Das Gesetz des Ausgleichs - Johannes Huber - E-Book

Das Gesetz des Ausgleichs E-Book

Johannes Huber

0,0

  • Herausgeber: edition a
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Faszinierende neue Studien aus der Medizin und der Biologie belegen: Gut zu sein in einem tieferen Sinn ist die beste Therapie gegen innere Leere, Antriebslosigkeit und Depression. Es hält jung und gesund. Andersherum rächen sich böse Taten nicht erst im nächsten Leben. Sie haben physische und psychische Folgen. Doch wie erschließen wir diese Kraftquelle für uns? Wie werden wir zu den guten Menschen, für die wir uns vielleicht schon halten? Und was heißt es eigentlich, gut zu sein? Der Arzt und Theologe Prof. DDr. Johannes Huber gibt eine überraschend einfache Anleitung für ein erfülltes Leben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 326

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Johannes Huber:Das Gesetz des Ausgleichs

Alle Rechte vorbehalten© 2020 edition a, Wienwww.edition-a.at

Cover und Gestaltung: Isabella Starowicz

ISBN Druckversion 978-3-99001-425-7

ISBN E-Book 978-3-99001-426-4

E-Book-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

INHALT

TEIL 1Wie wir bessere Menschen werden

TEIL 2Gut sein lohnt sich

TEIL 3Die Anatomie der Ethik

EPILOGDer Kardinal, der Kanzler und das ewige Leben

NACHWORT VON PETER SLOTERDIJKVon der Unwahrscheinlichkeit des Menschen

»Das Leben ist wie ein Fahrrad.Man muss sich vorwärtsbewegen, umdas Gleichgewicht nicht zu verlieren.«

Albert Einstein am 5. Februar 1930in einem Brief an seinen Sohn Eduard

Was Sie erwartet

Anfang der 2000er-Jahre, also vor bald zwei Jahrzehnten, griff mich ein Weihbischof der katholischen Kirche in einem Leserbrief an die österreichische Tageszeitung Die Presse an. Er verschwieg zwar meinen Namen, doch er sprach vom »Vorsitzenden einer Ethikkommission«, womit klar war, wen er meinte.

Ethikkommissionen kümmern sich darum, dass angewandte Forschungen am Menschen ethisch sauber sind. Die Kommission, die ich leitete, hatte das österreichische Bundeskanzleramt ins Leben gerufen. Sie hatte sich zu diesem Zeitpunkt mit einem brisanten und dementsprechend polarisierenden Thema zu befassen. Es ging um künstliche Befruchtung, die In-vitro-Fertilisation (IVF), die heute fast schon Routine in der Familienplanung beziehungsweise in der Reproduktionsmedizin ist, damals aber noch völlig neu war. 1978 war in England das erste Retortenkind zur Welt gekommen, 1982 dann das erste in Österreich. Die wichtigste ethische Frage, die dabei zu diskutieren war, hatte damit zu tun, dass bei der IVF jeweils mehrere Eizellen befruchtet werden, aber immer nur eine oder zwei davon in den Körper der Frau implantiert werden. Die übrigen starben damals meist von selbst ab. War das nach ethischen Gesichtspunkten vertretbar?

Eine Frage, mit der nicht nur wir uns befassten. Auf internationaler Ebene tat das zum Beispiel das renommierte Kennedy Institute of Ethics. Der dort in die Diskussion involvierte Professor John Harvey, Leibarzt der Kennedy-Familie, lud mich mehrmals nach Amerika ein. Auch hier kreisten alle Gespräche sehr ernsthaft um die zentrale Überlegung, wie dieser Aspekt der IVF ethisch und juristisch zu handhaben sei.

Ich befürwortete die IVF grundsätzlich. Als Reproduktionsmediziner kannte ich den sehnlichen und oft auf traurige Weise unerfüllten Wunsch von Frauen und Männern nach Kindern. Ich sah hier eine Chance, Leben zu schaffen und Familien zu gründen. Dafür nannte mich der Weihbischof einen »Abtreiber«, der »dem ewigen Gericht nicht entgehen« werde.

Mich traf das umso härter, als ich mich der katholischen Kirche, ihren ethischen und spirituellen Konzepten, ihren Traditionen und ihrem gesamten Apparat verbunden fühlte. Ich hatte als Schüler ein katholisches Internat besucht und mich dort gut aufgehoben gefühlt. Später studierte ich neben Medizin auch Theologie und war einige Jahre lang Sekretär des Wiener Kardinals König gewesen, eine Zeit, die mich als junger Mensch prägte wie keine andere.

Ich wollte den Angriff zunächst ignorieren, doch das ging nicht. Der Weihbischof hatte damit eine Welle der Aggression ausgelöst, und er schürte sie weiter.

Ich war irritiert und fand, dass sich ein Gericht mit dem Weihbischof befassen solle, und zwar nicht nur das von ihm ins Spiel gebrachte ewige, sondern zunächst einmal ein weltliches. Ich wandte mich an einen Anwalt, der für mich eine Klage gegen den Weihbischof samt Antrag auf Unterlassung sowie eine einstweilige Verfügung einbrachte.

Es folgte ein langwieriges juristisches Hin und Her. Die Materie war auch für die Gerichte neu und wurde teils recht emotional betrachtet. Zunächst entwickelte sich die Causa eher zu meinen Gunsten. Mit der Beharrlichkeit des Weihbischofs und seines Anwaltes dann wieder eher zu seinen, bis mir die letzte Instanz recht gab. Ich war kein Abtreiber, und weder der Weihbischof noch sonst jemand durfte mich als solchen bezeichnen. Das letzte Wort war gesprochen und mein Ruf war wiederhergestellt.

Ich rechnete nicht damit, dass der Weihbischof sich nun entschuldigte. Am ehesten rechnete ich damit, einfach nichts mehr von ihm zu hören. Doch stattdessen erhielt mein Anwalt von seinem einen Bittbrief. Sein Klient sei ein mittelloser Kirchenmann, hieß es darin sinngemäß, er könne sich die Kosten für einen Widerruf in der genannten Tageszeitung sowie die Rechtskosten, die bereits für mich angefallen waren und die er nun zu übernehmen hätte, einfach nicht leisten. Er fragte an, ob es mir möglich wäre, ihm beides zu erlassen.

Ich verzichtete auf den Kostenersatz sowie auf den Widerruf und begnügte mich mit einem neuerlichen, für den Weihbischof kostenlosen, Leserbrief in der Zeitung. Dabei handelte ich eigentlich nicht aus Großzügigkeit. Ich hatte bereits davor die Leitung der klinischen Abteilung für gynäkologische Endokrinologie am größten österreichischen Krankenhaus, dem Allgemeinen Krankenhaus in Wien, übernommen, und wollte mich darauf konzentrieren.

