DIE LÜGEN - Lesley Kara - E-Book

DIE LÜGEN E-Book

Lesley Kara

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Beschreibung

Zwei Freundinnen, ein Todesfall, keine Erinnerung Sie waren unzertrennliche Freundinnen, Lizzie und Alice. Dann: die Tragödie bei einem Spaziergang auf den Gleisen. Doch bis heute hat Lizzie keinerlei Erinnerung an das Zugunglück, bei dem Alice mit 13 ums Leben kam. Sie ist nicht einmal sicher, ob es wirklich ein Unglück war – oder ob sie selbst schuld am Tod ihrer Freundin ist. Die Ungewissheit belastet sie auch als Erwachsene noch zutiefst. Aber jetzt endlich scheint es möglich, ein neues Kapitel aufzuschlagen und die Vergangenheit ruhen zu lassen. Da bekommt sie plötzlich unheimliche Nachrichten und Drohungen von jemandem, der zu wissen scheint, was damals wirklich passiert ist.

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Seitenzahl: 387

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Lesley Kara

Lesley Kara

Die Lügen

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Dawn,

die mich auf »der Tour« begleitet hat.

Teil eins

Geheimnisse, schweigend, steinern, sitzen in den dunklen Palästen unserer beider Herzen: Geheimnisse, die ihrer Tyrannei müde sind: Tyrannen, die sich wünschen, entthront zu werden.

 

James Joyce

Sie hatte auf der Kommode in ihrem Zimmer einen kleinen Altar errichtet. Eine einzelne weiße Tulpe in einer Vase aus Riffelglas. Eine Kinderbibel mit Illustrationen und eine Schale voll Wasser, in der die Blütenblätter einer blutroten Rose schwammen.

Als Erstes zündete sie eine Kerze an, dann ein Räucherstäbchen. Wir schauten zu, wie die dünne blaugraue Rauchfahne wirbelnd aufstieg und das Zimmer mit süßlichem Duft erfüllte. Meine Nasenflügel bebten.

»Jetzt müssen wir uns über der Bibel die Hände geben«, sagte sie. Mein Herz hämmerte. »Wir müssen schwören, keiner lebenden Seele ein Wort von alldem hier zu verraten.« Ihre Augen blitzten. »Jetzt nicht. Später nicht. Niemals.«

Ich wagte nicht, sie auf das hinzuweisen, was meine Mutter einst zu mir gesagt hatte: Jesus lehrt, dass man nicht schwören soll.

»Bist du so weit?«, fragte sie. Ich nickte so heftig, dass mir der Kopf wehtat. Sie hätte mich auffordern können, meinen Namen in unser vermischtes Blut hineinzuschreiben, und ich hätte es getan.

Ich griff nach ihren ausgestreckten Händen, und gemeinsam lasen wir mit feierlich getragenen, zittrigen Stimmen die Worte, die sie sorgfältig auf eine kleine Karte aus weißem Pappkarton geschrieben hatte. Dann hielt sie die Karte über die Kerzenflamme, und wir schauten zu, wie sie sich langsam aufrollte, schwarz wurde und zu einem Häufchen grauer Asche zerfiel.

»Und das begraben wir jetzt im Garten«, sagte sie.

Ich nickte noch einmal, und sie schob sich die Asche in die linke Handfläche und schloss die Finger darum. Ich folgte ihr aus dem Zimmer, dann die Treppe hinunter, durch die Hintertür hinaus und quer über den gelben Rasen, folgte ihr so dichtauf, dass unsere Schatten beinahe miteinander verschmolzen. Und ich wusste, dass es immer so sein würde, dass ich ihr immer folgen würde. Wohin sie auch ging. Was sie auch tat.

1

Damals

Donnerstag, 19. Juli 2007

Heute gibt es zwei Gründe zum Feiern. Der erste: Es regnet nicht. Es hat wochenlang nur geregnet, und sogar Mum, die glaubt, dass der Regen ein Segen Gottes ist und wir dankbar für jeden einzelnen Tropfen sein sollten, hat es inzwischen satt. Gestern sagte sie zu Dad, Gott hat uns in letzter Zeit wirklich genug gesegnet, schönen Dank auch, aber nun ist es genug.

Und der zweite Grund zum Feiern: Heute ist der erste Tag der Sommerferien, und das bedeutet sechs lange Wochen KEINESCHULE.

Ich öffne mein Zimmerfenster und atme ganz tief ein. Alice und ich müssen heute unsere Tour machen. Wir sind sie schon unzählige Male gegangen und kennen den Weg in- und auswendig: das Schwinggatter, die Lücke in der Hecke, der kleine Bach mit dem morschen Steg, das Feld mit der Vogelscheuche, die aussieht wie ein aufgespießter toter Mann, die Pappelreihe, die sechs Zauntritte und schließlich die Eisenbahnstrecke, wo wir immer so lange warten, bis wir die Gleise singen hören, und die Sekunden zählen, bis der Zug vorbeirauscht.

Das ist überhaupt das Beste daran, finde ich. Und ich glaube, Alice sieht das genauso, obwohl wir es nie ausgesprochen haben. Natürlich ist es praktisch, dass wir direkt an meiner Haustür starten können und dass der zweistündige Spaziergang genau die richtige Länge hat, um über alles zu reden, worüber geredet werden muss, bevor uns die Beine wehtun und der Magen knurrt. Aber in Wahrheit ist es der Nervenkitzel am unbeschrankten Bahnübergang, weshalb wir diese Tour so gerne machen.

Ich gehe hinunter zum Telefon in der Küche und wähle Alice’ Nummer. Auf meinem alten Scheißhandy ist nur noch ganz wenig Guthaben drauf. Alice’ Schwester, Catherine, nimmt ab. Sie sagt nicht mal Hallo, sondern ruft in ihrer pampig frechen Art gleich nach Alice. Sie ist ganze neun Jahre älter als wir und sollte eigentlich wissen, wie man sich zu benehmen hat. Alice sagt, sie hat »Probleme«. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr, das steht fest. Einmal hat sie Alice vor meinen Augen sogar eine heruntergehauen. Und dabei hatte Alice mir nur ganz wenig von ihrem Parfum aufs Handgelenk gesprüht.

Egal, heute lasse ich Catherine Dawsons Unverschämtheit nicht an mich heran. Ich ziehe mir meinen Teflonmantel an, wie Mum es nennt, den, den ich auch in der Schule anziehe, wenn Melissa Davenport und die anderen loslegen und sich über mich lustig machen.

»Wollen wir unsere Tour machen?«, sagt Alice.

»Ach nee! Was meinst du wohl, warum ich anrufe?«

»Ich komm mit dem Bus zu dir«, sagt sie. »Bis gleich.«

 

Der fünfte Zauntritt ist anders als die anderen. Höher. Mein Fuß rutscht auf der zweiten Stufe ungelenk ab und die scharfe Kante schneidet mir in den Wadenmuskel. Alice tut so, als hätte sie es nicht bemerkt. Sie macht sich nie über mich lustig. Niemals. Ich bin für Alice da, wenn ihre Mum sich mit einer Depression ins Bett legt. Ich bin für sie da, wenn sie die Französisch-Hausaufgaben nicht versteht oder wenn sie Streit mit ihrer Schwester hat. Und Alice ist für mich da, wenn ich einen Anfall habe oder wenn Melissa Davenport und Co. sich hinter meinem Rücken vor Lachen ausschütten, mit den Armen und Beinen zucken und die Augen verdrehen.

