Die Drohung - Lesley Kara - E-Book

Die Drohung E-Book

Lesley Kara

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Beschreibung

Ich weiß, was du getan hast Es ist 192 Tage, 7 Stunden und 15 Minuten her seit ihrem letzten Drink. Astrid ist entschlossen, eine neue Seite aufzuschlagen. Sie zieht zurück zu ihrer Mutter in das kleine Küstenstädtchen Flinstead, weit weg von den Versuchungen der Großstadt und den schmerzlichen Erinnerungen an ihr früheres Leben. Sie will sich ganz darauf konzentrieren, wieder sie selbst zu sein und von der Sucht loszukommen. Doch dann kommen die unheimlichen Briefe – ein Foto ihres Exfreundes, der vor einigen Monaten tragisch umkam, und auf der Rückseite ein blutiger Handabdruck. Sie ahnt: Jemand weiß genau, wovor sie davonläuft. Und wird sie teuer dafür bezahlen lassen.

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Seitenzahl: 416

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Lesley Kara

Die Drohung

Roman

Deutsch von Jörn Pinnow

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für alle, deren Leben von einer Sucht bestimmt wurde

 

 

Nur weil man sich vorstellt, etwas zu tun, und man das Gefühl dabei genießt, heißt das nicht, dass man es auch wirklich tun will. Es heißt nicht, dass man es auch wirklich tun wird. Natürlich nicht. Denn manchmal ist gerade das Gegenteil wahr und etwas, das man sich nie und nimmer vorstellen könnte zu tun, passiert im nächsten Moment doch und verändert das Leben für immer.

Wenn ich mir also vorstelle, wie ich eine Handvoll ihrer Braids packe und ihren Kopf gegen eine Mauer knalle, bis der Schädel aufplatzt, heißt das nicht, dass ich das auch tun werde. Und ich bin auch kein schlechter Mensch, nur weil ich darüber nachdenke. Ich würde sogar behaupten, dass es ganz normal ist, eine irre brutale Fantasie zu haben, wenn man jemanden derart hasst, dass sich jeder Muskel im Körper zusammenzieht, sobald man an diesen Menschen denkt. Ich meine, jedem geht das so. Oder etwa nicht?

Sieben Schläge, falls du es genau wissen willst. So viele braucht es, bis sich ihre Braids rot färben.

TEIL EINS

1

Zuerst rieche ich ihn nur, genauer gesagt: das Aftershave, das er immer benutzte. Joint von Roccobarocco. Ein Neunziger-Jahre-Duft – männlich und holzig. Ein Auslaufartikel.

Ich wirbele herum, aber da ist niemand. Nur ein Mädchen in einer Daunenjacke, das sich zum Schuhebinden hinkniet und über das ich beinahe gestolpert wäre. Dann sehe ich ihn doch, wie er Richtung Meer sprintet, wobei die pelzigen Ohrenklappen seiner Trappermütze im Wind flattern wie die Ohren eines Spaniels. Simon.

Meine Knie werden weich. Ich starre ihm nach, doch er ist schon in der Nacht verschwunden. Das heißt, falls er überhaupt da war. Vielleicht bilde ich mir das nur ein. Eine Halluzination. Von denen hatte ich in der Vergangenheit ja so einige.

Ganz gleich, was ich gesehen habe, ich beeile mich, nach Hause zu kommen. Ein kleines, verängstigtes Wesen, das sich plötzlich vor der Dunkelheit fürchtet. Vor ihm fürchtet.

 

Mum stürzt sich wie ein Spürhund auf mich, kaum dass ich durch die Tür bin.

»Wo warst du? Ich bin krank vor Sorge.« Ihre Finger bohren sich in meine Arme, und ich muss ihre Hand abschütteln.

»Es ist erst zehn, Mum. Das geht so nicht weiter. Du musst mir vertrauen.«

Sie herrscht mich an, bevor sie es sich anders überlegen kann. »Vertrauen? Du willst mir etwas über Vertrauen erzählen?«

Sie sackt auf der untersten Treppenstufe zusammen, stützt den Kopf in die Hände, und in mir sackt auch etwas zusammen. Ich knie mich neben sie und vergrabe den Kopf in ihrem Schoß.

»Entschuldige.« Die Falten ihres Bademantels dämpfen meine Stimme, und ich werde zurück in meine Kindheit versetzt. Ich bin gerade auf die weiterführende Schule gewechselt und jemand hat mich geärgert. Mum sagt mir, ich solle darüber hinwegsehen.

Jetzt zieht sie mit ihrer Hand Kreise zwischen meinen Schultern, wie damals.

»Ich verstehe einfach nicht, warum du so spät noch draußen unterwegs sein musst«, sagt sie, und ich möchte ihr erklären, dass mir der Schädel explodieren würde, wenn ich jeden Abend nach Hause kommen und in diesem düsteren kleinen Reihenhaus hocken müsste, ohne etwas zu trinken. Ich möchte ihr erklären, dass ich draußen herumlaufe, um am Leben zu bleiben, dass ich unterwegs sein muss, etwas unternehmen muss, Ziele ansteuern muss, selbst wenn ich nichts zu tun und keine Pläne habe. Ganz besonders dann. Aber ich kann nur heiße, stumme Tränen in ihren Schoß vergießen.

 

Es war fünf Monate her, dass ich im Krankenhaus zu mir gekommen war und Mum mit »diesem Blick« am Fußende meines Bettes gestanden hatte. Vor zwei Wochen war mein Reha-Aufenthalt zu Ende gegangen. Dann kam dieser Lösungsvorschlag von ihr. Andernfalls wäre ich wohl gezwungen gewesen, sie darum zu bitten, und hätte mir den Luxus der Empörung nicht leisten können.

»Bei dir einziehen? In Flinstead? Machst du Witze?«

Simon und ich hatten uns über das Städtchen immer lustig gemacht. Hatten gescherzt, dass der Tag, an dem wir an einem solchen Ort landeten, auch der Tag wäre, an dem wir uns vom Leben verabschiedeten. Flinstead galt als ein Ort, an den man zum Sterben zog. Wie Eastbourne, nur kleiner und abends völlig ausgestorben.

»Welche Alternativen hast du?«, wollte Mum wissen. In diesem Moment muss sie sich entschlossen haben, den leidenschaftslosen Ton einer Betreuerin anzunehmen. Seitdem spricht sie immer so, sofern sie es nicht vergisst. Offene Fragen. Keine Spur von Missbilligung. Doch sie kann mich nicht täuschen. Es ist Teil ihrer Strategie. Die ganze Wut, all der Frust und die Enttäuschung – sie lauern unter der Oberfläche und können jederzeit hochkochen und mir wie heißes Fett ins Gesicht spritzen.

 

Inzwischen ist Mitternacht vorbei. Ich liege im Bett, auf die Seite gekauert, den Blick zum Fenster gerichtet. Meine Braids fühlen sich zu fest an und jucken, und plötzlich überkommt mich der Wunsch, sie alle aufzudrehen. Dabei ist es teuer, sie flechten zu lassen, und das Geld dafür habe ich derzeit wirklich nicht, außerdem würde es ewig dauern. Mir fehlt dazu die Kraft.

Durch eine Ritze im Vorhang schiebt sich das Mondlicht ins Zimmer. Ich drehe mich auf die andere Seite, umarme meine Knie vor der Brust und lasse es schließlich zu, dass ich an Simon denke. Mein Mund trocknet aus, in meinen Ohren rauscht es seltsam, und hinter meinen Wangenknochen kribbelt es. Das vorhin kann er nicht gewesen sein. Meine Fantasie hat mir nur einen Streich gespielt.

 

Wir lernten uns in einer Bar kennen. Wo sonst? In einem dieser höhlenartigen Londoner Pubs mit holzvertäfelten Wänden und riesigen Spiegeln, in die die Namen der Biermarken eingraviert sind. Freitagabends ist es meist gerammelt voll, um Viertel nach vier am Dienstagnachmittag dagegen deprimierend und düster. War es überhaupt ein Dienstag? Ich kann mich nicht mehr richtig erinnern. Damals war ein Tag wie der andere. Das sind sie heute natürlich auch, nur auf andere Art und Weise.