Zehn Jahre später besuchte ich mit einem befreundeten Arzt, Markus Metka, bei einem Ärztekongress in Rom ein Orgelkonzert in der Kirche Santa Maria dell’Anima. Als der letzte Ton der wunderbaren Musik verklungen war und das Publikum bereits aus der Kirche strömte, blieben Metka und ich noch sitzen, um das Gehörte auf uns wirken zu lassen.

Genau da bemerkte ich den Weihbischof. Wir erhoben uns, um nun ebenfalls zu gehen und ihm die für ihn vielleicht unangenehme Begegnung zu ersparen, doch er kam auf mich zu. Ich sah, dass er gezeichnet war. Er wirkte gesundheitlich angeschlagen, geschwächt und sich seiner selbst unsicher. »Du auch hier?«, sagte er überaus herzlich, während er mich zur Begrüßung nahezu in die Arme nahm.

Offensichtlich wusste er noch, dass wir uns kennen, hatte aber anscheinend vergessen, woher und was uns verband. Die Sache mit dem Leserbrief und dessen juristisches Nachspiel schien seinem Geist entfallen zu sein, doch ich war mir nicht sicher.

Nachdem wir einige ebenso freundliche wie belanglose Worte gewechselt hatten, verließen Metka und ich die Santa Maria dell’Anima, und noch heute macht mich die Sache manchmal nachdenklich.

Eigentlich war ich froh, auf den bezahlten Widerruf und auf meine Anwaltskosten verzichtet zu haben. Ich fühlte mich einfach wohler, als ich den Weihbischof wieder traf und hatte das Gefühl, das von ihm seinerzeit bemühte ewige Gericht habe nun wirklich für mich entschieden.

Dieser Moment in der Kirche schien damals zu vermitteln, dass es tatsächlich so etwas wie einen inneren Ausgleich gibt, wie ihn nicht nur Mozart in seinen Opern, die Freimaurer und die christlichen Kirchen, sondern viele spirituellen Traditionen in den Raum gestellt haben.

Vom Ausgleich, den es nach dem Tod gibt, ist schon lange die Rede. Bereits vor Jahrtausenden gingen ägyptische Denker davon aus, dass unserer Seele beim Tod abgewogen und wir nach unseren Taten beurteilt werden. Ein Gedanke, der offenbar bisher jede Evolution des menschlichen Geistes überstanden hat.

Aber selbst, wenn die Angst vor diesem letzten Gericht langsam schwindet: Bleibt ein Leben in Rücksichtslosigkeit, Unbeherrschtheit, Übermaß, Gier, Hochmut und allen möglichen anderen Sünden trotzdem unbestraft? Oder gibt es so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit auch schon im Diesseits? Und wenn ja, warum und wodurch?

Kann es sein, fragte ich mich, dass das »ewige Gericht« von der ewigen Verfassung der Natur, der wir alle unterworfen sind, stattfindet? Dass uns also böse Taten physisch, psychisch oder materiell letztendlich selbst schaden, uns schwächen? Kann es sein, dass das Bibelzitat »Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan«1 so etwas wie einer medizinischen Logik folgt? Und dass für gute Taten das Umgekehrte gilt? Dass sie am Ende uns selbst nützen und uns stärken?

Es sind wohl Fragen, die sich viele Menschen so oder so ähnlich stellen, besonders dann, wenn ihnen gerade andere übel mitspielen, und das passiert uns allen manchmal im Leben. Viele Menschen spüren, dass es eine ausgleichende Gerechtigkeit geben könnte, auch wenn sie es vielleicht nicht richtig zu hoffen und schon gar nicht laut auszusprechen wagen. Vielleicht hat sich deshalb ein Zitat des Konfuzius auch in Europa im Volksmund verbreitet: »Setze dich an einen Fluss und warte, bis die Leiche deines Feindes vorbeischwimmt.« Was intendiert, dass das, der oder die Böse einer irdischen Strafe zugeführt wird, und letztlich auch, dass das, der oder die Gute irdischen Lohn empfängt.

Ich hatte das Privileg, diese von viel emotionalem, religiösem und esoterischem Wirrwarr überschatteten Fragen lang zu betrachten und aufgrund vieler Informationen zu beleuchten. Ich tat es als Arzt und mithilfe jeweils aktueller naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse.

Gerade in den vergangenen Jahren, in denen sich die Medizin mit neuen Disziplinen wie der Epigenetik oder der Psychoneuroendokrinologie über die Grenzen des mechanistischen Menschenbildes hinauszuwagen begann, fand ich bei der Lektüre neuer Fachbeiträge sowie bei der eigenen ärztlichen Tätigkeit Hinweise auf mögliche Antworten, die sich allmählich zu einem Gesamtbild formten. Von diesem Gesamtbild handelt dieses Buch.

Kurz gesagt werden Sie darin lesen, warum es sich auszahlt, ein guter Mensch zu sein. Sie werden dies mit einer gewissen Befriedigung und vielleicht auch mit einem gewissen Effekt der Entspannung lesen, denn es enthebt Sie dem vermeintlichen Zwang, auf Aggression mit Aggression oder womöglich auf Böses mit Bösem zu reagieren.

Ihr Leben wird schöner davon werden, wenn Sie aus pragmatischen, naturwissenschaftlich unterlegbaren Gründen auf die genannte Verfassung der Natur zu vertrauen lernen, und darauf, dass sie das Gute auf Dauer unterstützt und dem Bösen auf Dauer den Boden entzieht. Vielleicht werden Sie jene, die Ihnen bewusst übel mitspielen, die Sie bewusst unfair und ungerecht behandeln, in Zukunft sogar ein wenig bedauern. Weil sie nicht wissen, was sie sich damit selbst antun.

Und vielleicht werden Sie sich auch Sorgen machen. Weil Sie sich fragen müssen: Bin ich selbst wirklich gut? Oder fällt mir eines Tages auch unerwartet etwas auf den Kopf, weil ich irgendwann einmal leichtfertig und gedankenlos »böse« war? Wer kann schon von sich sagen, immer und in jeder Situation ein »guter« Mensch zu sein? Wer kann von sich sagen, dass er sich in seinem Gutsein niemals von »bösen« Emotionen wie Zorn, Aggression und vielleicht auch Hochmut kompromittieren lässt? Und ist es nicht schon ein Akt des Hochmutes, wenn wir die Grenze zwischen Gut und Böse so ziehen, dass wir eindeutig bei den Guten sind? Weil es im Grunde jeden Tag eine Herausforderung ist, zu den Guten in einem tieferen, von der Stimme unseres Gewissens bestimmten Sinn zu gehören?

