Das Gesicht im Dunkel - Edgar Wallace - E-Book

Das Gesicht im Dunkel E-Book

Edgar Wallace

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Beschreibung

Der Wagen der schwedischen Königin wurde überfallen, ihr Privatsekretär ist erschossen, eine Brillantkette von unschätzbarem Wert verschwunden. Scotland Yard ist Aufregung. Dann passieren mysteriöse Dinge. Zum unbestrittenen Kanon der Weltliteratur gehört dieses Meisterwerk eines Ausnahmekünstlers mit anhaltendem und vielfältigem Einfluss auf den lesenden Menschen und die Literaturgeschichte – bis heute. Spannend und unterhaltend, vielschichtig und tiefgründig, informativ und faszinierend sind die E-Books großer Schriftsteller, Philosophen und Autoren der einzigartigen Reihe "Weltliteratur erleben!".

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Edgar Wallace

Das Gesicht im Dunkel

1

Graue Nebelschleier lagen über London, als in den Abendstunden ein Mann mit unsicheren Schritten in den Portman Square einbog und nach einigem Suchen vor Nr. 551 anhielt. Während er zu den dunklen Fenstern hinaufstarrte, verzog sich sein Mund zu einem widerwärtigen Grinsen.

Diesem alten Teufel wollte er schon beibringen, daß man nicht ungestraft Leute ausplündern konnte! Warum sollte Malpas ein üppiges Leben führen, während sich sein bester Agent elend und kümmerlich durchschlagen mußte? So oft Laker betrunken war, legte er sich diese Frage vor.

Seine äußere Erscheinung, die in dieser vornehmen Gegend höchst sonderbar wirkte, verriet allerdings deutlich genug, daß es ihm schlecht ging. Er trug einen schäbigen Anzug, und sein Gesicht, das von der Backe bis zum Kinn von einer häßlichen Narbe entstellt wurde, sah verkommen und unrasiert aus.

Nachdem er noch einen kurzen Blick auf seine abgenützten Schuhe geworfen hatte, stieg er die Stufen zur Haustür hinauf und klopfte.

»Wer ist da?« fragte sofort eine Stimme von innen.

»Laker!« erwiderte er laut.

Geräuschlos öffnete sich die Tür. Er trat in die kahle Halle, ging die Treppe hinauf und stand gleich darauf in einem verdunkelten Zimmer. Nur vor dem Mann am Schreibtisch brannte eine schwache Lampe. Laker hatte kaum die Schwelle überschritten, als sich die Tür wieder hinter ihm schloß.

»Setzen Sie sich«, sagte der Alte am anderen Ende des Zimmers.

Grinsend ließ sich Laker drei Schritte entfernt auf einem Stuhl nieder.

»Wann sind Sie gekommen?«

»Heute morgen, mit der ›Buluwayo‹. Ich brauche Geld, und zwar schnell, Malpas.«

»Legen Sie auf den Tisch, was Sie mitgebracht haben«, entgegnete der alte Mann barsch. »Kommen Sie in einer Viertelstunde wieder, dann können Sie sich das Geld holen.«

»Ich will es aber jetzt haben!« rief der Betrunkene trotzig.

Malpas wandte ihm sein grauenerregendes Gesicht zu.

»Hier gilt nur mein Wille! Sie sind wieder einmal betrunken und benehmen sich danach. Blöder Narr!«

»Ich bin nicht so ein blöder Narr, daß ich noch länger diese Gefahren auf mich nehme! Ihnen bekommt die Sache sicher auch bald schlecht. Sie wissen nicht, wer nebenan wohnt.«

Malpas zog den Schlafrock enger zusammen und kicherte.

»Ich weiß, daß Lacy Marshalt mein Nachbar ist, Sie Dummkopf! Würde ich sonst vielleicht hier wohnen?«

Laker starrte ihn mit offenem Munde an.