Ich ging direkt auf ihn zu und sagte ihm, er habe einen interessant geformten Kopf. Das macht das Trinken. Machte. Ich besaß die Unverfrorenheit, auf völlig Fremde zuzusteuern, das ganze bedeutungslose Geplänkel auszulassen und gleich auf den Punkt zu kommen. Was immer mir in dem Augenblick durch meinen beschissenen Kopf ging. Ich hielt mich für witzig und eine gute Flirterin.

Dann traf ich Simon, und alles andere war egal. Wir tranken Cider, bis die Anzugmänner in den Pub hereinstolzierten, und zogen dann ab zu ihm. Eine schäbige Einzimmerwohnung in der Anglesey Road in Woolwich. Sein Bettzeug stank, aber das war mir egal. Er hatte eigentlich eine Freundin, aber auch das war mir egal. Wir waren nicht bloß zwei Betrunkene, die sich gut verstanden, wir waren Seelenverwandte. Zwei Seiten derselben Medaille.

Muss dann aber wohl ’ne Blechmünze gewesen sein, erwidert die leise Stimme in meinem Kopf. Die, die genauso klingt wie Mum.

Er kann nicht zurückgekommen sein. Kann er einfach nicht.

2

Entschlossen, die vergangene Nacht hinter mir zu lassen, ziehe ich mich am nächsten Morgen schnell an. Ich hänge mir die Schlüsselkette um den Hals und gehe nach unten. Es ist noch früh, doch Mum ist wieder vor mir wach, wie jedes Mal.

»Da ist noch eine Banane, die gegessen werden muss. Vielleicht willst du noch einen Toast dazu?«

»Du meinst doch nicht das schwarzfleckige Ding, das schon die ganze Woche in der Obstschale vor sich hin gammelt?«

Sie nimmt sie in die Hand und drückt sie leicht. »Ist noch völlig in Ordnung.«

»Dann iss du sie doch. Mir reicht ein Toast.«

»Es gibt auch Porridge«, schlägt sie vor. »Ich kann dir welches kochen, wenn du magst.«

»Ich mag kein Porridge, das habe ich dir doch schon gesagt.«

Ich ziehe den letzten Beutel aus der Schachtel mit dem grünen Tee und nehme mir meine Lieblingstasse vom Tassenhalter. Die mit der Aufschrift: I don’t like morning people. Or mornings. Or people. Sie ist eine der wenigen Dinge, die ich in den letzten Jahren weder verloren noch kaputt gemacht habe.

Mum seufzt. »O Hilly, das muss doch nicht sein.«

Ich reiße das Tütchen zu schnell auf, und Teeblätterstaub verteilt sich überall auf der Küchentheke. »Mum, mich hat seit mehr als siebzehn Jahren niemand mehr Hilary genannt.«

Sie berührt mich am Arm. »Entschuldige, Liebes. Das rutscht mir manchmal einfach so raus.« Sie öffnet den Schrank über meinem Kopf und holt eine neue Schachtel mit grünem Tee heraus. »Hier. Ich hatte gesehen, dass sie fast leer war, und habe neuen besorgt.«

Mit der flachen Hand wische ich die verschütteten Teeblätter in die gewölbte Handfläche der anderen Hand. Die Krümel haben sich überall verteilt, aber ich bin froh über die Beschäftigung. So kann ich mich auf etwas konzentrieren, auf etwas anderes als das furchtbare Gefühl, wie sich mir die Kehle zuschnürt. Das mich immer überkommt, wenn sie etwas Nettes für mich macht.

»Danke, Mum.«

 

Hilary. Der Name stammt vom Lateinischen hilarus ab, was so viel heißt wie »heiter«. Mum erzählte, sie und Dad hätten den Namen aus dem Pan Book of Girls’ Names. Diese Fundgrube hatten sie zu Rate gezogen und wahllos eine Stecknadel zwischen die Seiten getrieben, um den Titel für mein Leben zu finden. Ich nehme natürlich an, dass sie, hätte sich die Nadel in Beryl oder Mildred gebohrt, es noch einmal probiert hätten. Aber Mum gefiel der Name Hilary tatsächlich. »Als Baby hattest du so ein sonniges Gemüt«, erklärte sie mir einmal mit wehmütigem Blick.

Inzwischen habe ich herausgefunden, dass ich an einem Mittwoch geboren bin. Mittwochskind trägt großes Leid, heißt es in dem bekannten Reim. Hatte ich also je eine Chance? Leiden gehört einfach zu mir. Abgesehen davon klingt Hilary wie aus den Fünfzigern. Man denkt an die Schülersprecherin eines schicken Internats in Surrey. Kapitänin des Hockeyteams. Allseits beliebte Sportskanone. Mein Gott, Hillers, auf dich ist echt Verlass!

Der Name Astrid war das perfekte Gegengift, die Antithese zu allem, vor dem ich davonlief. Ein rebellischer, wilder Name, der nach Rock ’n’ Roll klingt und an Stars erinnert. Die Frau, die die Beatles in Hamburg fotografierte, hieß Astrid Kirchherr, Astrid Proll war ein frühes Mitglied der Baader-Meinhof-Gruppe. Dann ist da natürlich Astrid Lindgren, die Autorin der superstarken und aufregend unverschämten Pippi-Langstrumpf-Geschichten. Die Liste ließe sich fortführen. Königinnen und Prinzessinnen. Bildhauerinnen und Kugelstoßerinnen. Skifahrerinnen und Pornodarstellerinnen. Mit Problemen belastete fiktionale Heldinnen. Der Name bedeutet »die göttliche Schöne«.

Meinen Namen zu ändern, änderte mich. Er machte mich sichtbar. Gab mir den Mut, mich mit den bösen Mädchen von der Peckham Common volllaufen zu lassen. Danny Harrison in einem Mausoleum auf dem Nunhead-Friedhof einen zu blasen. Mir ein Piercing in die Nase und das Tattoo einer schlängelnden Flamme auf die Innenseite meines Oberschenkels stechen zu lassen. Sonniges Gemüt, am Arsch.

 

Das Meer hat sich heute Morgen weit zurückgezogen, bis hinter die metallenen Markierungen, und es ist warm genug, um einen glauben zu machen, der Sommer sei im Anmarsch. Ich ziehe die Turnschuhe aus, lasse sie an den Schnürsenkeln baumeln und laufe barfuß über den flachen, nassen Sand. Ich zähle fünf kleine Quallen, durchsichtig wie Spiegeleier, ehe ich den Typen im Neoprenanzug sehe, der über die mit schleimigen Algen bedeckten Felsbrocken klettert. Derselbe Typ, den ich in den letzten zwei Wochen von hier aus schwimmen gesehen habe. Der mir schon einige Male zugenickt und Hallo gesagt hat. Das machen Leute in Flinstead so. Für eine, die den größten Teil ihres Lebens in London zugebracht hat, ist das ein bisschen gewöhnungsbedürftig.

»Das Ökosystem hier ist wirklich beeindruckend«, sagt er, als wären wir mitten in einer Unterhaltung. »Seescheiden, Napfschnecken, Seepocken. Auch Ane-mo-nen.« In seinem gebräunten Gesicht blitzen weiße Zähne auf. »Ich muss mich wirklich konzentrieren, um das auszusprechen.«

Mein Lachen perlt aus mir heraus, noch ehe ich es zügeln kann. Zu laut. Zu eifrig. Halt’s Maul, Astrid.

Er springt von den Steinen hinunter in den Sand. Wo die Beine seines Neoprenanzugs enden, kräuseln sich an den Knöcheln blassblonde Härchen, doch nicht hinunter bis zu seinen Füßen, die glatt und goldbraun sind, mit Zehen in gleichmäßigem Abstand.

