Das Geständnis - Annemarie Albrecht - E-Book

Das Geständnis E-Book

Annemarie Albrecht

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  • Herausgeber: 110th
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Ein grauenhafter Mordfall rüttelt die Familie von Mina durcheinander. Die junge Mutter zweier Kinder will nicht wahrhaben, was ihr an Fakten präsentiert wird. Zu verworren und undurchschaubar erscheint es, dass ihr Bruder Josh ein Mann sein soll, der eine unvorstellbare Tat begangen hat. Mitleid mit dem Bruder, Schuldzuweisungen an die Eltern nehmen Mina zu sehr in Beschlag, um anderes in sich aufnehmen zu können. Im Laufe der Jahre muss sie lernen, sich von Schuld, Schuldzuweisungen, Sühne, aber auch vom Mitleid und der Verantwortung für den Bruder zu distanzieren. Der Fall basiert auf einer wahren Geschichte und bringt für den Leser wie auch die damals an dem Mordgeschehen tatsächlichen Beteiligten bis zum Schluss keine Klarheit über den Täter. Zwanzig Jahre danach ist Mina gezwungen, umzudenken. Ein neuerlicher Mord geschieht...

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Seitenzahl: 280

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Ähnliche


Das Geständnis

von

Holger Sonnenfeld

und

Annemarie Albrecht

Kriminalroman

Impressum:

Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-394-8

MOBI ISBN 978-3-95865-395-5

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

„Was zwischen euch und eurem Gott steht, das sind eure Vergehen, denn eure Hände sind mit Blut befleckt, eure Finger mit Unrecht, eure Lippen lügen und eure Zunge flüstert Bosheit. Man stützt sich auf Nichtigkeiten und stellt haltlose Behauptungen auf, ihre Taten sind Taten des Unheils und Gewalttat ist in ihren Händen. Ihre Gedanken sind Gedanken des Unheils, Scherben sind auf ihren Straßen. Darum bleibt das Recht von uns fern und die Gerechtigkeit erreicht uns nicht. Wir hoffen auf Licht und es bleibt finster, denn unsere Sünden gegen andere sind zahlreich. Nur wir sind uns unserer Vergehen bewusst und kennen unsere Schuld.“

Jesaja 59

PROLOG

„Eine Person hat viele Facetten.

JEDER!

Überall ergibt sich ein Teilstück.

Etwas, das man zu kennen meint oder zu sehen glaubt.

In jeder Situation oder in einer Sache kommt nur

ein Teil rüber!“

Joanna

Der Raum wurde durch den Kristallleuchter an der Decke mit seinen matten Lichtkerzen in einen diffusen, leicht rötlichen Schein getaucht. Dominant hob er sich von der übrigen Einrichtung des Zimmers ab. In der Mitte der Decke, die in ihrer klaren Struktur aus Holzpaneelen nur durch Spiegel unterbrochen wurde, schob er sich majestätisch in den Mittelpunkt. Das Licht der Kerzen strahlte dumpf und doch leicht glitzernd wider in die Spiegel und den Raum, der nicht so immens viel an Mobiliar aufzuweisen hatte, als dass es dem Leuchter gerecht würde.

Leicht konnte man durch seine totale Herrschaft gewisse Dinge übersehen. An acht massiven Gliederketten wurde er getragen und das feine Kabel, das oben ganz fein in die Decke verlief, wurde geflissentlich übersehen. Es ist sowieso nicht der Rede wert. Wen interessiert es? Hier überwiegen intensivere Dinge. Anderes kommt wesentlich mehr zum Tragen. Was guckt man da nach eventuellen Kabeln, die doch nicht so gut verlegt wurden?

Die Tapeten der Wände waren in dunklem Rot bis Rostbraun gehalten. Mit großen Blumenmustern und schwarzem Hintergrund. Mystisch und geheimnisvoll muteten sie an und das rötliche Licht des Leuchters tat das Seinige dazu. Auf der Fensterseite, welches durch zwei schwere, dunkelrote Samtstores verdeckt wurde, stand etwas seitlich ein kleiner, runder und barocker Tisch mit einem feinen, weißen Spitzendeckchen. Zwei Sektgläser, beide halbvoll, warteten auf ihre Genießer. Zwei feingliedrige barocke Sessel mit einer zu den Samtstores passend überzogenen Sitzfläche standen achtlos in unmittelbarer Nähe des Tisches. Etwas dahinter eine große antike Kristallvase. Gegenüber des lieblichen Barockensembles, an die Wand angrenzend ein großes, französisches Bett. Mit glänzendem, dunkelrotem Samt überzogen, eine rostbraune Tagesdecke achtlos neben dem Bett auf den dunkelbraunen Parkettboden geworfen. Die Bettwäsche aus knallrotem Satin lag zerknüllt auf dem Bett und hing ebenfalls ein wenig über den Bettrand und bedeckte teilweise den Boden. Die Wand hinter dem Bett zierte ein Spiegel, klar in seiner Form und ohne Umrandung. Auch hier sah man bei genauestem Hinsehen ein feines Kabel zwischen Wand und Spiegel verlaufen. Kameras befanden sich in dem Raum. Kameras, die das Geschehen und die Aktivitäten der jeweiligen Bewohner auf Bild festhielten.