Doch gerade als ich mich aus der unbeholfenen Hocke, in der ich gelandet bin, wieder aufrichte, sehe ich den Anflug eines Lächelns auf Alice’ Lippen. Ein merkwürdiges kleines Lächeln, das zu bedeuten scheint: »Ich weiß etwas, was du nicht weißt.« Das hat sie schon ein paarmal gemacht, seit wir heute Vormittag aufgebrochen sind. Sie öffnet den Mund, als wollte sie etwas sagen, beißt sich dann aber auf die Unterlippe und schaut besorgt drein.

»Was denn? Was wolltest du eben sagen?«

»Ach, nichts eigentlich«, erwidert sie. Und dann, nach einer langen Pause: »Es war bloß etwas, was jemand gesagt hat.«

Sie wird rot, und ich weiß sofort, wer dieser Jemand ist. David Farley. Er muss sich mit ihr verabredet haben. Wenn das stimmt, drehe ich durch.

»Du musst es mir erzählen.«

Alice presst die Lippen zusammen.

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. »Warum bist du so gemein? Warum willst du es mir nicht erzählen?«

»Weil ich nicht kann. Ich kann einfach nicht.«

Ich fühle mich schrecklich, als sie das sagt. Beste Freundinnen sollten keine Geheimnisse haben. Nicht voreinander zumindest. Beste Freundinnen erzählen einander alles. Das haben wir immer getan.

Plötzlich hasse ich Alice Dawson. Ich hasse sie, weil sie mir etwas verheimlicht. Ich hasse sie, weil sie hübsch ist, keine Brille trägt, keine krausen roten Haare hat und keine Epilepsie. Ich hasse sie so sehr, dass ich kaum noch atmen kann.

Ich werfe ihr vor, eine falsche Schlange zu sein – die ultimative Beleidigung –, und wir beginnen einander anzuschreien. Alice stapft davon, auf den nächsten Zauntritt zu und so schnell, dass ich kaum mit ihr Schritt halten kann. Wir streiten die ganze Zeit: Ich schleudere Alice Beleidigungen in den Rücken, sie bleibt immer wieder stehen, wirft mir über die Schulter einen finsteren Blick zu und teilt in meine Richtung aus. Als wir den Bahnübergang erreicht haben, sind uns die Gemeinheiten, die wir einander an den Kopf werfen können, ausgegangen.

Wir haben uns früher schon gestritten, so sehr, dass eine von uns das Weite gesucht hat – normalerweise ich –, aber am Ende haben wir uns immer wieder vertragen. Selbst nach dem wirklich schlimmen Streit, den wir im Monat zuvor hatten. Aber dieses Mal scheint es anders zu sein. Endgültiger.

Und dann plötzlich verschwimmt alles vor meinen Augen. Das klare Blau des Himmels und das leuchtende Grün der Wiesen und Bäume verschmelzen zu einem konturlosen, verwaschenen Farbklecks, und das einzige Geräusch in meinen Ohren ist das vibrierende Sirren des Gleises. Das Crescendo des metallischen Tons hallt unerträglich laut in meinem Kopf wider.

Meine nächste Erinnerung ist, dass ich in einer Pfütze von Urin neben den Gleisen sitze und ein Zug angehalten hat. Aber die Züge halten nie an. Hier mitten auf einem Feld.

Ich bin ganz benommen. Wo ist Alice? Was ist passiert?

Dann sehe ich den Ärmel ihrer Jeansjacke in den Zweigen eines Busches hängen. Nur … nur dass es nicht bloß ein Ärmel ist.

Heiße Galle schießt mir aus dem Mund, und alles wird schwarz.

2

Jetzt

Mittwoch, 13. März 2019

Irgendetwas im Zimmer hat sich verändert. Vielleicht liegt es am Tonfall des Nachrichtensprechers. An diesem ernsten Ton, den sie anschlagen, wenn etwas Schreckliches passiert ist. Möglicherweise auch an den Worten selbst, die sich einen Weg durch die Selbstschutzfilter in meinem Kopf bahnen.

Meine Schultern verspannen sich. Ein tödlicher Unfall an einem Bahnübergang. Ein Mädchen.

Ihr Gesicht blitzt in der Ecke des Bildschirms auf, bevor ich wegsehen kann. Ein freches kleines Lächeln. Grübchen in den Wangen. Sie war erst elf. Zwei Jahre jünger als Alice. Sie heißt Elodie. Hieß Elodie. Was für ein hübscher Name.

Ich greife nach der Fernbedienung und schalte den Fernseher aus, doch das Bild ist immer noch da, die Worte hallen wie ein Echo in meinem Kopf. Nur dass es nicht die Szene ist, die ich eben auf dem Bildschirm gesehen habe – den abgesperrten Bahnübergang, den Einsatzwagen, den ernst dreinblickenden Journalisten, der die Nachrichten vorträgt. Es ist das Bild, das immer da ist, hinter meinen Augen, und das nur darauf wartet, sich ohne Vorwarnung vor mir zu materialisieren und mich wieder hineinzuziehen.

Ross schaut überrascht auf.

»Es ist zu viel«, sage ich zu ihm. »Die schlechten Nachrichten.«

Er kratzt den letzten Rest seines Rühreis mit einem Teelöffel zusammen. »Sie dürfte nichts gespürt haben. Was vermutlich der einzige Trost für ihre Eltern ist. Selbst bei relativ geringer Geschwindigkeit hat ein Zug so viel Masse und Kraft, dass es einen Körper normalerweise sofort zerreißt.«

Ich trage meinen leeren Becher in die Küche und spüle ihn aus. Meine Brust fühlt sich eng an, als wären meine Lungen zusammengeschnürt. Ich will ihn fragen, ob er das wirklich glaubt: dass das Wissen, ihre Tochter sei sofort in Stücke gerissen worden, ein Trost für ihre Eltern ist. Doch ich lasse den Augenblick kommentarlos verstreichen. Ich will kein Gespräch darüber führen. Jetzt nicht. Später nicht. Niemals.

Ich versuche, nicht zu denken, aber das ist unmöglich. Ein weiteres Leben ausgelöscht in Sekunden. Eine weitere trauernde Familie.

Ross kommt hinter mir her und lächelt mich verlegen an. »Sorry, aber so arbeitet mein Gehirn nun mal.«

Ich schüttele den Kopf. »Erzähl es mir ruhig.«

Was Ross nicht ahnt: Ich weiß ganz genau, was mit einem Körper passiert, wenn ein Zug ihn erfasst. Ich habe es nachgeschlagen, vor langer Zeit. Konnte mich nicht zurückhalten. Es hängt davon ab, wie schnell der Zug fährt und ob der Körper beim Aufprall aufrecht steht oder auf dem Gleisbett liegt, aber im Wesentlichen zerreißt es beim Aufprall alle lebenswichtigen Organe und die großen Blutadern. Manchmal wird der Körper durch die Luft geschleudert, manchmal von den Rädern ergriffen und in kleine Stücke zerhackt. Gebrochene Knochen. Verstümmeltes Fleisch. Abgerissene Gliedmaßen.