»Bist du von hier?«, möchte er wissen.

Ich zögere. »Nicht wirklich – na ja, irgendwie schon. Zumindest im Moment.«

Wir gehen aufs Meer zu und spazieren durch die flachen Pfützen, die die Ebbe zurückgelassen hat. »Ich suche gerade einen neuen Job«, sagt er.

»Ich auch. Ich passe auf meine Mum auf.« Eine Möwe kreischt über mir – ein raues, spottendes Geräusch. »Sie … ist depressiv.«

Ein Schuldgefühl überkommt mich. Ich kann ihm wohl kaum die Wahrheit sagen. Jemand wie er – so munter, so kerngesund – würde sich ansonsten sicher aus dem Staub machen. Und das möchte ich nicht. Noch nicht.

Wir haben das Wasser erreicht.

»Hör mal«, sagt er, »wenn du mal Lust auf einen Kaffee hast …«

»Ja, warum nicht?« So beendet er eben ein Gespräch. Würde er es ernst meinen, hätte er einen Zeitpunkt vorgeschlagen. Einen Treffpunkt.

Er dreht sich um und stiefelt ins Wasser. Ich weiß nicht, ob ich enttäuscht oder erleichtert bin. Erleichtert, denke ich. Das Letzte, was ich brauche, ist die Kompliziertheit einer neuen Beziehung.

»Ist morgen elf Uhr okay für dich?«, ruft er mir über die Schulter zu. »Im Fisherman’s Shack in der Flinstead Road?«

Ein nervöses Lachen blubbert im hinteren Teil meiner Kehle. Ich fühle mich krank. »Okay. Bis dann.«

Ich sehe zu, wie er seinen Körper der Kälte übergibt und loskrault. Erstaunlich, welche Strecke er schon zurückgelegt hat, wie hartnäckig der Rhythmus seiner Züge ist. Es erfordert Mut, direkt auf den Horizont zuzusteuern. Ich bin einmal fast ertrunken, als ich das versuchte. Wurde von einer Strömung mitgezogen. Ich kneife die Augen zusammen und balle die Fäuste, um mich nicht an meine Panik erinnern zu müssen, an das saure Brennen des Meerwassers tief in der Nase und im Rachen.

Und in diesem Moment passiert es. Der unverwechselbare Duft von Simons Aftershave steigt in meine Nase, genau wie gestern Abend. Ich zucke zusammen, doch bis ich den Geruch wirklich registriert habe, ist er auch schon wieder verschwunden, von der Brise davongetragen. Ich drehe den Kopf und wappne mich innerlich für das, was ich sehen könnte: die alte Donkeyjacke, die ausgeblichene Jeans, die Wut in seinen Augen. Doch abgesehen von ein paar frühmorgendlichen Spaziergängern mit ihren Hunden und einem Jogger mit Kopfhörern ist niemand zu sehen. Niemand sieht auch nur entfernt so aus wie jemand, der morgens um halb neun Joint aufgelegt hätte. Oder einen geraucht hätte.

Ich richte meinen Blick wieder auf das Meer. Der Neoprenanzug-Typ scheint verschwunden zu sein. Vielleicht habe ich mir auch ihn nur eingebildet.

O Scheiße. Ich brauche einen Drink.

3

Als ich bei den Anonymen Alkoholikern eintreffe, bin ich völlig verspannt. Seit dem Morgen habe ich nichts anderes getan, als endlos viele Tassen Kaffee zu trinken und wie blöd zu rauchen. Ach so, ich habe mich auch über Seepocken informiert. Offenbar sondern sie eine klebstoffartige Substanz ab, durch die sie an harten Oberflächen haften bleiben und mit der sie sich festzementieren. Das funktioniert anscheinend so ähnlich wie der Gerinnungsmechanismus in unserem Blut. Ich brauche solche Fakten, um meinen Geist zu beschäftigen, um die Lücken zu füllen, in die sich sonst die üblen Dinge quetschen. Ich brauche das, um das Verlangen nach einem Drink zu unterdrücken.

Und jetzt bin ich hier und schlinge die Arme um meinen Brustkorb, damit mein Herz nicht explodiert. Das ist mein erstes AA-Treffen, seit ich aus der Reha bin. Mum lag mir seit Tagen in den Ohren, ich solle da hingehen.

Ich setze mich auf den Stuhl, der der Tür am nächsten ist, und verhalte mich so wie üblicherweise in der U-Bahn. Ein schneller, flüchtiger Blick zu den übrigen Passagieren, mit dem ich sie einzuschätzen versuche. An diesem kühlen Maiabend ähnelt der Querschnitt der Menschen in der Sakristei der Gemeinde von Flinstead dem in einem Londoner U-Bahn-Waggon auf verblüffende Weise. Ich würde liebend gern an der nächsten Haltestelle aussteigen.

Eine Frau mit Peroxidhaaren und verwüstetem Gesicht schenkt mir ein wissendes Lächeln. Sie sieht aus wie sechzig, zieht sich aber wesentlich jünger an, ist es wohl auch. Alkohol lässt einen älter aussehen. Sie trägt enge schwarze Jeans, eine graue Weste über einem schwarzen T-Shirt und einen dieser langen, formlosen Cardigans, der bis über ihre Halbstiefel reicht. Jedes Mal, wenn sie sich bewegt, schwappt der Gestank abgestandener Zigaretten zu mir herüber. Rieche ich genauso? O Gott, ich hoffe nicht.

»Bist du zum ersten Mal hier?«, erkundigt sich eine kultivierte Stimme von links. Sie gehört zu einem Mann, der einen teuer aussehenden anthrazitfarbenen Anzug und polierte Budapester trägt. Er wirkt elegant. Ein Anwalt oder Consultant vielleicht. Sie ist eine große Gleichmacherin, unsere Sucht.

»Zum ersten Mal hier, ja.« Meine Stimme ist von den vielen Zigaretten ganz rau, und mein linkes Augenlid zuckt nervös.

Er nickt höflich, und ich spüre, dass er seine nächste Frage herunterschluckt. Zum Glück, ich bin sicher nicht wegen des Smalltalks hier.

Immer mehr Leute kommen herein und setzen sich. Eine hagere Frau mit wulstigen Augenbrauen und langen, unruhigen Fingern nimmt mir gegenüber Platz. Ihre Augen drehen sich in den Höhlen wie blassblaue Murmeln. Gelegentlich ruht ihr Blick auf mir, bevor er sich dann woanders niederlässt. Ich starre auf meine Knie. Wenn ich hochschaue, erkenne ich, dass sie mich ansieht. Und sie ist nicht die Einzige. An diesem Abend bin eindeutig ich die Attraktion Nummer eins. Ein noch recht junger Mann mit übler Akne blickt ebenfalls zu mir herüber.

Das ist nicht zum Aushalten. Wenn ich jetzt durch die Tür spaziere, könnte ich in zehn Minuten zu Hause sein. Allerdings wüsste Mum dann, dass ich nicht hiergeblieben bin. Doch ich muss ihr beweisen, dass ich es dieses Mal wirklich durchziehe. Dieses Mal höre ich wirklich auf. Das ist meine letzte Chance – das hat sie mir unmissverständlich klargemacht.

Eine Pinnwand mit jeder Menge AA-Infomaterial steht auf einem Tisch gegen die Wand gelehnt. Bestimmt, um sie schnell wegräumen zu können, wenn am Morgen hier die Mutter-Kind-Gruppe übernimmt. Mein Blick schweift über die ordentlich abgetippte Liste mit den Zwölf Schritten, wobei ich sie eigentlich nicht noch einmal lesen müsste. Nach drei Monaten Reha und täglichen Besprechungen kann ich sie wahrscheinlich auswendig aufsagen. Sie umzusetzen, einen Schritt nach dem anderen, ist allerdings etwas ganz anderes.

