Das Fenster des Harlekins - Annemarie Albrecht - E-Book

Das Fenster des Harlekins E-Book

Annemarie Albrecht

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Beschreibung

Beflügelt von einem langjährig gehegten Wunsch ergreift Lena Bergmann die Chance zur beruflichen Veränderung. Der Idealismus weicht der Enttäuschung. In einem von Nonnen geleiteten Kinderheim sieht sie tägliche Bilder von Macht und Machtmissbrauch. Die eigenen Gefühle drängen Risse in ihre Seele, der Schock sitzt tief. Lena zieht Bilanz über Menschenbilder, Leidenschaften und über sich selbst.

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Das Fenster des Harlekins

-

von

Annemarie Albrecht

Impressum

Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency

EPUB ISBN 978-3-95865-338-2

MOBI ISBN 978-3-95865-339-9

© 110th / Chichili Agency 2014

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Stürme wehen über das Land, zerfetzen teils mit ihrer Kraft die alten Stämme. Lassen mit unbändiger Macht die Flüsse über die Ufer treten.

Nur ganz unten, in der undurchdringlichen Finsternis tief unter der Erde, wo über ihr das Inferno tobt und Altes herausreißt und tief unter der See, die oberhalb peitschende Wellen schlägt, nur ganz tief unten ist es still und ruhig wie in einem Grab. Eine Momentaufnahme voll ungestörten Friedens. Nichts berührt.

Joanna la Bright

Hat auch Euer Urteil über mich sich zur vollen Wahrheit abgerungen? Gott aber kennt uns durch und durch.

Korinther 4,17

PROLOG

Lange und gründlich habe ich über meine folgenden Schritte nachgedacht. Als ein Mensch voller Selbstzweifel und Ängste musste die Anlaufphase bis zur Verwirklichung diverser Wünsche und Sehnsüchte ihre Zeit beanspruchen.

Freilich, es ist heute alles um einiges leichter und ich habe mich sehr gut im Griff. Ich spüre diese Leichtigkeit, sogar innerlich. Eine Frau, die mich kennt, meinte erst vor kurzem, dass sie selten jemanden trifft, der so sehr in sich ruht wie ich. Na, ich weiß nicht recht? Immer wieder holt mich die Vergangenheit ein und dann bin ich doch wieder machtlos. Eine kleine Aufwühlung der tief in mir wohnenden Schatten und schon beginnen die kleinen boshaften Teufel in mir zu rumoren.

Ich hatte soviel Kraft in mir. So immens viel Power. Ich bin wie leergebrannt. Und dennoch will ich mit allen Mitteln einen Sinn und ein Ziel finden. Ich sitze vor dem Fenster meiner Wohnung. Wehmut beschleicht mein Herz, während ich wie gedankenverloren durch die Glasscheibe blicke. Es ist Herbst und viele der einzeln herabfallenden Blätter von den Bäumen auf der gegenüberliegenden Straße registriere ich und sehe ihnen nach, wie sie langsam, aber sicher mit Hilfe des Windes ein wenig hin und her schwingen und dann zu Boden trudeln. Früher wären mir solche Einzelheiten nie aufgefallen. Geschweige denn, dass ich überhaupt eine halbe Stunde solch ein Treiben beobachtet hätte mit der Faszination eines Kindes. Die Blicke der Menschen haben eben verschiedene Wahrnehmungen. Heute sehe ich in dem Blatt den unumstößlichen Umstand von Werden und Vergehen. Denke an Wachstum, Niedergang, Veränderung und dass alles ist, wie es ist. Und so sehr ich früher den Rummel und den Trubel gesucht habe, so sehr suche ich nun die Stille und Zurückgezogenheit. Fast scheue ich die Menschen, aber wäre es ein Wunder? Ich scheue ja auch mich selbst. Die Teufel ruhen nur, sind durch Willen und meiner gefühlten Kraftlosigkeit lahmgelegt. Aber was ist, wenn sie geweckt werden? Nein, ich traue mir nicht in dieser Hinsicht.