Ich musste es einfach wissen. Und dann habe ich diese Informationen irgendwo in mir abgelegt und nie wieder hervorgeholt. Aber sie sind immer da, allzeit bereit, in mein Bewusstsein hineinzusickern, wann immer ein Zugunfall passiert. Vor allem, wenn Kinder beteiligt sind. Vor allem, wenn es ein Mädchen ist. So wie Alice.

Ich blinzle, um das Bild zu vertreiben, das gerade in meinen Kopf gelangt ist, und betrachte Ross, wie er da in der Küche steht und in den Garten hinausschaut, auf die vielen Osterglocken im Gras. Er trägt noch seine Loungehose und ein T-Shirt, und in dem frühmorgendlichen Sonnenlicht leuchtet seine helle Haut. Er hat etwas Geschmeidiges, etwas Formbares an sich an diesem Morgen, wie ein Student, ein Vertriebsassistent oder ein junger Typ hinter dem Bartresen. Doch in weniger als einer halben Stunde wird er sich wieder in einen Arzt verwandelt haben, in Gedanken bereits bei dem Tag, der vor ihm liegt. Erstarrt zu einer »Säule der Gesellschaft«, wie ich es scherzhaft nenne.

Ich will ihm immer von Alice erzählen – er ist schließlich mein Verlobter –, aber irgendwie scheint dafür nie der richtige Zeitpunkt zu sein. Und außerdem, wenn ich es ihm erzähle, könnte er mir Fragen stellen, die ich nicht beantworten kann.

»Lass dir Zeit und erzähle uns genau, was passiert ist.« Das haben die Polizisten gesagt. Aber egal, wie oft sie mich gefragt haben, meine Antwort war immer dieselbe.

»Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern.«

Über die Jahre hinweg haben verschiedene Neurologen mir zu erklären versucht, dass nicht immer genug Zeit bleibt, damit das, was unmittelbar vor einem Anfall passiert, vollständig ins Gedächtnis einfließen kann. An manchen Tagen frage ich mich, wie es wohl wäre, wenn meine verlorenen Erinnerungen zurückkehrten. Wie fehlende Puzzleteile, die ihren Platz einnehmen. Die mich wieder ganz machen.

An anderen Tagen frage ich mich, ob es vielleicht besser ist, dass ich mich nicht erinnere.

Ross trinkt seinen Kaffee aus. »Übrigens, ich habe mit unserer Verwaltungsleiterin über diesen Teilzeitjob am Empfang gesprochen. Sie sagt, du sollst sie anrufen, wenn du Interesse hast.«

Ich räume die restlichen Sachen unseres Frühstücks ab, erleichtert, dass er das Thema gewechselt hat. »Ich habe noch mal darüber nachgedacht«, erwidere ich. »Vielleicht sollte ich mir lieber etwas in Vollzeit suchen. Etwas Interessanteres.«

Ross runzelt die Stirn. »Bist du sicher, dass das klug ist? Du willst dich doch nicht so fordern.«

»Aber so ist es nun mal. Ich will es. Wenn ich den ganzen Tag hier herumhänge, werde ich noch verrückt.«

Mit einem Studienabschluss in der Tasche hätte ich vermutlich längst eine vernünftige Stelle. Ich habe wegen meiner Epilepsie so oft in der Schule gefehlt, dass ich erst zwei Jahre später als alle anderen die mittlere Reife und dann das Abitur gemacht habe. Und das Letzte, was ich nach alldem wollte, war noch mehr lernen. Inzwischen wünsche ich mir allerdings, ich hätte die Universität besucht. Bis jetzt hatte ich nur langweilige Jobs in Büros oder als Rezeptionistin. Ich befürchte, dass ich den Gedanken an einen weiteren Job dieser Art nicht ertrage, aber trotzdem, irgendetwas muss ich tun. Mir fällt die Anzeige wieder ein, die ich letztens in der Stadtteilzeitung gesehen habe, die für den Tag der offenen Tür an der Universität Greenwich. Vielleicht sollte ich dort mal hingehen und mich erkundigen.

Ross schlingt von hinten die Arme um mich, während ich beim Abwaschen bin, und küsst meinen Nacken. Seine Hände wandern von meiner Taille aufwärts, und ich spritze mit der Spülbürste über die Schulter Seifenwasser auf ihn.

»Spielverderber!«, ruft er und wischt sich Schaum aus den Augen. »Überhaupt, wenn du den Job in der Klinik annimmst, würdest du ja gar nicht den ganzen Tag hier herumhängen. Noch dazu könntest du dem fabelhaften Dr. Ross Murray verführerische Blicke zuwerfen, wenn er ins Wartezimmer kommt.«

Ich lache schnaubend. »Das ist also einer der Vorteile des Jobs?«

»Und ob.«

»Aber im Ernst«, sage ich. »Die Bezahlung ist miserabel. Das hast du selbst gesagt.«

»Aber es geht doch gar nicht ums Geld, oder? Es geht um deine Gesundheit. Wir kommen prima mit meinem Gehalt aus.«

Ich seufze. Nicht das schon wieder. »Meine Gesundheit ist inzwischen bestens, Ross. So gut wie noch nie. Ich habe seit fast zwei Jahren keinen schweren Anfall mehr gehabt.«

Das spreche ich normalerweise nicht laut aus, denn ich will das Schicksal nicht herausfordern, vor allem jetzt nicht, wo ich endlich ein Leben habe. Nicht, dass ich an Schicksal glaube. Nicht wirklich. Trotzdem klopfe ich auf den Holztresen, nur um auf der sicheren Seite zu sein.

Hin und wieder habe ich noch fokale Anfälle – kurz und herdförmig begrenzt. Flüchtige Momente der Abwesenheit, die mich ehrlich gesagt gar nicht stören. Es sind die anderen, die sie bemerken, nicht ich. Dann flattern meine Augenlider, und ich bin ein paar Sekunden lang nicht ganz bei mir. Das jedenfalls erzählt man mir.

»Dir geht’s so gut wie noch nie, weil du entspannt bist und richtig auf dich aufpasst«, sagt Ross. »Du darfst nichts übertreiben.«

Ich schrubbe die Eierteller etwas zu heftig mit der Spülbürste. Er hat recht. Natürlich. Der letzte Job, den ich hatte, war ein Fehler. Damals wohnte ich noch zu Hause bei Mum und Dad und pendelte jeden Tag in die Stadt. Ich hätte auf sie hören sollen. Es war zu viel für mich – ich war erschöpft. Doch jetzt wohne ich in London, mit Ross zusammen, da wird es sehr viel leichter sein. Und ich nehme genau die richtige Kombination an Medikamenten. Das verhindert die wirklich schweren Anfälle – die, bei denen ich zu Boden gehe und mich vor allen lächerlich mache –, ohne dass meine Wahrnehmung ständig getrübt ist.

»Ich hab’s nur satt, dass sich alles immer um meine Epilepsie dreht. Ich bin doch keine Invalide!«

Ross dreht mich an den Schultern zu sich herum und schaut mir tief in die Augen. »Ganz genau. Du bist eine wunderbare, sexy Frau und störrisch wie ein Esel.«

Wir küssen uns so lange, dass wir danach vergessen haben, worum es bei unserer Streiterei ging. Oder wir tun vielmehr so, als hätten wir es vergessen.