Ich kann gerade mal den ersten bejahen und zugeben, dass ich dem Alkohol gegenüber machtlos bin und mein Leben nicht mehr meistern kann. Die beiden nächsten Schritte sind ziemliche Stolpersteine: zu glauben, dass eine Macht, die größer ist als ich selbst, mir meine geistige Gesundheit wiedergeben kann. Und, das ist noch eine Ecke schärfer, mich zu entschließen, dass ich meinen Willen und mein Leben der Sorge Gottes anvertraue. Ich weiß, sie sagen immer, dass es dabei nicht um den alten Mann mit Rauschebart im Himmel gehen muss, sondern ich alles dafür einsetzen kann, womit ich mich wohlfühle – den Kosmos, auch die Stärke der Gruppe selbst –, doch es ist nicht so einfach, auf die Knie zu sinken und die gesammelte Weisheit einer zufälligen Gruppe von Säufern anzubeten.

Ich schließe die Augen. Der Raum riecht nach alter Kirche: muffig und schimmelig. Das ruft eine Erinnerung hervor, von der ich dachte, ich hätte sie längst verloren. Im Klassenraum der Sonntagsschule zeigt man mir, wie man ein großes G schreibt, wie im Wort »Gott«, und ich drücke den Stift so fest auf das Papier, dass er abbricht. Sogar als ich ein kleines Kind war, hat sich etwas in mir gegen die Vorstellung einer höheren Macht gewehrt.

Rechts von mir räuspert sich jemand. Er sieht aus wie die Art von Mensch, die die Kirchenorgel spielt oder die Nachbarschaftswache im Ort organisiert. Langweilig und bieder. Er sieht meinem alten Physiklehrer ähnlich, Mr Staines.

»Guten Abend zusammen«, beginnt er, und seine Stimme ist genauso wässrig und farblos wie der Rest von ihm. »Mein Name ist David, und ich bin Alkoholiker.«

Und so fängt es an.

David ist noch mitten in der üblichen Vorrede, als sich die Tür öffnet und eine Nachzüglerin hereinkommt. Eine große, mittelalte Frau mit beigem Regenmantel und roten Pumps. Ihr verstrubbeltes Haar ist schulterlang und mausgrau.

»Entschuldigung«, sagte sie, und ihr Gesicht wird so rot wie die Schuhe. Ihre fleischfarbene Strumpfhose ist um die Knöchel herum schon ziemlich wabbelig.

Ich lächele ihr zu. Sie sieht so verletzlich aus, wie sie vor uns allen steht, und mir fällt das Zittern ihrer Hände auf. Ich wette, sie trinkt noch. Die Arme. Sie wirkt, als würde sie überall lieber sein als hier. Ich weiß genau, wie sie sich fühlt.

 

Nach dem Treffen gibt es noch Kaffee und Geplauder. Einige umarmen sich. Die Peroxidfrau mit der grauen Haut – Rosie, acht Jahre trocken, AA-Missionarin – versucht, die Frau mit den roten Schuhen in den Arm zu nehmen, die aber ganz deutlich nicht in den Arm genommen werden möchte. Ich habe des Öfteren Menschen wie Rosie kennengelernt, die Neulingen das Gefühl geben möchten, zu Hause zu sein. O nein, jetzt kommt sie direkt auf mich zu. Ich strecke ihr meine Hand entgegen, und die Frau mit den roten Schuhen zeigt mir über Rosies Schulter hinweg ein Augenrollen. Ich kann das nicht erwidern, ohne dass Rosie es spitzkriegt, aber ich denke, sie kann aus meinem Blick erkennen, dass wir auf einer Wellenlänge liegen, zumindest was die Unangemessenheit von Umarmungen angeht.

Als Rosie schließlich davonschleicht, um jemand anderen anzumachen, winkt mir der Anzugträger mit einer Tasse zu. Er steht neben dem Akne-Mann, der mich nun ganz unverhohlen anblickt. Ich schüttele den Kopf. Ich muss hier raus. Jetzt. Als ich mich zur Tür umdrehe, stoße ich mit der Frau in den roten Schuhen zusammen. Wir sagen beide gleichzeitig Entschuldigung.

»Mein Fehler«, sagt sie verwirrt. »Ich habe nicht aufgepasst.«

Ihre Stimme ist weich, ängstlich, und auch wenn ich nicht gekommen bin, um Freundschaften zu schließen, habe ich das Gefühl, ich sollte sie ermutigen. Für jemanden da sein, anderen helfen – so funktioniert dieses ganze Freundschaftsding. Sei nett, Astrid. Sei nett.

»Sehen wir uns nächste Woche wieder?«, frage ich.

»Vielleicht.« Ihre Augen glänzen vor Tränen. Sie eilt zur Tür und in den Flur hinaus, ihr Abgang ist genauso plötzlich und tollpatschig wie ihr Auftritt.

Ich stelle mir vor, wie sie nach Hause rennt, sich eine Flasche Rotwein aufmacht und sie in einem Zug austrinkt. Dann noch eine zweite öffnet. Ich schiebe den Gedanken beiseite, bevor er sich verfestigen kann.

Draußen tobt der Wind, der vom Meer am Ende der Flinstead Road herüberkommt und mit sich selbst spielt. Ich halte meine Jacke vor der Brust mit der Hand zusammen und trete ihm entgegen, das Kinn nach unten, um den moderigen Geruch in meiner Nase wegblasen zu lassen.

Die Straße ist leer. Außerhalb der Saison ist Flinstead nach neun Uhr abends tot. Nein, das ist eine Lüge – es ist schon um acht tot. Ich nehme den kleinen Durchgang, der zu den wenigen, überteuerten Boutiquen führt, in die die Touristen immer gehen. In der Passage bleibe ich stehen und blicke unverwandt in die Schatten. Genau hier habe ich gestern Nacht Simon gesehen. Bei Tageslicht ist der Durchgang ganz hübsch: korallenfarbene Wandflächen, Blick auf den Innenhof am anderen Ende, Bistrotische und -stühle aus Metall, Blumenampeln. Um diese Zeit allerdings wirkt er wie ein Ort, an dem Mädchen erdrosselt werden.

Ich gehe geradeaus und setze mich auf einen der Stühle, und das kalte Metall brennt sich in die Unterseite meiner Schenkel ein. Es ist eine Frage des Stolzes. Ich will mir selbst beweisen, dass ich keine Angst habe. Dass ich nicht einen Augenblick geglaubt habe, er könnte es wirklich gewesen sein.

Früher hätte ich gesagt, er ist nicht boshaft genug, um zurückzukommen. Aber das war vorher.

 

 

Ich habe nicht mehr mitgezählt, wie oft ich sie getötet habe. Auf wie viele verschiedene Arten.

Gestern lief es so ab: Wir standen auf dem Pier am Mistden Sands, und ich habe sie hineingestoßen. Sie trug diese blöden Doc Martens, in denen sie hier herumtrampelt. Mit denen und ihrer großen, schweren Jacke konnte sie sich nicht über Wasser halten. Ich stand da, sah zu, wie sie um sich schlug, und wartete darauf, dass sie unterging. Ihre Braids verteilten sich auf dem Wasser wie lange Algenfinger.

Das Letzte, was ich sah, waren diese kleinen blauen Ringe an den Zopfenden, die an der Oberfläche wie die Schwimmer an einer Angelrute tanzten.

Aber das war zu einfach. Zu sauber. Ich mag es lieber, wenn Blut fließt.

4

Ich bin fast jeden Tag seit meinem Umzug nach Flinstead am Fisherman’s Shack vorbeigekommen, aber vor diesem Morgen hatte ich es noch nie betreten. Auf den ersten Blick ist mir klar, was ich verpasst habe. Knarzende alte Dielen und bunt zusammengewürfelte Tische und Stühle. Vintage, aber nur deshalb, weil sie hier schon seit Jahren stehen. Sie wurden nicht extra »irgendwoher bezogen« oder mit Farrow-&-Ball-Farben lackiert und mit einem Schleifklotz aufgeraut. Am beeindruckendsten: Es gibt einfach nur Kaffee (instant oder gefiltert, kein Macchiato oder Ristretto weit und breit), Tee, Fanta oder Cola. Ei-Schinken-Sandwiches. Getoastete Rosinenbrötchen.