Meine Weihnachtssterne, die ich Jahr für Jahr mit Liebe selbst ziehe, zieren die Fensterbank. Liebevoll berühre ich einzelne Blätter und sehe nach, ob noch genügend Feuchtigkeit in der Erde ist. Für solche Spielereien war früher einfach keine Zeit in meinem Leben. Eine Zeit, die ich mir nun einfach nehmen möchte. Die ich verdammt noch mal dringend benötige. Mein Blick weicht vom Fenster ab und streift liebevoll durch meine kleine Wohnung. Dass ich mit so wenigem auskomme? Unfassbar! Natürlich hatte ich nie Luxus zur Verfügung, doch zumindest den Wunsch danach. Aber Wünsche können sich ändern. Das, was ich benötige, steht mir zur Verfügung und was es darüber hinaus gibt, darf, aber muss nicht sein. Wenn nur Frieden einkehren mag in meine Seele. Ich habe Angst. Ich kann mich doch nicht immer zurückziehen in meine Welt, in meine vier Wände, um das trügerische Gefühl auszuschmücken, dass ich die Harmonie selbst bin? Tief in mir weiß ich, trotz meiner ruhigen Atmung, meiner empfundenen Ausgeglichenheit, meines genüsslich durchatmen Könnens, dass nicht viel, zumindest von ganz bestimmten Dingen, fehlt, dass es derart aus mir heraus bricht, all der Schmerz, all die Pein, dass die Kraft und die Aggression durchkommt, die alles niederwalzt, was sich mir in den Weg stellt, um meine ersehnte Ruhe und Harmonie zu finden.

1-Lansdorf, 2004

Vor einigen Monaten bin ich in diese Ortschaft gezogen. Mir blieb nicht viel anderes übrig, als wieder einmal umzusiedeln. Wie ich es satt habe, immer von neuem beginnen zu müssen. Mich jedes Mal umzuorientieren. Nach dem Tod meines Mannes Manfred im vorigen Jahr wollte ich einfach alles hinter mir lassen und ein neues Leben beginnen. Nichts sollte mich mehr an die Vergangenheit erinnern. Ich versuchte, wie jedes Mal, wenn es zu dicke kommt, mich neu zu erfinden.

Wie eine Schlange zu häuten, das Alte abzuwerfen und neu zu entstehen. Gut, kurzfristig klappt diese Strategie, nur vergesse ich andauernd, dass man nicht so einfach alles abschütteln kann. Die alte Haut liegt ja doch irgendwo am Wegesrand und verrottet nicht so schnell.

Jetzt möchte ich unbedingt meine neuen Ideen in Angriff nehmen. Meine Schuhe, die doch schon ein wenig abgetragen sind – es wird Zeit, dass ich mir ein neues Paar zulegen kann –habe ich vor einer Stunde mit einem zur Farbe passenden Spray behandelt. Als das Spray getrocknet ist, schlüpfe ich hinein. Ein paar Beobachtungen zeigen, dass ich sie relativ ansehnlich aufgemotzt habe. Ein Blick in den Spiegel zur letzten Begutachtung, mein inneres Einverständnis zum Äußeren und ich wende mich – ein Griff zur Handtasche und diese geschultert – der Eingangstür zu.

Die Hitze eines heißen Julitages schlägt mir ins Gesicht. Schwüle und Stille lastet auf den Straßen. Nur vereinzelt begegnen mir Menschen auf meinem Weg. Das Einzige, das zur Genüge herumschwirrt hier draußen, sind Schwärme von Insekten und die Geräusche ihres Sirrens. Das ist alles, das die Stille durchbricht.

Mein Schritt wirkt zwar forsch – ich habe gelernt, mir nicht alles anmerken zu lassen – und zielstrebig, aber hinter dieser Fassade herrscht Unsicherheit und etwas Beklommenheit, auch in Hinblick darauf, was mich erwartet.

Nach einer viertel Stunde erreiche ich meinen Zielpunkt. Das Gebäude prägt imposant die nähere Umgebung. Die Dorfkirche und besagtes Gebäude, ein Kinderheim für Schwerstbehinderte, stehen im Stadtkern. Die Erbauung des Heimes wurde, wie ich in Erfahrung brachte, von der Ordensvorsteherin eines nahen Klosters in Auftrag gegeben und vier Schwestern hierher entsandt, um dieses Heim zu führen.

