Das Gerücht - Lesley Kara - E-Book
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Das Gerücht E-Book

Lesley Kara

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Beschreibung

In unserer Stadt lebt eine Mörderin Joanna zieht mit ihrem Sohn Alfie von London in eine Kleinstadt am Meer. Zunächst ist es die pure Idylle – dann hört sie, dass die Kindermörderin Sally McGowan, die als Zehnjährige einen Spielkameraden umbrachte, unter anderem Namen in der Stadt leben soll. Vor Jahrzehnten machte der Fall Schlagzeilen, inzwischen ist Sally längst aus dem Gefängnis entlassen worden. Unbedacht erzählt Joanna anderen Müttern von dem Gerücht und ihrem Verdacht, wer die Mörderin von damals sein könnte. Sie ahnt nicht, was für eine verheerende Spirale von Ereignissen sie damit in Gang setzt. Und wie sehr sie selbst in diese Geschichte verstrickt ist.

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Seitenzahl: 427

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Über das Buch

Die alleinerziehende Joanna zieht mit ihrem Sohn Alfie von London in eine kleine Stadt am Meer. Aber ihnen beiden fällt es schwer, sich in der neuen Umgebung einzuleben. Eines Tages hört Joanna von dem Gerücht, dass die Kindermörderin Sally McGowan, die als Zehnjährige einen fünfjährigen Jungen umbrachte, unter anderem Namen in ihrer Stadt leben soll. Vor Jahrzehnten machte der Fall Schlagzeilen, inzwischen ist die Mörderin längst aus dem Gefängnis entlassen. Ein Bild von ihr als erwachsener Frau gibt es nicht. Doch Joanna hat eine Vermutung, wer es sein könnte. Unbedacht und in dem Wunsch, endlich dazuzugehören, erzählt sie anderen Müttern von dem Gerücht. Sie ahnt nicht, was sie damit auslöst …

 

 

 

 

Für meine Eltern Harry und Doreen, in Liebe

 

 

 

 

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn,dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Friedrich Nietzsche

 

 

 

 

Es geht wieder los. Fragt mich nicht, woher ich es weiß. Ich weiß es einfach. Ich sehe es am Wellengang des Meeres, am wogenden Rhythmus der Brandung. Drängend. Unerbittlich. Ich spüre es in der Kälte, die mir über die Haut streicht, rieche es im modernden Laub und in der feuchten Erde, höre es im Schweigen der beobachtenden Krähen. Ihr seid wieder hinter mir her, und ich kann nichts tun, um euch aufzuhalten.

Es ist immer dasselbe. Eines schönen Abends gehe ich ins Bett, und alles ist bestens. Alles ist unter Kontrolle. Die Geschichte ist nicht mehr nur Geschichte. Sie ist real. Solide. Unzerstörbar. Dann wache ich auf, und die Geschichte hat sich verändert. Über Nacht sind Risse entstanden, und mir wird klar, dass ich mir die ganze Zeit etwas vorgemacht habe, dass ich immer nur ein zerbrechliches Konstrukt gewesen bin.

Ich bin die Gejagte. Ich werde immer die Gejagte sein.

1

Es beginnt mit einem Gerücht. Einem Flüstern am Schultor.

Zuerst höre ich gar nicht richtig hin. Ich habe Dave versprochen, die Schlüssel für das Haus am Maple Drive abzuholen und mich dort mit einem Kaufinteressenten zu treffen. Ich habe keine Zeit dafür, hier tratschend mit diesen Frauen herumzustehen.

Doch dann fällt mein Blick auf Debbie Bartons Gesicht – auf ihren vor Staunen offenen Mund – und meine Neugier siegt.

»Sagen Sie das noch einmal«, sagt sie. »Das ist ja nicht zu fassen.«

Ich trete etwas näher, so wie die Mum der kleinen Ketifa, Fatima. Jakes Mum – Cathy, glaube ich – schaut sich nach allen Seiten um, bevor sie anfängt zu sprechen. Wenn sie schon im Mittelpunkt steht, muss sie auch das Allerletzte noch herausholen.

»Allem Anschein nach lebt hier bei uns in Flinstead eine berüchtigte Kindermörderin«, sagt sie und legt eine Kunstpause ein, um ihre Worte wirken zu lassen. »Unter neuer Identität natürlich. Sie hat einen kleinen Jungen ermordet, als sie zehn war, damals in den Sechzigern. Hat ihn mit einem Küchenmesser erstochen, direkt ins Herz.«

Kollektives Luftschnappen. Fatima greift sich ans Herz.

»Sally McGowan«, sagt Cathy. »Googeln Sie danach, wenn Sie nach Hause kommen.«

Sally McGowan. Den Namen habe ich schon mal gehört. In einer dieser Dokumentationen auf Channel Five vermutlich, die ich manchmal anschaue, wenn ich gerade nichts Besseres zu tun habe. Wenn Kinder zu Mördern werden oder irgend so was.

»Woher wollen Sie das wissen?«, frage ich.

Cathy holt tief Luft. »Nun, sagen wir einfach, von jemandem, der jemanden kennt, deren Ex-Mann früher Polizist war. Und ein guter Kollege dieses Polizisten war Betreuer in einem Zeugenschutzprogramm. Könnte natürlich auch sein, dass es gar nicht stimmt. Aber wie heißt es gleich wieder: Wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Und mein Mann sagt, solche Leute werden immer in Kleinstädten wie dieser untergebracht.«

Debbie verzieht den Mund. »Unglaublich, wie man sich um diese Ungeheuer kümmert. Ich meine, wir sind es doch, die das alles bezahlen müssen, oder nicht?«

»Wäre es Ihnen lieber, man würde sie einem Lynchmob überlassen?«

Die drei Frauen starren mich an. Hätte ich bloß den Mund gehalten, aber manchmal kann ich einfach nicht anders. Ich weiß nicht mal, warum ich mir diesen ganzen Unsinn anhöre. Ich sollte es eigentlich besser wissen.

Cathy rümpft die Nase. »Ehrlich gesagt, Joanna, mir schon. Es ist doch nicht gerecht, dass so jemand eine Sonderbehandlung bekommt. Was ist denn mit den Eltern des ermordeten kleinen Jungen? Die haben nicht den Luxus, ein neues Leben beginnen zu können, oder?«

»Ach, das Ganze stimmt wahrscheinlich sowieso nicht«, sagt Fatima. »Und wenn doch, können wir nichts dagegen tun. Das ist alles schon ewig her. Ich bezweifle, dass sie immer noch gefährlich ist.«

Die liebenswürdige, vernünftige Fatima. Ich muss sie unbedingt bald auf einen Kaffee zu mir einladen. Und sie bei einem netten Gespräch etwas besser kennenlernen. Aber nicht heute. Ich werde noch zu spät kommen, wenn ich mich nicht langsam auf den Weg mache.

»Danke, Jo. Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden, dass Sie das an Ihrem freien Tag übernehmen.«

Dave gibt mir die Schlüssel und die frisch ausgedruckten Immobilienunterlagen für Maple Drive 24, auf denen das neue Pegton-Logo prangt.

»Kein Problem«, sage ich. Und das meine ich auch so. Es gibt nicht viele Arbeitgeber, die so flexibel sind wie Dave Pegton. Dieser Job ist ein echtes Geschenk Gottes, bestens mit Alfies Schulzeiten zu vereinbaren und nicht weit weg von zu Hause.

Unser Haus. Das verdanke ich auch Dave. Das kleine Drei-Zimmer-Reihenhaus, das er so nonchalant als »Liebhaber-Objekt« angepriesen hat. Der Makler-Jargon nötigt einem wirklich Bewunderung ab. »Renovierungsbedürftig« wäre zutreffender gewesen. Aber dann stellte sich heraus, dass es die einzige Immobilie war, die ich mir leisten konnte, und so habe ich schließlich doch ein Angebot abgegeben. Ein neues Haus. Ein neuer Job. Und das alles nur, weil ich zum richtigen Zeitpunkt im Büro des richtigen Immobilienmaklers aufgetaucht bin. Ein glücklicher Zufall, so sagt man doch, oder?