Der Raum gab nichts preis. Nichts. Außer dass sich, bevor hier diese nunmehrige Ruhe einkehrte, jemand in diesem traumhaften Bett schöne Stunden beschert haben musste, so zerknüllt waren die Laken.

Ruhe? Stille?

Im angrenzenden Raum, der einen Lichtschimmer auf den kleinen Tisch warf, wurde ein Streitgespräch immer mehr hörbar. Das Bad war wesentlich heller als der Raum nebenan. Es erfüllte ja auch andere Zwecke, obgleich auch dieser Raum in leichtem Rotlicht leuchtete. Eine wunderschöne, hell orangerot marmorierte Badezimmereinrichtung nahm den Blick des Betrachters in Beschlag. Über der großen Waschmuschel hing wiederum ein großer Spiegel, dieses Mal mit einer feinen Holzeinrahmung in den Farben orange, rot und braun gestreift. Der einzige Spiegel übrigens in diesem Bad. Dahinter verlief ebenfalls ein feines Kabel. Auch dieser Raum wurde überwacht. Unbeteiligte konnten diese feinen Drähte nicht ausnehmen. Kenner wüssten das, doch manch anderer nahm keine Notiz davon, geschweige denn, er würde überhaupt die Idee in sich aufkeimen lassen, dass alle Schritte in diesen Räumen beobachtet werden könnten. Wenn nicht gleich, so doch nachträglich. Auch neben einem der Spots, die in der Decke eingelassen worden waren, war eine Überwachungskamera vorhanden. Eine freistehende, moderne Badewanne stand in einigen Schritten seitlich zum Waschbecken.

Vor einer Viertelstunde noch räkelten sie sich wohlig entspannend zu zweit in dieser Badewanne. Er stieg, nachdem er bei ihr wieder auf taube Ohren stieß, teils entmutigt und teils zorngeladen aus der Wanne. Durch das dauernde Drängen des Mannes, seinen Willen durchsetzen zu können, war auch sie schon ziemlich sauer und entnervt. Ihre Stimme wurde während des Streits immer schriller und übertönte die kurzen Einwände und Forderungen des Mannes völlig. Das schrille Gezeter ging plötzlich über in ein Schreien. Die Kamera erfasste völlig das Bild der Badewanne. Woher plötzlich das Messer kam, das er in der Hand hatte und drohend über ihrem Brustkorb schwebte? Sie versuchte das Bild zu erfassen, aus der Situation herauskommen zu wollen, aber es gelang nur für Sekundenbruchteile. Nur kurz drangen diese Blitze in ihr Hirn. Der Wahnsinn, die Angst begannen alles, was sie vernünftig tun könnte, zu überrollen. Nur gestammelte, unzusammenhängende Wortfetzen und Erstaunen, dass das wirklich passiert? Er hatte andere Augen als zuvor. Schien durch sie hindurchzusehen. Sie nicht wahrzunehmen. Selbst als sie ihm entgegen schrie: „He ich bin es doch, komm zu dir“, schien er es nicht mehr zu registrieren. Nach diesen Sekunden, die der Frau wie eine Ewigkeit vorkamen, spürte sie kurz und brennend den ersten Stoß der Klinge, die sich in ihren Brustkorb bohrte. Oben neben einem der Spots wurde das Bild der Szenerie in ruhiger Manier auf1genommen und festgehalten. So wie es die seelenlose Technik vollbringt, Fakten ohne Gefühl. Die Kamera erfasste die ganze Wanne, doch eben nur die Wanne mit der Frau, die um ihr Leben schrie. Die Hand, den Oberarm, Füße des Mannes, doch nicht das ganze Bild. Dem Unwissenden hilft das Glück? Unbarmherzig filmte die Kamera weiter. Die schrillen panischen Schreie der Frau ließen sich im Bild nur durch den weit aufgerissenen Mund, die entsetzt funkelnden Augen und den verzerrten Gesichtsausdruck erahnen. Die Hand des Täters fuhr zurück und wieder nach vorn. Ein entsetzlicher Blutrausch begann. Nicht einmal, nicht zweimal, nicht dreimal fuhr das Messer mit voller Wucht in den Körper der Frau. Sechzehn Mal wurde es ihr in den Leib gestochen und jedes Mal schossen durch die Wucht, wie die Klinge bei dem Stoß in den Körper gerammt wurde, ihre Beine aus dem Wasser in die Luft und Wasser und Schaum platschten auf den Fliesenboden. Ihre langen, nassen, schwarzen Haare klatschten um ihr Gesicht und das Blut spritzte wie Fontänen an die Marmorfliesen an der Wand und den Boden, Spritzer der Lebenstropfen begannen die Decke zu zieren.

Der Albtraum schien kein Ende nehmen zu wollen. Der Blutrausch und die Raserei nahmen kein Ende und noch immer erfasste die Kamera kein volles Bild des Mannes, der wie von Sinnen erst durch den Beginn seiner Tat so richtig in Fahrt zu kommen schien. Nach den tödlichen Stichen in Herz und Lunge der Frau packte er sie an den Haaren und den Oberarmen und tauchte sie noch ewig lange unter Wasser, schien sie für immer unten halten zu wollen, so lange dauerte das Schauspiel.