Damit Sie sich diese Sorgen beim Lesen nicht machen müssen, zeigt das Folgende, wie wir gute Menschen sein können. Ich beziehe mich dabei auch auf den großen Psychoanalytiker, Philosophen und Sozialpsychologen Erich Fromm, mit dem ich in jungen Jahren im Rahmen eines Buchprojektes zusammenarbeiten durfte. Fromm sagte, das Sein müsse anstelle des Habens in den Vordergrund unseres Lebens treten, wenn wir dessen Sinn gerecht werden wollen.

»Sein« bedeutet allerdings nicht, im Sinne der modern gewordenen Work-Life-Balance mehr zu »chillen« und mit möglichst geringem Aufwand ein möglichst bequemes Leben zu führen. »Sein« kann, wenn wir unser Leben aus philosophischer Perspektive betrachten, nur bedeuten, dass wir diesen Planeten als das anerkennen, was er ist: einer der Askese, einer der Übung also. Er ist dazu da, uns weiterzuentwickeln, auf eine höhere Ebene zu gelangen, uns also darin zu üben, bessere Menschen zu werden.

Doch wie tun wir das? Das soll dieses Buch zeigen. Ich kann vorausschicken, dass es weniger komplex ist, als es jetzt scheinen mag. Denn genau wie wir Trainingsprogramme für den Körper und für den Geist erstellen können, können wir auch welche für die Seele erstellen, bloß haben wir es nie getan, weil wir viel eher an einem fitten Körper und an einem fitten Geist gemessen werden als an einer fitten Seele.

Doch das könnte sich bald ändern. Denn die Corona-Krise und der Klimawandel zeigen, dass wir die großen Aufgaben, die vor uns liegen, als Menschheit nur lösen können, wenn wir »gut« sind, gut zu unseren Mitmenschen, gut zu den anderen Wesen, die diesen Planeten bevölkern und gut zum Planeten selbst. Weshalb im genannten tieferen Sinn gut zu sein vielleicht künftig auch einen höheren sozialen Stellenwert erhalten wird. Womit der Verfassung der Natur wieder die Bedeutung zukäme, die ihr zusteht. Zusätzlich können wir die Vorteile, die uns das Gutsein selbst bringt, am ehesten dann lukrieren, wenn wir unser Gutsein regelmäßig trainieren.

Welche Vorteile das genau sind, beziehungsweise auch, welche Nachteile Sie sich im Diesseits einhandeln, wenn Sie sich auf den Deal mit der Strafe erst im Jenseits einlassen, lesen Sie im zweiten Teil. Darin erfahren Sie, was Sie durch Gutsein alles für sich gewinnen und welche scheinbar schicksalhaften Unbilden im Leben Sie vermeiden können, wenn Sie sich an den Fünf-Punkte-Trainingsplan für Ihre Seele halten.

Der dritte Teil überlegt mit Ihnen, dass Sie mit Ihrem Versuch, gut zu sein, keineswegs nur pragmatische Vorteile lukrieren. Er versucht aufzuzeigen, warum Sie sich damit zum Teil eines größeren Ganzen machen, zum Teil jenes Himmel und Erde umspannenden komplexen Systems, das uns als holistische Wesen in der Form, die wir gerade einnehmen, hervorgebracht hat, und in dem wir eines Tages in neuer Form wieder aufgehen könnten. Dieser abschließende dritte Teil soll auch beschreiben, was Ethik eigentlich ist, woher sie kommt, wieso wir Menschen als einzige Wesen auf diesem Planeten Zugang dazu haben, und wozu wir sie weit über die Organisation unseres irdischen persönlichen Lebens und unseres irdischen Miteinanders hinaus vielleicht eines Tages brauchen.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre!

Johannes Huber, September 2020

TEIL 1

WIE WIR BESSERE MENSCHEN WERDEN

Die amerikanische Forscherin Laurie Santos begeisterte Millionen Menschen mit ihrem Online-Kurs über das Wesen des Wohlbehagens. Der Psychologieprofessorin der Yale University in Connecticut war aufgefallen, dass Studenten immer häufiger Angstzustände und Depressionen mit in den Hörsaal brachten. Bleiche Gesichter, fahrige Blicke, nervöse Hände. Es herrschte eine innere Unruhe, ein Gefühl der Unrast. Viele konnten sich kaum konzentrieren, waren nicht motiviert und schnell überfordert.

Vor zwei Jahren stellte Santos das Seminar Die Wissenschaft des Wohlbefindens ins Vorlesungsverzeichnis und wurde von Studierenden auf der Suche nach Zufriedenheit und Glück elektronisch überrannt. Knapp 26 Millionen Mal riefen sie den Kurs auf. Die Geheimnisse des Innenlebens und vor allem der Weg zu innerer Ausgeglichenheit weckten mehr Neugier als jede andere Vorlesung am Campus. »Wir haben hier Handlungsbedarf«, resümierte Laurie Santos.2

Die Wissenschaftlerin erfand das Rad nicht neu, sie riet zu relativ einfachen Dingen. In den Mittelpunkt stellte sie allerdings etwas, das auf den ersten Blick so gar nicht in unsere Zeit zu passen scheint, in der Ellbogenmentalität, Selbstdarstellung und Egozentrik auf allen Ebenen dominieren: Wer etwas Gutes für andere tut, fühlt sich auch selbst besser. Wir kennen das von den Pfadfindern. Jeden Tag eine gute Tat, und die Seele jubelt.

Das Ganze hat einen relativ einfachen menschheitsgeschichtlichen Hintergrund. Die Evolution belohnt Verhaltensweisen, die das Überleben der Spezies sichern, zum Beispiel mit Ausschüttungen des Glückshormons Dopamin. Füreinander da zu sein, gehört zu diesen Verhaltensweisen, weil der vergleichsweise schwache Mensch Herausforderungen wie Säbelzahntiger oder andere Unbilden der Urzeit nur gemeinsam meistern konnte.

Füreinander da zu sein, wiegt uns deshalb in einem Gefühl von Schutz, Geborgenheit und Sicherheit. Es lässt uns besser schlafen und senkt zum Beispiel den Spiegel des Stresshormons Cortisol in unserem Blut, mit allen damit verbundenen positiven Folgen für unsere Gesundheit. Egoisten hingegen suchen mit ihrer Scheuklappenmentalität das Glück eher, als dass sie es finden.