Dave geht an seinen Schreibtisch zurück. »Viel Glück, übrigens, mit Mrs Marchant«, sagt er mit einem Blick über die Schulter.

»Warum? Was ist mit ihr?«

Dave grinst. »Das finden Sie noch früh genug heraus.« Und ehe ich ihm weitere Fragen stellen kann, klingelt das Telefon und er spricht mit einem Klienten.

Am Maple Drive reihen sich bunt gemischt Häuser aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts aneinander, einige davon freistehend, die meisten jedoch Doppelhaushälften. Es ist nicht die teuerste Straße in Flinstead – Leute, die richtig Geld haben, wohnen im Stadtteil Groves –, aber sie ist beliebt, vor allem das Ende zum Meer hin, wo Nr. 24 steht. Dave hat dem Haus in der Immobilienanzeige einen »Meeresblick« attestiert, und den hat es bestimmt auch, wenn man eins der Fenster im oberen Stockwerk aufmacht, sich weit hinauslehnt und den Hals nach links verrenkt. »Meeresahnung« wäre wohl die korrektere Bezeichnung gewesen. Aber es ist ein hübsches Haus. Gut gepflegt. Mit einem schönen Vorgarten. Und selbst eine Ahnung des Meeres erlaubt ja immer noch einen Zuschlag auf den Kaufpreis.

Susan Marchant öffnet die Haustür, noch ehe ich auf die Klingel drücken kann. Ein kurzes Nicken ist alles, womit sie mein fröhliches »Guten Morgen« quittiert. Ich erwarte, dass sie einen Schritt zurücktritt und mich hereinbittet, doch sie steht einfach nur da, als wäre ich ein Hausierer, dessen Besuch laut Schild über der Klingel »unerwünscht« ist.

»Ich habe gehofft, dass ich vor dem Termin noch kurz eine Runde durch das Haus drehen kann«, sage ich. »Um mich mit dem Grundriss vertraut zu machen.«

Ich finde es immer hilfreich, sich einen eigenen Eindruck von dem zu verschaffen, was man jemandem zeigen will. Nicht alle räumen ihr Haus vor einer Besichtigung auf und putzen es. Mir sind schon alle möglichen seltsamen und ekligen Dinge untergekommen. Auf dem Boden verstreute schmutzige Slips. Ein großer brauner Haufen, zusammengerollt wie eine schlafende Schlange, in der Toilettenschüssel. Obwohl das, soweit ich über Susan Marchants Schulter hinweg sehen kann, hier nicht der Fall zu sein scheint. Es ist nicht nur sauber, sondern schon fast klinisch rein, und die Zimmer sind halb leer. Sieht aus, als hätte sie den Großteil ihrer Sachen bereits irgendwo untergestellt.

»Warum?«, fragt sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Haben Sie in Ihren Unterlagen keinen Grundriss?« In ihren Augen und ihrer Stimme liegt eine Kälte, die mich aus dem Konzept bringt.

»Doch, schon, aber …«

»Jetzt ist es ohnehin zu spät«, sagt sie und wirft einen Blick auf die Straße. »Das dürfte Anne Wilson sein.«

Ich drehe mich um und sehe einen blauen Renault Clio vorfahren. Eine Frau mit einem hellgrünen Regenmantel und zweifarbigem Haar – dunkelblond, die Spitzen kupferrot – steigt auf der Beifahrerseite aus und winkt mir lächelnd zu. Gott sei gedankt für lächelnde Menschen. Jetzt steht der Fahrer neben ihr. Er ist groß und wirkt distinguiert. Silbergraues Haar. Es kommt mir so vor, als hätte er ihr gern die Autotür aufgehalten, wenn sie ihm Gelegenheit dazu gegeben hätte. Hand in Hand kommen sie die Auffahrt entlang auf uns zu. Sie sind also entweder eins dieser seltenen Paare, die sich auch nach jahrelanger Ehe noch innig lieben, oder es handelt sich um eine neue Beziehung. Ich würde auf Letzteres tippen.

Das ist einer der Gründe, warum ich diesen Job so liebe – ich lerne dauernd neue Leute kennen. Und versuche dann, an den Bruchstücken, die sie von sich preisgeben, abzulesen, wie sie wirklich sind. Die Besichtigungen der Immobilien sind das absolut Beste daran. Tash, eine meiner ältesten Freundinnen, sagt, das liege nur daran, dass ich eine von Natur aus neugierige Person sei. Das meint sie nicht böse, denn sie ist haargenauso.

An einem Wochenende in Brighton gaben sie und ihr Freund einmal vor, sich für ein teures Penthaus zu interessieren, nur um einen Blick hineinwerfen zu können. Ich muss ein Lächeln unterdrücken. Sie hatten ihren klapprigen Volvo ein paar Straßen weiter weg parken müssen, damit der Immobilienmakler sie nicht daraus aussteigen sah. An die Geschichte muss ich oft denken, wenn ich mich mit Kaufinteressenten treffe. Man weiß nie genau, ob die Leute aufrichtig sind.

»Hi, ich bin Joanna Critchley von Pegton. Es freut mich, Sie kennenzulernen.« Wir geben uns die Hand. Anne Wilson ist eine attraktive Frau, aber ihr Gesicht wurde eindeutig Schönheits-OPs unterzogen. Ihre Haut hat den typisch glänzenden, straffen Look, und ihre Lippen und Wangen sind mit Fillern aufgepolstert. Ich wende den Blick ab, damit sie nicht denkt, ich würde sie anstarren. »Und das hier ist Susan Marchant, die Hausbesitzerin.«

Doch Susan Marchant hat uns bereits stehen lassen und geht auf die Treppe zu. Ihre Absätze klacken bei jedem Schritt auf dem Holzboden. Was für eine unhöfliche Frau. Kein Wunder, dass Dave diese Besichtigung unbedingt mir zuschieben wollte. Und wer, bitte, trägt im eigenen Haus High Heels?

Ich hole einmal tief Luft. »Wie wär’s, wollen wir im Wohnzimmer anfangen?«

Nicht gerade der gelungenste Auftakt. Der Kauf eines neuen Hauses ist an sich schon stressig genug. Da reicht manchmal ein frostiger Hausbesitzer, um Interessenten abzuschrecken. Aber vielleicht will Susan Marchant genau das erreichen. Vielleicht ist sie wegen eines untreuen Ex-Manns, der seinen Besitzanteil in die Finger kriegen will, gezwungen, das Haus zu verkaufen, und legt es darauf an, so viele Käufer wie möglich vor den Kopf zu stoßen. Und ich könnte, ehrlich gesagt, nicht schwören, dass ich es nicht genauso machen würde.

Als ich am Spätvormittag wieder zu Hause bin, vergleiche ich unwillkürlich mein beengtes, altmodisch ausgestattetes Reihenhaus mit Küche und Wohnzimmer unten und zwei Zimmern oben mit dem schönen geräumigen Haus, das ich gerade gesehen habe, und schon kurz darauf scrolle ich online durch Farbmusterpaletten. Ich hatte mir fest vorgenommen, mit der Renovierung zu beginnen, sobald Alfie sich in der Schule eingelebt hat. Jetzt ist Oktober, und ich habe immer noch nichts in Angriff genommen.

Plötzlich fällt mir wieder ein, was Cathy über Sally McGowan gesagt hat. Es ist wahrscheinlich nur ein Haufen alter Unsinn, den sie ausgeschmückt hat, um ein bisschen Aufregung zu kreieren, aber ich könnte doch schnell mal nachschauen. Solange es mich nur davon abhält, über die Renovierung nachzudenken.

Ich tippe den Namen in die Suchleiste und sofort werden 109 Millionen Ergebnisse angezeigt, samt einem körnigen Schwarz-Weiß-Foto eines Kindergesichts. Ohne ein Lächeln darin und mit aufsässiger Miene, aber dennoch außergewöhnlich schön. Das habe ich schon einmal gesehen. Jetzt erinnere ich mich.