Die Rückansicht des Täters kam so ins Bild der Kamera und doch nicht erkennbar. Schaum, Wasser und Blut bedeckten die kurzen Haare. Nackter Rücken wurde sichtbar und ein Kopf, dem anscheinend keine Haare, sondern nur blutiger Schaum angehörten.

Endlich schien er genug zu haben und ließ ab von seinem Opfer. Er erhob sich, wandte sich aber nicht um. Ein gesichtsloser Täter. Er hatte noch nicht genug. Er trat auf sein Opfer ein. Mit voller Wucht hieben seine Füße auf den leblosen Körper der Frau ein und verpassten ihr einen Tritt nach dem anderen. Blutige Spritzer und Lachen zierten immer mehr die Fläche rund um die Badewanne. Irgendwann, irgendwann nach geraumer Zeit ließ er ab und entfernte sich. Der Leichnam der Frau lag in der Wanne, besudelt mit Blut bis zur Unkenntlichkeit. Wenige einzelne, verklebte Strähnen ihres langen Haares fielen über Gesicht und Oberkörper. Nur dieses Bild blieb über. Es schien beinahe, als ob die Zeit stehengeblieben wäre bei dem High-Speed-Videogerät neben dem Spot ober der Decke. Die Kamera, die penibel genau die gespenstische, grauenvolle Szene festhielt bis zum bitteren Ende. Ohne Täter. Zumindest ohne das Gesicht eines Täters.

ERSTER TEIL

1

FRÜHJAHR 1986

Um diese frühe Morgenstunde war es in der kleinen Wohnung im Erdgeschoss noch relativ ruhig. Erstes Morgenlicht begann in die Räume zu dringen und ließ ein wenig die Umrisse der schlafenden Gesichter in ihren Betten erkennen. Leises Schnarchen wurde untermalt vom leicht einsetzenden Morgengesang der Vögel. Langsam vom Tiefschlaf wieder in die Traumphase gleitend begannen die Schlafenden ihr Spiel abermals. Ein Drehen und Wenden in ihren Betten kündigte ein eventuelles Aufwachen an. Doch schienen sie gefangen in ihren jeweiligen Traumlandschaften. Leise tickte der Wecker, der wohlweislich am Vorabend gestellt wurde, damit der Tagesablauf pünktlich beginnen konnte.

Ein immer stärker werdendes Klopfen drang in die Träume der jungen Frau, die zusammengerollt auf der rechten Bettseite schlief. Es vermischte sich wunderbar mit ihrer Traumlandschaft. Gekonnt wurde es integriert und fand seinen Platz in der Geschichte, die sie noch gefangen hielt. Dieses Klopfen wurde aber so permanent, dass es sich doch so weit nach vorne schob, um ihr Traumgebilde zu zerreißen und sie hochschrecken ließ.

Immer noch ziemlich schlaftrunken, rappelte sie sich hoch, um zwei und zwei zusammenzählen zu können. Es dauerte noch eine kleine Weile, bis ihr klar wurde, dass es draußen klopfte. Sie schälte sich aus ihrer Bettseite. Ein kurzer Blick zur Seite zeigte ihr, dass auch ihr Mann etwas schlaftrunken blinzelte und sie fragend ansah. „Was ist denn da los? Um diese Zeit keine Ruhe?“

„Ich weiß es auch nicht. Ich schau mal nach ...“ Gleichzeitig sah sie sich suchend nach ihren Hausschuhen um. Ein Schuh lag neben dem Nachttischchen, der zweite unterhalb des Bettes. Sie langte nach beiden, schlüpfte hinein und ging zum Schrank. Ihm entnahm sie ein langes T-Shirt und zog es über. Danach schlurfte sie mehr als sie ging, immer noch schlaftrunken, zur Haustür. „Wer ist da?“, fragte sie durch die noch verschlossene Tür. „Mina, wir sind es. Papa und Mama.“

Sie sah auf ihre Armbanduhr und wunderte sich. Knapp fünf Uhr vorbei. Was wollten die um diese Zeit? War jemand gestorben?

In ihre Überlegungen hinein öffnete sie den beiden die Tür und ließ sie eintreten. Beide trugen ernste Gesichter zur Schau, sagten aber nichts. Außer dem Räuspern ihres Vaters, was er ohnehin öfters tat, wurde nichts verlautbart. „Was macht ihr so zeitig hier, ist etwas passiert?“, fragte Mina, während sie in Richtung Küche marschierte und nebenbei fragte: „Möchtet ihr einen Kaffee?“ „Ja, ein Kaffee wäre gut.“, meldete sich ihre Mutter als Erste. Der Vater trug zur Unterhaltung mit einem erneuten Räuspern bei. „Schlafen die Kinder noch?“, tat die ihre Mutter sehr verschwörerisch im Tonfall. „Noch, Mama, noch! Sonst wären sie schon raus gestürmt, vermute ich. Aber lange wird es sicher nicht mehr dauern.“ Beide hatten es sich sofort nach ihrem Betreten der Küche auf der Eckbank gemütlich gemacht. Wenn man das so bezeichnen kann, angespannt und aufrecht wie sie da saßen. Vaters gelegentliches Räuspern und Mutters unruhige Hände, die Finger in dauernder Bewegung, als ob sie sich Krümel von den Innenflächen der Finger wischen müsste, zerstörten dieses Bild. „Wir müssen dir nämlich dringend etwas sagen“, äußerte sich Minas Mutter und ein unruhiger Blick in ihre Richtung ließ nichts Gutes ahnen. Während sie mit den Vorbereitungen fürs Kaffeekochen beschäftigt war, fragte sie: „Was ist denn los?“ Harry, ihr Mann, unterbrach den Beginn der Unterhaltung, die sie noch mehr durchrütteln sollte als alles bisher da gewesene. Kurz drangen Bilder in Minas Gedankenwelt. Sie verscheuchte sie wie immer.