Wir haben uns in einem Café in Dovercourt kennengelernt, der kleinen Küstenstadt in der Nähe von Harwich, in die meine Eltern und ich nach Alice’ Tod gezogen sind. Er rempelte mich aus Versehen an, und sein Kaffee schwappte auf meine Wildlederstiefel. Daraufhin entschuldigte er sich ungefähr fünfmal und spendierte mir schließlich eine Coke und einen Haferkeks, den ich schon beim ersten Bissen verfluchte, denn die Krümel flogen über den ganzen Tisch, und er brach in Gelächter aus. Ich dachte, er wäre in meinem Alter, und als sich herausstellte, dass er Mitte dreißig war und kurz davorstand, seinen Facharzt für Allgemeinmedizin zu machen, war ich baff.

Er gab mir von der ersten Sekunde an das Gefühl, etwas Besonderes und der einzige Mensch zu sein, mit dem er zusammen sein wollte. Er war die gestaltgewordene Erfüllung meiner Tagträume. Liebe auf den ersten Blick mag ein romantisches Klischee sein – Ross würde wahrscheinlich von einem Cocktail aus Sexhormonen und Neurotransmittern sprechen –, aber genauso fühlte es sich an. Als wäre unsere Begegnung Teil eines Plans. In Ross’ Nähe empfand ich Herzklopfen, und das ist bis heute so.

»Um wie viel Uhr kommen deine Eltern?«, fragt er jetzt.

Ich schaue auf meine Armbanduhr. »Sie brechen vermutlich gerade auf. Um elf wollen sie hier sein, haben sie gesagt.«

Ross nickt. »Warum gehst du mit ihnen nicht in das neue Restaurant in Blackheath? Mario’s heißt es, glaube ich. Unsere neue Krankenschwester sagt, es ist wirklich gut.«

Das ist schon das zweite Mal in dieser Woche, dass er sie erwähnt. Schon habe ich das Bild einer hübschen Krankenschwester vor Augen. Ich sehe eine zierliche Blondine vor mir, das Haar zu einem hohen, straffen Pferdeschwanz gebunden, und stelle mir vor, wie er zwischen den Patiententerminen mit ihr flirtet und scherzt. Seine letzte Freundin war Krankenschwester, und ich gebe mich nicht der Illusion hin, dass sie die einzige war, vor allem nicht während seines Medizinstudiums. Mit Krankenschwestern auszugehen sei ein berufsbedingtes Risiko, hat er mal geulkt.

Doch das ist vorbei. Im nächsten Jahr werden wir beide heiraten. Wir haben unsere Verlobungszeit bewusst in die Länge gezogen, um gründlich darüber nachdenken zu können, welche Art von Hochzeit uns beiden gefällt und wie wir sie am besten vorbereiten. Ich weiß, dass es meinen Eltern lieber gewesen wäre, wenn wir schon vor dem Zusammenziehen geheiratet hätten – vor allem Mum, da ist sie ein bisschen altmodisch. Aber als ich Ross kennenlernte, war er, dank eines kleinen Erbes seiner verstorbenen Tante, gerade dabei, dieses Haus hier zu kaufen. Uns erschien es vernünftiger, sich auf die Renovierung und den Einzug zu konzentrieren, bevor uns der Stress der Hochzeitsplanung alle Energie rauben würde.

Es ist ein kleines Reihenhaus mit zwei Zimmern im Erdgeschoss und zwei weiteren im ersten Stock, an einer ruhigen Straße gleich abseits der A201 zwischen Woolwich und Charlton gelegen. Mit dem Auto fünf Minuten entfernt von der Plumtree-Lodge-Poliklinik, in der Ross arbeitet, und für mich so günstig gelegen, dass ich meine Ziele zu Fuß oder mit dem Bus erreichen kann. Und es gibt einen kleinen Garten hinter dem Haus. Okay, eigentlich eher ein schmaler, unkrautdurchsetzter Grünstreifen mit einem alten Lattenzaun drum herum – aber wir haben zumindest einen Garten. Viele Leute in meinem Alter wohnen immer noch zur Miete oder bei ihren Eltern.

Ich sehe vom Wohnzimmerfenster aus, wie Ross in sein Auto steigt und wegfährt. Dann fällt mein Blick auf die Kartons, die sich immer noch an der Wand stapeln. Vielleicht finde ich Zeit, noch ein paar weitere auszupacken, bevor meine Eltern ankommen.

Ich schalte den Fernseher wieder an, aber sie reden immer noch über den tödlichen Unfall am Bahnübergang. Oder vielmehr schon wieder. Das ist das Schlimme am Frühstücksfernsehen, alles wird in Endlosschleife wiederholt, und wenn es etwas Tragisches ist, dann erst recht. Ich schalte um auf ein anderes Programm, aber das Gesicht der kleinen Elodie lässt mich nicht los. Es hat alles wieder aufgewühlt. Ich hasse es, wenn das passiert.

3

Das Telefon klingelt, doch als ich abhebe und Hallo sage, antwortet niemand. Ich höre nur ein eigenartiges dumpfes Geräusch im Hintergrund. Dann ist die Leitung tot. Eine Minute später klingelt es erneut.

»Hi, Lizzie, wir fahren gerade aus dem Blackwell-Tunnel raus und sind in ein paar Minuten da.« Es ist Mum.

»Warst du das gerade eben?«, frage ich. Doch die Leitung beginnt zu knistern, und so verabschieden wir uns. Sie muss es gewesen sein.

Ich gehe von Zimmer zu Zimmer und versuche, das Haus mit den Augen meiner Eltern zu betrachten. Es wird ihnen sehr gut gefallen, das weiß ich.

Nachdem sie mehr als die letzten zwanzig Jahre damit zugebracht haben, ihr Leben um meine Epilepsie herum zu arrangieren, von einem Krankenhaustermin zum anderen zu ziehen, endlos lange auf Testresultate zu warten und sich die unterschiedlichen Meinungen von Neurologen und Epilepsie-Spezialisten anzuhören, ist es schwierig für sie, loszulassen. Mir geht es genauso, egal wie sehr ich darauf gedrängt habe, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Aber sie mochten Ross gleich, als sie ihn kennenlernten. Sein Beruf war natürlich eine Hilfe. Ich weiß nicht mehr, wie oft meine Eltern gesagt haben, dass sie froh sind, mich »in sicheren Händen« zu wissen.

Ross und ich müssen immer lachen über diesen Ausdruck. Dann streckt er die Arme vor sich aus, Handflächen nach oben, und bewegt in einer lasziven Geste die Finger, als würde er mich begrapschen. »Oh ja«, sagt er. »Bei mir bist du definitiv in sicheren Händen.« Aber manchmal ärgert es mich auch, wenn meine Eltern das sagen. Es ist, als hielten sie mich für ein zerbrechliches Paket, das vom einen Besitzer an den nächsten ausgehändigt wird. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich nicht sofort heiraten will.

Beim Geräusch eines Autos, das draußen anhält, renne ich wie ein kleines Mädchen an die Haustür. Es überrascht mich, dass es ihnen gelungen ist, einen Stellplatz so nahe beim Haus zu finden. Ross muss manchmal ganz am anderen Ende der Straße parken. Ich schaue zu, wie sie aus dem Auto steigen. Es sieht aus, als wollten sie vierzehn Tage lang bleiben. Mum ist mit einem ganzen Sortiment von Tragetüten behängt, und Dad öffnet den Kofferraum, um noch mehr Sachen daraus hervorzuholen.