Laut Wikipedia wurde Sally McGowan in Broughton, Salford, geboren. 1969, im Alter von zehn Jahren, erstach sie dort den fünfjährigen Robbie Harris. Es war ein sensationeller Kriminalfall, der das ganze Land spaltete. War sie eine kaltblütige Psychopathin oder das Opfer von Misshandlung und Vernachlässigung durch ihre Eltern? Sie sagte, es sei ein Spiel gewesen, das schiefgegangen war, aber es glaubte ihr niemand. Die Öffentlichkeit zumindest nicht. Und es herrschte Empörung, als sie wegen Totschlags verurteilt wurde, und nicht wegen Mordes.

Ich lese auf anderen Webseiten weiter. 1981 wurde sie mit neuer Identität ausgestattet entlassen. Sechs Jahre später haben Reporter sie aufgespürt. Zu dem Zeitpunkt arbeitete sie als Näherin in Coventry und hatte selbst ein Kind. Ich scrolle durch weitere Bilder. Sally als Siebzehnjährige in der Jugendstrafanstalt beim Billardspielen. Es hat etwas Provozierendes, wie sie sich da über den Spieltisch beugt, aber vielleicht liegt es auch nur am Aufnahmewinkel, an der Bildkomposition des Fotos.

Dann sehe ich eine grazile junge Frau in den Zwanzigern, die ihr Gesicht vor der Kamera verbirgt. Ich überfliege ein paar weitere Webseiten. Noch eine Namensänderung. Noch ein Umzug. Und seitdem ist nichts mehr über sie zu finden, nur gelegentlich noch ein Artikel in der Boulevardpresse über eine angebliche Sichtung oder den anhaltenden Schmerz der Familie des Opfers Robbie Harris.

Ich trinke einen Schluck Kaffee. Was, wenn sie wirklich in Flinstead lebt? Ich meine, irgendwo muss sie ja sein, warum also nicht hier? Plötzlich fällt mir die schroffe Hausbesitzerin wieder ein. Susan Marchant. Es kann natürlich nur ein dummer Zufall sein, dass ihre Initialen sich entsprechen, aber trotzdem fange ich an, das Bild der zehnjährigen Sally McGowan mit ihrem zu verblenden. Die Gesichtszüge verschmelzen.

Ich werfe mein iPad ans andere Ende des Sofas. Das ist doch absurd. Da höre ich irgendwelches albernes Geschwätz am Schultor und schon verselbstständigt sich meine Fantasie. Wenn Susan Marchant tatsächlich eine Kindermörderin wäre, hätte sie bestimmt kein Haus zu verkaufen. Sally McGowan lebt irgendwo unter dem Schutz der Behörden.

Susan Marchant ist zwar eine unfreundliche alte Schnepfe, aber das macht sie noch lange nicht zur Mörderin.

2

»Ich erinnere mich immer noch an das Blut«, sagt Margaret Cole, die einstige Freundin und Nachbarin der Kindermörderin Sally McGowan

von Geoff Binns

Dienstag, 3. August 1999

Daily Mail

Heute vor dreißig Jahren erstach die seitdem berühmt-berüchtigte Sally McGowan in einem leerstehenden Haus in Broughton, Salford, den fünf Jahre alten Robbie Harris. Sie war zehn Jahre alt.

Ihre einstige Schulfreundin und Nachbarin Margaret Cole hat sich gestern für uns an diese Zeit erinnert.

»Es war alles so anders damals«, erzählt Margaret. »Eine andere Welt. Wir haben als Kinder immer draußen gespielt. Unsere Mütter wussten den halben Tag lang nicht mal, wo wir waren. Um uns herum wurden reihenweise Häuser abgerissen. Das muss für unsere Eltern schrecklich gewesen sein, aber für uns Kinder gab’s nichts Schöneres. Es war ein einziger riesengroßer Spielplatz.«

In den 1960er-Jahren wurden viele Reihenhäuser aus der viktorianischen Zeit abgerissen, um Platz für Hochhäuser zu schaffen. Chronische Armut, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot – das war die Welt, in der Sally McGowan aufwuchs.

»Aber so war das damals einfach«, erzählt Margaret. »Wir wussten nichts von all diesen Nöten. Wir waren bloß Kinder. Die draußen spielten. Und dann war plötzlich eines Tages alles anders. Ich erinnere mich immer noch an das Blut. Wie es aus ihm heraussickert und sein Hemd ganz rot wird. Wie es um das Messer herum Blasen schlägt. Und an seine Augen. An seine kleinen blauen Augen. Man musste sie nur angucken und wusste, dass er tot war.«

McGowan wurde vor Kurzem von den Behörden lebenslange Anonymität zugesichert. Gefragt, was sie davon hält, sagt Margaret: »Das ist doch nicht richtig, oder? Nach dem, was sie getan hat. Ich meine, ja, sie hatte es schwer zu Hause, ich weiß. Aber vielen Kindern ging’s genauso schlecht, und die haben nicht getan, was sie getan hat. Mir tut Robbies Familie so furchtbar leid. Dieser Gedenktag wühlt bestimmt alles wieder auf.«

Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Mist. Schon fast Viertel nach drei. Zeit, Alfie abzuholen.

Ich greife nach meiner Tasche, zwänge die Füße in meine Sneakers, ohne die Schnürsenkel aufzumachen, und öffne die Haustür. Ich kann gar nicht glauben, dass ich so viel Zeit mit dem Herumsurfen im Internet verbracht habe. Jetzt habe ich nicht eine einzige Notiz für den Buchclub heute Abend gemacht.

Alfie kommt als Erster heraus, sein krauses Haar ist feucht von Schweiß.

»Warum ist dir denn so warm?«

»Sport«, sagt er. »Ich bin bis ganz oben auf die Sprossenwand geklettert.«

Ich weiß nicht genau, wie ich es finden soll, dass er auf eins dieser Dinger geklettert ist. Ich wurde als kleines Mädchen mal von einem übereifrigen Grundschullehrer dazu angetrieben, höher zu klettern, als mir lieb war, und das endete damit, dass ich rücklings auf die Matte knallte und keine Luft mehr bekam. Ich dachte, ich würde sterben. Doch ich will Alfie keine Angst machen. Er ist offenbar nicht so linkisch und unkoordiniert, wie ich es war – und immer noch bin. Alfie macht sogar gerne Sport.

»Wow!«, sage ich. »Ganz schön mutig.«

»Liam und Jake haben gesagt, ich will bloß angeben, und Jake hat zu Miss Williams gesagt, ich habe ihn geschubst. Aber das stimmt gar nicht.«

O nein. Das hier soll ein Neuanfang sein. Neue Schule. Neue Freunde. Ich könnte es nicht ertragen, wenn er wieder gemobbt wird. Das ist einer der Gründe, warum ich überhaupt wieder hierhergezogen bin. Deshalb und wegen meiner Schuldgefühle, weil ich immer so lange gearbeitet habe und auf eine Tagesmutter angewiesen war.

Alfie kickt mit dem Fuß einen Stein weg. »Jake sagt immer gemeine Sachen.«

Jake Hunter, Cathys Sohn. Das passt. Ich drücke Alfies warme kleine Hand. »Er ist bestimmt nur neidisch, weil du besser klettern kannst als er.«

Alfie zieht an meinem Arm. »Kommt Grandma heute Abend auch wirklich?«

»Natürlich. Und sie bringt Cupcakes mit.«

Lachend stößt er eine Faust in die Luft. Meine Schultern entspannen sich. Die Streiterei mit Jake Hunter kann nicht so schlimm gewesen sein, wenn er sie schon wieder vergessen hat. Es hilft natürlich, dass meine Mutter gleich um die Ecke wohnt. Von der Nähe des Strands ganz zu schweigen. Es war eindeutig die richtige Entscheidung, London zu verlassen und hierherzuziehen. Auch wenn ich mich dafür von meinem hübschen kleinen Apartment verabschieden musste, und von meinem gut bezahlten Job, und von meinen Freunden (zum Glück gibt es Facebook), und … na ja, im Grunde von meinem ganzen Leben. Wenn man ein Kind hat, verändert sich alles. Und wenn dieses Kind unglücklich ist, tut man, was immer möglich ist, um wieder ein Lächeln in sein Gesicht zu zaubern.

