagt er und zeigt auf etwas, das sich auf dem Schleifstein befindet.

Olga und Fee beugen sich vor, um das Foto genauer zu betrachten.

Dann sagt Fee: „Ich würde sagen, das ist eine Kröte.“

„Ist das die Überraschung?“, bohrt Hugo weiter.

„Wohl kaum!“, sagt Olga. „Kröten gibt es im Mühlbachtal in jedem Winkel.“

Als Fee gerade etwas Reis auf den Löffel schippt, weil sie doch Hunger hat, egal was morgen ist, sagt Olga: „Na gut, dann will ich die Überraschung verraten. Wir … also du …“ Olga tätschelt Hugos Bein. „Du lernst im Mühlbachtal deinen Vater kennen. Noch Fragen?“

4

Zwei Sekunden später rennt Hugo durch den Garten, prescht durch die Hecke in den Park und kommt schreiend zurück.

„Hey, Süßer, was ist denn los mit dir?“, ruft Olga und schnappt sich Hugo, der gerade um den Apfelbaum rennt.

Fee vergisst für einen Moment, dass ihr Kopf kribbelt, und sieht Hugo dabei zu, wie er sich rücklings ins Gras fallen lässt.

„Heißt mein Papa auch Hugo?“, ruft er atemlos.

„Nein“, sagt Olga, „dein Papa heißt Finn.“

„Und wohnt der bei deinem Opa?“

„Er wohnt zumindest nicht weit weg.“

„Und ist der nett?“

„Na, klar!“, sagt Olga. „Du hast doch keinen Blödmann als Papa.“

„Und warum kenne ich den nicht?“ Hugo streicht sich die Locken aus dem Gesicht und sieht Olga an.

„Ist nicht so einfach“, sagt Olga. „Hat irgendwie nicht gepasst.“

„Und jetzt passt das, ja?“, schmatzt Fee mit einem Mund voll Reis.

„So in etwa“, bestätigt Olga und streichelt Hugos Stirn, die rot und verschwitzt ist. Er schnauft wie ein pumpender Blasebalg. Niemand sagt etwas.

Olga denkt an Finn, den sie vier Jahre nicht gesehen hat.

Und Hugo denkt an seinen Vater, den er noch nie gesehen hat. Fee wiederum denkt an alles Mögliche, vor allem daran, dass sie ihren Vater Zoran am Wochenende sehen will. „Ich ruf mal Papa an“, sagt Fee und geht in die Wohnung. Dabei spürt sie Olgas Blick im Rücken.

Fee weiß, dass ihre Mutter hibbelig ist. Wegen des Frühlings und wegen der Nilgänse und weil die Bienen fliegen und die Bäume sprießen und das Leben aus allen Ecken und Enden zurückkehrt. Aber vor allem, weil Hugo jetzt einen Vater bekommt, den er schon immer hatte, aber aus irgendeinem Grund nicht kennen sollte oder durfte oder was-weiß-Fee-denn-schon.

5

„Hugos Papa heißt Finn“, sagt Fee ohne Umschweife. Sie sieht auf ihr Handy, in dem die schwarzen Haare ihres Vaters im Wind flattern.

Zoran ruft: „Was hast du gesagt?“

„Hugos Papa heißt Finn“, wiederholt Fee. „Kennst du den?“

Da wird Zoran von einer Windbö erfasst und torkelt durch den Sand. Sein Gesicht verschwindet aus dem Display, und er ruft: „Warte mal!“

Fee sieht ein paar Möwen über dem Strand segeln. Weiter hinten schießen drei Kitesurfer aufs offene Meer hinaus. Dann verrutscht das Bild und Fee erkennt die hölzernen Gehwegplatten, die zur Düne führen. Wenig später stößt Zoran die Tür zu seiner kleinen Bar auf.

„Was magst du, mein Mädchen? Eine Chocomel? Oder lieber unsere hausgemachte Limetten-Limo mit frischer Minze? Wir hätten auch Blaubeereis mit Vanillesauce.“

Zoran steht zwischen Treibholzstücken, die an Seilen von der Decke hängen. Daraus baut er in den Wintermonaten Möbel, die er im Sommer an Touristen verkauft.

„Wir kommen nicht zu dir“, sagt Fee und dreht eine Haarsträhne um ihren Finger.

„Sagt wer?“, fragt Zoran und richtet die Kamera auf sich. Wenn Fee ihren Papa sieht, fühlt sie sich zu Hause. Seine dunklen Augen sind auch ihre Augen, groß und braun, wie Kastanien.

„Mama will ins Mühlbachtal. Ihr Opa hat irgendwas.“

„Ist Hugo krank?“

Zoran zieht die Augenbrauen zusammen und streicht sein Haar zurück.

„Keine Ahnung“, flüstert Fee. „Frag doch Mama. Die will übrigens morgen schon fahren. Aber ich will zu dir.“

Fee hat einen Kloß im Hals.

Doch da blitzt eine Idee in ihr auf.

Sie sagt: „Komm doch auch ins Mühlbachtal!“

„Das geht nicht, mein Mädchen“, erwidert Zoran. „Nicas Bauch ist jetzt so kugelig, dass sie nicht mehr reisen will. Aber wenn die Babys da sind, setzt du dich in den Zug und besuchst uns. Du willst die Zwillinge doch sehen, oder?“

„Ja!“, ruft Fee, und Zoran lacht, was so rau und kräftig klingt wie eine Säge.

„Kennst du Hugos Vater?“, wiederholt Fee ihre Frage. „Der heißt Finn.“

„Ja“, sagt Zoran. Sein Gesicht verfinstert sich. „Und jetzt lass mich mit deiner Mutter sprechen. Wie heißt die nochmal? Inga? Ilka? Olka oder wie?“

Fee lacht. Sie sieht Olga im Türrahmen lehnen.