Laurie Santos’ Ruf nach mehr Mitmenschlichkeit als Mittel zur seelischen und letztlich auch zur körperlichen Selbsttherapie war über Kontinente hinweg zu hören, wohl auch im asiatischen Staat Bhutan. Denn bereits im Jahr 1979 ging in Bhutan aus einer 200 Jahre alten Vorgeschichte der Begriff Bruttonationalglück hervor, international bekannt als Gross National Happiness. Bhutan definierte damit den Lebensstandard in breiter, humanistischer und psychologischer Weise und stellt dem herkömmlichen Bruttonationaleinkommen, in dem es nur um Geldflüsse geht, einen ganzheitlichen Wert gegenüber.3

Eine Staatskommission ermittelt diesen Wert regelmäßig. Wie geht es der Bevölkerung? Was bewegt die Menschen? Was beschäftigt sie? Was erfreut sie. Was macht sie trübselig? Was geht ihnen zu Herzen oder auf die Nerven?

So ein Barometer der inneren Ausgeglichenheit wäre überall auf der Welt wünschenswert. Nicht nur, um das individuelle Glück der Menschen zu mehren. In einer Welt, in der Glück einen politischen Stellenwert hat, wird aus den genannten einfachen evolutionsgeschichtlichen Gründen auch das Füreinander-da-Sein als Voraussetzung dafür unverzichtbar.

Anders ausgedrückt: Ein Staat, der seine Bürger glücklich machen will, zeigt ihnen, dass sie besser gute Menschen sind. Wenn in einem Staat viele Menschen füreinander da sind, löst das fundamentale gesellschaftliche Probleme, die mit dem Narzissmus und der Vereinzelung einhergehen.

Der Ruf nach Glück, Anstand und Moral war auch schon vor Laurie Santos’ erstaunlich erfolgreicher Initiative massentauglich, doch nicht immer ist er wie bei ihr von Wahrhaftigkeit getragen. Haltung, Ethik, Menschlichkeit. Die Schlagwörter tauchen heute in Gesprächen schnell einmal auf, doch das Gutsein in einem tiefen, evolutionären und spirituellen Sinn musste dabei vielfach dem »Gutmensch-Sein« weichen, das politisch meist linke Gruppen zu einem Dogma erhoben. Mit Verhaltensvorgaben, die teilweise nicht als wesentlich erlebbar sind, aber dennoch durch den digitalen Pranger geahndet werden, was zu einer Art modernem Tugendterror führte.

Gut zu sein, darauf sollten wir uns an dieser Stelle einigen, darf kein Trend sein, mit dem sich bestimmte Gruppen schmücken. Es muss aus uns selbst kommen. Als Entscheidung. Aus Überzeugung.

»Moralische Vollendung ist nicht länger das Privileg einiger weniger Asketen und Altruisten«, beklagte in diesem Zusammenhang der deutsche Publizist und Philosoph Alexander Grau. »Moralischer Kitsch macht Moral zum Massengut. Jeder kann hochmoralisch sein, zu jeder Zeit. Es reicht aus, einfach die richtigen Phrasen abzusondern. Man muss nur für Frieden sein, für Toleranz und natürlich Haltung zeigen. Das alles kostet nichts, gibt aber ein gutes Gefühl und entlastet von Reflexion.«

Grau fand mit leiser Ironie, dass wir aufpassen sollten, keinen moralischen Kitsch zu erzeugen, nur um vor uns selbst oder in einer Blase Gleichgesinnter gut dazustehen. Rechtschaffenheit ist kein Gütesiegel, das sich jemand anheftet wie ein Autokennzeichen oder ein Namensschild. Sie ist vielmehr ein Gut, das wachsen und in uns reifen muss und so etwas wie Seelen-Selbst-Erforschung voraussetzt, für die wir uns bewusst entscheiden müssen. Denn nur Erkenntnisse machen uns weiser und bilden eine Richtschnur, die uns auch besser macht.4

Der österreichische Schriftsteller und Journalist Robert Misik konterte Alexander Grau mit einem philosophischen Gedanken, der Hoffnung macht. »Der Mensch ist ein veränderbares Tier«, lautet er. Menschen ändern sich wie die Figuren in einem Videospiel, die neue Kräfte bekommen oder Lebenspunkte verlieren, wenn sie falsch agieren, und ihr Tun wirkt immer auf sie und auf die Welt zurück.

Wir können etwas ändern, wenn wir wollen, und unser Wirken nach einem moralischen Kompass ausrichten. Allerdings reicht es dabei nicht, Worthülsen wiederzugeben, Sprachregelungen zu befolgen und Empörungsreflexe zu zeigen, die vom modernen Gutmenschen-Dogma bestimmt sind. Wir fühlen es selbst: Das wäre zu einfach.5

Wenn wir wirklich bessere Menschen werden wollen, mit allen Vorteilen, die das zum Beispiel in Laurie Santos’ Sinne haben, müssen wir in uns gehen und es so machen wie die Wiener Philharmoniker, die ihren festen Sitz im unweit von meiner Wiener Ordination gelegenen Goldenen Saal des Musikvereins haben: Wir müssen üben, üben, üben.

Nach dem Untergang des Römischen Reiches war das Üben als massentaugliche menschliche Erfolgsstrategie 1.500 Jahre lang weitgehend vergessen. Erst um 1900 entdeckten wir es wieder, dank des Pädagogen und Sportfunktionärs Pierre de Coubertin, der Muskelübungen empfahl.6 Körperliche Übungen und deren sinnvolle Effekte sind selbstverständlich für uns. Im Jahr 2019 waren rund 11,7 Millionen Menschen in einem der fast 10.000 deutschen Fitnessklubs aktiv.7 In Österreich gibt es mehr als 1.200 Studios mit mehr als einer Million Mitglieder.8

Dass sich auch unser Gutsein, also unser Charakter, durch Übung stärken lässt, hat sich weit weniger gut durchgesetzt. Dies, obwohl prominente Akteure der deutschen Geistesgeschichte das regelmäßig betonten. Rudolf Steiner oder etwa Friedrich Nietzsche taten es mit ganz ähnlicher Intention. Wir müssen den Menschen dazu bringen, gut zu sein, denn nur so kann er über sich hinauswachsen, glaubten sie.

Mario Schönhart, Herausgeber des Buches Spiel mit der Wirklichkeit: Zum Erfahrungsbegriff in den Naturwissenschaften bezeichnete eine dementsprechende Initiative des Philosophen Peter Sloterdijk als »alternative Athletik«, die an die Stelle eines »Sklavenaufstandes in der Moral« trete.