Vor Alfies Geburt hatte ich jahrelang keine Beziehung gehabt, und ich verspürte nicht den geringsten Wunsch nach einem Kind. Ich hatte mich in einer großen Immobilienfirma im Süden Londons bis zur Abteilungsleiterin hochgearbeitet, mir unterstand dort der gesamte Bereich Vermietungen. Ich fuhr einen silbernen Audi A3, wohnte in einem kleinen, aber feinen Hochparterre-Apartment, das von Minimalismus und klaren Linien bestimmt war, und meine Kochkünste reichten gerade einmal bis zum Fertiggericht von Waitrose, das man nur noch in die Mikrowelle schieben muss.

Dann fing ich etwas mit Michael Lewis an, einem alten Freund aus Universitätszeiten. Es sollte eigentlich nie etwas Festes werden. Michael ist investigativer Journalist, nicht gerade ein Beruf, der zu einem stabilen Familienleben führt, und außerdem genoss ich, ehrlich gesagt, auch meine Unabhängigkeit. Wir wurden – wie sagt man so schön? – »Freunde mit dem gewissen Extra«. Dass dieses »gewisse Extra« sich dann als Alfie herausstellen würde, war so nicht geplant gewesen.

Ich werde Mums Gesichtsausdruck nie vergessen, als ich es ihr erzählte. Keine Ahnung, was der größere Schock für sie war: meine Schwangerschaft oder Michaels schwarze Hautfarbe.

Michael war großartig. Und ist es immer noch. Er ist weder ausgeflippt, noch hat er mir sofort angeboten, die Kosten für einen Schwangerschaftsabbruch zu übernehmen. Er hat sich mit mir hingesetzt und gesagt, dass er mich in allem unterstützen werde, egal, wie meine Entscheidung ausfalle. Und wenn ich die Schwangerschaft austragen würde, sagte er, dann werde seine Rolle im Leben des Kindes so groß oder so klein sein, wie ich es wünsche. Er hat mir sogar angeboten, mich zu heiraten.

Ich will nicht so tun, als hätte mich das nicht gereizt, aber ich wusste, dass er mir den Antrag nur wegen Alfie machte. Und außerdem, wenn wir geheiratet hätten und unsere Ehe dann gescheitert wäre – und mal ehrlich, wie oft läuft es in Beziehungen heutzutage genau darauf hinaus –, hätte es womöglich noch so geendet wie bei meinen Eltern, die sich bis aufs Blut gehasst haben, und das wäre für Alfie nun wirklich nicht gut gewesen.

Auf diese Weise sind wir immer noch beste Freunde, und Alfie hat eine normale Beziehung zu seinem Dad, was besser ist als alles, was ich je von mir sagen konnte.

Alfie winkt jemandem auf der anderen Straßenseite zu. Es ist die Frau, die im Bungalow der Schule gegenüber wohnt. Sie richtet sich von ihren Rosenbüschen auf und winkt mit der Gartenschere in der Hand zurück. Vor ein paar Wochen, als Alfie hier in die Schule kam, war er auf dem Gehweg hingefallen und hatte sich das Knie aufgeschürft, und sie war so nett gewesen, mit einem Pflaster aus dem Haus zu kommen. Sie hatte richtig Wirbel um ihn gemacht.

Mit einem Mal schießt mir ein unerfreulicher Gedanke durch den Kopf. Was, wenn sie Sally McGowan ist, mit ungehindertem Blick auf den Schulhof? Ein bescheuerter Gedanke, und das weiß ich auch. Es gibt keinen einzigen Grund, warum ausgerechnet sie Sally McGowan sein sollte, und nicht zum Beispiel die Frau, die uns da gerade mit ihrem Einkaufstrolley entgegenkommt.

Flinsteads Einwohner sind älter als die Bevölkerung im Landesdurchschnitt. Die Leute verbringen hier gern ihren Ruhestand. Leute aus London vor allem, die sich vom Meer und dem gemächlicheren Lebenstempo angezogen fühlen. Hier gibt es den Strand und genau eine Einkaufsstraße, und das war’s. Wer etwas Aufregendes erleben will, muss eine halbe Stunde mit dem Auto fahren oder in den Bus steigen, wenn es einem nichts ausmacht, ewig und drei Tage zu warten. Ebendeshalb konnte ich es kaum erwarten, nach London zu kommen, als ich endlich achtzehn wurde. Doch jetzt ist es anders. Jetzt muss ich an Alfie denken.

Wieder zu Hause in meiner kleinen Kombüsenküche, die völlig verwandelt sein wird, wenn ich erst einmal die Schränke gestrichen habe, mache ich Alfie die übliche Kleinigkeit zu essen nach der Schule und höre mir die aus dem Wohnzimmer plärrenden, vertrauten Klänge des Star Wars-Soundtracks an. Ein Leben ohne Alfie kann ich mir nicht mehr vorstellen. Nichts hätte mich auf die Freude vorbereiten können, ein Kind zu haben. Und auch auf die Ängste nicht. Ich bringe ihm sein Sandwich und bemühe mich, nicht an den Albtraum zu denken, den Robbie Harris’ arme Mutter vor all den Jahren durchmachen musste. Doch sosehr ich mich auch bemühe, ich kann nicht verhindern, dass die Bilder an meinem geistigen Auge vorüberziehen. Bilder, in denen ich Alfies schlaffen, blutüberströmten Körper im Arm halte.

Das passiert mir immer wieder. Dass ich das Schlimmste heraufbeschwöre, was ihm irgend passieren kann. Vielleicht geht es ja allen Eltern so. Vielleicht sind es gerade diese makabren Vorstellungen, die wir brauchen, um unsere Kinder zu schützen.

Ich kuschle mich auf dem Sofa an ihn und drücke ihm einen Kuss auf den Scheitel. Was war das nur für ein Kind, das einem fünf Jahre alten Jungen ein Messer ins Herz rammen konnte?

3

»Ich bin um zehn zurück«, sage ich zu Mum. »Erlaub ihm nicht, noch mehr Cupcakes zu essen.«

Mum wuschelt durch Alfies frisch gewaschene Haare und lacht. »Wie gut, dass du immer so viel herumrennst, junger Mann, sonst würdest du noch aussehen wie einer dieser Sumo-Ringer.«

Alfie wirft den Kopf in den Nacken und bricht in ein übertriebenes Gelächter aus.

Draußen ziehe ich meine Jacke an und mache mich, den Kopf wegen der plötzlichen Windböen gesenkt, auf den Weg zu Liz Blackthorne, in deren Haus der Buchclub stattfindet. Die Abende werden mittlerweile kühler, und es wird auch schon früher dunkel. Ein Geruch von feuchter Erde und nassem Laub liegt in der Luft. Ich stopfe die Hände in die Jackentaschen und stemme mich gegen den Wind.

Liz wohnt ganz in der Nähe der Uferpromenade. Dort ist der von der Nordsee heranstürmende Wind sogar noch stärker. Wie immer setze ich für jedes Haus, an dem ich vorbeikomme, einen Preis fest. Michael witzelt oft, dass Makler, genau wie Journalisten, nie richtig Feierabend haben. Er hält stets Ausschau nach einer Story mit Nachrichtenwert. Ich hingegen taxiere immerzu Immobilien, schätze ihren Marktwert und schreibe in Gedanken Angebote.

Als ich an dem leer stehenden Haus mit dem völlig verwilderten Vorgarten und den mit Brettern vernagelten Fenstern vorbeikomme, frage ich mich unwillkürlich, wem es gehört und warum es nie hergerichtet wurde. Es könnte hinreißend sein, wenn man es renovieren würde. Vielleicht starb der Besitzer, ohne ein Testament verfasst zu haben, oder er hatte keine Erben. Oder vielleicht wollten sie es auch einfach nicht. Das muss man sich mal vorstellen. Wie kann man einen Besitz nur so verfallen lassen? Man müsste allerdings einen ziemlichen Batzen investieren, bis es den neuesten Bauvorschriften entspricht. Es ist wie bei so vielen alten Häusern hier: Von außen mögen sie ja noch recht imposant wirken, doch das Innenleben bröckelt vor sich hin.

Liz wohnt in einem der Häuser im holländischen Stil, mit Mansarddach. Es erinnert mich immer an ein Gesicht – die zu beiden Seiten wie glattes Haar herabfallenden abgeknickten Dachflächen, die beiden Rundbogenfenster oben, die wie zwei Augen unter schweren Lidern auf das Meer hinausblicken. Ich liebe es.