»Was? Aber er gehört doch zu den Leuten, die Sie ausplündern – wenn er auch ein Verbrecher ist, Sie bestehlen ihn! Warum wollen Sie denn neben ihm wohnen?«

»Das geht Sie nichts an. Legen Sie jetzt den Kram hin, und machen Sie, daß Sie fortkommen!«

»Ich lege nichts hin, und ich gehe auch nicht fort, bis ich alles weiß, Malpas«, erwiderte Laker und stand auf. »Für nichts und wieder nichts sitzen Sie nicht an dem einen Ende dieser dunklen Stube und lassen mich immer am anderen warten. Ich werde Sie jetzt einmal genau betrachten, mein Lieber. Sie sind nicht der, für den Sie sich ausgeben! Rühren Sie sich nicht – Sie können den Revolver in meiner Hand nicht sehen, aber er ist da, verlassen Sie sich darauf!«

Er machte zwei Schritte vorwärts, prallte dann aber zurück. Ein in Brusthöhe quer durch das Zimmer gespannter Draht, der im Dunkeln nicht zu sehen war, hielt ihn auf. Im selben Augenblick ging das Licht aus. Wütend bückte er sich, um unter dem Hindernis wegzukommen, verhakte sich aber gleich darauf mit dem Fuß in einem zweiten Draht, der dicht über den Boden gezogen, war, und fiel hin.

»Machen Sie Licht, Sie alter Halunke!« schrie er außer sich, als er wieder auf die Beine kam. »Sie nützen mich nur aus – seit Jahren leben Sie von mir, Sie Schurke! Heraus mit dem Geld, oder ich verpfeife Sie bei der Polizei!«

»Das ist das drittemal, daß Sie mir drohen!«

Die Stimme ertönte hinter Laker. Rasend fuhr er herum und feuerte. Die mit Stoff bespannten Wände dämpften den Knall, aber beim Aufflammen des Mündungsfeuers sah er die Gestalt, die auf die Tür zuschlich, und drückte noch einmal ab.

»Machen Sie Licht!« brüllte er wieder, aber schon öffnete sich die Tür, und die Gestalt schlüpfte hinaus. Wenige Sekunden später stand auch Laker auf dem Treppenpodest, aber der alte Mann war verschwunden. Der Betrunkene sah eine andere Tür, warf sich dagegen und rief wild nach Malpas. Er erhielt keine Antwort. Plötzlich sah er etwas auf dem Boden liegen und hob es auf. Es war ein hervorragend gut modelliertes und gefärbtes Wachskinn mit zwei Gummibändern, von denen eins zerrissen war.

Laker lachte laut auf.

»Malpas, ich habe Ihr halbes Gesicht hier! Kommen Sie heraus, sonst trage ich es zur Polizei. Die Leute holen sich dann vielleicht den anderen Teil!«

Als alles stumm blieb, ging er schließlich die Treppe hinunter und versuchte, die Haustür zu öffnen. Aber sie hatte keinen Griff, und das Schlüsselloch war so winzig, daß man nicht hindurchsehen konnte. Fluchend rannte er wieder die Stufen hinauf und hatte fast den ersten Absatz erreicht, als etwas herabfiel. Er schaute nach oben und blickte in das verhaßte Gesicht. Auch das schwarze Gewicht sah er noch und versuchte, ihm auszuweichen. Aber eine Sekunde später glitt er wie ein schwerfälliger Klotz die Treppe hinab.

2

In der amerikanischen Botschaft fand ein Ball statt, und schon seit einer Stunde brachten zahllose elegante Limousinen die vornehmen Gäste herbei. Aus einem der letzten Wagen stieg ein etwas untersetzter Herr mit jovialem Gesicht aus. Er nickte dem Polizisten freundlich zu, der den Eingang von neugierigen Zuschauern freihielt, und betrat gleich darauf die große Halle.

»Colonel James Bothwell«, sagte er zu dem Diener und ging auf die Empfangsräume zu.

»Verzeihung.«

Ein hübscher Herr in tadellosem Frack nahm seinen Arm und führte ihn in ein kleines Vorzimmer.

Colonel Bothwell zog die Augenbrauen hoch. Er war etwas erstaunt über diese Vertraulichkeit.

»Sie irren sich wohl«, sagte er. »Ich glaube nicht –«

Die grauen Augen des anderen lächelten ihn freundlich an.

»Mein lieber amerikanischer Freund«, begann der Colonel wieder, »Sie täuschen sich bestimmt.«

Der Fremde schüttelte sanft den Kopf.

»Ich irre mich nie, und ich bin, wie Sie sehr gut wissen, Engländer – ebenso wie Sie. Es tut mir leid, mein armer, alter Slick!«

Slick Smith seufzte.

»Sehen Sie her, Captain, ich habe eine Einladung. Und wenn mich mein Botschafter zu sehen wünscht, so geht Sie das vermutlich nichts an.«

Captain Dick Shannon lächelte.