„Guten Morgen, Harry“, begrüßte ihn seine Schwiegermutter freundlich wie immer. Von Vater folgte ein Nicken in seine Richtung. Beide - Minas Vater, wie auch ihre Mutter - waren keineswegs angetan von ihrem Schwiegersohn, was sie aber nicht daran hinderte, ihm gegenüber so liebevoll wie nur möglich zu sein.

„Morgen“, gab Harry zurück und setzte sich ihnen gegenüber auf einen Stuhl.

Er sah auf die Uhr.

Seine Schwiegermutter registrierte es und meinte: „Es tut uns leid, dass wir so früh bei euch vorbeikommen, aber wir wollten, dass ihr es sofort erfahrt, noch bevor ihr raus geht und vielleicht angesprochen werdet. Dann wäre es vielleicht umso schlimmer, weil ihr auf nichts vorbereitet seid.“ Mit ihrer geheimnisvollen Art, den beiden jungen Leuten offensichtlich Aufregendes mitteilen zu wollen, ohne die Katze aus dem Sack zu lassen, machte sie Mina jetzt schon etwas grantig. Der Kaffee war fertig, sie schenkte die Tassen voll und trug sie zum Tisch. Ein Blick hin zu Harry ließ sie erkennen, dass seine Neugierde schon stark geweckt war. „Jetzt sagt schon, was ist denn los?“, versuchte sie nochmals ihr Glück. „Schlafen die Kinder sicher noch?“, wich ihr die Mutter aus.

Nachdem Mina kurz an ihrem Kaffee genippt hatte, stellte sie die Tasse beiseite und ging zum Kinderzimmer. Ein Blick hinein zeigte ihr, dass beide Kinder noch schliefen. Alana hatte sich die Decke bis über beide Ohren gezogen, anscheinend zum Schutz gegen den Lärm, der sie sicher auch in ihre Träume verfolgt hatte. Und Michael, der auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers schlief, schnarchte leise vor sich hin. Sie drehte sich um und schloss leise die Tür. „Ich glaube, sie werden noch ein wenig schlafen“, beruhigte sie ihre Mutter, die ihr mit unruhigem und sorgenvollem Blick entgegensah. Mina nahm sich ihre Kaffeetasse, führte sie an die Lippen. Angespannt blieb sie neben der Küchenanrichte stehen und sah ihre Eltern erwartungsvoll an. „Schatz, willst du ...?“. Ein Räuspern, ein Kopfschütteln. „Es ist so schlimm und wir wissen, dass du meist nicht fern siehst“, begann Minas Mutter und sah sie dabei intensiv an, „sonst hättest du es schon in den Abendnachrichten gehört. Es wurde nämlich im ganzen Land ausgestrahlt. Auf allen Kanälen. Josh hat jemanden umgebracht.“

Beinahe hätte sich Mina an ihrem Kaffee verschluckt. „Was?“ Langsam schien eine Art Erstarrung an ihr hoch zu kriechen. „Josh?“ Harry hob es fast von seinem Stuhl. Interessiert rutschte er nach vor. „Jemanden umgebracht?“ Die junge Frau sah Vater an, Mutter an, hin und zurück. Tausende Gedanken, Eindrücke, Erlebnisse, Fremdmeinungen, eigene Meinungen durchrasten in Sekundenintervallen ihren Geist, während ihre Mutter den Faden wieder aufnahm: „Er hat eine Prostituierte umgebracht.“ Minas Mutter zog nun eine zusammengefaltete Zeitung aus der Handtasche und breitete sie auf dem Tisch auf. Sie musste das Blatt nicht aufschlagen. Demonstrativ deutete sie auf ein Bild der Titelseite und klopfte mit dem Zeigefinger darauf. Harry nahm die Zeitung an sich, um das Bild genauer betrachten zu können. Währenddessen fuhr seine Schwiegermutter fort: „Es ist in der Abendschau gebracht worden. Du weißt ja, Papa schaut sich alle Nachrichten an und plötzlich kam das. Wir waren auch ganz fertig. Und als wir uns halbwegs gefangen hatten, wussten wir, dass wir es euch so früh wie möglich sagen müssen, damit ihr Bescheid wisst, wenn ihr nach draußen geht und euch irgendjemand fertigmachen will.“

Fragen über Fragen stürmten auf Mina ein, nichts ließ sich einordnen, was hier passierte, und deshalb versuchte sie dort den Faden aufzunehmen, wo sie gerade standen.