»Hereinspaziert«, sagt Liz, und wir geben einander die üblichen Wangenküsschen.

In ihrer dreiviertellangen Jacke im Harlequinmuster und mit dem dicken Zopf, zu dem sie ihr weißes Haar heute Abend geflochten hat und der ihr über die Schulter vorne lang herabfällt, sieht sie sogar noch mondäner aus als sonst. Wenn ich in Liz Blackthornes Alter auch nur halb so gut aussehe wie sie, kann ich mich glücklich schätzen.

Ich folge ihr ins Esszimmer, wo die anderen vier bereits um den runden glänzenden Mahagonitisch sitzen und Oliven, Chips und Wein zusprechen. Das ist genau die Art Raum, die ich auch gern hätte: in den Wandnischen zu beiden Seiten des Kamins Bücherregale vom Boden bis unter die Decke, an den Wänden echte Bilder – die meisten von Liz selbst gemalt – und unter dem Fenster eine türkische Ottomane mit einem edlen Überwurf in historischem Muster und Unmengen von Kissen. Liz hat ein Händchen dafür, einen Raum so auszustatten, dass er wie ein Bohèmesalon wirkt. Ein wilder Mix von Mustern und Farben, die sich wie durch ein Wunder alle gegenseitig ergänzen. Das muss die Künstlerin in ihr sein. Wenn ich so etwas ausprobieren würde, käme dabei ein einziges Durcheinander heraus. Ich sollte sie vielleicht bitten, mich bei der Gestaltung meines Hauses zu beraten.

»Sie haben gerade ein sehr interessantes Gespräch über Exhibitionisten verpasst«, sagt Liz.

Sie wirft mir einen bedeutungsschwangeren Blick zu, ich lächle. Mit Liz empfinde ich echte Geistesverwandtschaft. Ich war schon immer lieber mit älteren Frauen befreundet. Mit Frauen, die sich wohlfühlen in der eigenen Haut. Mit Frauen, die keine Angst davor haben, kompromisslos sie selbst zu sein.

Eins ist sicher: Mum hatte recht mit ihrem Rat, dass ich einem Buchclub beitreten sollte. Es ist genau das, was ich brauche. Die meisten meiner alten Schulfreunde sind schon vor langer Zeit hier weggezogen, und selbst wenn ich gelegentlich mal das ein oder andere vertraute Gesicht sehe, verbindet uns doch nur noch wenig miteinander. Ich treffe mich natürlich noch mit Tash und ein, zwei anderen Freundinnen aus London, aber nicht so oft, wie mir lieb wäre. Es mögen erst vier Monate vergangen sein, seit es mich in die Kleinstadtidylle – wie Tash es etwas abschätzig ausdrückt – verschlagen hat, aber in vielerlei Hinsicht fühlt es sich an wie ein ganzes Leben.

Gelächter erklingt rund um den Tisch und Gläser werden nachgeschenkt. Liz schiebt mir ein leeres Glas zu und weist mit einem Kopfnicken auf die Ansammlung an Flaschen auf dem Sideboard.

»Das Thema habe ich aufgebracht, fürchte ich«, sagt Barbara. Ihre tiefe sonore Stimme dröhnt laut in meinen Ohren. Wenn sie noch mehr trinkt, wird ihr alter Brummie-Akzent wieder durchschlagen, den nur Leute aus Birmingham wirklich beherrschen.

Barbara ist Stadträtin. Eine wuchtige Frau mit einer noch wuchtigeren Persönlichkeit, deren Garderobe in erster Linie aus adretten schwarzen Hosen und praktischen Blusen zu bestehen scheint. Sie erinnert mich an eine meiner alten Kolleginnen: lautstark und eigensinnig, dabei aber immer witzig.

»Hm, warum überrascht mich das nicht im Mindesten?«, sage ich. Noch mehr schallendes Gelächter. In Sachen Weinkonsum habe ich definitiv einiges nachzuholen. Sogar Maddie, die sonst immer bei Tee bleibt, spricht heute Abend dem Alkohol zu.

»Also gut.« Liz’ Stimme ist nur minimal lauter als die der anderen, aber irgendetwas in ihrem Ton lässt uns alle aufhorchen. »Dann fangen wir mal an, schlage ich vor«, sagt sie.

Die Lektüre dieses Monats – Alain de Bottons Trost der Philosophie – war eindeutig Liz’ Vorschlag und entspricht nicht gerade unserer normalen Kost aus zeitgenössischen Romanen mit dem versprengten Klassiker hier und da. Im nächsten Monat ist Barbara dran, und wenn ich nach dem urteile, was ich eben aus ihrer Handtasche lugen sah, hat sie sich für Mary Shelleys Frankenstein entschieden. Ich hatte auf etwas Leichteres gehofft, wenn ich ehrlich sein soll. Auf irgendein Wohlfühl-Buch, zur Abwechslung mal.

Wie üblich hält Barbara sich nicht zurück, wenn sie ihre Meinung vortragen kann. Dies ist mein viertes Treffen, und bisher hat ihr, glaube ich, noch kein einziges der Bücher gefallen. Sie könne mit dieser populären Darstellung großer Geister nichts anfangen, sagt sie, und als Frau, die quasi alle Hoffnung aufgegeben habe, noch einen passenden Partner zu finden, finde sie es auch nicht tröstlich, dass Schopenhauer in der Liebe lediglich ein Hilfsmittel zur Fortpflanzung der Gene gesehen habe.

»Ich meine, was sagt das über mich? Dass meine Gene es nicht wert sind, weitergegeben zu werden? Nicht dass ich sie jetzt noch weitergeben könnte«, murmelt sie in ihr Weinglas hinein. »Nicht ohne göttliche Intervention.«

Wir kichern alle.

»Wenn Sie sich also von Schopenhauer nicht trösten lassen wollen, wie wäre es dann mit Nietzsche?«, erwidert Liz und betrachtet Barbara mit ihren großen ernsten Augen. »Mir gefällt seine Auffassung, dass all der Mist, der uns im Leben widerfährt, uns nährt und uns letztlich zu besseren Menschen macht.«

Barbara schnaubt spöttisch. »Mir ist über all die Jahre hinweg so viel Mist um die Ohren geflogen, dass ich mich wundere, warum ich dann noch keine Tugendbombe bin.«

Ich erzähle den anderen, wie sehr mir Bottons School of Life-Posts auf Twitter und Facebook gefallen. Barbara zieht eine Grimasse. »Ich habe mich auf diese sozialen Medien ja Gott sei Dank gar nicht erst eingelassen«, sagt sie, so als hätte ich mich gerade zu einem schändlichen Laster bekannt.

Im Laufe des Abends verschiebt sich der Schwerpunkt unseres Gesprächs unweigerlich von Sokrates, Seneca und anderen Philosophen zu uns selbst und unseren jeweiligen Neuigkeiten. Heute steht die arme Jenny im Rampenlicht. Jenny ist unser jüngstes Mitglied. Eine Krankenschwester, die vor Kurzem erst ausgelernt hat, schlank, schüchtern und intelligent, mit dunkelblondem, zum Pferdeschwanz gebundenem Haar und einer Vorliebe für kurze Kleider und blickdichte schwarze Strumpfhosen. Karen fragt sie über ihr Liebesleben aus, und Jenny ist das Ganze erkennbar unangenehm.

Ich weiß, wie es ist, einer von Karens inquisitorischen Befragungen unterzogen zu werden. Das hat sie bei mir auch einmal probiert, und ich fand es furchtbar. Ich hatte keine Lust dazu, meine ungewöhnliche Beziehung zu Alfies Dad zu erklären. Ich sah überhaupt nicht ein, warum ich das tun sollte, und ich mag es auch nicht, so in Verlegenheit gebracht zu werden. Und wie es aussieht, geht es Jenny ganz genauso.