»Er wünscht Sie ja gar nicht zu sehen. Im Gegenteil, es wäre ihm höchst unangenehm, einen so gewandten englischen Dieb in der Nähe von einer Million Dollars in Diamanten zu wissen. Colonel Bothwell vom vierundneunzigsten Kavallerieregiment würde er gewiß gern die Hand drücken, wenn dieser Mann zu Besuch nach London käme, aber den Juwelendieb Slick Smith kann er wirklich nicht gebrauchen!«

»Schade! Den Halsschmuck der Königin von Griechenland hätte ich mir doch zu gern angesehen. Es ist vielleicht die letzte Gelegenheit. Zu meinem Unglück bin ich nämlich mit einem Detektivinstinkt begabt, und Sie dürfen mir glauben, daß die Diamantenkette bereits vorgemerkt ist! Eine sehr geschickte Bande ist dahinter her – Namen nenne ich natürlich nicht.«

»Sind die Leute hier?« fragte Dick schnell.

»Ich weiß es nicht. Das wollte ich ja selbst feststellen. Ich bin in solchen Dingen wie ein Arzt – sehe gern bei Operationen zu. Man lernt dabei immer etwas Neues, was einem nie einfiele, wenn man immer nur seine eigene Arbeit studierte.«

Dick Shannon überlegte einen Augenblick.

»Warten Sie hier, und lassen Sie das Silber in Frieden«, sagte er dann und ließ Slick allein, der ihm entrüstet nachschaute.

Er drängte sich in den überfüllten Räumen durch die Gäste, bis er von einer freien Stelle aus den Botschafter beobachten konnte. Der Amerikaner sprach mit einer hochgewachsenen, müde aussehenden Dame, zu deren Schutz Dick Shannon in die Gesandtschaft beordert worden war.

An ihrem Hals glänzte eine Kette, die auch bei der leisesten Bewegung strahlend aufblitzte. Der Detektiv sah sich um und winkte unauffällig einen jungen Mann zu sich, der mit einem der Legationssekretäre sprach.

»Steel, Slick Smith ist hier«, flüsterte er ihm zu. »Und er behauptet, daß man versuchen würde, den Schmuck der Königin zu rauben. Sie dürfen sie keine Sekunde aus den Augen lassen. Und sagen Sie irgendeinem Beamten, daß er die Liste der Gäste nachkontrollieren soll. Wenn sich ein Unbefugter findet, bringen Sie ihn zu mir.«

Dann kehrte er zu Slick zurück.

»Warum sind Sie eigentlich gekommen, wenn Sie von diesem Plan wissen?« fragte er. »Auch wenn Sie nichts damit zu tun haben, werden Sie doch verdächtigt.«

»Das dachte ich mir auch schon. Daher kommt ja auch die Unruhe, die mich seit einer Woche plagt.«

Die Tür nach der Halle stand offen, und die beiden konnten die Nachzügler beobachten, die verspätet eintrafen. Eben kam ein stattlicher Herr von mittleren Jahren vorüber, der von einer auffallend schönen Frau begleitet wurde. Sie waren schon außer Sicht, bevor Dick sie näher betrachten konnte.

»Sieht ganz gut aus«, meinte Slick. »Martin Elton ist übrigens nicht hier. Seine Frau läuft viel mit diesem Lacy herum.«

»Lacy?«

»Ja, der Honourable Lacy Marshalt. Er ist Millionär und ein gerissener, zäher Kerl. Kennen Sie die Dame, Captain?«

Dick nickte. Dora Elton war eine bekannte Persönlichkeit, die bei keiner Veranstaltung der ultramondänen Welt fehlte. Lacy Marshalt kannte er nur dem Namen nach. Er brachte Slick Smith zur Haustür und wartete, bis dieser mit einem Mietauto davongefahren war. Dann kehrte er in den Ballsaal zurück.

Um ein Uhr brach zu seiner größten Erleichterung die Königin auf und fuhr zu ihrem Hotel am Buckingham Gate zurück, wo sie inkognito abgestiegen war. Neben dem Chauffeur saß ein bewaffneter Detektiv, und Dick zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie ungefährdet ihr Ziel erreichen würde.

Nachdem er sich von dem dankbaren Botschafter verabschiedet hatte, kehrte er nach Scotland Yard zurück. Aber der überaus dichte Nebel ließ nur ein Schneckentempo zu. Als er seinen Wagen nach allerhand Zwischenfällen schließlich in den Hof gesteuert hatte, gab er Auftrag, ihn in die Garage zu bringen.