Das ist eine hervorragende Auswahl. Ich liebe es.

Der Mann hinter der Theke hat Arme wie der Popeye-Schurke Bluto. Das Teufelchen in mir will nach einem Latte mit fettarmer Milch fragen, nur um seinen Gesichtsausdruck zu sehen, aber dann bestelle ich doch einen Filterkaffee, schwarz, und nehme ihn mit zu einem Tisch am Fenster. Ich bin zehn Minuten zu spät, und er ist nicht hier, was entweder bedeutet, dass er nicht kommt oder dass er keine Lust hatte zu warten. Ich kenne ja nicht mal seinen Namen. Bei all seinem Geplauder am Strand gestern hat er vergessen, sich vorzustellen.

Ich wische im beschlagenen Fenster einen kreisrunden Fleck frei und beobachte die braven Bürger von Flinstead, die ihren üblichen Geschäften nachgehen. Wie sie mit der Zeitung unterm Arm aus Geschäften kommen, jemandem auf der anderen Straßenseite zuwinken oder sich unentwegt Hallos zunicken. Manchmal denke ich, es ist wie bei der Truman Show und ich müsste nur den Rand des Sets finden und die Pappkulissen durchbrechen, um dahinter die echte Welt zu entdecken. Die verworrene, chaotische Welt voller Lärm und Schmerz und Fremden mit harten Gesichtszügen, die direkt durch dich hindurchschauen.

Dann sehe ich sie, die Umarmerin von den Anonymen Alkoholikern. Rosie, oder wie sie noch mal hieß. Sie trägt wieder einen dieser langen, schleifenden Cardigans, dieses Mal einen schwarzen, und zieht einen drehbaren Postkartenständer vor den Oxfam-Laden. Nachdem sie ihn über die Stufe gewuchtet und auf seine Position vor das Schaufenster geschoben hat, dreht sie ihren Kopf und sieht genau zu mir herüber, fast als hätte sie gespürt, dass ich sie beobachte. Eine furchtbare Sekunde lang erwarte ich, dass sie mir zuwinkt, doch sie wendet sich ab und geht zurück in den Laden.

Meine Schultern entspannen sich. Aus dieser Entfernung kann sie mich gar nicht erkannt haben, und selbst wenn doch, gilt bei den AA das ungeschriebene Gesetz, dass man sich in der Öffentlichkeit gegenseitig nicht zu erkennen gibt, schon gar nicht in einer Stadt dieser Größe.

Ein Mädchen in einer Daunenjacke tritt aus dem Zeitungsladen. Sie beißt in eine große Tafel Schokolade, als handle es sich um einen Snackriegel. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Taucht der Neoprenanzug-Typ nicht bald auf, kaufe ich mir auch Schokolade.

Ich schaue ihr zu, wie sie sich vor den Postkartenständer stellt und ihn unablässig im Kreis dreht. Irgendetwas an ihr kommt mir bekannt vor, aber ehe mir einfällt, was es ist, verschwindet sie in dem Wohltätigkeitsshop.

Ich drehe mich um und starre in meinen Kaffee. Warum hänge ich hier immer noch ab und warte darauf, dass so ein Fitnessfanatiker auftaucht? Ich könnte genauso gut austrinken und gehen.

Hinten im Raum öffnet sich mit lautem Knarzen eine Tür, an der ein Pappschild mit der Aufschrift »Toilette« hängt, und da steht er. Aus unerfindlichem Grund habe ich mir nie überlegt, wie er in anderen Klamotten als einem Neoprenanzug aussehen mochte, aber natürlich trägt er jetzt Alltagskleidung. Eine verblasste Jeans, dazu ein blassgrünes Rugby-Shirt. Blonde, verstrubbelte Haare. Er sieht noch besser aus als in meiner Erinnerung.

»Da bist du ja«, sagt er grinsend.

Einen peinlichen Moment lang erwarte ich, dass er mich küsst, doch im letzten Moment reicht er mir seine Hand.

»Ich bin übrigens Josh.«

»Astrid.«

»Cool.« Er nickt in Richtung meiner Tasse. »Kann ich dir dazu was zu essen mitbringen?«

Ich würde sterben für ein Ei-Schinken-Sandwich, aber ich stelle mir vor, wie mir beim Kauen Eigelb vom Kinn tropft. Kein passender Anblick für ein erstes Date. Wenn das hier eines ist. Sich mit Jungs zu verabreden, gehörte seit Ewigkeiten nicht mehr zu meinem Repertoire. Falls es überhaupt je dazugehörte. Meine Vorgehensweise war eher, sturzbetrunken mit einem völlig Fremden ins Bett zu fallen.

»Vielleicht ein getoastetes Rosinenbrötchen?« O Gott, habe ich das wirklich gesagt? Das klingt wie etwas, was meine Großtante Dorothy bestellen würde.

»Ein getoastetes Rosinenbrötchen, kommt sofort«, sagt er und schlendert zur Theke, wo er in seine Hosentasche greift, um nach Geld zu suchen.

»Ein getoastetes Rosinenbrötchen, ein Ei-Schinken-Sandwich und eine Tasse Tee, bitte, Bob.«

Bob nickt und macht sich an die Arbeit. Ich begutachte Joshs Hinterkopf – wie sich die Locken über dem Kragen wellen –, als mich ein unfreiwilliger Schauder durchfährt. Ich muss nicht einmal aus dem Fenster blicken, um zu wissen, dass ich beobachtet werde, und instinktiv weiß ich, dass es dieses Mal nicht Rosie ist.

Josh zieht den Stuhl mir gegenüber zu sich hin und schrammt ihn dabei über den Boden. »Alles in Ordnung bei dir?«

Meine Augen wandern nach rechts. Da ist niemand. Natürlich nicht. Reiß dich zusammen, Astrid. Er ist es nicht.

»Ja, ja, alles in Ordnung.«

Josh schaut durchs Fenster und runzelt die Stirn. Dann schenkt er wieder mir seine Aufmerksamkeit.

»Wie lange wirst du denn bei deiner Mum bleiben?«

»Bis es ihr besser geht, denke ich.« In meinen Wangen spüre ich nur einen Hauch von Wärme.

»Was machst du sonst?«, möchte er wissen. »Womit verdienst du dein Geld, meine ich.«

Mein Gehirn läuft auf Hochtouren. Atme.

Josh verzieht das Gesicht. »Entschuldige. Das ist eine wirklich nervige Frage. Ich höre mich an wie so ein Vollidiot auf einer Dinnerparty.«

Ich lache. »Ich bin gelernte Bühnenbildnerin. Ich arbeite freiberuflich.«

Was ich ihm nicht sage, ist, dass mein letzter Job, der auch nur im Entferntesten mit Kunst zu tun hatte, schon sieben Jahre her ist. Ich hatte den Ruf, regelmäßig zu spät und noch blau vom Abend zuvor zur Arbeit zu kommen. Ein wandelndes Arbeitsplatzsicherheitsrisiko. Eine nutzlose Trinkerin. Seitdem gab es eine Reihe schlecht bezahlter, befristeter Jobs oder gleich Null-Stunden-Verträge. Langweiliger Bürokram, Aushilfe im Supermarkt, solche Sachen. Und im letzten Jahr gar nichts.

Ich nehme einen Schluck Kaffee und verbrühe mir den Gaumen.