Ich bin nicht sicher, ob ich Karens Gesellschaft öfter als einmal im Monat ertragen könnte. Was eigentlich schade ist, denn auf den ersten Blick sind wir uns sehr ähnlich: beide Mitte dreißig, beide ein Kind im Schulalter, beide begeisterte Leserinnen. Und genau wie ich ist auch sie aus London hergezogen, auch wenn sie inzwischen schon seit ein paar Jahren hier wohnt. Sie und ihr Mann haben eine Firma für Webdesign, und sie engagiert sich sehr im Elternbeirat in Alfies Schule. Bei meinem ersten Buchclub-Treffen fing sie an, mich über das wahre Leben in Flinstead aufzuklären, so als wäre sie die Ureinwohnerin und ich der Grünschnabel. Als ich erwiderte, dass ich hier zur Schule gegangen sei und es in ganz Flinstead nicht einen einzigen Quadratzentimeter gebe, den ich nicht kenne, wirkte sie fast verärgert, so als wollte ich vor ihr angeben. Vielleicht wollte ich das auch.

Ich schenke mir Wein nach. »Kann ich sonst noch jemandem etwas einschenken?«, frage ich in der Hoffnung, damit die Aufmerksamkeit von Jenny abzulenken. Aber nur Barbara geht auf mein Angebot ein.

»Wie lange haben Sie denn schon etwas mit ihm?«, fragt Karen und beugt sich zu Jenny. Ihre Augen wirken riesig hinter ihrer Nerdbrille, und die stumpfen Spitzen ihrer glatten schwarzen Haare streichen über die Tischplatte. »Ist es etwas Ernstes?«

Jenny wird rot. Selbst am Hals der armen jungen Frau bilden sich lauter rote Flecken, und plötzlich ist es mir ein Bedürfnis, sie vor Karens beharrlichen Fragen zu schützen. Seit wann dürfen Leute kein Liebesleben mehr haben, ohne dass die ganze Stadt davon weiß?

»Nur aus Interesse«, werfe ich ein, »hat eine von Ihnen schon mal von Sally McGowan gehört?« Es ist das Erste, was mir in den Sinn kommt.

Karen sieht mich befremdet an. Oje, warum um Himmels willen habe ich das gesagt? Ist mal wieder typisch für mich, erst zu reden und dann nachzudenken. Liz wirft mir stirnrunzelnd einen fragenden Blick zu. Zumindest glaube ich, dass er fragendist. Ich habe den Eindruck, sie würde das Gespräch am liebsten sofort wieder auf das Buch lenken. Genau das hätte ich tun sollen.

Karen starrt mich durch ihre Brille an und blinzelt wie eine Eule. »Die einzige Sally McGowan, die ich kenne, ist die Kindermörderin aus den Sechzigern. Ich kann mich noch erinnern, dass meine Mutter mir davon erzählt hat.«

»O Gott, ja«, sagt Maddie. »Sie wollen doch wohl nicht vorschlagen, dass wir ein Buch über sie lesen, Jo, oder? Denn über so etwas möchte ich, ehrlich gesagt, nichts lesen.« Sie schaudert. »Das ist mir zu deprimierend.«

Ich weiß immer noch nicht, was ich von Maddie halten soll. Sie erinnert mich an einen kleinen Vogel. Kluge, wache Knopfaugen, die stets von einem Gesicht zum anderen huschen. Eine hohe Stimme, die zu zwitschern anfängt, wenn sie aufgeregt ist. Ihre Tochter arbeitet in der Finanzbranche. Irgendetwas Einflussreiches in der Londoner City. Ich habe das Gefühl, dass sie Maddie ausnutzt. Das Ganze muss sehr viel billiger und praktischer sein als ein Kindermädchen. Ich weiß, Mum hilft mir auch oft mit Alfie aus, aber ich würde niemals erwarten, dass sie das in Vollzeit macht.

»Nein, keine Sorge. Ich habe heute Morgen nur ihren Namen gehört, das ist alles.«

»Worum ging es denn?«, fragt Liz und greift wie nebenbei nach einer Olive. »War irgendetwas in den Nachrichten?«

»Nein. Ich habe zufällig was aufgeschnappt, als ich Alfie heute Morgen in die Schule gebracht habe. Irgend so ein albernes Geschwätz. Sie wissen ja, wie die Perrydale-Grundschule ist. Die reinste Brutstätte für pikante Geschichten.«

Maddie lacht. »Da haben Sie nicht unrecht. Jedes Mal, wenn ich meine Enkelin abhole, höre ich etwas, das ich lieber nicht gehört hätte.«

»Jetzt erzählen Sie schon, Jo«, sagt Liz. Ihre Augen werden ganz groß. Wissbegierig. »Spannen Sie uns nicht länger auf die Folter.«

Ich räuspere mich. Es ist zu spät, jetzt kann ich mich nicht mehr herauswinden. Alle warten auf meine Antwort.

»Es ist bestimmt nur ein Haufen Unsinn, aber angeblich hat jemand gehört, dass sie irgendwo hier in Flinstead leben soll, unter einer neuen Identität.«

»Ach du Scheiße«, sagt Jenny.

Barbara stellt ihr Glas auf den Tisch und sieht mich mit offenem Mund an. Ihre Wangen sind vom Wein gerötet. »Meine Eltern haben immer gesagt, ein Blick in ihre Augen reicht und man weiß, dass sie böse ist.«

Liz schnaubt verächtlich.

»Das würde mich eigentlich nicht überraschen, nicht im Geringsten«, sagt Karen. »Flinstead ist doch der perfekte Ort, um so jemanden zu verstecken. Ich meine, wer käme schon auf die Idee, hier nach ihr zu suchen?«

Die Frage hängt in der Luft, unbeantwortet. Bilde ich es mir nur ein, oder hat das Gerücht die Atmosphäre unseres netten, harmlosen Büchertreffens vergiftet?

4

Michael kommt am Samstagmorgen um zehn nach acht, direkt vom Flughafen. Ich öffne die Haustür, und einen Augenblick lang bringe ich kein Wort heraus. Wenn ich ihn nach einer Phase längerer Abwesenheit wiedersehe, bin ich jedes Mal schier überwältigt von seiner physischen Präsenz. Von der Art, wie er den Raum um sich füllt. Wie er ihn beherrscht. Er hat nicht die Statur eines Bodybuilders, aber er strahlt Kraft aus. Kraft und Sanftmut – eine Kombination, die sehr sexy ist. Und an diesem Morgen wirkt er noch mal so sexy wie sonst, im Zusammenspiel mit einem Dreitagebart und dem verknitterten weißen Hemd, das so unglaublich gut zu seiner schwarzen Hose und seiner schwarzen Haut passt. Was eigentlich ungerecht ist, wenn man bedenkt, dass er einen schlimmen Jetlag haben muss.

Er ist bei seinem Cousin in Las Vegas zu Besuch gewesen, und das hatte damit geendet, dass er über die Schießerei bei dem Country-Music-Festival berichten und dann für die Folgeberichterstattung noch länger bleiben musste. Es muss entsetzlich gewesen sein, obwohl ich mir sicher bin, dass ein kleiner Teil tief in seinem Inneren auch froh ist, dort gewesen zu sein, als es passierte.

Noch auf der Türschwelle geht er in die Hocke und breitet die Arme weit aus. Alfie wirft sich seinem Dad entgegen und schlingt ihm die Arme um den Hals.

»Ich hab dich vermisst, kleiner Mann«, sagt Michael und reibt seine stoppelige Wange an Alfies Gesicht.

Alfie kreischt vor Vergnügen.

»O danke, Sohnemann, meine Kopfschmerzen lassen grüßen.« Er sieht grinsend zu mir hoch. »Ob’s hier wohl einen Kaffee für mich gibt? Ich fühle mich scheiße.«

Alfie schnappt nach Luft. »Du hast ein schlimmes Wort gesagt, Daddy.«

»Ja, das hat er. Und ich möchte nicht, dass du das Wort auch benutzt, Alfie.«

Michael wirft mir einen verlegenen Blick zu und gibt sich selbst einen Klaps auf die Hand. Jetzt ist die Umarmung für mich dran. »Tut mir leid, Mummy«, flüstert er mir ins Ohr. Er schaut Alfie an. »Wenn ich ihn sehe, ist es alle Strapazen wert. Ich wollte ihn nicht enttäuschen.«

Ich nicke, dankbar. Normalerweise fährt er mit Alfie zu seiner Schwester in Woodbridge oder nach London zurück, in seine eigene Wohnung in Camberwell. Doch jetzt, und ich weiß nicht, ob deshalb, weil ich ihm in seiner deutlichen Erschöpfung die Autofahrt nicht zumuten möchte oder weil ich fürchte, er könnte mit Alfie auf der Rückbank am Steuer einschlafen – Letzteres wahrscheinlich, ehrlich gesagt –, jetzt schlage ich ihm zu meiner eigenen Überraschung plötzlich vor, sich stattdessen doch hier noch eine Weile auszuruhen oder vielleicht sogar zu bleiben. Ich muss heute Vormittag noch arbeiten, bin um zwei herum aber wieder zurück.