Antje, eine Bekannte von mir, die hier arbeitet, fragte mich, ob ich mich vorstellig machen wollte, da eine Betreuung für die Kinder gesucht würde. Nun, drei Dinge waren diese Überlegung wert, die mich veranlassen sollten, diesen Weg einzuschlagen.

Erstens bin ich sozial angehaucht, wie man so schön sagt. Wenn jemand Hilfe benötigt und in meinen Augen ein schwaches Glied dieser Gesellschaft ist, dann ist es mir ein fast zwanghaftes Bedürfnis, zu helfen. Dies mag durch meinen eigenen Lebensweg mit all seinen Erfahrungen entstanden sein. Schon lange trage ich mich mit dem Wunsch, diese berufliche Richtung einzuschlagen. Zweitens habe ich eine gewisse Ehrfurcht vor Nonnen und ein Vertrauen in ihre Reinheit. Sie strahlen nach außen hin so eine freundlich lächelnde Aufnahme- und Hingabebereitschaft aus. Sie öffnen sich dem Menschen und entsagen doch allen Gelüsten. So war bis heute mein Menschenbild über diesen Stand - war.

Während ich mir in der brütenden Hitze die Hauspracht ansehe, um mich auf das Kommende einzustimmen, lächle ich versonnen in mich hinein. Ich weiß noch, als zu Oma immer die Nonnen gekommen sind. Oma hatte sich als Pflegemutter drei Kinder aus Heimen geholt und die Nonnen kamen dann und wann sporadisch zu Besuch. Teils um nach dem Rechten zu sehen, teils aber auch, um auf Einladung meiner Oma hin bei Kaffee und Kuchen zu plaudern. Es entstand über die Jahre zwischen ihr und den Ordensfrauen eine respektvolle, tiefgehende und herzliche Zusammenarbeit, wenn nicht gar Freundschaft in gewissem Sinne. Wenn ich bei Oma war und es sich ergab, dass sie Besuch von den Ordensfrauen erhielt, war es auch für mich ein schönes Erlebnis. Und ich spielte mehr als einmal schon als Kind mit dem Gedanken, einen beruflichen Weg einzuschlagen, in dem ich helfen konnte. So in etwa waren die Gedankengänge, wenn ich sah, mit welcher Hingabe und offenkundiger Liebe zu ihren Anvertrauten diese Ordensfrauen agierten. Später ließ mich der Wunsch, mich sozial zu engagieren, noch weniger los. Mit der Zeit wurde es zur Passion, durch leidvolle Erfahrungen, durch die Unrast meines Lebens und meiner Ziellosigkeit. Die Ausübung eines sozialen Berufes erschien mir immer mehr dazu geeignet, mein Seelenheil zu finden.

Ja, und drittens brauche ich dringend Arbeit. Mein verstorbener Mann war zu Lebzeiten fast nie einer geregelten Arbeit nachgegangen, was mir den wundervollen Umstand beschert hat, keinerlei Ansprüche an irgendwelche Witwenzahlungen zu haben. Bis vor kurzem war ich selbst meist in einem Beschäftigungsverhältnis. Doch als gelernte Modistin habe ich es immer sehr schwer gehabt, im Handel unterzukommen. Hüte werden fast ausschließlich nur noch maschinell erzeugt und außer im Handel – auch bei anderen Produkten – als Verkäuferin zu arbeiten, gab es keine Möglichkeit, in dieser Sparte zu bleiben. Gut, wenn ich mich mit diesem Gewerbe selbständig gemacht hätte, doch hier fehlten mir entschieden die finanziellen Mittel. Die Frage der Selbständigkeit hatte sich auch auf andere Weise erübrigt, da ich kurz nach der Lehrzeit meinen Mann geheiratet hatte und das erste Kind unterwegs war. Da ich in den folgenden Jahren meiner Ehe und Mutterschaft doch so ziemlich für alles die alleinige Verantwortung übernehmen musste, blieben eventuelle Ideen in diese Richtung sowie sämtliche Wünsche, die irgendwo in meinem Gehirn als kleine unaufgeräumte Batzen hängenblieben, nicht gelebt.