Diesen Gedanken, der sich auch innerlich schon viel eher nachvollziehen lässt als das Gutmenschen-Dogma mit dem Tugendterror, ist allerdings kein globaler. Er ist vor allem ein europäischer, vielleicht auch einer der westlichen Welt, dem allerdings die Version Chinas zum Gutsein gegenübersteht.

Der Zwang zum Gutsein

Uns Europäern gesteht unser Weltbild die einmalige Chance zu, Emotionen zügeln zu lernen, weniger durch äußeren Zwang als aus innerer Überzeugung. Wir können sozusagen aus freien Stücken von Henkern zu Denkern wachsen. Wir können uns, ausgehend von dem, was wir bei unserer Geburt und unserer Sozialisierung mitbekommen haben, selbst weiter sozialisieren und damit unseren Charakter individuell bilden.

In China funktioniert das anders. China hat ein System geschaffen, das den äußeren Zwang kultiviert. Sei es durch den Staatsapparat, sei es durch die Unerbittlichkeit des Internets und der digitalen Überwachungsmöglichkeiten.9

So läuft, während ich das hier schreibe, seit zwei Wochen in China die sogenannte Leerer-Teller-Kampagne, und wir Europäer können nur staunen, wie rasch es ihr offenbar gelingt, neue Verhaltensstandards zu setzen. Staatschef Xi Jinping hatte die Lebensmittelverschwendung im Lande (sicher nicht zu Unrecht) als schockierend bezeichnet und einen sparsameren Umgang mit dem Essen angemahnt. »Sorgt für ein gesellschaftliches Klima, in dem Verschwendung als beschämend gilt und Sparsamkeit als lobenswert«, sagte er.

In vielen Restaurants, in denen es bis dahin als Zeichen der Gastfreundschaft und der Großzügigkeit galt, viel mehr zu bestellen, als die Eingeladenen essen können, ist jetzt die »N-1«-Regel in Kraft. Für sechs Gäste dürfen höchstens fünf Gerichte bestellt werden. Eine Kellnerin wird als »Essensverschwendungsaufseherin« abgestellt, die sicherstellt, dass an keinem Tisch etwas übrig bleibt.

Manche Gaststätten beurteilen ihr Bedienungspersonal schon danach, ob sie es schaffen, Gästen von zu großen Bestellungen abzuraten. Andere bestrafen gleich die Gäste selbst, wenn sie nicht aufgegessen haben. Einen besonders innovativen Ansatz entwickelte dabei ein Restaurant in Changsha, das seine Kunden ermunterte, sich vor der Essensbestellung zu wiegen. Das Gewicht wurde in eine spezielle App eingespeist, die den Kunden dann eine individuell angepasste Bestellempfehlung aussprach. Nach einem Shitstorm sah sich das Restaurant allerdings veranlasst, die Waagen wieder beiseitezuschaffen.

Das Servicepersonal der Hochgeschwindigkeitszüge gibt inzwischen kleinere Portionen aus, zum selben Preis allerdings. Sogenannte »Mukbang«-Videos, eine aus Südkorea importierte, rätselhaft populäre Mode, die einsame Esser beim Vertilgen unfassbarer Fleischmengen zeigen, wurden verboten. Stattdessen sind jetzt einige der Protagonisten solcher Videos dabei zu beobachten, wie sie sich mit betont bescheidenen Menüs begnügen.

Die Kampagne schuf auch einen neuen Online-Trend bei Essens-Postings. Die Fotos zeigen nicht nur wie bisher das Essen selbst, sondern auch die leeren Teller danach.

Das der Kampagne zugrunde liegende Problem ist real. Die chinesische Sektion des WWF schätzt, dass in China 17 bis 18 Millionen Tonnen Lebensmittel jährlich weggeworfen werden. 38 Prozent des in Restaurants bestellten Essens wird entsorgt. Trotzdem macht die kollektive Erinnerung an die Zeiten Mao Zedongs, als Sparsamkeitskampagnen häufig waren und oft mit Hungersnöten einhergingen, manche Chinesen auch misstrauisch. Andere sehen die Kampagne im Zusammenhang mit Staatschef Xi Jinpings Programm, China inmitten von Handelskrieg, Corona und Flutkatastrophen autarker zu machen. Selbst beim »leeren Teller«, schrieb die Parteizeitung Renmin Ribao, gehe es letztlich um die Staatssicherheit.10

Das ist eben der große kulturelle Unterschied zwischen beiden Kontinenten: In Europa können wir unser individuelles moralisches Korsett entwickeln und freiwillig gute Menschen sein (und damit in Steiners und Nietzsches Sinn über uns hinauswachsen), die Chinesen müssen bloß staatliche Regeln befolgen, um als gut zu gelten. Für kleinste Fehler wie das Überschreiten einer Straße bei Rot bekommen sie soziale Strafpunkte, die sie klassifizieren. Wer keine oder wenige Strafpunkte hat, steht in der sozialen Hierarchie weit oben und gewinnt. Wer viele hat, stürzt ab und verliert.11

Die chinesische Variante von Amazon heißt Alibaba und zählt zu den zehn erfolgreichsten Unternehmen der Welt. Alibaba verkauft nicht nur Güter, sondern übt auch einen unsichtbaren Zwang aus, der dem Staat helfen soll, die Menschen zu erziehen. Es ist wie bei der Dressur eines Hundes.

Die entscheidenden Projekte dabei heißen Himmelsnetz und Adleraugen. Die schönen Worte bezeichnen ein lückenloses Überwachungssystem durch sechshundert Millionen intelligente Kameras. Diese Augen spähen 24 Stunden durch die Straßen und Gassen, sie erkennen Gesichter und errechnen Wege, speichern Gewohnheiten und melden Verfehlungen aller Art. Die Chinesen müssen sich benehmen, und es ist keine Frage ihres freien Willens, gut zu sein oder besser zu werden. Der Staat regelt das mit elektronischer Präzision und kompromissloser Härte.

Alibaba hat dabei in Kooperation mit der Regierung einen smarten Dienst in die Welt gesetzt: Sesame Credit. Der Handelsriese verleiht Geld und das System überwacht, wie verlässlich die Kreditnehmer eingegangenen Verpflichtungen nachkommen. Wieder gibt es Gut-oder Schlechtpunkte und gleichzeitig prüft Sesame Credit im Hintergrund die Vertrauenswürdigkeit aller Kunden. Wohnt sie oder er allein oder mit Familie? Wie oft wechselt jemand die Adresse? Aus solchen Daten generiert Sesame Credit dann Urteile darüber, ob jemand vertrauenswürdig oder etwa unstet ist.