Ich laufe ihnen auf dem Gehweg entgegen, um sie zu begrüßen, und freue mich, dass ihr Besuch auf einen so milden, sonnigen Frühlingstag fällt, an dem alles so viel leuchtender und hübscher aussieht.

»Was um Himmels willen bringt ihr denn da alles mit?«

Dad schüttelt den Kopf, als wäre das alles nicht seine Idee gewesen, und um fair zu sein, das war es wohl auch nicht. »Deine Mum hat mich auf den Dachboden gescheucht, damit ich nachsehe, ob da oben noch Sachen von dir sind. Und jetzt rate mal!«

Er beugt sich in den Kofferraum und holt einen riesigen, leicht ramponiert aussehenden Karton heraus. Herrje. Als wenn ich nicht schon genug Kartons im Haus hätte.

»Ich habe ihr gesagt, dass du den ganzen Kram vermutlich gar nicht haben willst«, sagt er. »Aber du weißt ja, wie die ist.«

Mum räuspert sich. »Wer ist ›die‹ denn? Die Mutter der Katze?«

Ich küsse sie auf die Wangen. Sie sind weich und samten unter meinen Lippen und ich kann ihren Gesichtspuder riechen. Es ist erst wenige Wochen her, seit ich zu Hause ausgezogen bin, aber Mum wirkt irgendwie älter, schmäler.

»Es sind deine alten Schulsachen, Liebes«, sagt sie. Ihr Blick verdüstert sich kurz, und mein Herz setzt für einen Schlag aus. Ich versuche möglichst nicht an meine Schulzeit zu denken. Die Erinnerungen wühlen mich auf, und zum zweiten Mal an diesem Morgen habe ich das Gefühl, dass etwas Bedrohliches in der Luft liegt.

Doch dann ist meine Mum wieder ganz sie selbst, gesprächig wie immer. Ich sollte besser nicht so melodramatisch sein. »Es sind vor allem Projektordner, Zeugnisse und solches Zeug«, erzählt sie. »Dein Dad wollte das alles wegwerfen, aber ich dachte, dann wärst du böse auf uns.«

Als wir ins Haus hineingehen, bleibt Mum stehen und schnappt entzückt nach Luft. »Lizzie, der Flur ist ja reizend.«

»Unverkennbar der Farbton ›Achtsames Grau‹.«

»Jetzt hör dir das an! Schon die reinste Do-it-yourself-Expertin«, wirft Dad ein, dem es endlich gelungen ist, den Karton durch die Haustür zu bugsieren und auf dem Boden abzustellen. Er richtet sich auf und reibt sich das Kreuz. Auf den ersten Blick sieht er aus wie immer – groß und schlank, schicke legere Stoffhose und langärmliges Hemd aus aufgerauter Baumwolle. Das übliche Outfit. Doch unter der Oberfläche nehme ich eine schwelende Zerbrechlichkeit wahr.

Ich fand es immer vorteilhaft, ältere Eltern zu haben. Sie wirkten immer viel liebenswürdiger und ruhiger als die der anderen Kinder und gingen deutlich entspannter mit ihrer Zeit um. Mum war knapp vierundvierzig, als sie mich bekam – die beiden hatten ewig lang probiert. Aber die furchtbare Wahrheit ist, dass ich sie früher verlieren werde.

»Also dann«, sagt Dad und klatscht in die Hände. Das laute Geräusch reißt mich aus meinen düsteren Gedanken. »Gib mir einen Kuss, Mäuschen, und dann geht’s auf zur Besichtigungstour.«

Seine stopplige Haut streicht kratzend über mein Kinn, als er mir einen Kuss auf die Wange drückt. Mäuschen nennt er mich, seit ich denken kann. Inzwischen macht es mir nichts mehr aus, im Gegensatz zu früher, als ich eine patzige Teenagerin war. Patziger als die meisten vermutlich, denn ich durfte nicht so rebellieren, wie ich wollte. Durfte nicht bis spätabends wegbleiben und mit den anderen trinken, weil immer das Risiko bestand, dass ich einen Anfall bekam und in eine Notsituation geriet. Manche Freunde, die ich aus Online-Selbsthilfegruppen kenne, haben erzählt, dass sie alles Mögliche in dem Alter angestellt und sich geweigert haben, auf ihre Eltern und ihre Ärzte zu hören. Doch für so etwas war ich nie mutig genug.

»Übrigens«, sagt Dad, »hat Ross den tropfenden Wasserhahn repariert? Ich habe nämlich, nur für den Fall, mein Werkzeug dabei.«

Der gute alte Dad. Immer der Heimwerker. Ross mag in der Lage sein, eine Rippenfellentzündung zu diagnostizieren oder eine Harnwegsinfektion zu behandeln, aber für Reparaturen an der häuslichen Front ist er nicht zu gebrauchen.

 

Dad fährt uns nach Blackheath Village. Es war vor langer Zeit vielleicht mal ein Dorf, aber heute natürlich nicht mehr. Dennoch hat der Ort Kleinstadtcharakter, mit kleinen Läden und Esslokalen, einem Bauernmarkt am Sonntag und weitem Blick auf grüne Landschaft. Vor meinem Umzug habe ich mir London als große, kompakte Einheit vorgestellt. Tatsächlich besteht es aus Hunderten von Stadtteilen, die ineinander übergehen und zugleich auf je eigene Weise einzigartig sind. Blackheath zum Beispiel ist definitiv schicker als Charlton oder Lewisham. Ich mag zwar neu sein in der Gegend, aber das wird nicht zuletzt beim Blick in die Schaufenster der Immobilienmakler deutlich.

Das Mario’s ist eine perfekte Mischung aus Stil und Zwanglosigkeit. Gestärkte weiße Tischdecken und tadelloses Personal bei gleichzeitig entspannter Atmosphäre, wie im Café. Mum und ich bestellen beide ein kleines Glas Weißwein, Dad nimmt Mineralwasser mit Kohlensäure. Alkohol kann ein Trigger sein für Anfälle, genauso wie Koffein, blinkendes Licht, Stress, Müdigkeit und zu viel Zeit vor dem Bildschirm – das Leben des 21. Jahrhunderts, mit anderen Worten. Weil ich deshalb nur gelegentlich ein Glas trinken darf, schätze ich es umso mehr. Ich genieße gerade den Geschmack des Weins auf meiner Zunge, da sagt Mum:

»Dieser Karton, den wir mitgebracht haben, Liebes, der wird ein paar Erinnerungen aufwühlen.«

Mum wirft Dad einen Blick zu, und ich spüre, wie er neben mir erstarrt. Wir wissen alle, worauf sie anspielt, etwas, das wir nicht aussprechen. Bis jetzt zumindest.