„Wer sollte uns denn fertigmachen, ich verstehe dich nicht, Mama“, und doch ging gleichzeitig zu dieser Frage an ihre Mutter der Blick kurz aus dem Küchenfenster, wo der werte Herr Nachbar schon so zeitig in der Früh mit einer aufgeschlagenen Tageszeitung auf und ab ging.

„Als die Nachrichten beendet waren, dauerte es nicht lange und das Telefon stand nicht mehr still, Mina. Dauernd rief jemand an und schimpfte uns Mörder. Oder du Mörderwerferin. Es war so furchtbar. Was kann ich denn dafür, dass er solche Sachen macht?“ Ihrer Mutter liefen nun die Tränen die Wangen runter. „Was der uns anschauen lässt.“ Endlich meldete sich nun auch der Vater zu Wort. Die junge Frau registrierte seinen Kommentar nur nebenbei, er war ihr mehr oder weniger egal, doch das unvollständige Mosaik machte ihr Sorgen. „Mama, was soll denn genau passiert sein? Und wieso ist sich die Polizei so sicher, dass er es war?“

„Der“, und ihr Vater dehnte das Wort mit strengem Blick, „war es hundertprozentig.“ Mit funkelndem Blick schaute die Tochter in Richtung ihres Vaters. Wut, die sich ihrer immer mehr bemächtigte, drängte sie, aufzustehen und drohend richtete sie sich vor ihm auf: „Für dich“, und auch sie zog dieses Dich in die Länge, „war er es immer. Was hältst du schon auf uns, einen Scheiß.“ Und nach diesem Gefühlsausbruch sackte ihr aufgekommener Mut wieder in sich zusammen.

Es war Mina jedes Mal sofort ein Bedürfnis, egal wie viel sie von den Fakten wusste, ihren Bruder zu verteidigen. Und alles, was der Vater sagte, nahm sie derart persönlich auch für sich. Sie lief ins Kinderzimmer zu ihren Kleinen und setzte sich mit wild klopfendem Herzen zu Alana aufs Bett. Sie weinte haltlos. Wie so oft registrierte sie nicht den gegenwärtigen Sachverhalt, dieser drängte weg, raus aus ihrem Gedankenschema, raus aus ihrem Leben. Es war zu unwirklich. Nur die Schuld und die Gefühle der Abneigung gegenüber ihren Eltern drangen zu ihr durch und je mehr sie davon an sich heran ließ, um so mehr heulte sie sich die Seele aus dem Leib. Schuld und Schuldzuweisungen. Sie konnte nicht Rücksicht auf das Schlafen ihrer Kinder nehmen oder wie viel sie jetzt wieder vom familiären Dilemma mitbekommen könnten, sondern sie suchte fast bewusst ihre wärmende Nähe. Sie waren alles, was Mina hatte. Ein Scheißleben und zwei kleine Sonnenscheine, die immer wieder wärmende Strahlen in dieses durch Unordnung und scheinbarer Ziellosigkeit gekennzeichnete Leben warfen. Trotz dieses Tohuwabohus, das sie durch ihr aufgelöst sein und ihr bitteres Weinen im Kinderzimmer veranstaltete, schienen sich ihre Kinder daran nicht recht zu stören. Michael zog sich nun auch kurz die Decke über den Kopf und rührte sich sonst noch nicht weiter und Alana igelte sich noch mehr in ihre Betthöhle. Ihre Mutter trat vorsichtig an sie heran und setzte sich neben sie ans Bettende: „Mina, schau. Wir müssen stark sein. Stark für die Kinder. Sie können ja mit solchen Sachen nichts anfangen.“ Bla..., bla..., bla..., dachte Mina kurz und heulte weiter. Sie versuchte, sich zu fangen, konnte den Tränenfluss aber nicht steuern. Bla..., bla..., wenn denen das nur schon bei uns eingefallen wäre. Sie ignorierte die Mutter. „Er muss öfter bei dieser Prostituierten gewesen sein, haben sie gestern in den Nachrichten gesagt“. Die Ältere sprach leise auf die Jüngere ein und legte einen Arm um sie. Solche Zuwendungen der Liebe, der Anteilnahme und des Trostes gab es normalerweise nie. Doch dies war offensichtlich ein familiärer Ausnahmezustand, der es möglich machte, dass ein zärtliches Andrücken seinen Platz fand zwischen Mutter und Tochter. „Was tut er dort als verheirateter Mann? Die haben doch ein kleines Kind zu Hause.“

Die junge Frau weinte weiter in sich hinein, während sie nichts von all dem glauben mochte, was die beiden ihr da aufzutischen versuchten. Sie wusste ja, dass ihr Bruder schon einige Male in einem Bordell war, was sie aber schon vorher nie verstand. Sie schrieb es immer dem schlechten Vorbild der Erwachsenen zu, die immerfort von nichts anderem redeten als von Sex, Weibern und Gelüsten. Jeder Witz war anzüglich. Doch jetzt verstand sie es noch weniger, Josh hatte ja jetzt alles, was wichtig war. „Das weiß ich auch nicht, Mina. Aber ins Puff ist er sehr gerne gegangen. Weißt du nicht mehr, wie er Hartmut einmal in so ein Etablissement mitgeschleppt hat und das, obwohl er erst kurz aus der geschlossenen Anstalt entlassen wurde. Das habe ich ihm sowieso übel genommen.