»Ich gehe lieber zu Fuß nach Hause«, sagte er zu dem diensttuenden Beamten. »Das ist sicherer.«

»Der Inspektor hat nach Ihnen gefragt«, erwiderte der Mann. »Er ist zum Embankment hinuntergegangen. Sie suchen dort nach der Leiche eines Mannes, der heute abend in den Fluß geworfen wurde.«

»Geworfen?« wiederholte Dick bestürzt. »Sie meinen wohl, er ist hineingesprungen?«

»Nein. Eine Patrouille der Strompolizei ruderte an der Embankmentmauer entlang, als der Nebel noch nicht so dicht war wie jetzt, und dabei sahen die Leute, wie der Mann aufgehoben und übers Geländer geworfen wurde. Der Sergeant pfiff sofort, aber es war gerade keiner von uns in der Nähe, und so ist der Kerl, der es getan hat, entkommen. Sie suchen jetzt nach der Leiche. Ich sollte es Ihnen mitteilen, wenn Sie kämen, meinte der Inspektor.«

Shannon zögerte keinen Augenblick und machte sich sofort wieder auf den Weg. Mühsam tastete er sich durch den Nebel, bis er mit dem Inspektor zusammenstieß.

»Ein Mord«, sagte der Beamte. »Eben haben sie die Leiche gefunden. Der Mann ist totgeschlagen und dann ins Wasser geworfen worden. Wenn Sie die Stufen herunterkommen, können Sie ihn sehen.«

»Wann ist es denn geschehen?«

»Heute – oder vielmehr gestern abend gegen neun. Jetzt haben wir gleich zwei.«

Shannon ging hinunter und beugte sich über die dunkle Gestalt, die ein Polizist mit seiner Taschenlampe beleuchtete.

»Er hat nichts bei sich«, meldete der Sergeant, »aber seine Persönlichkeit wird sich leicht feststellen lassen. Er hat eine große Narbe im Gesicht.«

Als Dick mit dem Inspektor nach Scotland Yard zurückkam, herrschte dort fieberhafte Tätigkeit, denn während ihrer Abwesenheit war eine Nachricht eingelaufen, die auch den letzten Reservedetektiv aus dem Bett jagte.

Das Auto der Königin war an der dunkelsten Stelle der Mall überfallen, der Detektiv erschossen und die Diamantkette geraubt worden.

3

»Von den Hühnern hat jedes vier Schillinge gebracht«, berichtete die alte Mrs. Graffit und zählte das Geld auf den Tisch.

Audrey Bedford rechnete rasch nach.

»Mit den Möbeln macht das siebenunddreißig Pfund und zehn Schillinge. Reicht also gerade für den Hühnerfuttermann, Ihren Lohn und meine Reise.«

»Eine Kleinigkeit könnten Sie doch noch für mich zulegen«, bat die Frau weinerlich. »Seit Ihre liebe Mutter starb, habe ich Sie betreut und alles für Sie besorgt –«

»Seien Sie ruhig!« unterbrach sie das junge Mädchen. »Sie haben Ihr Schäfchen bei der Geschichte wirklich ins trockene gebracht. Hühnerzucht lohnt sich nicht und wird sich niemals lohnen, wenn der Generalstabschef einen heimlichen Eierhandel betreibt.«

»Wohin wollen Sie denn?« fragte Mrs. Graffit, um das Gespräch auf ein weniger gefährliches Thema zu bringen.

»Ich weiß es noch nicht. Vielleicht nach London.«

»Eine fürchterliche Stadt! Nichts als Morde und Diebstähle –«

»Weil Sie gerade von Diebstählen sprechen – was ist denn aus den letzten vier Hühnern geworden?« erkundigte sich Audrey freundlich.

»Ach – habe ich Ihnen das Geld dafür nicht gegeben? Ich muß es tatsächlich verloren haben.«

»Nun, dann brauchen wir ja nur den Gendarm zu holen, der versteht sich aufs Suchen.«

Mrs. Graffit fand plötzlich das Geld sofort, legte es auf den Tisch und ging dann mürrisch hinaus.

Audrey sah sich in dem Zimmer um. Sie hatte den Sessel verbrannt, in dem ihre Mutter immer mit düsteren Blicken in den schwarzen Kamin gestarrt hatte. Ihren Vater hatte sie nie gesehen. Er mußte wohl ein schlechter Mensch gewesen sein. Wenn Audrey als Kind fragte: »Ist er tot, Mutter?«, so antwortete Mrs. Bedford stets: »Hoffentlich!«

Audreys Schwester Dora hatte niemals so unwillkommene Fragen gestellt; aber sie war auch älter und teilte die unbarmherzigen Anschauungen ihrer Mutter.