Dad legt sein Besteck zur Seite und nimmt einen großen Schluck Wasser, bevor er zu reden anfängt. »Ich war dagegen, dass wir ihn mitbringen. Wir können ihn gern wieder mit nach Hause nehmen. Oder gleich auf die Müllkippe schaffen.«

»Nein.« Mein Tonfall klingt unnatürlich heftig. »Nein«, wiederhole ich, diesmal etwas sanfter. »Ich bin froh, dass ihr ihn mitgebracht habt. Komischerweise habe ich gerade heute an die Sache gedacht. Von wegen dieser … dieser Nachrichten …«

Und wieder sehe ich vor mir das Gesicht der Reporterin und das Absperrband der Polizei, das hinter ihr flattert. Das Bild der kleinen Elodie oben rechts im Bildschirm. Dann überlagert ein anderes Bild das erste, schwarz-weiß und überdeutlich. Ich nehme noch einen Schluck Wein.

Mum nickt. »Wir haben uns schon gefragt, ob …«

»Wie sieht’s aus, Dessert?«, fragt Dad mit funkelnden Augen, und plötzlich plappert Mum drauflos, über Tiramisu und Affogato, und der Augenblick verstreicht.

Später am Nachmittag, als ich ihrem immer kleiner werdenden Auto hinterherwinke, muss ich an die vielen anderen Gelegenheiten denken, bei denen ein Gespräch über die Vergangenheit mit einem Blick, einem Wort oder einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung abgewendet wurde. Dieses bleierne Schweigen. Als ich wieder ins Haus komme und den Karton sehe, den Dad im Flur abgestellt hat, überkommt mich ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Das Unbehagen baut sich auf.

Ich gehe neben dem Karton in die Hocke. Ich muss an den Mythos von der Büchse der Pandora denken, auch wenn der Fall dort anders liegt. Pandora hatte keine Ahnung, was in der Büchse war, die Zeus ihr gab. Ich aber weiß ganz genau, was ich in dem Karton finden werde. Ein eisiger Schauer läuft mir über den Rücken, als ich ihn öffne und als Erstes eine schwarze Quaste sehe, die aus einem Buch heraushängt. Es wird Zeit, dass ich meine Gespenster zur Ruhe bette.

4

Damals: danach

Freitag, 24. August 2007

Es ist warm draußen, doch hier in der Kirche ist es kalt und dunkel. Ich sitze zwischen Mum und Dad, ganz hinten bei der Tür. Wir können Alice’ Familie von hier kaum sehen, nur die Rückseite ihrer gebeugten Köpfe. Aber wir können sie schniefen hören und ihr unterdrücktes Schluchzen.

Ich ziehe die Faltkarte für den Gottesdienstablauf aus dem Schlitz der Kirchenbank vor mir und schaue sie mir an. Die cremefarbene Karte fühlt sich steif an in meiner Hand. Ein schwarzer Faden läuft den Falz entlang und endet unten in einer Quaste. Vorn drauf ist ein Foto von Alice. Ich konzentriere mich auf den Knoten ihrer Schulkrawatte, das ist leichter, als ihr Gesicht anzusehen. Ihr Gesicht kann ich nicht ansehen.

Mr Davis, der Schuldirektor, und einige Lehrer von der Schule sind auch hier. Außerdem viele Mädchen aus unserer Klasse, darunter Melissa Davenport. Sie sitzt mit ihren Eltern in derselben Reihe wie Mr Davis. Warum sitzen die dort, wenn wir ganz hier hinten sind? Es ist ja nicht mal so, dass Melissa mit Alice befreundet war. Sie waren beide in der Korbballmannschaft, aber sie haben sich nachmittags nie getroffen. Nur wenn es ein Spieltag war. Aber so war es eben mit Alice – alle schienen sie zu mögen.

Als die Sargträger den Sarg hereinbringen, ertönt ein schreckliches Klagegeschrei von Alice’ Mutter. Es hallt mehrfach in der hohen Gewölbedecke der Kirche wider. Mum hat die Hände auf ihrem Schoß so fest gefaltet, dass die Knöchel weiß hervortreten. Sie wiegt sich vor und zurück. Dads linker Arm schlängelt sich hinter unsere Rücken und umfasst uns beide. Ich lege meinen Kopf an seine Schulter und schließe die Augen, doch den Tränen gelingt es trotzdem, sich unter meinen Lidern hervorzustehlen.

Ich kann gar nicht glauben, dass Alice tot ist. Ich meine, ich weiß natürlich, dass es so ist. Deshalb sind wir hier, es ist ihre Beerdigung. Deshalb haben sie gerade ihren Sarg hereingebracht. Der Sarg ist weiß, mit goldenen Tragegriffen, und überhäuft von Blumen und Teddys und Puppen, als wäre sie ein kleines Mädchen und nicht ein Teenager. Mir schießt durch den Kopf, dass Alice die Teddys peinlich wären.

Jetzt spricht der Pfarrer. Ich setze mich auf und öffne die Faltkarte, die auf meinem Schoß liegt, fahre mit dem Blick die Liste der Bibellesungen und Kirchenlieder entlang und sehe, dass Alice’ Lieblingslied dabei ist. Es ist auch mein Lieblingslied. Morning Has Broken. Das haben wir immer bei der Chorprobe gesungen. Richtig herausgeschrien.

Als es so weit ist, versuche ich zu singen, doch meine Stimme ist ganz schwach und zittrig. Stattdessen forme ich die Worte mit dem Mund. Mum und Dad sind gute, kraftvolle Sänger, und ihre Stimmen ertönen so wie jeden Sonntag in der Kirche. Ein paar Köpfe drehen sich herum und die Leute sehen in unsere Richtung, doch ich habe nicht das Gefühl, dass sie beeindruckt sind. Einer der Köpfe ist der von Alice’ Schwester Catherine, und dieses eine Mal wünsche ich mir, Mum und Dad würden auch nur so tun, als ob sie sängen, und keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Zwischen den Kirchenliedern und den Bibellesungen wird Musik vom Band gespielt, die ihre Familie ausgesucht hat. Catherine hat Come Some Rainy Day von Wynonna Judd gewählt, und als das gespielt wird, weinen fast alle. Es ist die Art Lied, bei der man sogar weinen muss, wenn man nicht traurig ist. Aber wenn man sowieso schon traurig ist, dann ist es herzzerreißend. Sogar Dads Schulter beginnt zu zucken.

Nach dem Gottesdienst geht nur Alice’ engste Familie ans Grab. Ich bin erleichtert, dass wir nicht hinmüssen. Das könnte ich auf keinen Fall, zugucken, wie ihr Sarg in das offene Grab abgelassen wird. Ich stelle mir andauernd den zertrümmerten Körper in dem engen dunklen Raum vor. Ich versuche, nicht an das zu denken, was ich an jenem Tag gesehen habe, verfangen in dem Busch.

Ich stehe mit Mum und Dad beim Kirchentor und schaue zu, wie Alice’ Eltern und ihre Schwester sich einen Weg durch das hohe Gras bahnen. Catherine und ihr Dad haben die Mutter in die Mitte genommen und sie von beiden Seiten mit den Armen untergehakt, um sie zu stützen. Sie sieht ganz winzig und schwach aus, als wären Catherine und ihr Dad die Eltern und Mrs Dawson ihre kleine Tochter. Sie trägt einen schwarzen Rock mit schwarzer Jacke und einen kleinen Pillbox-Hut mit schwarzem Chiffonschleier. So fein gemacht habe ich sie noch nie gesehen. Normalerweise läuft sie immer in einem alten, ausgeleierten Jogginganzug herum, oder im Pyjama, oder in einem Morgenrock.