Dazu kommen Detailfragen und Analysen. Was kauft jemand? Windeln? Hervorragend, ein Hausmann oder eine Hausfrau. Gut. Videospiele? Verdächtig. Schlecht. Alkohol? Alles klar. Tabletten in der Online-Apotheke? Welche denn? Kauft er Bücher? Romane oder politische Bücher? Streamt er amerikanische Serien? Ist jemand Romantiker? Kauft er oder sie Blumen, Parfüms, Gutscheine oder Schmuck? Schaut er oder sie Pornos? Inwieweit sind über jemanden ausreichend Daten vorhanden, und wenn nicht, warum nicht? Was hat er oder sie zu verbergen? Nimmt dieser Mensch die Annehmlichkeiten der Digitalisierung an oder weigert er sich, elektronisch zu kooperieren? Was macht er beruflich? Schreibt er einen Blog? Ist er öffentlich präsent? Übt er womöglich Systemkritik? Oder treibt jemand aus seiner Familie oder aus seinem Freundeskreis etwas, das verdächtig sein könnte?

Ob damit gute Menschen oder nur gehorsame erzeugt werden, ist allerdings fraglich. Denn Gewalttaten sind in China, wie neueste Zahlen zeigen, keine Seltenheit. So etwa ist dort Gewalt gegen Ärzte ein verbreitetes Problem, für das es sogar einen eigenen Begriff gibt: Yinao. Zu den Ursachen zählen mangelndes Vertrauen in das Gesundheitssystem, die Annahme, ein verstorbener Angehöriger sei nicht gut genug versorgt worden, aber teils auch der Versuch, Entschädigungszahlungen zu erpressen.12

Das ist der zentrale ethische Unterschied zwischen Europa und China. Gut sein gemäß einer eigenen besseren Vision von sich selbst und durch eigene Erkenntnis versus gut sein nach einem staatlichen Muster mit staatlichem Zwang.

Was funktioniert besser? Was lässt mehr Menschen über sich hinauswachsen? Was macht die Individuen und den Staat, den sie bilden, stärker? Was davon führt im besten Fall zu nachhaltiger Stärke und was nur zu hohler Dominanz? Wir werden alle noch erleben, wie sich der Wettbewerb zwischen dem europäischen und dem chinesischen Weltbild weiterentwickeln wird.

Der dringende Bedarf an besseren Menschen

Europa war immer überzeugt, dass der Mensch aus freien Stücken ein Athlet im Gutsein werden kann. »Du musst dein Leben ändern«, das war bereits vor Jahrzehnten das ethische Postulat des bereits genannten Philosophen Peter Sloterdijk, der damit den Schlussvers des 1908 in Paris entstandenen Sonetts Rainer Maria Rilkes Archaischer Torso Apollos zitierte.13 Die Übung darin brauchen wir heute wahrscheinlich mehr denn je. Wir müssen uns im Füreinander-da-Sein üben, im Zusammenhalten, im Kooperieren, in der Loyalität und Treue und in der Bescheidenheit, und all das nicht nur in Bezug auf alle anderen Menschen auf diesem Planeten, sondern auch in Bezug auf die Umwelt. Sonst werden unsere Ökosysteme, die Kultur und unserer gesamten Erde kollabieren und danach wird nichts mehr so sein, wie es bisher war. Der Klimawandel und die COVID-19-Pandemie sind Alarmsirenen, die an Lautstärke nicht mehr zu überbieten sind. Peter Sloterdijk fasste das so zusammen: »Es geht hier um eine Entwicklung, für die ich vor einigen Jahren einmal den Ausdruck »Ko-Immunität« vorgeschlagen habe. Auch wenn wir also keine geborenen Naturschützer sind, so sollten wir doch so klug sein, uns noch für eine Weile als Überlebensanwärter auf diesem durch das Weltall rasenden Planeten zu sehen.«14

Dennoch verschließen wir die Ohren. Wir üben uns in allem, nur nicht in uns selbst. Doch genau darauf käme es an. Wir kommen auch so, wie wir sind, durchs Leben, denken wir. Diesen Stress brauchen wir nicht auch noch, bei allem anderen, was wir so zu tun haben. Wir mögen es nicht, dieses Üben unseres Charakters. Es klingt ein wenig nach Bibelstunde und anderen Dingen, die uns auf freudlose Weise gefangen halten.

Der amerikanischen Forscherin Laurie Santos ist es geglückt, zu demonstrieren, wie falsch diese Einschätzung ist. Es ist ihr gelungen, zu zeigen, dass wir gerade damit der Knechtschaft der Einsamkeit, des Unglücks, der Depression oder einfach des in unserer ganzen Welt um sich greifenden Hohlgefühls entkommen können. Es ist ihr auch gelungen, zu zeigen, dass wir genau damit zurückfinden zu Glück, Freude, Gemeinschaft, Kraft und Motivation. Charakterfitness ist der goldene Schlüssel für ein gutes Leben und darüber hinaus, wie dieses Buch noch zeigen wird, auch so etwas wie ein goldener Schlüssel zur Ewigkeit.

Wenn Millionen Menschen täglich auf Laufbändern rennen und Gewichte stemmen, um ihren Körper zu trainieren, müsste so etwas doch auch für den Geist möglich sein. Klimmzüge für eine bessere Gesinnung sozusagen. Liegestütze für den Frohsinn und ein Ergometer für die inneren Werte. Warum gibt es das nicht, ein Trainingsprogramm für den Charakter, das womöglich auch noch Spaß macht und aufregend ist, wenn die Effekte davon unser Leben und vielleicht auch alles, was nach dem Leben kommt, so viel besser macht?

Es ist nicht so, dass es ein solches Trainingsprogramm ganz und gar fehlt. Uralte spirituelle Traditionen kennen einige derartige »Fitnessgeräte«, und die Naturwissenschaften kennen zumindest einige Bestandteile solcher Geräte, die wir nur zusammenbauen müssen.

Bei den spirituellen Traditionen wären sowohl christliche Kirchen wie auch Freimaurer hervorzuheben, die immer überzeugt waren, dass die ständige Arbeit an uns selbst zu Selbsterkenntnis und einem menschlicheren Verhalten führt. Für Letztere geht es deshalb darum, ihre fünf Grundideale Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität im Alltag praktisch einzuüben.