„Tschüss Papa“, sagt sie leise und gibt das Handy an ihre Mutter weiter.

„Ja, hi“, murmelt Olga und schlendert durch den Garten. Zorans Gesicht im Display wird kleiner, und Fee hört ihre Mutter sagen: „Das weiß ich ja … ist mir auch klar … sicher kann ich das verstehen …“ Olga drückt sich durch die Hecke in den Park und setzt sich auf die Bank vorm See.

Hugo ruft: „Kennst du meinen Papa?“ Er hängt kopfunter im Apfelbaum.

Fee zuckt mit den Schultern und sieht zu ihrer Mutter, die auf den See starrt. Das letzte Licht des Tages färbt das Wasser rosarot, und die Nilgänse sind ausnahmsweise einmal still.

„Ich kenne deinen Papa nicht“, erklärt Fee. „Als Mama mit dir schwanger war, sind wir hierhergezogen. Mehr weiß ich nicht.“

Fee pflückt ihren Bruder vom Baum und lässt sich mit ihm auf die Wiese fallen. Dort rollt er sich zu einer Kleiner-Junge-Kugel zusammen und Fee fragt: „Freust du dich auf deinen Papa?“

„Ja“, sagt Hugo und streicht mit seiner Hand über die Wiese.

6

Am nächsten Morgen wacht Fee von allein auf. Sie zieht sich an, wirft einen Blick auf ihre schlafende Mutter und verlässt die Wohnung auf Zehenspitzen, um mit einem Apfel in der Hand in die Schule zu gehen.

Auf dem Weg hält Fee ihr Gesicht in die wärmende Sonne. Dabei erinnert sie sich an das Mühlbachtal und sieht plötzlich den Bach, der wie eine funkelnde Schlange durch die Wiese floss. Und sie hört die großen Bäume, die im Wind rauschten, als wären sie lebendige Wesen. Auch an ihren Vater und ihre Mutter kann sie sich erinnern. Nur Olgas Großvater Hugo bleibt im Verborgenen. Die Erinnerung an ihn ist undeutlich, wie ein verschwommenes Bild.

Dem Unterricht kann Fee kaum folgen. Sie fürchtet die ganze Zeit, Olga könnte die Klasse betreten. Fee drückt sich in die letzte Reihe, wo sie sich unsichtbar macht und Magenbrummen hat, weil Olga bestimmt wütend ist, dass sie einfach zur Schule gegangen ist. Am liebsten würde Fee einfach verschwinden und zu Zoran ans Meer fahren.

Dann schellt es zur Pause. Fee bleibt sitzen, während die anderen zur Tür hinausdrängen. Im Flur steht Olga mit zwei Reisetaschen über der Schulter. Hugo ist auch dabei und drückt sich eng an seine Mutter.

Herr Rabe ruft: „Wen haben wir denn da?“, und reckt seinen Kopf wie ein seltsamer Vogel. Er verlässt die Klasse und Fee lauscht in den Flur, wo Olga mit Herrn Rabe spricht. Sie lächelt und streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht, und Herr Rabe lacht etwas zu laut und sagt dann: „Wenn das so ist, kann Fee für zwei Tage beurlaubt werden. Ich klär das nur eben noch mit der Schulleitung, dann könnt ihr los. Ihr habts bestimmt eilig, nicht wahr?“

„Wenn Sie meinen, dass das geht …“, sagt Olga mit schräg gelegtem Kopf. Dabei senkt sie ihren Blick und lächelt sanft. „Aber sicher“, beruhigt Herr Rabe. „Ich schicke euch die Sachen per Mail, dann kann Fee online arbeiten.“

Olga sieht Herrn Rabe an, als wäre er ein Stück Gold. Und Fee sieht die glänzenden Augen ihres Lehrers und denkt: „Herr Rabe ist genauso blöd wie alle Männer, die mit Mama sprechen.“

„Wir müssen zu den Fahrrädern“, ruft Olga, als Fee auf das Schultor zusteuert.

„Und wieso?“, faucht Fee.

Erst jetzt erkennt sie, dass die Reisetaschen an Olgas Schulter Fahrradtaschen sind.

„Du willst mit dem Fahrrad fahren?“

„Wir können auch ein Auto mieten“, sagt Olga. „Aber das schadet ja dem Klima.“

Bei den Fahrradständern stehen Fees Mountainbike und Olgas Hollandrad mit dem Kinderanhänger. Olga hat die Räder wohl bis hierher geschoben. Was ziemlich anstrengend gewesen sein muss. Aber das ist Fee egal. Darüber wird sie keine Silbe verlieren. Nicht eine! War schließlich nicht ihre Idee mit dem Mühlbachtal.

„Ich habe meinen Rucksack vergessen“, brummt Fee und läuft zurück in die Schule, wo Herr Rabe gerade die Tür zur Klasse abschließt. Auf seiner Schulter hängt Fees Rucksack. „Darf ich mal?“, fragt Fee. Sie greift nach dem Rucksack.

Herr Rabe sagt freundlich: „Ich wünsch dir alles Gute. Hoffentlich wird dein Großvater schnell gesund.“

Fee sagt: „Urgroßvater“, und denkt, dass Hugo einen Papa bekommen wird. Einen Papa, den es bis jetzt noch nicht gegeben hat.

„Bis nächste Woche“, sagt Fee schließlich.

„Machs gut“, ruft Herr Rabe. „Ach, und noch etwas.“

Herr Rabe sieht Fee freundlich an.

„Ich weiß, wie gerne du zur Schule gehst. Aber manchmal lernt man woanders mehr, verstehst du?“

Fee sagt: „Nö“, und verschwindet über den Gang zur Schultür.

7