Die Erleichterung steht ihm unmittelbar ins Gesicht geschrieben. So als hätte ich einen Zauberstab geschwungen und seine Müdigkeit wäre verpufft. Er umfasst mein Gesicht mit den Händen und legt seine Stirn an meine. Ich schließe die Augen. Wem versuche ich hier eigentlich etwas vorzumachen? Ich weiß doch ganz genau, warum ich ihm den Vorschlag gemacht habe.

Während Michael seinen Kaffee trinkt und versucht, Luke Skywalkers Lego-Landspeeder wieder zusammenzubauen, schaue ich den beiden zu, Vater und Sohn, wie sie in ihre Aufgabe versunken dasitzen, und Schuldgefühle überkommen mich. Michael wollte nicht, dass ich aus London weggehe. Es war sehr viel einfacher für ihn, Alfie zu sehen, als wir noch in seiner Nähe wohnten.

Aber er hatte auch nicht immer Zeit, wenn ich ihn brauchte – mal war er gerade auf dem Sprung zu einer Reportage, dann wieder musste er die ganze Nacht lang schreiben, um einen Abgabetermin einzuhalten –, und es war auch nicht Michael, der Alfies Weinkrämpfe mitbekam, jedes Mal wenn ich ihn morgens für die Schule aufweckte. Dass Mum hier nur ein paar Straßen weiter wohnt, ist einfach wunderbar. Ich muss mir nie Sorgen um einen Babysitter machen, und für sie ist es auch schön, uns in der Nähe zu haben. Obwohl ich aufpassen muss, mich nicht zu sehr auf sie zu verlassen. Nicht dass ich noch werde wie Maddies Tochter und das alles ungefragt als Selbstverständlichkeit voraussetze.

Luke Skywalkers Landspeeder gewinnt vor meinen Augen Gestalt. Ich habe mich gestern daran versucht, aber mit den Händen war ich noch nie die Geschickteste. Mein Vater war Schreiner und hat ständig an irgendetwas gebaut, aber ich hatte nie Gelegenheit, etwas von ihm zu lernen, denn als ich vier war, ist er mit einer anderen Frau auf und davon und hat eine neue Familie gegründet.

»Er hat’s mit jeder getrieben, die nicht bei drei auf dem Baum war« ist einer von Mums Lieblingssprüchen. Oder einer ihrer markigeren zumindest. Er hat Mum nie einen Penny für meinen Unterhalt gezahlt. Eine Zeit lang hat er noch Briefe geschrieben und versprochen, mich besuchen zu kommen oder mich in den Urlaub mitzunehmen, aber daraus ist nie etwas geworden.

»Du hast es geschafft!«, ruft Alfie und klatscht in die Hände. Seine Augen glänzen vor Freude.

Ich lächle. Er sieht seinen Dad vielleicht nicht so oft, wie die beiden es sich wünschen würden, aber immerhin hat er überhaupt einen Dad. Sogar wenn Michael wieder einmal Gott weiß wo der nächsten großen Story nachjagt, versucht er immer, Alfie so oft wie möglich anzurufen, und schickt ihm witzige Postkarten und Geschenke. Es mag nicht das ideale Arrangement sein, aber bis jetzt funktioniert es. Für Alfie wenigstens.

Als ich aus der Arbeit nach Hause komme, macht Alfie einen Mittagsschlaf. Michael hat ihn absichtlich müde gespielt. Als wir das Schlafzimmer erreicht haben, sind wir beide schon bis auf die Unterwäsche ausgezogen. Jetzt liegt auch die auf dem Boden. Mit einem Sechsjährigen im Haus, der jeden Augenblick aufwachen kann, bleibt keine Zeit fürs Vorspiel.

Erst als ich meine Beine um Michaels schlanken muskulösen Körper geschlungen habe und ihn, mit den Knöcheln pressend, tiefer und schneller in mich dränge, erinnere ich mich an den Entschluss, den ich beim letzten Mal gefasst habe, als das passiert ist. Dass es nicht wieder passieren wird, ganz gleich, wie sehr mein Körper danach verlangt. Alfie ist inzwischen schon groß genug, um Dinge mitzubekommen, die er früher nicht bemerkt hätte.

Manchmal frage ich mich, ob ich Michael hätte heiraten sollen, als er mir den Antrag machte. Vielleicht habe ich mich zu sehr von dem beeinflussen lassen, was zwischen Mum und Dad passiert ist. Es wäre durchaus möglich, dass wir eins dieser vom Schicksal begünstigten Paare geworden wären, die glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben. Nicht dass wir jetzt unglücklich sind. Weit gefehlt. Wie sagt Tash immer? All der Nervenkitzel einer Affäre, ganz ohne Streitereien oder Haushaltspflichten. Und, wenn ich das hinzufügen darf, ohne die Ängste, dass er mich für immer verlassen könnte. Und trotzdem kann ich nicht aufhören, darüber nachzudenken, wie es wohl laufen würde, wenn wir die ganze Zeit zusammen wären.

Danach rollt Michael sich auf den Rücken und legt die Hände hinter den Kopf. Ich schmiege mich an ihn und lege mein Bein auf seinen Oberschenkel, es wirkt milchfarben auf seiner Haut. Wir reden miteinander. Über Alfie und seine neue Schule. Über Michaels letzten Auftrag. Nur über unsere Beziehung reden wir nicht. So als würde keiner von uns es wagen, die Sprache darauf zu bringen. Und trotzdem kommt es mir in der letzten Zeit – genau genommen, seit ich London verlassen habe – so vor, als würde unter jedem Gespräch, das wir führen, ein anderes lauern und nur darauf warten, endlich aufgegriffen zu werden.

Michael starrt die Stelle in der Zimmerecke an, wo ich ein Stück der hässlichen alten Tapete von der Wand abgezogen habe. »Weiter bist du noch nicht gekommen?«

Ich seufze. »Versuch du mal, einen Job bei Pegton und das Leben mit Alfie unter einen Hut zu bringen.«

Vor meinem Einzug hatte ich den Plan, die Tapeten alle abzureißen und die Wände weiß zu streichen, bis ich mich für eine Farbkombination entschieden habe. Aber seit ich tatsächlich hier wohne, kommt mir die Aufgabe, das alles alleine zu renovieren, unüberwindlich vor. Michael würde mir bestimmt helfen – vielleicht wartet er sogar darauf, dass ich ihn darum bitte –, aber ein Teil von mir möchte es alleine machen, nur um zu beweisen, dass ich es kann. Meine sture Ader, wie Tash es nennt.

Michael lacht. »Womöglich sagt dein Unterbewusstsein dir, dass du hier keine Wurzeln schlagen sollst. Flinstead ist nicht gerade inspirierend.«

»Was weißt du denn schon?«, sage ich. »In dieser kleinen Stadt gibt’s Geheimnisse, die du dir im Traum nicht vorstellen könntest.«

Michael schnaubt spöttisch. »Lass mich raten: Mrs Beige aus dem Bungalow ›Spießerparadies‹ hat gestanden, 1973 vom Leichenbestatter ein uneheliches Kind bekommen zu haben?«

Ich versetze seinem Oberschenkel einen Klaps. »Blödmann!« Er macht sich immer nur lustig über das Kleinstadtleben.