Hartmut hatte mit solchen Dingen nie was am Hut.“ Sie schüttelte dabei verärgert den Kopf. „Auf jeden Fall war er dort Stammkunde. Er dürfte überhaupt nur zu dieser Hure gegangen sein.“ Mina wiegte weinend den Kopf hin und her. Hartmut kam ihr in den Sinn. Ja, er war so ganz anders als Josh. Er wurde von Mama als einziger von hinten bis vorne verwöhnt. Für Vater waren alle drei gleich. Es war in Ordnung, wenn es keine Schwierigkeiten mit seinen Kindern gab. Es war in Ordnung, solange er in seinen Bedürfnissen nicht die geringste Behinderung und Widerstand zu spüren bekam. Seine Kinder gingen irgendwo, so schien es jedenfalls, an ihm vorbei. Und die Mama, die pickte sich einen von den dreien als ihren Liebling heraus und das war Hartmut. Er war auch viel lieblicher zu ihr, im Gegensatz zu ihren beiden anderen Kindern. Diese waren immer ein wenig aufsässiger, störrischer und weniger pflegeleicht. Und gerade ihr Hartmut - ihr Engelchen - ging mit in den Puff. Na, das schien ja nur auf Josh schlechten Einfluss zurückzuführen zu sein. Und wieder kam es dicke, da ja Josh mit von der Partie war. Hartmut, der so geschützt und behütet schien, sah die Welt dort mit seinen eigenen verträumten Augen.

Er verliebte sich am selben Abend in eine Philippinin, die ihn dort an der Bar ansprach. Er blieb den ganzen Abend bei ihr an der Bar und zahlte, obwohl er sonst sehr knauserig war, jede Menge Getränke für sie. Er versuchte auch sie wiederzusehen und bat um eine Verabredung. Hartmuts Dummheit war nebenbei noch, dass er als Filialleiter eines Fotogeschäftes zwei Abende vorher die Einnahmen hinten im Fond seines Wagens hatte liegen lassen, um sie erst nach dem Fußballmatch, auf das er sich als großer Fan schon die ganze Woche über gefreut hatte, zum Schließfach der Bank zu bringen. Er dachte sich nicht viel dabei, die Geldeinnahmen erst später abzuliefern. Nach Ende des Matches, das zwei zu null für seine Mannschaft ausgegangen war und ihn in Höchstlaune versetzte, wollte er das Aufgeschobene nachholen, fand aber im Fond seines Wagens nichts mehr vor als gähnende Leere. Eisiger Schreck durchfuhr ihn. Aus Angst vor den Folgen gab er den Verlust des Geldes nicht gleich bei seinen Vorgesetzten in der Zentrale an, sondern hoffte, die Einnahmen, die sich für diesen Tag so um die dreißigtausend Schilling beliefen, aus Eigenmitteln irgendwie nachträglich einzahlen zu können. Er meldete den Verlust ebenfalls nicht bei der Behörde.

Panische Angst ließ ihn nicht klar denken, er fühlte sich nicht fähig, diese beiden Dinge zu erledigen und den Verlust des Geldes zur Anzeige zu bringen, da er wusste, dass er das Geld unverzüglich nach Geschäftsschluss zur Bank hätte bringen müssen.

Es würde ihn ja auch den Arbeitsplatz kosten, wenn er angeben würde, dass er wegen eines Fußballspiels nicht ordnungsgemäß gehandelt hatte.

Und Hartmut war immer sehr korrekt. Bevor Hartmut natürlich noch die Möglichkeit hatte, aus Eigenmitteln den Schaden wieder gutzumachen, fiel der Zentrale dieser Verlust auf und diese erstatteten Anzeige. Die Polizei hatte den Sachverhalt zum größten Teil sofort recherchiert und sie verhafteten Hartmut wegen Diebstahls.

Die Indizien waren laut Polizei erdrückend: Hartmut hatte Geldprobleme, auf seinem Konto war ein Überzug von etwas über dreißigtausend Schilling, was darauf schließen ließ - nachdem sich die beiden Beträge so glichen - dass er als Täter in Frage käme. Die Polizei recherchierte im Übrigen noch genauer. Sie fanden heraus, dass Hartmut eine Affäre mit einer Prostituierten zu beginnen gedachte und dass er dafür wohl Geld benötigen würde. Für die Polizei war es klar und ihr Fall abgeschlossen, Hartmut war der Täter. Hartmut bestritt jedes Mal vehement die Tat. Er blieb bei seiner Aussage, dass er das Geld im Fond seines Wagens hätte liegenlassen, um zu seinem Fußballmatch zu kommen und dass es anschließend nicht mehr dort gewesen sei. Hartmuts Mutter war fertig, die Familie kannte sie nicht mehr wieder. Sofort von jeglicher Schuld bei den beiden anderen Kindern überzeugt, war es bei Hartmut anders. Er konnte es doch nicht gewesen sein, nicht ihr Hartmut. „Hartmut hat nicht einmal einen Föhn in der U-Haft. Wisst Ihr, was das bedeutet für ihn? Er ist immer so eitel. Hartmut ohne Föhn. Mein armes Kind“, lamentierte die Mutter weiter.