Vor einigen Monaten musste nun auch noch, neben meinem privaten Desaster, die Boutique in der ich zuletzt arbeitete schließen. Wieder war ich auf Jobsuche. Eine größere Freude konnte mir Antje nicht bereiten, als mich auf dieses Heim aufmerksam zu machen. Mit dem Gedanken, mir völlig neues Terrain zu erschließen, betrachte ich hoffnungsvoll den eindrucksvollen Bau des Heimes. Eine Steinmauer, etwa einen Meter hoch, umgibt das riesige Grundstück, welches mich sofort in seiner Schönheit und Pracht - so wunderbar waren die vielfältigen Bäume, Sträucher, Blumen und Gärten arrangiert und angelegt - in seinen Bann zieht, nachdem ich das massive, hohe Eingangstor neben der Tafel geöffnet hatte und eintrete.

Ich habe mich nicht einmal angemeldet, schießt es mir durch den Kopf. Hoffentlich herrscht hier nicht das sture Regiment mit allen Benimmregeln, denn dann würde man mir dies sicher ankreiden. Aber mir persönlich ist es lieber, wenn ich schnell selber munter drauf los renne und etwas bewege – mein Überraschungsmoment – als dass mein Gegenüber sich zu lange vorbereiten kann und mich vielleicht mit zu vielen Fragen in die Enge treibt. Bis meine Schutzschicht langsam abbröckelt und mich Unsicherheit und Angst zu Schweißausbrüchen treiben, die sich sichtbar als brennende Röte und unkontrollierbarem nervösen Zittern zeigen.

Alles soll schnell gehen und Stärke signalisieren. Souveränität und sicheres Auftreten. Dazu ein freundliches Gesicht, das nichts zeigt als Freude an der Welt, Lebensfreude und Zuversicht. Das zieht doch, oder? Wer will schon ein weinendes Häuflein Elend einstellen?

Diesbezügliche Gedanken verscheuchend, richte ich meinen Oberkörper auf, straffe meine Kleidung und gehe – mir Mut zusprechend – den gepflasterten Weg bis zur Pforte des Heimes.

Auch auf mehrmaliges, nach und nachstärkeres Klopfen rührt und regt sich nichts. Ein Blick nach links lässt den Friedhof der Ortschaft gewahr werden. Nochmals heftig klopfen. Nichts außer brütender Hitze, Vogelgezwitscher und das Summen von Insekten. Ich probiere nun einfach an der Tür, ob offen ist. Die Tür öffnet sich anstandslos und gibt den Blick auf eine hohe, hell geflieste Treppe frei, die in eine Ebene mündet. Der Zugang zur nächsten Räumlichkeit wird durch eine hohe Glaswand, durchbrochen durch eine mit Ornamenten reich verzierte Glastür, abgegrenzt.

Ein wenig empfinde ich es als ungebührliches Eindringen, doch ich will jetzt nicht den Rückweg antreten, ohne zu wissen, ob ich eine Chance habe, hier Arbeit bekommen zu können. Antje meinte zwar, die Oberin nehme vorwiegend Leute auf, welche keine Ausbildung im Behindertenbereich haben, doch noch spüre ich keine Sicherheit.

Während ich unschlüssig in der Tür stehe, immer noch den Knauf in der Hand, wandern meine Blicke zu den hohen Wänden zu beiden Seiten und ich betrachte die lebensgroßen Gemälde, die diesen Raum permanent einnehmen. Die Gestalten scheinen zu leben und jederzeit bereit, herunterzusteigen.

Was habe ich mich als Kind vor solch monumentalen Bildern gefürchtet. Ich habe die Erdrückung regelrecht gespürt. Auch heute macht sich leichte Beklemmung breit, obwohl diese Gemälde in ihren Farben nichts als Helle und Heiligkeit ausstrahlen. Einmal einatmen und die Treppe hoch. Die Glastür schwingt ohne Anstrengung durch leichten Druck von mir auf und gibt den nächsten Raum frei.