Nein, dieses Haus barg keine freundlichen Erinnerungen für Audrey, und der Abschied fiel ihr nicht schwer.

Sie war nicht betrübt und auch nicht besonders froh. Vor der Zukunft hatte sie keine Angst, denn sie hatte eine gute Erziehung genossen, viel gelesen, viel nachgedacht und sich an langen Winterabenden mit Stenographie beschäftigt.

»Noch viel Zeit!« brummte der Omnibuskutscher, als er ihren Koffer in den dunklen, muffigen Wagen warf. »Wenn die blödsinnigen Autos nicht wären, würde ich erst später losfahren. Aber so muß man vorsichtig sein.«

In diesem Augenblick erschien ein Fremder und zog den Hut vor Audrey.

»Verzeihung, Miß Bedford. Mein Name ist Willitt. Könnte ich Sie heute abend nach Ihrer Rückkehr einmal sprechen?«

»Ich komme nicht mehr zurück.«

»Nicht? Darf ich dann um Ihre Adresse bitten? Es handelt sich um eine sehr wichtige Angelegenheit.«

»Eine Adresse kann ich Ihnen noch nicht geben. Aber wenn Sie mir die Ihre mitteilen, schreibe ich Ihnen.«

Er kritzelte sie auf einen Zettel. Sie nahm ihn, stieg ein und schlug die Wagentür zu. Gleich darauf setzte sich der Omnibus in Bewegung.

An der Ecke von Ledbury Lane ereignete sich ein Unfall. Dick Shannon nahm die Kurve zu knapp und schnitt das eine Omnibusrad glatt ab.

Audrey stand bereits auf der schmutzigen Landstraße, als Dick auf sie zueilte. Auf seinem hübschen Gesicht lag ein reumütiger Ausdruck.

»Es tut mir furchtbar leid! Sie sind doch nicht verletzt?«

Er schätzte sie auf siebzehn Jahre, obwohl sie schon neunzehn zählte. Sie trug billige Konfektionskleidung, war aber sehr schön. Dick fürchtete sich fast davor, ihre Stimme zu hören, denn vermutlich wurden seine Illusionen über dieses schöne Mädchen dann zerstört.

»Nein, ich bin nur etwas erschrocken. Aber nun werde ich meinen Zug nicht mehr erreichen.« Bekümmert schaute sie auf das abgefahrene Rad.

Mit Entzücken hatte er ihrer klaren, reinen Stimme gelauscht. Er hatte sich nicht getäuscht – diese Bettelprinzessin war wirklich eine Dame!

»Sie wollen zum Bahnhof von Barnham?« fragte er eifrig. »Ich komme durch den Ort – und ich muß dem armen Kutscher doch auch Hilfe schicken.«

»Warum passen Sie nicht auf?« schimpfte der Mann wütend. »Haben Sie vielleicht die Landstraße gepachtet?«

Dick knöpfte seinen Mantel auf und nahm eine Visitenkarte und eine Banknote aus seiner Brieftasche.

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, sagte er und reichte ihm beides. »Ich schicke Ihnen sofort Leute aus Barnham.« Er wandte sich wieder an Audrey. »Wollen Sie sich mir anvertrauen?«

Lächelnd stieg sie ein. Der Kutscher reichte den Koffer in den Wagen, und Dick nahm seinen Platz am Steuer ein.

»Darf ich Sie nicht ganz nach London bringen?« fragte er, als sich das Auto in Bewegung setzte.

»Danke, ich möchte lieber mit der Bahn fahren. Es ist möglich, daß mich meine Schwester abholt.«

»Sie wohnen hier in der Gegend?«

»Ich hatte eine Geflügelfarm in Fontwell. Aber von Hühnern kann man nicht leben, und ich habe das alte Haus verkauft – oder vielmehr, es hat sich alles in Hypotheken aufgelöst.«

»Wie schön, daß Sie dann eine Schwester haben, die Sie erwartet«, erwiderte er in fast väterlichem Ton, denn sie erschien ihm so jung und schutzbedürftig.

In Barnham stieg er mit ihr aus, brachte ihren kleinen Koffer auf den Bahnsteig und bestand darauf, die Ankunft des Zuges abzuwarten.