Bei den Naturwissenschaften wären die Epigenetik, oder die Endokrinologie, die Wissenschaft von den Hormondrüsen, hervorzuheben, die gezeigt haben, dass wir kraft unseres Willens, bessere Menschen zu werden, sogar unsere Bio- und Neurochemie ändern können (siehe auch Teil 3). Wir haben bloß, abgelenkt vom Konsumieren und vom Strampeln in unseren Hamsterrädern, diese Geräte entweder schon lange nicht mehr abgestaubt oder sie noch nicht zusammengebaut. Beides will ich in dem Bereich, der sich mir als Arzt und Theologe aufdrängt, nachholen. Und zwar anhand von fünf ganz einfachen Dingen, von denen wir alle schon gehört haben, die teilweise altmodisch geworden sind und die wir nur mit neuen Augen betrachten müssen. Willkommen auf einem kleinen Fitness-Parcours der Seele mit seinem Fitness-Code.

Charakterfitness-Trainingsstufe eins:

Gut werden im Schlaf

Um gute Menschen sein zu können, müssen wir unser Gehirn von den Spuren von Stress und negativen Gedanken wie Ängsten, Sorgen und Wut reinigen. Diese Spuren haben biochemischen Charakter und die Evolution hat uns ein Mittel zur Verfügung gestellt, sie zu beseitigen: den Schlaf. Was genau dabei passiert, entdeckte die Wissenschaft erst 2012 in Form des sogenannten glymphatischen Systems. Halten wir uns bei unseren Entscheidungen konsequent an dessen von der Natur vorgegebenen Regeln, setzen wir einen Kreislauf in Gang, der uns ganz von selbst zu besseren Menschen macht.15

Die Evolution hat uns mit einer Anlage zur Reinigung unseres Gehirns von den Spuren unserer schlechten Gedanken beschenkt. Die Naturwissenschaft entdeckte sie im Jahr 2012, also vor relativ einigen Jahren, und nannte sie »das glymphatische System«. Diese Anlage sorgt dafür, dass sich die Gehirnzellen nachts ein wenig zusammenziehen und zwischen den Zellen Freiräume entstehen, die wir uns als winzige Autobahnen vorstellen können. Als Autobahnen, auf denen noch winzigere Müllwägen die Abfälle abtransportieren, die während eines langen Tages in einem Gehirn so anfallen, in Form von biochemischen Spuren von Stress, von Sorgen und Ängsten, aber auch von Wut und Hass.

Das glymphatische System sammelt diese Rückstände und entsorgt sie wie eine fantastisch organisierte Müllabfuhr. Ganz von selbst, Nacht für Nacht. Wir müssen uns dazu nur hinlegen und schlafen, idealerweise vor Mitternacht, weil dann die Müllabfuhr am effizientesten funktioniert. Für die Entdeckung und jahrelange Untersuchung dieser medizinischen Frohbotschaft könnte die Forscherin Maiken Nedergaard, die in Rochester und Kopenhagen wirkt, schon bald den Nobelpreis bekommen.

Das glymphatische System hat zwei wunderbare Vorteile. Es steht uns allen jederzeit zur Benützung zur Verfügung und es hat das Zeug, uns zu besseren Menschen zu machen. Wir müssen seine Funktion dazu nur noch um einen Schritt genauer durchdenken: Während wir schlafen, wie gesagt idealerweise vor Mitternacht, arbeitet es. Morgens, wenn wir ausgeruht aufstehen, ist es fertig. Der Müll und auch die Müllwägen sind wieder verschwunden. Sogar die Autobahnen sind wieder verschwunden, weil sich unsere Gehirnzellen wieder ausgedehnt haben.16

Nun beginnt der Tag mit Nachrichten über Klimawandel, vielleicht mit Kindern, die nicht aufstehen wollen und mit Menschen, denen wir etwas sagen wollen, die wir aber nicht erreichen können, mit Gedrängel in öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit Stau auf der Straße, mit beruflichem Stress und gesundheitlichen Sorgen, und mit allem, was sonst noch so an Unerquicklichem zu einem ganz normalen Leben gehört. Kurz gesagt: Neuer Müll sammelt sich im Gehirn an, neue biochemische Materialisierungen negativer Gedanken. Er wird im Verlauf des Tages immer mehr.

Was bedeutet das für uns bei dem Versuch, bessere Menschen zu sein? Es bedeutet, dass wir uns darin üben sollten, wichtige Entscheidungen nicht gleich zu treffen. Wir sollten uns, sozusagen aus glymphatischen Gründen, darin üben, dem ersten Impuls zu widerstehen. Wir sollten vor allem wichtige Entscheidungen immer am Morgen oder am Vormittag treffen, wenn die nächtliche Müllabfuhr gerade da war und unser Gehirn sauber, frisch und frei ist. Dann tun wir uns am leichtesten mit Entscheidungen gemäß der besten Version von uns selbst, anstatt mitten in einer vielleicht schon kräftig angewachsenen Müllhalde die falschen Reflexe zu zeigen.

Das ideale Zeitfenster für den wachen, gereinigten Geist sind also der Morgen und der Vormittag. Im Laufe des Tages nimmt diese Geistesschärfe wieder ab und unser Realitätssinn trübt sich wieder ein. Am Nachmittag und vor allem spät am Abend und nachts tragen wir dann schon wieder viel Gedankenmüll mit uns herum.

Wer dann noch wichtige Entscheidungen trifft, beraubt sich selbst des glymphatischen Vorteils. Überschlafe die wichtigen Dinge erst einmal, besagt völlig zu Recht eine Weisheit des Volksmundes, auf die wir uns wieder besinnen sollten.

Leben wir glymphatisch und machen wir uns damit sympathisch: Während wir abends eine E-Mail noch wütend beantwortet hätten, bemerken wir am nächsten Vormittag vielleicht, dass sich der Absender nur im Ton vergriffen oder wir einfach etwas falsch gedeutet oder überinterpretiert haben.

Wenn wir trotzdem sofort in die Tasten gegriffen und eine deftige Antwort mit vielen bösen Rufzeichen losgeschickt hätten, hätten wir uns vielleicht in Schwierigkeiten manövriert, die im schlechtesten Fall irreversibel gewesen wären.

Nur weil irgendjemand in Unkenntnis seiner Neurobiologie irgendetwas nicht überschlafen wollte und mit einem dafür falsch konfigurierten Mindset reagierte, haben in Unternehmen bestimmt schon viele Kriege begonnen, und nicht nur dort.

Was gesunder Schlaf, der übrigens auch das Abnehmen erleichtert und Wunden schneller heilen lässt, für unser Gehirn so alles tun kann, zeigten Experimente bereits im Jahr 2004. Versuchspersonen mussten Zahlenrätsel lösen, die mehrere Einzelschritte erforderten. Es gab eine Abkürzung, durch die sich einige Schritte vermeiden ließen. Nach der Einübungsphase durfte ein Teil der Probanden acht Stunden lang schlafen. Danach erkannten in dieser Gruppe mehr als doppelt so viele die schnelle Lösung. Jene Gruppe, die wach geblieben war, sah nur den langen Weg der Einzelschritte.