Nachdem weiterhin nichts Lebendiges meine Aufmerksamkeit erregt, begebe ich mich forscher auf die Suche. Das gibt es doch nicht, dass hier niemand ist? Es ist doch ein Kinderheim. Aber ich höre kein Lachen oder Plaudern. Nur der Raum selbst spricht Bände. Er wirkt nicht sehr hell, überzeugt aber wieder durch hohe und weit ausladende Bauweise. Links und rechts von ihm gehen Gänge ab. Links steht, zum Förderungsraum und zum Kindergarten. Doch hier ist nichts dergleichen hörbar, was auf Kinder und Leben hinweisen könnte. Stille legt sich in die Räumlichkeit, wie in einer anderen Welt. Rechts kann ich an den Türen die Kanzlei, das Schwesternordinariat und einen Gemeinschaftssaal ausmachen. An den Wänden überladene Ölgemälde und zahlreichen Blumenschmuck in Nischen und an einem großen Holztisch, der schwer und massiv den Raum dominiert. Penible Sauberkeit und spartanische Ausrichtung stehen im Vordergrund. Nur ein großes Fenster, mit dunklem Holzrahmen umrandet, gibt den Blick in einen riesigen Innenhof frei und bringt etwas Helle in diese eher diffuse Dunkelheit, die hier vorherrscht.

Kanzlei, gut. Dann wende ich mich mal dort hin. Aber vielleicht ist hier auch niemand? Ich sollte nicht mehr nachdenken, sonst gibt´s einen Rückzieher. Forsch klopfe ich an und, oh Wunder, es ertönt ein „Herein", freundlich und einladend ausgesprochen. Nun denn, hinein!

„Grüß Gott, das ist aber schön, dass uns jemand besucht. Mit wem habe ich die Ehre?“

Mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen steht auf meinen Gruß hin eine kleine, zierliche Nonne aus ihrem Sessel hinter einem Schreibtisch auf. Sie scheint um die sechzig Jahre alt zu sein. Ihr Schleier sitzt akkurat, nur eine einzelne weiße Haarsträhne stiehlt sich hervor. Der Schreibtisch ist riesig. Es ist ein Tisch, an dem gut und gerne rundherum zwölf bis vierzehn Leute bequem sitzen können. Quadratisch angelegt übernimmt er fast die Hälfte dieses Raumes.

Neben der Ordensschwester hüpft ein etwa fünfzehn, sechszehn Jahre alter Junge aus seinem Sessel und steuert mich ebenfalls sofort an.

„Halt, halt, Christopher“, mahnt die Nonne mit gleichbleibend lächelndem Gesicht und melodisch warmer Stimme, „setz dich bitte wieder hin und lass mich kurz mit unserem Besuch sprechen. Du weißt, man benimmt sich.“ Und sie steuert mich gleichzeitig mit ausgestreckten Händen an. Christopher setzt sich artig auf seinen Sessel, ohne mich jedoch aus den Augen zu lassen. Wachsam und intensiv starrt er mich an.

Ich für meinen Teil, schießt es mir durch den Kopf, bin ganz froh, dass ein Kind zugegen ist. Er scheint zwar ein Jugendlicher zu sein, doch sein Gebaren ist wie das eines kleinen Kindes. Kinder sind unschuldig, sie sind wie sie sind, ohne Falsch und Intrigen. Wenn sie einen mögen, sagen sie es und wenn nicht, sagen sie auch einfach heraus, man solle sie in Frieden lassen. Außerdem lenkt mich dieses Kind etwas von meinen Ängsten ab.

„Grüß Gott, Schwester“, sage ich nochmals und greife nach ihrer Hand.

„Sind Sie von hier? Ich habe Sie noch nie gesehen. Was kann ich für Sie tun?“

„Ja, ich bin von hier, wohne aber erst einige Monate in diesem Ort. Ich wollte Sie fragen, ob ich für Sie arbeiten dürfte?“ Wohlweislich verschweigend, dass Antje mich darauf aufmerksam gemacht hatte, das sie nicht in Verbindung gebracht werden dürfe, mir den Tipp gegeben zu haben. Weiß der Geier, warum, aber gut, dann halte ich mich daran.

„Das ist aber lieb, dass Sie zu uns kommen möchten. Wie heißen Sie, wenn ich fragen darf?“ Sie blickt mir dabei freimütig und aufmunternd in die Augen, mit einem Lächeln, das mich auffängt. Meine Hand drückt sie derweil immer noch.