»Oder hat das Blüten-Sonderkommando Flinstead endlich zugegeben, dass es unter Einsatz von Guerillataktiken die Rosenbüsche aller Nachbarn in der Umgebung stutzt?«

»Okay, wie wär’s zum Beispiel hiermit?« Ich bin wild entschlossen, seinen Spottballon zum Platzen zu bringen. »Die berühmt-berüchtigte Kindermörderin Sally McGowan lebt in Flinstead.«

Michael dreht sich herum und schaut mich an. »Woher willst du das wissen?«

»Das hat eine der Mütter in der Schule erzählt. Warum? Glaubst du das etwa wirklich?«

»Natürlich nicht. Aber es ist doch trotzdem eine Story, oder?«

Er greift nach seinem Handy, und ich ziehe an einem der krausen schwarzen Haare auf seiner Brust. Er ist wie ein Terrier auf der Jagd nach einer Ratte, wenn es um so etwas geht. Das liegt daran, dass er schon so viele Jahre lang für die Boulevardblätter schreibt.

»Es ist sinnlos, da weiter zu graben«, sage ich. »Es ist der Presse per Gerichtsbeschluss verboten, über sie zu berichten.«

»Ich weiß«, erwidert er und scrollt bereits durch die Google-Ergebnisse. »Es interessiert mich nur, das ist alles.«

5

Montagmorgen ist immer schwierig. Es hatte ewig gedauert, bis Alfie einsah, dass die langen Sommerferien und all die schönen Tage am Strand vorbei sind und er tatsächlich wieder zur Schule gehen muss, auch wenn es eine neue Schule ist. Ohne die fiesen Mitschüler von früher. Aber am Montagmorgen nach einem Wochenende mit seinem Dad ist es doppelt hart.

»Ich hab ganz doll Bauchweh«, sagt er und hält sich die Seiten mit so einer Leidensmiene, dass ich mir in die Wangen beißen muss, um nicht in Gelächter auszubrechen.

»Hmm. Vielleicht sollte ich Grandma anrufen und unseren Tee heute Nachmittag absagen. Wie schade. Ich glaube, sie hat ein Trifle gemacht.«

Alfie runzelt die Stirn. Und wenn mich nicht alles täuscht, kann ich exakt den Augenblick erkennen, als er sich wieder besser zu fühlen beginnt.

Maddie winkt uns zu, als wir gegen den Strom der Eltern auf den Schulhof eilen. Sie trägt ein Jackett mit Pelzkragen und einen braunen, tief in die Stirn gezogenen Glockenhut, was ihr das Aussehen einer Figur aus einem Agatha-Christie-Roman verleiht, und hält einen Packen Fotos an die Brust gedrückt. Durch das Zellophan strahlt mich das Gesicht ihrer Enkelin an. Verdammt. Ich habe mein Bestellformular schon wieder zu Hause vergessen. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät. Die Fotos sind hoffnungslos überteuert, aber ich kann auch nicht einfach keines kaufen. Ich bin immer noch etwas schockiert darüber, wie wenig ich verdiene, seit ich nicht mehr in London lebe.

»Sie sind spät dran heute Morgen«, sagt sie lächelnd und mit glänzenden Augen.

»Tja.« Mein Blick wandert zu Alfie. »Es war ein bisschen Überredungskunst nötig.«

»Macht es Ihnen was aus, wenn ich am Schultor auf Sie warte?«, fragt Maddie. »Ich muss mit Ihnen über etwas reden.«

Die meisten anderen Eltern und Kindermädchen haben sich schon zerstreut, als ich wieder bei ihr bin.

»Was gibt’s denn?«

Sie seufzt und schaut sich über die Schulter. »Was Sie da im Buchclub gesagt haben, über das Gerücht, das Sie gehört haben …«

Meine Laune sinkt. »Das ist doch nur albernes Geschwätz, Maddie. Darüber würde ich gar nicht länger nachdenken.«

»Nun, genau darum geht es«, sagt sie, die Stimme zu einem eindringlichen Flüstern gesenkt. »Ich glaube eben nicht, dass es nur albernes Geschwätz ist. Ich glaube, da ist etwas dran.«

»Wie kommen Sie darauf?«

Sie beugt sich etwas näher zu mir. »Ich habe mit einer Freundin vom Pilates-Kurs geredet. Sie war früher mal Bewährungshelferin und weiß alles Mögliche.«

Ich unterdrücke ein Stöhnen.

»Sie hat gesagt, dass man solche Leute oft an Orten wie Flinstead unterbringt. In ganz normalen Kleinstädten, von denen kaum einer Notiz nimmt. Manchmal dürfen sie ihre Vornamen behalten oder zumindest die eigenen Initialen. Damit sie nicht ganz durcheinanderkommen.«

Ich schaue so diskret wie möglich auf meine Uhr. Maddie ist reizend, aber ich muss in zehn Minuten in der Arbeit sein. »Erzählen Sie weiter.«

»Sie hat gesagt, dass man ihnen manchmal hilft, etwas Eigenes zu gründen. Wenn sie selbstständig sind, geraten sie nicht so leicht auf den Radarschirm.« Maddies Augen funkeln. Sie genießt es offenbar – die Aufregung, die Spekulation.

»Das ist bestimmt alles richtig«, sage ich, »aber es bedeutet noch lange nicht, dass Sally McGowan wirklich in Flinstead lebt. Es muss unendlich viele Orte wie diesen geben. Sie könnte sonst wo sein. Ja vielleicht sogar im Ausland.«

Maddie schüttelt den Kopf. »Nein. Ich habe das ganze Wochenende im Internet verbracht. Habe ich Ihnen schon mal erzählt, dass meine Tochter mich für einen dieser Silver-Surfer-Kurse angemeldet hat?«

»Nein, haben Sie nicht.«

»Nun, jedenfalls habe ich da eine ganze Menge über die verschiedenen Suchmaschinen gelernt.« Sie beugt sich wieder zu mir. »Sally McGowan lebt in einer Kleinstadt an der Küste, und sie arbeitet in einem Laden.«

Ich kann gerade noch verhindern, in lautes Gelächter auszubrechen. Herrje, und das trägt sie auch noch mit so einer felsenfesten Überzeugung vor. Ich dachte immer, Maddie wäre zu vernünftig, um alles zu glauben, was sie liest.

Sie wartet, bis ein Paar mittleren Alters an uns vorbeigegangen ist. Dann spricht sie weiter. »Waren Sie schon mal bei Sternkreis & Magie in der Flinstead Road?«

»In dem New-Age-Laden? Ja, da kaufe ich gelegentlich mal Krimskrams. Warum?«

Maddie holt einmal tief Luft. »Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, denn ich weiß, dass Liz mit der Besitzerin befreundet ist – Liz liebt ja dieses überkandidelte Zeug, nicht?« Sie hält kurz inne. »Die Sache ist die, meine Schwägerin Louise arbeitet in der Boutique nebenan, und Sonia Martins hat offenbar alle Angebote abgelehnt, der Flinstead Business Group beizutreten, und sie weigert sich auch, beim Straßenfest mitzumachen.«

Sie sieht mich an, als wäre das ein unwiderlegbarer Beweis.

»Und Louise sagt, Sonia hat ihr mal erzählt, dass sie in Dagenham aufgewachsen ist. Doch als Louise später noch mal darauf zu sprechen kam, hat Sonia plötzlich behauptet, dass Louise sich irrt und dass sie in Dinnington gelebt hat, im Süden von Yorkshire.«

Maddies Stimme wird immer höher und schneller, während sie spricht. Sie zwitschert wie ein Buchfink.

»Aber Louise sagt, sie hat sich auf keinen Fall verhört. Sonia hat eindeutig Dagenham gesagt, denn Louise weiß noch, dass sie sich mit ihr über den Film Made in Dagenham unterhalten hat. Also, wenn man das alles zusammenfasst, haben wir Folgendes: Sonia Martins sieht aus wie Sally McGowan. Sie ist eine Ladenbesitzerin in einer Kleinstadt an der Küste, die am liebsten für sich bleibt, und in ihrer Vorgeschichte gibt es Widersprüche.«

Jetzt kann ich wirklich nicht mehr anders und lache. »Eine Vorgeschichte mit Widersprüchen? Sie klingen, als würden Sie im Buchclub einen Kriminalroman kritisieren.«