Sie versuchte, ihren Mann davon zu überzeugen, dass Hartmut nie und nimmer schuldig sein konnte. Er wäre dazu nicht geschaffen. Man müsste etwas unternehmen. Sämtliche große Tageszeitungen wurden hinzugezogen, die Firma konsultiert, in der Hartmut arbeitete. Der Firmeninhaber war auch derselben Meinung, dass so etwas Hartmut nicht ähnlich sehe, und auch er beschloss, dagegen anzugehen und betraute einen prominenten Rechtsanwalt mit der Sache. Durch diese Gemeinsamkeit und dem Wirbel, der nun die Öffentlichkeit bewegte, war die Polizei gezwungen, den Fall noch einmal genauestens zu untersuchen.

Dabei kam Neues zutage. Man recherchierte etwas genauer. Hartmut hatte in seiner Eigenschaft als Filialleiter in der Woche vor dem Diebstahl einen Mitarbeiter entlassen. Dieser fühlte sich ungerecht behandelt und wollte es Hartmut heimzahlen. Er wusste von seiner Fußballleidenschaft und dass er die Geschäftseinnahmen erst nach einem Match einzahlte. Er wusste auch, da er schon zweimal mit Hartmut bei solchen Matches war, wo dieser sein Auto parkte und wo das Geld lag. Der Fond war nicht schwer aufzubekommen, in solchen Sachen hatte er Übung. Aus Rache an der Entlassung entwendete er das Geld. Nachdem ihn die Polizei in die Mangel nahm, gab er den Diebstahl zu, übergab das Geld, welches noch fast vollzählig vorhanden war, der Behörde, und Hartmut kam frei. Der Schock saß ihm in den Gliedmaßen. Aber er hatte Glück, wäre niemand hinter ihm gestanden, wäre der Fall abgeschlossen gewesen. Die Zentrale beschloss, Hartmut in einer anderen Filiale einzusetzen, damit Gras über die Sache wachsen konnte.

„... und gestanden hat er die Tat auch!“

2

Die Mutter holte Mina wieder in die Realität zurück. „Auf die Frau wurde sechzehn Mal eingestochen und dann wurde sie noch ertränkt und gewürgt. Und sie haben gesagt, dass der Täter danach noch ziemlich oft auf die Frau eingetreten hat. Es gibt ein Video, das grauenvoll sein muss.

Sie sagen, es wäre ein regelrechtes Blutbad gewesen. Furchtbar.“ Mina wurde wieder ein wenig an die Brust der Mutter gedrückt. „Das gibt es doch gar nicht. Zu so etwas wäre Josh doch gar nicht fähig.“ Ein Bild schob sich vor Minas Denken. Josh als Teenager, weinend in seinem Bett, voll von Sorgen und Kummer. Er hat ihr in solchen Momenten immer so leidgetan. In dieses Bild drangen leise die Worte ihrer Mutter ans Ohr.

„Er war doch immer schwierig. Weißt du nicht mehr, die Vergewaltigungen?“ „Das hat er doch alles nur dem Papa abgeschaut. Das waren doch keine Vergewaltigungen. Lauter Ableger vom Papa.“

„Und das Mädchen vom Kaiserwald?“, versuchte die Mutter das Gespräch ins rechte Licht zu rücken.

„Damit hatte Papa nichts zu tun.“

Minas Vater, der nun den Türrahmen ausfüllte - er musste leise nachgekommen und nähergetreten sein - meinte: „Jetzt sage ich dir was. Machen kannst du vieles, aber wenn du so blöd bist und dich erwischen lässt, dann sollte man es lieber bleiben lassen. Ich lasse mir doch von dem nicht mein Leben ruinieren.“

„Was hast du nur immer für eine scheinheilige Doppelmoral“, giftete seine Tochter in Richtung Türrahmen. Schon lange hatte sie keine Angst mehr vor diesem Menschen. Ekel und Abscheu dominierten in ihren Gedanken an ihn. Wie sie ihn hasste. Er hat uns alles verpfuscht, dieses Scheusal, dachte sie kurz. Jeder, der nichts von ihnen wusste, liebte und achtete ihn. Der Karl, der Künstler. Der Wahnsinnstyp. Darauf spucke ich, dachte Mina bei sich. „Mina, bitte. Wir müssen jetzt zusammenhalten.“ Ihre Mutter versuchte den aufkeimenden Ärger in seinen Anfängen zu unterbinden.

„Wir müssen zusammenhalten. Und er hat gestanden.“ Sie wiegte ihre Tochter in ihren Armen hin und her, ein Unterfangen, das an Mina herablief wie sauer gewordene Milch. Wann hat sie mich jemals in ihren Armen gehalten, getröstet und gewiegt?, dachte sie bei sich. Wahrscheinlich tröstete sie sich selber damit. Inzwischen ging der Vater zorngeladen wieder in die Küche zurück.