Als Alice’ Großeltern und dann ihre Onkel, Tanten und Cousinen und Cousins ans Grab treten, starre ich auf meine Füße. Es kommt mir irgendwie falsch vor, ihnen zuzusehen. Aber andererseits kommt es mir auch falsch vor, ihnen nicht zuzusehen. Respektlos fast.

Als ich den Kopf hebe, dreht Catherine sich um und sieht uns direkt an, so wie sie es in der Kirche getan hat. Es ist etwas Langsames, Vorsätzliches an ihrer Bewegung. Ich sage mir, dass ich mir das nur einbilde und dass sie mit ihrem Gesicht ganz einfach das macht, was Leute machen, wenn es keine Worte mehr gibt. Aber sie sieht gar nicht uns an, sondern mich. Ihr Blick bohrt sich in mich hinein, und ein Schauder der Angst läuft mir den Rücken hinunter. Sie hätte genauso gut mit dem Finger auf mich zeigen und schreien können: »Wie kannst du es wagen, dort zu stehen, während meine kleine Schwester tot ist! Wie kannst du es wagen!«

Ich drehe den Kopf weg und zähle bis zehn, warte darauf, dass das schreckliche Gefühl in meiner Brust verschwindet, das mich genau dieselbe Frage stellen lässt. Als ich wieder hinsehe, hat Catherine Dawson sich nicht bewegt. Sie starrt mich immer noch an, und ich frage mich, ob Mum und Dad das auch bemerkt haben. Doch sie betrachten beide ihre Schuhe.

Danach gehen alle zur Totenwache in Alice’ Haus, und wir fahren heim. Als Dad das Auto anlässt, sehe ich Catherine mit Melissa Davenport und ein paar der anderen Mädchen aus meiner Klasse im Kreis stehen. Sie halten sich alle an den Schultern und weinen. In meinem Hals bildet sich ein Kloß. Dort sollte ich auch sein, mit ihnen weinen, von ihnen unterstützt. Alice war meine beste Freundin, nicht die von Melissa. Als wir an der Kirche vorbeifahren, hebt Catherine den Kopf und starrt mich noch einmal mit diesem vernichtenden Blick an.

Es ist … es ist, als wüsste sie, dass es meine Schuld ist.

Als wir die Asche im Garten vergraben hatten, setzten wir uns in die Gartenschaukel aus Segeltuch und ließen die nackten Beine baumeln.

»Guck mal«, sagte sie und zeigte nach oben. »Ist das nicht schön?«

Die Sonne stand am Horizont – als schimmernde rote Kugel. Ich versuchte, sie auch so schön zu finden, doch mir fiel nichts anderes ein als Flammen und Gase und unerträgliche, sengende Hitze. Die Wolken waren schon nicht mehr weiß und flockig, sondern lang gezogene, zerfaserte Streifen, die violett und pinkfarben leuchteten. Ein monumentaler Himmel, wie eine Warnung Gottes. Ich zitterte bei dem Anblick, und ich musste die Augen abwenden: denn ich wusste, was kommen würde.

Wir blieben lange in der Gartenschaukel, stundenlang, wie uns schien, schwangen sanft vor und zurück, und plauderten und kicherten, als hätte sich nichts geändert. Wir blieben dort, bis die Nacht herankroch und Gänsehaut prickelnd über unsere Arme lief. Wir blieben so lange, bis ihre Mutter auf uns zukam, undeutlich wie ein Gespenst.

Es war Zeit für mich zu gehen.

5

Jetzt

Nach dem Abendessen sitzen Ross und ich auf dem Sofa und schauen fern, aber ich kann mich auf nichts konzentrieren. Mein Blick schweift immer wieder zu dem Karton, den Mum und Dad mitgebracht haben. Dad hatte recht. Sie hätten ihn gleich auf die Müllkippe schaffen sollen.

Es kommt mir nicht richtig vor, dass ich Ross von Alice nichts erzähle. Wir sollten keine Geheimnisse voreinander haben. Auch in seiner Vergangenheit gibt es Dinge, über die er nicht gern redet – die dunkle Zeit nach dem Tod seiner Mutter –, aber ich weiß zumindest, dass es sie gibt. Ich kenne die nackten Tatsachen. Und genauso hätte auch ich ihm längst von diesem wichtigen Ereignis in meinem Leben – meine beste Freundin kommt bei einem Zugunfall ums Leben und ich bin dabei, als es passiert – erzählen sollen.

Als die Werbung beginnt, stellt Ross den Fernseher stumm und verändert seine Sitzposition so, dass er mir ins Gesicht sieht.

»Was hältst du davon, eine Einweihungsparty zu geben?«, fragt er.

Der Vorschlag trifft mich unvorbereitet. Ich starre den stumm gestellten Bildschirm an und überlege, was ich antworten soll. Ich bin kein großer Fan von Partys. Davon, in einem Raum voller Fremder herumzustehen und ihnen dabei zuzuschauen, wie sie sich langsam, aber sicher betrinken, während ich an einem weiteren nicht alkoholischen Drink nippe. Offen gesagt erstaunt mich der Vorschlag. Immerhin fällt einer der Partner der Poliklinik wegen Krankheit für längere Zeit aus, und die Vertretungen haben sich allesamt als unzuverlässig erwiesen. Deshalb ist Ross seit unserem Einzug vollkommen überlastet und gestresst. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er Zeit finden und die Energie aufbringen würde, sich Gedanken über eine Party zu machen.

»Ich dachte, das wäre vielleicht ganz nett«, sagt er und wirkt dabei so eifrig, dass ich für einen Augenblick den kleinen Jungen sehen kann, der er einmal war – den kleinen Jungen, der seine Mutter verloren hat. »Ich könnte meine Kollegen aus der Klinik einladen. Und ein paar von der alten Gang natürlich.«

Die alte Gang – die Freunde, mit denen er am Imperial College studiert und Rugby gespielt hat. Ich versuche mir vorzustellen, wie sie sich in dieses Zimmer hineinquetschen, wie sie lachen und peinliche medizinische Anekdoten erzählen oder, schlimmer noch, mit ihren draufgängerischen Großtaten prahlen. Darauf könnte ich gut verzichten, um ehrlich zu sein, aber es wird Zeit, dass ich die Leute, mit denen er zusammenarbeitet, mal kennenlerne. Und es wird Zeit, dass sie mich kennenlernen. Es kann all diesen Krankenschwestern und Empfangsdamen und Sekretärinnen nicht schaden, Dr. Murrays Verlobte kennenzulernen. Wissen sie überhaupt, dass wir verlobt sind? Denn wenn nicht, dann wird es langsam Zeit.

»Okay«, sage ich, bevor ich es mir anders überlegen kann. »Das machen wir!«

Später jedoch, beim Zubettgehen, beginne ich meine Zusage zu bedauern.

»Wann genau willst du die Party denn geben?«

»Keine Ahnung. Nächsten Samstag?«

Ich muss an die Kartons denken, die immer noch im Wohnzimmer herumstehen, und ganz besonders an einen. An den, der seit seinem Eintreffen in diesem Haus eine besondere Anziehungskraft auf mich ausübt.