Josh pustet über seine Tasse, wie ich es auch hätte machen sollen. »Ich arbeite an einer Universität. Studierendenbüro. Also, das werde ich ab Ende August machen. In meinem letzten Job wurde ich gekündigt.«

»Das tut mir leid.«

»Muss es nicht. Ich habe ihn gehasst. Außerdem hat es sich ganz gut ergeben. Mein Dad hat hier ein großes altes Haus gekauft, mit Blick aufs Wasser. Also bleibe ich für den Rest des Sommers hier, um ihm beim Renovieren zu helfen.«

Er schaut mich nun direkt an. »Weshalb wolltest du Bühnenbildnerin werden?«

Über diese Frage muss ich nicht einmal nachdenken. »Ich liebe es, in großem Maßstab zu malen«, erkläre ich ihm. »Auf ein Gerüst zu klettern und eine nicht mehr gebrauchte Kulisse in einen Wald, einen Ozean oder eine belebte Straße zu verwandeln. Die Farbtöne und Texturen zu mischen, Farbe auf die Leinwand aufzuklatschen und mich dabei selbst von oben bis unten zu bekleckern. Das gibt mir das Gefühl, ein Teil des Bildes zu sein, in ihm drin zu sein – verstehst du, was ich meine?«

Ich habe schon seit Ewigkeiten nicht mehr darüber gesprochen, ja nicht einmal daran gedacht, um ehrlich zu sein. Aber jetzt, wo ich es doch tue, ist alles wieder da. Die Leidenschaft, die ich gespürt habe, bevor mein Leben aus dem Ruder lief. Wenn ich nicht so wild entschlossen gewesen wäre, mich selbst zu sabotieren, wäre ich heute womöglich eine anerkannte Bühnenbildnerin oder hätte zumindest regelmäßige Aufträge von bekannten Produktionsfirmen.

Josh nickt mir zu und lächelt.

»Außerdem liebe ich den Adrenalinstoß, vor allem, wenn man hoch oben arbeitet. Dann muss man genau wissen, was man tut. Und es ist schon etwas ganz Besonderes, spätnachts in einem leeren Theater zu arbeiten. Die Atmosphäre, weißt du? Alles ist unheimlich und dunkel. Aus dem leeren Zuschauerraum hallt das Echo der eigenen Geräusche zurück, und irgendwo in der Dunkelheit blitzt immer eine Lichtreflexion auf.«

Ich bremse mich. Er muss mich für verrückt halten, wenn ich so drauflosplappere.

Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück. »Ich glaube, ich bin noch nie jemandem begegnet, die das, was sie macht, so sehr liebt. Wenn du davon sprichst, verändert sich dein Gesicht völlig.«

Peinlich berührt schaue ich nach unten.

»Übrigens könnte ich deine Expertise als Malerin gut gebrauchen, wenn du nichts dagegen hast.«

Ich schaue ihn fragend an.

»In Dads Haus befindet sich ein seltsamer kleiner Raum, in den so gut wie kein Licht fällt. Dad hatte schon überlegt, die Wände zu den benachbarten Räumen einzureißen, aber irgendetwas an diesem Raum gefällt ihm, so wie er ist, und ich glaube, ich kann nachvollziehen, was er meint. Er ist wie ein Geheimzimmer.«

Josh hält inne, während Bob das Brötchen und das Sandwich bringt und wir unsere Tassen beiseite rücken, um Platz zu schaffen.

»Dad hatte die Idee, dass ihm jemand ein Fenster auf eine der Wände malen könnte. Du weißt schon, so ein echt aussehendes, bei dem man denkt, es führt auf einen wunderschönen Garten oder so hinaus.«

»Ein Trompe-l’œil.«

»Wie bitte?«

»Ein Trompe-l’œil. Das ist französisch und heißt ›täusche das Auge‹. Ein Gemälde, das dir vorgaukelt, du würdest es in seiner festen, dreidimensionalen Form sehen. Es geht um Illusion und erzwungene Perspektive.«

»Na, siehst du? Du kennst dich mit solchen Dingen aus. Warum kommst du nicht mal vorbei und schaust es dir an, sagst uns, was du davon hältst?« Er zwinkert. Eine flüchtige Bewegung des Auges, und hinter meinem Brustbein macht sich ein seltsam flatterndes Gefühl breit. Genau wie zwischen meinen Schenkeln. Ich schaue durchs Fenster.

»Nein, im Ernst, wenn du zu viel zu tun hast, musst du natürlich nicht, aber es wäre gut, deine Meinung zu hören, und Dad ist prima. Du wirst ihn lieben.« Dann errötet er. Der eins-fünfundachtzig-Adonis wird tatsächlich rot. »Und ich würde mich freuen, dich wiederzusehen.«

Unter dem Tisch wische ich mit den Handflächen über meine Jeans. Das ist verrückt. Ich kenne diesen Typen erst fünf Minuten, und schon will er, dass ich seinen Vater kennenlerne. Ich war fast drei Jahre mit Simon zusammen und habe auch nicht einen einzigen seiner Verwandten getroffen. Er hatte damals schon allen Kontakt zu ihnen verloren. Was unter den Umständen auch kaum verwunderlich ist. Ich zweifele, dass Mum und ich noch miteinander reden würden, hätte ich mich der Reha verweigert.

»Einverstanden.« Das Wort schlüpft mir aus dem Mund, ehe ich es mir anders überlegen kann.

5

Joshs Nachricht erreicht mich Ende der Woche.

»Hi Astrid. Treffen vor dem Old Schooner in Mistden? Mittwoch, 14 Uhr?«

Scheiße! Was habe ich bloß gemacht? Ich könnte ihm vermutlich erzählen, dass es Mum wieder schlechter geht und ich sie nicht für längere Zeit allein lassen kann. Noch einfacher wäre es, gar nichts zu machen und seine Nachricht zu ignorieren. Nicht hingehen und so tun, als sei gar nichts gewesen.

Und doch, wenn ich die Augen schließe, kann ich mir den kleinen dunklen Raum mitten im Haus seines Dads vorstellen. Das Geheimzimmer. Ein Teil meines Gehirns malt sich schon aus, wie ich dort stehe und mit der Arbeit beginne. Ich sehe die leere Gipswand vor mir und rieche die Grundierung, mit der ich sie vorbereite.

Ich schiebe den Kopf durch die Tür zum Wohnzimmer. Mum ist auf der Couch eingeschlafen, mit offenem Mund. Sie sieht aus wie eine Leiche. Leise schließe ich die Tür, gehe nach oben und ziehe die Leiter herunter, die an der Dachluke befestigt ist. Da oben müssten meine Pinsel sein, zusammen mit dem Rest meiner Sachen – die Kisten und Tüten und Müllbeutel mit meinem irdischen Besitz, oder auch »der ganze Schrott«, wie ich Mum neulich sagen hörte. Sie sprach mit einer ihrer Quäkerfreundinnen am Telefon. Ich bin nicht die Einzige, die zu Meetings geht.

Ich drehe den Schalter, und gelblich trübes Licht kriecht in die Dunkelheit. Ich brauche eine Weile, bis ich die Sachen gefunden habe. Sie liegen in einer alten Kiste unter einem Berg aus Winterklamotten. Ich ziehe die fleckigen Leinwände hervor und halte sie vor mich, um den lange vergessenen Geruch nach Terpentin und Leinöl einzuatmen. Schon allein bei dem Gedanken, wieder zu malen, könnte ich losheulen, aber ich möchte meine Emotionen im Griff behalten, sie fest verschließen. Gerade als ich den Deckel zuklappen will, fällt mir in der Kiste etwas golden Glänzendes auf. Ich ziehe den Pulli zurück, der es zur Hälfte bedeckt, und ringe nach Luft. Einer von Simons alten Jonglierbällen. Wie zum Teufel ist der dahin geraten?

Mein Herz schlägt laut, als ich den Ball herausnehme und in der Hand rolle. Simon brachte sich gerade selbst das Jonglieren bei, als wir zusammenkamen. Er wollte Schauspieler werden. Er dachte, je mehr Fähigkeiten er habe, umso mehr Rollen könne er spielen. Das Problem war, er wurde nie genommen. Egal, zu wie vielen Vorsprechen er ging, nie bekam er die Rolle, die er sich erhofft hatte. Der Alkohol befreite ihn vom Schmerz der Ablehnung.