Die verbrauchte Energie des Tages legt sich über die Wahrnehmung wie ein Gazeschleier. Wir können uns bei einem Vorhaben noch so sehr anstrengen und abmühen, das Ergebnis wird nur mit ausreichend Schlaf und einer glymphatischen Terminplanung richtig gut.

Die Verhaltens- und Neurowissenschaftlerin Rebecca Spencer von der University of Massachusetts erklärte dazu in einem Interview mit der Harvard Business Review: »Ein Mangel an Schlaf hat alle möglichen negativen Effekte.« Man könne nicht mehr so sehr auf Details achten und reagiere langsamer. Außerdem reagiere man sehr viel emotionaler auf negative Nachrichten. Schlaf dagegen sorge dafür, dass die Informationen in eine andere Hirnregion gelangten, die eine nüchternere Betrachtung ermögliche.17

Schon im Epheserbrief, einem Buch des Neuen Testaments, gibt Paulus, ein erfolgreicher Missionar des Urchristentums, seinen Lesern den Rat: »Zürnet, und sündiget nicht. Lasset die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen.«

Schon am Abend soll der Mensch demnach den Entschluss fassen, schlechte Gedanken und böse Emotionen zu schubladisieren. Dann soll er darüber schlafen. Am nächsten Tag finden die negativen Gedanken dann besonders leicht fast von selbst in diese »Schublade«, ohne Schaden anrichten zu können. Das »gereinigte« Gehirn des Morgens hilft dabei mit.

Die Endokrinologie beschäftigt sich mit Schlafproblemen, die bei Frauen oft in der Lebensmitte auftreten und die Betroffenen stark belasten. Eine interessante Studie unterstreicht dies mit einem neuen Detail: Schlafstörungen können Verkalkungen begünstigen, die wiederum möglichweise jene Hirnareale beeinträchtigen, die für Geduld und Entspannung mitverantwortlich sind. Konkret unterdrückt oftmaliges Aufwachen das Hormon Hypocretin, wodurch mehr Stammzellen aus dem Knochenmark ausgeschwemmt werden, die sich dann in den Blutgefäßen niederlassen und eine Verkalkung bewirken.18

Die australischen Forscher Drew Dawson von der Central Queensland University und Kathryn Reid von der Northwestern University maßen die Reaktionszeit von Probanden nach 28 Stunden Schlafentzug. Am Computer mussten sie Linien nachfahren, um ihre Motorik zu testen. Ergebnis: 28 Stunden Schlafentzug entsprechen etwa 0,9 Promille Alkohol im Blut.19 Auch hier zeigte sich deutlich, dass wir wichtige Entscheidungen tunlichst erst am nächsten Tag treffen sollten. Wir können sonst zum Beispiel aggressiver sein, und aggressiv ist nie »gut«.

Ein anderer Nachweis für die Vorteile des glymphatischen Lebens schon vor der Entdeckung des glymphatischen Systems glückte mit einer Gruppe elfjähriger Kinder und der Vergleichsgruppe ihrer Eltern. Bei einem Kasten mit mehreren Knöpfen mussten sie möglichst schnell immer jene drücken, die gerade aufleuchteten. Blink und push! Blink und push!

Was nicht gesagt wurde, war, dass es eine bestimmte Regelmäßigkeit in der Abfolge des Aufleuchtens gab. Nach der ersten Übungsphase und einer Wiederholung hatte keines der Kinder und auch kein Erwachsener diese rhythmische Systematik bemerkt. Als das Experiment mit anderen Versuchspersonen wiederholt wurde und diesmal zwischen Übung und Wiederholung eine Schlafphase lag, war manchen Erwachsenen und fast allen Kindern die Regelmäßigkeit klar. Das veröffentlichten die Forschergruppe Wilhelm, Rose & Konsorten in einem Artikel in Nat Neurosci.20

Unbewusste Denkprozesse

Der niederländische Sozialpsychologe Ap Dijksterhuis fand anhand mehrerer Studien heraus, dass intensives, bewusstes Nachdenken nicht automatisch zu den besten Entscheidungen führt. Entspannt zu sein dagegen hilft sehr wohl.21

Sogar wenn wir mit aller Kraft versuchen, eine sinnvolle Entscheidung zu treffen, klappt es oft nicht, meint Dijksterhuis. Denn das Gehirn kann die Informationen zwar sammeln, aber nicht gleichzeitig verarbeiten. Anders ausgedrückt: Grübeln bring nichts. Je komplexer das Problem ist, desto eher sollten wir es deshalb unbewussten Denkprozessen anvertrauen, rät er. Was begründet, warum manche Menschen ihre besten Ideen morgens unter der Dusche haben.

Wir sollten also bei unserem Versuch, gut zu sein und gute Entscheidungen zu treffen, auch die Hintergrundaktivitäten unseres Gehirns zulassen, seine Eigeninitiativen sozusagen, zu denen es immer dann fähig ist, wenn wir es nicht gerade selbst beschäftigen. Die Religionen sprechen in diesem Zusammenhang von Medita tion und Gebet.

Die Wissenschaft bezeichnet die für die Hintergrundaktivitäten des Gehirns zuständigen Regionen als Default Mode Network. Dieses Netzwerk ist sozusagen unsere körpereigene Kreativagentur. Und unsere Kreativität ist gefragt, wenn wir uns verändern wollen. Denn dieses Vorhaben konfrontiert uns ständig mit neuen Situationen oder zwingt uns, mit vertrauten Situationen neu umzugehen.

Glymphatisch zu leben bedeutet, bis zum Ende durchgedacht, auch einen positiven Kreislauf in Gang zu setzen, der uns irgendwann von selbst vorwärtsbringt. Wer es schafft, den ersten Impuls systematisch verstreichen zu lassen und wichtige sowie emotional besonders stark aufgeladene Entscheidungen erst am nächsten Vormittag zu treffen, wird mit seinen Mitmenschen besser im Einklang stehen und deshalb insgesamt weniger Gedankenmüll aufbauen.

Er wird weniger Stress und Ängste haben und damit auch unaufschiebbare, sofort nötige Entscheidungen besser treffen. Letztendlich ist die Kunst, den ersten Impuls möglichst verstreichen zu lassen und die Sache erst einmal zu überschlafen, die wichtigste Vorstufe für die Kunst der Gelassenheit.

Charakterfitness-Trainingsstufe zwei:

Entgifte deine Emotionen