Alles wegen diesem Trottel von missratenem Sohn. Und sie kann auch bald ein paar bekommen, wenn sie sich nicht bald einkriegt!, dachte er zornesschwanger. Gut, er war ein notorischer Fremdgeher und hatte oft was am Laufen. Aber wenn der Scheißsohn dieselben Weiber anbaggert, hat der einen Vogel. Ihm gleichtun. Dazu hat der nicht das Hirn, so schaut es aus. Klar, er hatte einige wenige Freunde, die durch gleiche Interessen so zusammengeschweißt wurden in den Jahren, dass sie sich teilweise gleiche Liebschaften teilten. Jeder hielt den Mund. Deren Weiber duldeten das auch, zumindest soweit sie etwas mitzubekommen begannen. Denn die Freunde hielten sowieso zusammen und deckten sich gegenseitig. Keiner hätte sich dem anderen entgegenstellen können, dafür wussten sie zu viel voneinander. Die Männer waren vollkommen loyal zueinander. Und jeder einzelne von ihnen hatte Grips in der Birne. Der Bürgermeister, Jonas, der Wirt zum Goldenen Ochsen, der Fachlehrer Firner zum Beispiel. Aber dieser Abschaum von Sohn? Will mitmischen und zieht uns alle rein. Na klar, sonst noch Wünsche. Nein, gegen Freunde ging nichts!, dachte Karl. Da handele ich lieber über die Köpfe dieser missratenen Kinder. Wenn schon Köpfe rollen sollten und mussten, dann die vom geringeren Übel. Basta.

Immer noch vor Wut schäumend setzte er sich in der Küche dem Schwiegersohn gegenüber. Im Zimmer nebenan wiegte Emma noch immer ihre Tochter, die das Weinen nun aufgegeben hatte, aber zusammengekrümmt und mit geschlossenen Augen in ihren Armen lag. Langsam wurden die Kinder munter. Alana blinzelte aus der Decke hervor: „Hallo, Oma. Opa. Mama, warum weinst du?“

Alles auf einmal und schon war sie neben Mina gekrochen. „Ist schon wieder gut, Mäuschen“, versuchte sie die Situation zu überspielen, was ihr nicht so recht gelang, da die Tränen weiter ihre Bahn ins Freie zu finden versuchten. Sie schniefte und schnäuzte sich in ein von ihrer Mutter dargebotenes Taschentuch. Michael hüpfte unterdessen aus seinem Bett und suchte einen Platz auf Omas Schoß.

„Oma, bringst du mich heute in die Schule?“ Er sah dabei vorher von einem zum anderen, dürfte zu dem Schluss gekommen sein, dass das alles nicht so wichtig wäre, was da an missmutigen Gesichtern herumstand und saß und strahlte Oma an. „Michael, wir bringen heute gemeinsam zur Schule und Alana anschließend in den Kindergarten.“

„Super.“ Michael hüpfte aus Omas Schoß und lief zur Toilette. Alana schmiegte sich noch etwas mehr an den Körper ihrer Mutter. Nachdem ein routinemäßiger Ablauf erfolgte - von Mina wurden Pausenbrote geschmiert und Oma half den Enkelkindern beim Ankleiden - blieben die beiden Männer beim Küchentisch sitzen und hingen schweigend jeder seinen Gedanken nach. Dann und wann beobachteten sie das Treiben der Frauen und der zwei Kleinen. Die unzähligen Sorgen, welche über Mina durch diese Neuigkeit hereinbrachen, nur um noch mehr Staub aufzuwirbeln, versuchte sie beiseite zu schieben, und sie konzentrierte sich auf ihre alltäglichen Morgenaufgaben. Trotz aller Bemühungen, sich irgendwie in den Griff zu bekommen, scheiterte sie kläglich. Es gelang ihr nicht so recht, wirklich in sich aufzunehmen, ob die Kinder alles für Schule und Kindergarten in ihren Taschen hätten. Und ob sie schon alles für mich vorbereitet hätte, wenn sie abfuhr zur Arbeit. Apropos Arbeit. Wie sollte sie sich bloß heute konzentrieren können? Sie seufzte und kämpfte schon wieder mit den Tränen. Alles schien so unwirklich. Diese Farce schien nicht richtig zum Greifen, nicht einzuordnen zu sein. Ihr war, als schien sich ein Teil von ihr zu lösen und sich neben sich zu stellen, um Beobachter dieses Geschehens zu werden. Alles wurde so konfus, Wut, Traurigkeit und Ungläubigkeit wechselten sich ab und vermischten sich zu einem zerrissenen Gedankenbild.

„So, Mina“, meldete sich ihre Mutter nach einiger Zeit und schob Alana und Michael vor sie, „schön sind sie angezogen, oder?“ Die junge Mutter blickte auf die Kleidung ihrer Kinder, während sie noch die Kindergartentasche von Alana mit dem Pausenbrot füllte. „Schön seid ihr, wirklich“, bestätigte sie, obwohl sie ihre Konzentration nicht ausschließlich ihnen widmen konnte. „Dann gehen wir. Hast du alles, Mina?“ „Ja. Dann los“, und Mina startete schon zur Garderobe, um die Westen vom Haken zu nehmen. Sie zog jedem ihrer Kinder eine Weste an und streifte sich selbst eine leichte Jacke über. Kurz bevor sie mit dem Brotschmieren begonnen hatte, hatte sie sich wahllos eine Hose aus dem Schrank im Schlafzimmer geangelt und ihr langes T-Shirt so ziemlich schlampig hineingesteckt.