»Aber dann bleibt uns nur noch eine Woche, und wir haben noch nicht mal die Hälfte unserer Sachen ausgepackt.«

Ross lacht. »Es ist eine Einweihungsparty, Lizzie. Die Leute rechnen damit, zwischen Kartons zu stehen.«

Bilder betrunkener Fremder, die uns beim Auspacken der Kartons helfen wollen, schießen mir durch den Kopf: der Boden übersät mit Einwickelpapier, unsere Besitztümer im ganzen Haus und an den unpassendsten Stellen verstreut. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre nicht so verkrampft, sondern mehr das Partygirl, das gerne Spaß hat und Drinks in sich reinschüttet.

»Weißt du was«, sagt Ross und beugt sich zu seiner Nachttischlampe hinüber, um sie auszuschalten, »wir machen das erst in zwei Wochen. Wie wär’s mit dem ersten Samstag im April? Dann bleibt uns noch Zeit genug, um zu Ikea zu fahren und ein paar mehr Gläser zu kaufen. Ich kann den Leuten morgen Bescheid geben.«

Bevor ich das Licht auf meiner Seite ausschalten kann, sitzt Ross rittlings auf mir und gräbt seine Hände in mein Haar.

Ich kichere, hebe die Arme über den Kopf und lasse mir von ihm das Oberteil ausziehen, das in hohem Bogen auf dem Boden landet. »Also, Miss Molyneux«, sagt er in seiner besten Sean-Connery-Imitation als James Bond, der mit Miss Moneypenny spricht, »bleiben Sie bitte ganz still liegen, während ich eine vollkommen überflüssige Untersuchung Ihrer Brüste vornehme. Es ist eine innovative Methode und Teil der neuen Richtlinien unseres Gesundheitssystems«, sagt er todernst. »Ich werde dabei nur meinen Mund einsetzen.«

 

Ich liege auf dem Rücken – der kalte Schweiß auf meiner Haut trocknet bereits –, bis der Albtraum verblasst ist. Der, in dem ein Zug auf mich zukommt und ich meine Beine nicht bewegen kann. Nicht rechtzeitig weglaufen kann. Den hatte ich früher oft, aber jetzt schon seit einer Ewigkeit nicht mehr. Einen Sekundenbruchteil vor dem Aufprall wache ich immer auf, das ohrenbetäubende Kreischen der Lokomotive noch in den Ohren. Ich muss in einen Tiefschlaf gefallen sein, nachdem Ross heute Morgen in die Poliklinik gegangen ist. Es wird mir eine Lehre sein, die Augen morgens noch einmal zuzumachen.

Ich gehe ins Badezimmer und dusche, drehe das Wasser voll auf und lasse es hart auf meinen Kopf niederprasseln. Bald wird alles wieder normal sein. Die Nachricht über die arme kleine Elodie wird aus den Schlagzeilen verschwinden, eine andere Story ihren Platz einnehmen, und die Dämonen werden sich wieder in den Winkel meines Gehirns verkriechen, den sie anscheinend bewohnen. Bis das nächste Mal ein armes Kind auf den Bahngleisen stirbt.

Nachdem ich gefrühstückt und meine Medikamente genommen habe, werkele ich im Haus herum und unternehme einen halbherzigen Versuch, Ordnung zu schaffen. Ich schiebe es vor mir her, das weiß ich. Die Beschäftigung mit dem Inhalt des einen Kartons. Da gibt es immer noch so viele andere Kartons, die ausgepackt, und so viele Sachen, die untergebracht werden müssen … Aber ich schaffe es im Moment einfach nicht. Ich fühle mich ruhelos und nicht ganz auf der Höhe. Das muss an diesem Albtraum liegen. Bestimmt.

Als das Telefon klingelt, gehe ich ins Schlafzimmer, um abzuheben. Eine Ansage für den Anrufbeantworter aufnehmen, noch etwas, das ich erledigen muss. Doch als ich mich melde, höre ich ein eigenartiges gedämpftes Geräusch, dann ist die Leitung tot. So wie gestern, als ich dachte, es wäre Mum gewesen. Obwohl ich sicher bin, dass ich diesmal im Hintergrund eine leise Stimme gehört habe, wie aus dem Lautsprecher. Seltsam. Ich wähle die Servicenummer 1471, um herauszufinden, wer angerufen hat, doch es ist eine unterdrückte Telefonnummer. Auch gut, wer mir etwas Wichtiges mitzuteilen hat, wird sich schon wieder melden.

Bevor ich mich wieder dem Auspacken widme, kommt mir eine bessere Idee. Ich ziehe die Stadtteilzeitung aus dem kleinen Stapel Papiermüll, den ich an der Haustür abgestellt habe, und schlage die Anzeige auf, an die ich gestern gedacht habe. Der Tag der offenen Tür an der Universität Greenwich. Er findet an diesem Nachmittag statt. Ich lese sie noch einmal. Vielleicht war es ja ein Zeichen, dass sie mir aufgefallen ist. Ein glücklicher Zufall, so nennt man das doch?

Meine Epilepsie ist inzwischen unter Kontrolle, und es wird Zeit, dass ich endlich etwas aus meinem Leben mache. Vielleicht könnte ich eines Tages sogar promovieren. Dann gäbe es zwei Doktoren in diesem Haus. Ich lächle. Wie immer schieße ich gleich übers Ziel hinaus. Aber ich werde definitiv hingehen und mir die Universität anschauen. Es tut gut, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als die Vergangenheit. Es tut gut, einen Plan zu haben.

6

Ich bin schon oft mit dem Bus durch Greenwich gefahren und habe mich am Anblick der eleganten Quadrantengebäude und Kolonnaden des Old Royal Naval College erfreut, aber als ich jetzt tatsächlich über den Campus spaziere, kann ich die Vorstellung, hier zu studieren, nicht mehr abschütteln. Manchmal entwickle ich starke Gefühle für einen Ort. Eine Art Seelenverwandtschaft. Als wüsste ich ohne jeden Zweifel, dass ich an diesen Ort zurückkehren werde oder dass er eine besondere Bedeutung für mich haben wird. Diese prachtvolle Barockarchitektur, die beeindruckende Geschichte. Allein schon hier zu sein ist inspirierend.

»Kein Wunder, dass hier so viele Filme gedreht werden«, sagt das junge Mädchen, das neben mir geht. Wir haben uns vorhin erst bei einem Croissant und einem Kaffee in dem Café unter den Kolonnaden der Kapelle im Queen Mary Court kennengelernt.

»Ja, es fühlt sich an, als würde Johnny Depp jeden Moment in vollem Captain-Jack-Kostüm hinter einer dieser Säulen hervorspringen.«

Ich bin beeindruckt, wie ungezwungen wir ins Gespräch gekommen sind. Wie schnell wir einen Draht zueinander gefunden haben. Es war die richtige Entscheidung, heute hierherzukommen. Ich habe einen ganzen Stapel an Informationsbroschüren bei mir und seit meinem Gespräch mit dem Tutor vorhin definitiv auch den Eindruck, dass ich mit meinen Abiturnoten und als reifere Studentin – wie das klingt, reifer, als wäre ich ein alter Camembert – eine gute Chance auf einen Studienplatz habe. Und noch besser, als Teilzeitstudentin könnte ich mich sogar direkt bewerben und mir das ganze Theater mit der Vergabestelle für Studienplätze sparen.