»Ihre Schwester wohnt natürlich in London?«

»Ja, in der Curzon Street.«

»Ist sie – ich meine – ist sie dort angestellt?«

»O nein. Sie ist verheiratet. Mrs. Martin Elton.«

Er sah sie bestürzt an. Aber in diesem Augenblick lief der Zug ein, und Dick eilte zu dem Zeitungsstand, um noch ein paar Magazine für sie zu kaufen.

»Es war sehr liebenswürdig von Ihnen, Mr. –? Ich heiße Audrey Bedford.«

»Ich werde es nicht vergessen!« rief er ihr nach, als sich der Zug schon in Bewegung setzte.

Nachdenklich kehrte er zu seinem Wagen zurück. Mrs. Elton war ihre Schwester, die berüchtigte Verbrecherin, die er seit langem zu fassen suchte!

4

Lacy Marshalt hatte einst als Senator dem Gesetzgebenden Rat von Südafrika angehört und führte seitdem zur größten Belustigung seines Kammerdieners Tonger den Titel Honourable, »der Ehrenwerte«.

An einem trüben Morgen stand er am Fenster und starrte verdrießlich in den Regen hinaus, als Tonger die Post hereinbrachte. Er griff nach einem blauen Umschlag, riß ihn auf und las:

»Alles in Ordnung. Es geht zu Ende mit ihm.«

»Schick ihm zwanzig Pfund!« sagte er und warf Tonger den Brief zu.

»Ob der wirklich aus Matjesfontein kommt?« meinte der Diener nachdenklich, nachdem er die Mitteilung auch gelesen hatte.

»Hast du den Poststempel nicht gesehen?«

»Hm, ja! Hören Sie mal, Lacy, wer ist eigentlich der Kerl, der nebenan wohnt? Malpas heißt er. Gestern sprach ich mit einem Polizisten, und der sagte, der Kerl müßte nicht richtig im Kopf sein. Wohnt ganz allein und macht alle Hausarbeit selbst. Wer kann das nur sein?«

»Du scheinst ja schon alles zu wissen – was fragst du mich noch?«

»Wenn er es nun wäre?«

»Mach, daß du hinauskommst, du Esel!« fuhr ihn Marshalt an.

»Der Privatdetektiv, den Sie bestellt haben, wartet draußen«, erwiderte Tonger gleichgültig.

Lacy stieß einen Fluch aus.

»Warum hast du das denn nicht gleich gesagt? Jeden Tag wirst du dümmer. Laß das blöde Grinsen und bring den Mann herein!«

Der schäbig aussehende Detektiv, der hereintrat, überreichte Lacy ein Photo.

»Ich habe sie gefunden und rasch diese Aufnahme von ihr gemacht. Das ist sie – sie heißt Audrey Bedford. Ihre Mutter ist tot – seit fünf Jahren. Aber auch von der habe ich ein Bild – auf einer Gruppenaufnahme.« Er wickelte ein größeres Blatt aus, das ihm Lacy schnell aus der Hand nahm.

»Mein Gott! Ja, gleich als ich das Mädchen sah, hatte ich ein Gefühl –«

»Sie kennen sie also, Mr. Marshalt?«

»Nein! Was treibt sie? Lebt sie allein?«

»Ja, bis jetzt. Aber vor kurzem hat sie ihr Haus verkaufen müssen. Sie soll mittellos sein und ist gestern nach London abgereist.«

»Bildhübsch, nicht wahr?«

»Ja, ungewöhnlich schön. Leider hatte ich das Pech, daß Captain Shannon im Gasthof von Fontwell abstieg, um einen Reifen auszuwechseln.«

»Wer ist Shannon?«

»Ein hohes Tier von Scotland Yard. Aber was ich in Fontwell vorhatte, hab ich ihm nicht verraten. Er hat mich aber fürchterlich ausgeschimpft, weil ich mich für einen Kriminalbeamten ausgegeben hatte.«

Lacy schien kaum zuzuhören.

»Verschaffen Sie mir vor allem Miß Bedfords Adresse, und versuchen Sie, mit ihr bekannt zu werden. Geben Sie sich für einen Geschäftsmann aus – borgen Sie ihr Geld – aber hüten Sie sich, sie ängstlich zu machen!« Er nahm ein paar Banknoten aus seiner Brieftasche und drückte sie dem Mann in die ausgestreckte Hand. »Bringen Sie das Mädel einmal zum Abendessen her«, fügte er leise hinzu.

Der Detektiv machte große Augen und schüttelte den Kopf.