„Entschuldigen Sie mich bitte, dass ich mich nicht gleich vorgestellt habe. Ich heiße Bergmann. Lena Bergmann.“

„Lena? Gar von unserer heiligen Magdalena hergeleitet? Wie schön. Eine große Heilige, unsere Magdalena.“ Wohlwollend betrachtet sie mich. „Meine liebe Frau Bergmann, wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf? Und...“, sie weist mit ihrer freien Hand auf einen der zahlreichen Stühle, die rund um den Tisch und die Wände entlang stehen, „... setzen Sie sich doch ein wenig.“

Noch während ich, in ihrer Begleitung, einen Stuhl aussuche und mich setze, beantworte ich ihre Frage: „Sechsunddreißig, Schwester.“

„Sechsunddreißig? Sie sehen viel jünger aus. Das hätte ich nie geschätzt. Aber nennen Sie mich bitte Schwester Domenica“. Sie lächelt mich weiterhin an und ich lächle zurück.

Während des bisherigen Gesprächs rutscht Christopher zwar unruhig auf dem Sessel hin und her und sieht mich nach wie vor durchdringend an, doch er verhält sich so, wie ihm aufgetragen wurde.

Mit Besonnenheit und Würde kann die Schwester der Aufgabe nachgehen, sich ihrem Besuch zu widmen. Scheinbar ohne die Sorge, durch den Jungen gestört zu werden.

„So, Sie wollen nun bei uns arbeiten. Warum führt Sie Ihr Weg ausgerechnet zu uns her?“ Diese Frage, scheinbar nur auf Grund zwanglosen Plauderns in den Raum gestellt, doch mit Sicherheit zielorientiert, mit einem mütterlichen Lächeln begleitet.

Ich blicke in ihre warmen, braunen Augen, die nichts rüberbringen, als Interessiertheit und Freude über die Alltagsunterbrechung.

„Ich wollte schon immer, seit ich denken kann, im sozialen Bereich arbeiten. Menschen dort helfen, wo sie jemanden brauchen. Vor allem liegen mir Kinder sehr am Herzen. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir eine Chance geben könnten.“

„Haben Sie Pflegehelfer oder Behindertenbetreuerin gelernt?“

„Nein, leider nicht. Es war zwar mein Berufswunsch, etwas im sozialen Bereich anstreben zu können, doch ich durfte nur wählen zwischen einem Lehrberuf oder mich als Arbeiterin irgendwo zu verdingen. Meine Eltern meinten damals, das sei alles nur Larifari und ich brauche das nicht. Später waren dann meine Kinder und mein Mann...“

„Ach, Sie sind verheiratet?“

„Nicht mehr, mein Mann ist verstorben und...“

„Das tut mir aber leid. Entschuldigen Sie“, und sie tätschelt meine Hand dabei.

„Hast du Zuckerl?“ Aha, Christopher rührt sich. Liebevoll zwar, aber doch mit einem fixierenden Blick auf ihn äußert die Schwester: „Christopher, zuerst mein Gespräch mit unserem Besuch.“

Mehr ist nicht erforderlich. Bemerkenswert, denke ich bei mir. „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Schwester Domenica. Es ist nun fast ein Jahr her.“ Dabei blicke ich zu Boden, obwohl ich innerlich keine Traurigkeit spüre. Trauer schon, die sich sichtbar nach außen abzuzeichnen beginnt, aber nicht um meinen dahin geschiedenen Mann.

„Und Ihre Kinder? Wie alt sind sie?“

Ich spüre, wie sie mich aus dem entstehenden Tief ins Leben zurückholen will. „Mein Sohn ist achtzehn und meine Tochter sechzehn.“

„Dann werden die Kinder noch bei Ihnen im Haus leben.“ Entschiedene Feststellung ihrerseits.

„Nein, Schwester. Beide sind schon ausgezogen und leben jeweils bei ihren Partnern.“

„So jung und schon ausgezogen?“ Leicht, fast unmerklich ziehen sich die Augenbrauen ein wenig höher.