Ich sehe noch genau vor mir, wie ihm die Jonglierbälle aus den Händen fielen und er fluchte. Ich hob sie auf und warf sie zurück zu ihm, und sie fühlten sich warm und klebrig an. Ich sagte: »Los jetzt, zeig mal, was du mit deinen kostbaren Bällchen so draufhast«, woraufhin er mir dieses kleine, schiefe Lächeln zeigte und begann, sich im Scherz die Hose aufzuknöpfen.

Hatte er sie beim letzten Mal dabei? Muss er wohl. Wie sonst könnten sie hier gelandet sein?

Ich stopfe den Ball zurück in die Kiste, nehme ihn dann umgehend wieder heraus und rutsche langsam rückwärts. Mein rechter Fuß tanzt in der Leere hinter mir und sucht die oberste Sprosse der Leiter. Ich schalte das Licht aus und klettere hinunter, sehe zu, wie die Leiter im schwarzen Viereck in der Decke verschwindet.

Zurück in meinem Zimmer verstaue ich den Ball in meiner Nachttischschublade.

 

In der guten alten Zeit, bevor alles bergab ging, hätte mich allein der Anblick von etwas, das ihm gehörte, innerlich zum Glühen gebracht. Jetzt rast mein Puls aus völlig anderen Gründen. Warum um alles in der Welt habe ich den Ball nicht auf dem Dachboden gelassen? Solche Erinnerungen kann ich im Moment gar nicht brauchen.

Ich öffne die Rolle mit meinen Pinseln auf dem Bett. Es ist ausgeschlossen, dass Joshs Dad mich bitten wird, das Gemälde zu übernehmen. Und selbst wenn er es tut, werde ich ablehnen. Meine Zunge klebt am Gaumen. Da ist es wieder. Dieses plötzliche Anschwellen in mir. Dieser fast erstickende Drang, mir einen Drink zu genehmigen. Meine Augen zucken zum Reisewecker, der auf dem Fenstersims steht, wobei ich nicht wirklich überprüfen muss, was mein Körper mit jeder Faser schon weiß. Es ist vier Uhr nachmittags. Um diese Zeit begann ich immer mit dem Trinken, oder ich plante meinen ersten Drink, falls ich wie durch ein Wunder gerade einen Job hatte. Stellte mir das befriedigende Knacken beim Öffnen des Schraubverschlusses vor, das großartige Gluckern, wenn ich mir einschenkte. Dieser lang herbeigesehnte erste Schluck.

Mein Magen krampft. Die Kopfhaut juckt. Ich kratze mich oder versuche es zumindest. Zwänge meine Fingernägel zwischen die Braids hindurch zu den wunden Stellen. Verdammt, was soll ich machen? Soll es den Rest meines Lebens so weitergehen?

Noch ehe ich es mir anders überlegen kann, rupfe ich die Perlen vom Ende der Braids ab. Das ist eine langwierige, fummelige Angelegenheit, jede einzelne aufzutrennen, die klobigen Stellen an den Haarwurzeln zu entwirren, die Haare über der Badewanne zu waschen und Conditioner bis in die Spitzen zu verteilen. Aber immerhin habe ich etwas zu tun. Etwas, um das endlose trockene Nichts zu füllen. Abgesehen davon fühlt es sich gut an, die Zähne des Kamms von der Stirn über den Schädel bis hin in den Nacken über die Haut zu ziehen. Immer und immer wieder, bis mein Arm schmerzt und meine Kopfhaut brennt. Bis die Welle meines Verlangens endlich bricht.

****

Mums Augen weiten sich, als sie meine Haare sieht. »Ich habe mich schon gefragt, wann du dich von diesen furchtbaren Dingern trennst. Du siehst ohne so viel besser aus.«

Sie schrubbt im Spülbecken neue Kartoffeln mit einer Nagelbürste. »Pam meinte, sie hat gesehen, wie du aus dem Fisherman’s Shack gekommen bist«, fährt sie fort, ohne sich umzudrehen.

Pam ist ihre Bridgepartnerin und Quäkerfreundin.

»Sie sagte, du warst mit einem jungen Mann zusammen.«

Ich seufze. Kein Wunder, dass ich mir beobachtet vorkam.

»Ich bin überrascht, dass du nicht die ganze Stadt aufgefordert hast, ein Auge auf mich zu haben.«

Die Kartoffel, die Mum gerade schrubbt, schießt ihr aus der Hand und plumpst in die Waschschüssel. Sie nimmt sie hoch und spült sie unter frischem Wasser ab. »Du weißt, was sie in der Therapie gesagt haben, darüber, dass du dich auf niemanden Neues einlassen sollst. Keine großen Veränderungen im Leben.«

»Wir haben einen Kaffee zusammen getrunken, dazu ein Rosinenbrötchen gegessen. Wir heiraten doch nicht gleich.«

Jetzt ist es an Mum, zu seufzen. »Hauptsache, du weißt, was du tust.«

Könnte ich ihr nur gestehen, dass ich absolut keine Ahnung habe, was ich tue, dass jeder Tag ohne Alkohol für mich unbekanntes Territorium ist, dass ich mich wie ein kleines Boot fühle, hin und her geworfen von den Wellen und immer kurz davor, unterzugehen. Doch für ein offenes Gespräch dieser Art sind wir ein bisschen spät dran. Unser Beziehungsmuster hat sich längst eingespielt, und das ist kratzbürstig. Angriffslustig.

Sie lässt Wasser über ein Sieb mit Salat laufen und schüttelt es über dem Spülbecken aus. »Omelett, neue Kartoffeln und Salat zum Abendessen. Ist das okay für dich?«

»Wunderbar, danke.«

Sie schenkt mir ein kurzes, angespanntes Lächeln. Eine Art Waffenstillstand.

 

Nach dem Essen schaue ich in das Blaue Buch, meine Ausgabe der Anonymen Alkoholiker. Ich lese denselben Abschnitt gleich drei Mal und habe ihn noch immer nicht verstanden. Es überrascht mich nicht, dass es auch das »Big Book« genannt wird. Es ist in die Jahre gekommen, die Inhalte wiederholen sich, und ich habe den Eindruck, als würde ich schon ewig darin lesen. Trotzdem ist es in diesem Moment die einzige Rettungsleine.

Kein Wunder, dass ich mich nicht konzentrieren kann. Mum schiebt einen Teppichkehrer über den Läufer, und das quietschende Geräusch macht mir Kopfschmerzen. Das ist so typisch für sie, dass sie noch immer einen Teppichkehrer benutzt.

»Eine Bekannte aus meinem Bridgeclub bietet einen Anfängerkurs im Gemeindesaal an«, sagt sie, als wäre ihr dieser Gedanke spontan in den Kopf gekommen, als hätte sie nicht schon den ganzen Tag geplant, mir davon zu erzählen. »Er fängt morgen an. Ich dachte, das könnte dich interessieren.«

»Ich denke nicht, dass Bridge was für mich ist, Mum.«

Sie lässt den Teppichkehrer für einen Moment ruhen. »Das ist ein faszinierendes Spiel, wenn man es einmal versucht hat. Und man kann dabei so viel lernen, das könnte dir gut tun.«

So ist sie. Sie lässt die Dinge nicht auf sich beruhen.

»Im Ernst, Mum, ich will nicht. Lieber fange ich mit Schwimmen an oder so.«

Die Vorstellung, mich mit Josh ins kalte Meerwasser zu stürzen, geht mir durch den Kopf, seit wir uns verabschiedet und Telefonnummern ausgetauscht haben. Ich möchte mich gereinigt und gestärkt fühlen. Ich möchte mehr über die Gezeiten lernen. Ich will verdammt noch mal wissen, was Seescheiden sind.