»So was liegt mir nicht«, murmelte er.

»Ich will nur mit ihr sprechen. Sie bekommen fünfhundert.«

»Fünfhundert? Na, ich will sehen ...«

Als der Mann gegangen war, trat Lacy ans Fenster.

Er rühmte sich, keine Furcht zu kennen. Rücksichts- und reuelos hatte er Menschenherzen zertreten, um an sein Ziel zu kommen. In drei Erdteilen fluchten Frauen seinem Andenken, brüteten Männer Rache. Er aber fürchtete nichts. Er haßte Dan Torrington und wußte nicht, daß Haß nur aus Furcht entsteht.

5

Dick begrüßte seinen Assistenten Steel, der in seiner Wohnung auf ihn wartete, mit einer Frage.

»Wissen Sie etwas über Dora Eltons Verwandte?«

»Nein. Hat die denn überhaupt Verwandte?«

»Vielleicht weiß Slick darüber Bescheid. Ich habe ihn zu sechs Uhr herbestellt. Ist übrigens die Leiche identifiziert worden?«

»Nein. Aber nach den Schuhen und dem Tabaksbeutel zu urteilen, kam der Mann aus dem Ausland, wahrscheinlich aus Südafrika. Vielleicht ist er mit der ›Buluwayo‹ oder der ›Balmoral Castle‹ angekommen. Haben Sie mit dem Bognor-Mann wegen der Diamantenkette gesprochen?«

»Ja, aber er behauptet, er hätte sich mit Elton verkracht und wüßte nicht, was der vorhätte. Eltons Haus wird doch bewacht, nicht wahr? – Gut. Ich glaube nicht, daß vor heute abend um dreiviertel neun etwas geschieht. Um diese Zeit wird die Kette die Curzon Street verlassen, und ich werde ihr persönlich nach ihrem Bestimmungsort folgen, weil mir viel daran liegt, das fünfte Mitglied der Bande kennenzulernen. Vermutlich ist es ein Ausländer. Und dann werde ich Dora Elton endlich haben.«

»Denken Sie nicht, daß es Bunny sein könnte?«

»Der hat wohl Mut, aber doch nicht so viel, daß er mit einer gestohlenen Kette durch London spaziert, die von der gesamten Polizei gesucht wird. Das ist nichts für Bunny. Seine Frau wird es versuchen.« Dick sah auf die Uhr. »Vor einer halben Stunde ist sie angekommen. Ich möchte nur wissen –«

In diesem Augenblick erschien Mr. Slick Smith, wie immer sorgfältig gekleidet, selbstbewußt und sorglos. Steel nickte ihm grinsend zu und verließ das Zimmer.

»Schön, daß Sie kommen«, sagte Dick Shannon. »Sie haben recht behalten – der Schmuck ist weg, und Elton ist in die Geschichte verwickelt.«

Slick zog spöttisch die Augenbrauen hoch.

»Wirklich? Nicht zu glauben!«

»Lassen Sie Ihre ironischen Bemerkungen. Wissen Sie eigentlich etwas über Mrs. Elton?« fragte Dick und schob ihm die Whiskyflasche zu.

»Eine reizende Dame – entzückende Person! Früher war sie ein braves Mädchen, aber eine schlechte Schauspielerin. Vermutlich hat sie Elton geheiratet, um einen besseren Menschen aus ihm zu machen.«

»Hat sie eine Schwester?« erkundigte sich Dick gespannt.

Slick leerte sein Glas.

»Wenn sie eine hat, möge ihr Gott gnädig sein!« erwiderte er.

Audrey hatte eine Viertelstunde auf dem Victoria- Bahnhof zugebracht und die Anschläge über den Raub der Diamantenkette studiert, während sie vergeblich auf Dora wartete. Schließlich bat sie einen Polizisten um Auskunft und benutzte den von ihm empfohlenen Omnibus, um nach der Curzon Street zu fahren. Ein zierliches Zimmermädchen öffnete ihr.

»Mrs. Elton ist beschäftigt«, sagte sie. »Kommen Sie vielleicht von Seville?«

»Nein, ich komme aus Sussex. Bitte melden Sie Mrs. Elton, daß ihre Schwester hier ist.«

Das Mädchen führte sie in ein kleines Wohnzimmer und ließ sie dort allein. Audrey redete sich ein, daß der Brief, in dem sie Dora ihre bevorstehende Ankunft mitgeteilt hatte, verlorengegangen sein müsse. Die Schwestern standen sich nicht nahe. Dora war vor Jahren zur Bühne gegangen und hatte sich dann kurz vor dem Tod ihrer Mutter »gut« verheiratet. Sie war Audrey stets als hervorragendes Beispiel hingestellt worden, und ihre Mutter hielt sie bis zuletzt für ein Muster von Vollkommenheit, obwohl sie von Dora völlig vernachlässigt wurde.