„Ja. Mein Sohn Chris ist seit kurzem zu seiner Freundin gezogen und meine Tochter Ariana schon vor einem Jahr zu ihrem Freund.“

„Dann sind Sie quasi ungebunden und somit auch flexibel.“ Sie sieht mir weiterhin wohlwollend in die Augen, leichtes Wiegen des Kopfes begleitet ihren Blick. „Ja, gut. Jetzt habe ich soviel von Ihnen wissen wollen. Dennoch, zurzeit benötigen wir leider niemanden. Vielleicht sehen Sie sich anderweitig in der Dorfgemeinschaft um. Lansdorf ist ein wirtschaftlich aufstrebender Ort und wie Sie vielleicht schon bemerken konnten, entsteht außerhalb ein großes Industriegelände. Es werden unzählige Arbeitsplätze frei und wie ich erfahren konnte, sucht man diverse Kräfte jetzt schon. Bewerben Sie sich doch bitte beim Gemeindeamt. Sie werden sehen, es ergibt sich etwas.“

„Schwester Domenica, ich weiß, dass ich mich auch anderswo bewerben könnte. Aber wissen Sie, ich möchte so gerne Fuß fassen in diesem Bereich und es hätte mir viel gegeben, wenn ich hier anfangen könnte.“

„Ja, ich verstehe Sie schon. Nur sind Sie nicht einmal Pflegehelfer und wir brauchen derzeit auch keine neue Kraft.“

Was redet diese Antje zusammen? Von wegen ungelernte Kräfte oder es wird dringend jemand gesucht. Ein letzter verzweifelter Versuch in Richtung Domenica. „Gut, Schwester...“, und so wie bei ihr selbst begleitet auch mich weiterhin ein freundliches und wie ich hoffe, aufgeschlossenes Lächeln, „...dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Darf ich Ihnen trotzdem meine Telefonnummer geben? Vielleicht benötigen Sie kurzfristig doch einmal jemanden und dann könnte ich einspringen.“

„Das ist gar keine so schlechte Idee, Frau Bergmann. Manchmal geht es doch ein wenig knapp her. Wenn Sie damit zufrieden sind, es könnte sein, dass wir Sie hie und da benötigen.“ Sie sucht nach einem Zettel und Schreibstift und reicht mir beides nach erfolgreichem Finden auf dem über und über mit diversen Dingen beladenen Schreibtisch. Ich schreibe sorgfältig meine Nummer samt Namen und Adresse auf den Zettel und gebe ihn ihr zurück. Lächelnd nimmt Schwester Domenica den Zettel an sich, besieht ihn kurz und legt ihn in eine Ablagemappe. Die Nonne erhebt sich aus ihrem Stuhl, was für mich das Zeichen ist, ebenfalls aufzustehen und das Ganze zu einem sauberen Abschluss zu bringen. „Verbleiben wir so und ich hoffe, wir sehen uns wieder, Frau Bergmann. Es hat mich sehr gefreut, ein neues Gesicht der Gemeinde kennen zu lernen.“

Ich strecke ihr meine Hand hin, um mich zu verabschieden und sie ergreift sie sofort herzlich.

„Mich hat es auch sehr gefreut, Sie kennen zu lernen, Schwester. Und wie gesagt, sollten Sie mal eine Aushilfe benötigen, bitte rufen Sie mich an. Ich würde mich freuen. Danke für das Gespräch.“

„Ich bedanke mich auch bei Ihnen. Es ist immer schön, neue Menschen zu treffen.“ Und mit diesen Worten begleitet sie mich hinaus. Christopher hüpft nun auf und springt mehr, als er geht, neben uns her. Bei der Eingangspforte des Hauses schüttle ich der Nonne nochmals fest und herzlich die Hand und wende mich anschließend Christopher zu.

„Tschüss, Christopher. Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen“, und reiche ihm meine Hand, die er grinsend ergreift.

„Hast du Zuckerl?“, fragt er sofort.

„Man verabschiedet sich ordentlich, Christopher. Und danach bekommst du ein Zuckerl. Bei mir drinnen.“

Der Junge befolgt sofort brav die Aufforderung der Nonne und verabschiedet sich überschwänglich von mir.

„Auf Wiedersehen. Auf Wiedersehen“, und seine Worte werden untermauert von solch intensivem Händeschütteln seinerseits, dass ich glaube, er reißt mir die Hand ab. Unbändige Kraft wird durch ihn spürbar.

„Gut, ich wünsche Ihnen nochmals alles Gute.“ Ein letzter Händedruck bekräftigt, dass für die Schwester der Abschluss dieses Besuches erfolgt ist.