»Ich werde mir nächste Woche das Haus von Joshs Vater ansehen.«

Sie wirft mir einen scharfen Blick zu. »Wer ist Josh?«

»Der Typ, mit dem ich Kaffeetrinken war. Sein Vater möchte einen Tipp zu einem Trompe-l’œil haben.«

In Mums Augen taucht ein seltsamer Blick auf. »Ich habe einmal ein tolles in Québec gesehen«, sagt sie. »Es war auf eine Hauswand gemalt und erweckte den Eindruck, als habe man die Wand entfernt, sodass man in alle Räume hineinsehen konnte.«

Ich starre sie an. Es klingt, als würde sie über das Fresque du Petit-Champlain sprechen. Ich erinnere mich, bei einem Vortrag davon gehört zu haben. »Wann warst du in Québec?«

Es folgt eine lange Pause. »Nach dem Tod deines Vaters.«

Dad. Es ist sehr lange her, dass eine von uns ihn erwähnt hat. Die Worte hängen wie ein Vorwurf in der Luft. Ganz egal, wie oft ich mir sage, dass er Herzprobleme hatte und ohnehin gestorben wäre – ich habe nie aufgehört, mich selbst mit der Frage zu quälen, wie viel Stress ihm meine Alkoholkrankheit verursacht hat. Meine Sucht hat seinen Herzinfarkt vielleicht nicht ausgelöst, aber geholfen hat sie sicher auch nicht. Ich weiß, dass Mum genauso denkt. Ich kann es in ihren Augen sehen, es in den Dingen hören, die sie nicht sagt.

»Wieso hast du mir nie erzählt, dass du in Québec warst?«

»Habe ich doch.«

»Hast du nicht. Daran würde ich mich erinnern.«

»Meinst du wirklich?«

Ich schaue wieder in mein Buch, meine Wangen brennen. Guter Punkt, Mutter. Ich habe zu viele Dinge in meinem spinnenwebenartigen Leben verpasst. Schwarze Löcher in meiner Erinnerung, die ich nie werde füllen können, sosehr ich mich auch bemühe. Nicht, dass ich sie alle füllen möchte. Manche Dinge bleiben am besten im Dunkeln.

6

Im Friseursalon ist es warm, es riecht nach Haarspray. Den Termin habe ich vor ein paar Tagen gemacht. Es wird billiger, wenn man Azubis an seinen Kopf lässt, und ich lasse sie. Wer seine Mum um Taschengeld bitten muss, kann es sich nicht leisten, bei solchen Dingen wählerisch zu sein.

Mit jedem Schnitt der Schere wird die Form meines Schädels ein Stück weiter freigelegt. Meine Wangenknochen treten deutlicher hervor. Ich fühle mich leichter und freier als zuvor, als hätte ich auch das Gewicht meiner Vergangenheit abgelegt. Wäre das nur so. Könnten wir nur die Teile unseres Lebens herausschneiden, die wir nicht mögen. Die Teile, die uns mit Angst und Selbsthass füllen. Könnten wir sie nur wie Warzen oder ein Geschwür entfernen und darauf warten, bis Narbengewebe die Wunde wieder verschließt.

Ich wische die Haare weg, die sich wie blasse Holzspäne auf dem Kittel über meinem Schoß angesammelt haben, und versuche, meine Gedanken von ihrem üblichen Weg abzubringen, dem, den sie immer einschlagen, wenn ich so anfange nachzudenken. Ich lese Joshs Nachricht zum gefühlt zwanzigsten Mal. Es ist schneller Mittwoch geworden als gedacht, und ich habe immer noch nicht entschieden, ob ich gehe oder nicht. Er schreibt, wir sollten uns vor dem Old Schooner treffen. Trotzdem könnte es sein, dass er vorschlägt, wir sollten noch auf ein Bier reingehen, bevor wir uns auf den Weg zu seinem Vater machen. Deshalb sollte ich mir ein paar Entschuldigungen bereitlegen. Nur für den Fall, dass ich mich tatsächlich mit ihm treffe.

Ich werde also sagen: Ehrlich gesagt habe ich überhaupt keinen Durst. Oder: Ich versuche, die Woche über nichts zu trinken. Nein, das geht nicht, dann könnte er mich am Wochenende fragen. Wie wäre es mit: Ich habe in letzter Zeit einen Bogen um Kneipen gemacht. Oder: Der Old Schooner ist schon eine ziemliche Spelunke, meinst du nicht? Oder: Ich bin nicht so der Typ für Pubs.

Eines weiß ich ganz sicher. Ich werde auf keinen Fall sagen: Die Sache ist die, Josh, ich bin eine trockene Alkoholikerin. Wenn es dir also nichts ausmacht, würde ich lieber darauf verzichten.

Warum kann ich das nicht einfach so sagen? Warum ist das so verdammt schwer?

 

»Wow!«, ruft Josh aus. »Du siehst großartig aus. Ich hätte dich beinahe nicht erkannt.«

Er gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange und geht dann neben mir her. Ich habe mir so viele Sorgen gemacht, und er erwähnt den Pub nicht einmal. Es fühlt sich seltsam an, mein Schritttempo an das eines anderen anpassen zu müssen. Mehr kann ich nicht tun, um bei seinen langen, leichten Schritten mitzuhalten. Wenigstens gibt es keine peinlichen Momente des Schweigens. Von ihm geht das lockere Selbstvertrauen aus, das man auf einer Privatschule mitbekommt. Auch sein Tonfall passt dazu. Simon hätte ihn schon aus Prinzip gehasst.

Sie könnten nicht unterschiedlicher sein, die beiden, und doch gibt es etwas an Josh, das mich an Simon erinnert. Er vermittelt mir das Gefühl, als würden wir uns schon viel länger kennen als in Wirklichkeit. Mit Simon war das genauso, bevor alles den Bach runterging.

Mein Puls beschleunigt sich. Warum denke ich noch immer an ihn? Jetzt kann ich wieder nicht aufhören, mich umzuschauen. Simon hat einmal gedroht, er würde jeden Mann umbringen, der mich ihm wegnimmt. Und anschließend würde er mich töten. Das hat er zwar nur so im Suff gesagt, aber trotzdem …

»Bist du hier in der Gegend aufgewachsen?«, will ich von Josh wissen. Irgendwas, das meine Gedanken von der Vorstellung ablenkt, die sich gerade in meinem Kopf festsetzt, nämlich wie Simon mich vom Ende der Straße aus beobachtet und jede meiner Bewegungen verfolgt. Meine Finger packen den Jonglierball in meiner Tasche noch ein wenig fester.

»Nein. Ich stamme aus Berkshire. Nach dem Tod meiner Mum hat mein Dad unser Haus verkauft. Er konnte die Erinnerung wohl nicht mehr ertragen, denke ich.« Er hält kurz inne. »Später hat er sich dann ein Hausboot gekauft und jahrelang dort gewohnt. Auf einem Boot zu leben war einer ihrer gemeinsamen Träume gewesen, weshalb ich denke, dass er sich meiner Mutter zuliebe so entschieden hat. Einmal hat er seine Tante besucht, die hier in der Gegend wohnt, und dabei entdeckt, dass dieses Haus zum Verkauf stand, und so hat es sich dann ergeben.«

»Ich weiß, wie es sich anfühlt, einen Elternteil zu verlieren. Mein Dad starb vor drei Jahren.«

Normalerweise rede ich nicht über Dad – es schmerzt zu sehr. Doch nach Mums Kommentar gestern taucht er immer wieder in meinem Kopf auf.

Josh ist anständig genug, nichts zu sagen, aber in seinem Schweigen steckt Tiefe – eine tröstliche Tiefe.

Fünf Minuten später biegen wir am Ende einer engen Landstraße in eine breite, geschotterte Auffahrt ein. Sie beschreibt eine Kurve hin zu einer viktorianischen Villa mit symmetrischer Fassade und mittig einer beeindruckenden Eingangstür. Das Haus ist sicher fünf Mal so groß wie das Reihenhaus meiner Mum.

Die Tür ist nur angelehnt. Josh öffnet sie und bittet mich hinein. Kaum habe ich die Schwelle überschritten, heißt mich das