Die Tür öffnete sich plötzlich, und eine junge Frau trat herein. Sie war größer als Audrey und fast ebenso schön wie diese, nur hatten ihre Haare nicht das strahlende Blond und ihre Augen nicht den freundlich-humorvollen Blick Audreys.

»Aber liebes Kind, wo kommst du denn her?« fragte Dora Elton bestürzt und streifte mit ihrer schlaffen, ringgeschmückten Hand die Wange der Schwester.

»Hast du meinen Brief nicht bekommen?«

»Nein. Du bist aber groß geworden, Kind!«

»Ja, allmählich zähle ich auch zu den Erwachsenen. Ich habe das Haus verkauft.«

Dora sah sie erstaunt an.

»Warum denn?«

»Es gehörte mir ja längst nicht mehr – es war über und über mit Hypotheken belastet.«

»Und nun kommst du hierher? Das ist sehr peinlich. Ich kann dich unmöglich zu mir nehmen.«

»Ach, wenn ich nur einmal acht Tage lang hier schlafen könnte, Dora, bis ich Arbeit gefunden habe.«

Ihre Schwester runzelte die Stirne und ging auf und ab.

»Ich habe Gäste zum Tee«, sagte sie schließlich, »und heute abend ein kleines Diner. Was soll ich mit dir anfangen – in diesem Aufzug? Geh lieber in ein Hotel, schaffe dir elegante Kleider an und komme am Montag wieder.«

»Das würde mehr Geld kosten, als ich besitze«, erwiderte Audrey ruhig.

Dora kniff die Lippen zusammen.

»Wie kannst du einem nur so einfach ins Haus schneien!« rief sie. »Na, warte hier – ich will mit Martin sprechen.«

Audrey hatte sich den Empfang kaum anders vorgestellt. Nach einer Weile kam Dora zurück und zeigte ein erzwungen freundliches Gesicht.

»Martin meint, du solltest hier bleiben«, erklärte sie und führte ihre Schwester zu einem hübschen Fremdenzimmer im zweiten Stock. »Du hast hier in London wohl gar keine Bekannten?« fragte sie, als sie das elektrische Licht andrehte.

»Nein. Aber das ist ja ein entzückendes Zimmer!«

»Ich war vorhin vielleicht etwas abweisend, Liebling«, fuhr Dora fort und legte eine Hand auf Audreys Arm. »Du bist mir doch nicht böse deshalb? Ich bin manchmal so nervös. Und du hast Mutter ja versprochen, für mich zu tun, was du könntest.«

»Du weißt, daß ich mein Versprechen halte«, entgegnete Audrey.

Dora streichelte ihren Arm.

»Unsere Gäste brechen schon auf. Du mußt herunterkommen und Mr. Stanford und Martin kennen lernen.«

Sie verließ ihre Schwester und ging in den Salon zurück.

»Es wäre vielleicht doch besser, sie in ein Hotel zu schicken«, meinte ihr Mann.

Dora lachte.

»Ihr beide habt euch nun schon den ganzen Nachmittag den Kopf zerbrochen, wie wir das Ding zu Pierre hinschaffen könnten. Keiner von euch wollte sich der Gefahr aussetzen, mit der Diamantenkette der Königin von Griechenland abgefaßt zu werden –«

»Nicht so laut!« brummte Elton zwischen den Zähnen.

»Hör zu!« rief Big Bill Stanford. »Ich kann mir denken, was du sagen willst, Dora. Wer soll die Kette hinbringen?«

»Wer? Natürlich meine kleine Schwester!« erwiderte Mrs. Elton kühl.

6

Big Bill war nicht sentimental, aber dieser Vorschlag ging selbst ihm zu weit.

»Das ist unmöglich. Bedenke doch, wenn sie gefaßt wird und uns verrät?«

»Das ist auch mein einziges Bedenken, und es ist nur gering«, entgegnete Dora.

Der große Mann starrte einen Augenblick vor sich hin.

»Das Ding muß unbedingt aus dem Haus«, sagte er dann. »Schließe die Tür zu, Dora!«