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Hannes König will 'vergehen', am Meer und in der Stadt am Meer. Ist zerrissen im Studium der Naturwissenschaft zwischen Molekülen, Freunden, Frauen und Kneipen. Ist zerrissen in der fortschrittlichen Gesellschaftsordnung, die 1968 auch Panzer rollen lässt. Ist zerrissen zwischen Belesenen und scheinbar Schlichten. Versinkt fast mitten in diesem wundervollen prallen Leben. Erlebt Höhen, Abstürze und Stürme, Begeisterung und Zweifel, erlebt die Faszination der Musik des Klassenfeindes. Erlebt auch Glück.
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Seitenzahl: 476
Veröffentlichungsjahr: 2020
Dies ist ein Roman, alle Handlungen und Namen sind frei erfunden, entstehende Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Verstorbenen sind rein zufällig.
Diese Geschichte habe ich erfunden, um zu erzählen wie es war. (E.Ruge)
Wir erzählen uns Geschichten um zu leben. (Joan Didion)
Der Mensch ist ein Wesen, das sich an alles gewöhnt. (F. Dostojewski)
Hannes König will 'vergehen', am Meer und in der Stadt am Meer. Ist zerrissen im Studium der Naturwissenschaft zwischen Molekülen, Freunden, Frauen und Kneipen, ist zerrissen in der fortschrittlichen Gesellschaftsordnung, die 1968 auch Panzer rollen lässt. Ist zerrissen zwischen Belesenen und Schlichten. Versinkt fast mitten in diesem wundervollen prallen Leben. Erlebt Höhen, Abstürze und Stürme, Begeisterung und Zweifel, erlebt die Faszination der Musik des Klassenfeindes.
Erlebt auch Glück.
Der Autor ist Rentner, lebt am Meer. Nach einer Ausbildung zum Facharbeiter wurde er letztendlich promovierter Naturwissenschaftler. Ist zuerst über, unter und durch große Schiffe gekrochen, sollte den Hauptfeind, den Rost verfolgen.
In den letzten dreißig Jahren seines Arbeitslebens durfte er das Verhalten menschlicher Zellen untersuchen, hat eine vage Ahnung der Wunder und Widersprüchlichkeit des Lebens bekommen.
Dank an Uschi, für Liebe und Geduld
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Der Wagon ratterte und schaukelte, manchmal gab es Angst aber das, was draußen vorbei flog, war zu schön. Bäche und Wiesen, der ganz große Fluss, Hügel mit Wäldern, wenige Dörfer. Hannes König presste das Gesicht an die nasse Scheibe, das Schöne, all dieses Schöne schwebte durch seine Augen, fiel irgendwo nach innen, fiel in Gedächtnisschachteln mit der Aufschrift 'Ich will hier sein' oder 'Ich will hier liegen'. Am Ende das Schönste, dort ging die Reise hin, am Ende kam das Meer. Da störte kein Schaukeln und Rattern, kein beißender Geruch von verbranntem Schwefel, der gehörte dazu, der gehörte zur Lok, das war ihr Wesen.
Aber das Meer war der Lohn. Eigentlich Nebensache aber der Lohn. Hauptsache war ein stolzes Wort, Hauptsache war die Universität in der Stadt am Meer. Er hatte sie schon gesehen, vor einem halben Jahr, beide, die Universität und das Meer. Das erste Mal im Leben, in seinem Leben, gerade volljährig, weit heraus aus der kleinen Stadt im flachen Land.
Das Meer gab sich grau und stürmisch, Gischt flog über den Strand, er ließ Sand zwischen den Fingern rinnen. Er hatte gelesen, der Sand musste durch die Finger rinnen und es stimmte. Dieser Sand rann anders als Flusssand, feiner, eben richtiger Seesand. Auch die grauen dunklen Wellen, die Symphonie aus Tönen, Farben, Helligkeiten, das Windgefühl auf der Haut, anders. Aber das Wichtigste, Nichts. Nichts war da, wo es Horizont hieß, wo Büsche, Dächer oder Häuser standen, wo Schornsteine und Bäume den Weg versperrten, wo rote Fahnen triumphierend klirrten. Nichts. Wenn ich hier losfahre, hier an dieser Stelle, komme ich an jede Küste der Welt. Alles ist offen, der flache graue Schatten am Horizont keine ernsthafte Hürde für Einen, der will. Aber er wollte nicht, wenn er hätte gekonnt. Er war hier um etwas anderes zu wollen, ein schweres Wort, "Aufnahmeprüfung", auch verbunden mit Angst. Aber seine Seele war offen, so offen, alle Jalousien hochgezogen, höher ging nicht. Er wollte Neues, nur Neues, vollkommen Neues. Er wollte an dieses Meer, nur an dieses Meer und an diese Stadt am Meer, und an diese Universität in dieser Stadt an diesem Meer. Er gehörte zu den wenigen, die mit starten durften. Ohne Partei, ohne Arbeiter- oder Bauernkind zu sein. Es hatte sich so ergeben, ohne große Probleme.
Ein chemisches Institut, wie gut das klang, ein alles durchdringender Geruch, ein schummeriges Zimmer mit Tisch, einem unbequemen Stuhl davor, einer bequemen Couch dahinter. Auf der bequemen Couch ein Professor, er hatte noch nie einen Professor gesehen, einen richtigen Professor. Weißer Kittel, volles Gesicht, graue wellige Haare.
"Herr König, stellen sie sich vor, auf dem Grund eines engen Loches befindet sich eine kleine Holzkugel. Wie kommen Sie an diese Kugel ran, ohne Werkzeug zur Verfügung zu haben?"
Der Prüfer funkelte ihn neugierig an durch eine Brille mit dickem Rand. Nach einigen Zwischenfragen machte Hannes den Vorschlag, Wasser ins Rohr zu gießen, worauf der Prüfer befriedig nach unten blickte und weiterfuhr.
"Herr König, stellen Sie sich vor, auf einem Dach sitzen fünf Spatzen und sie klatschen in die Hand. Die Spatzen fliegen los. Durch mindestens wie viel Spatzen könnten sie ständig eine Ebene legen?"
Er hatte gelernt, gepaukt, Aliphaten, Aromaten, Gleichungen, Wertigkeiten aber nichts mit Spatzen oder Holzkugeln, oder Ebenen. Sein Freund Jürgen hatte geraten, das Periodensystem auswendig zu lernen aber er war doch nicht bescheuert.
Nach einer kurzen Pause meinte er "Drei", sehr sicher, in sich jedoch auch versteckte Restzweifel. Wieder ein befriedigter Blick nach unten, eine einfache Frage zur Chemie, dann blickte der Prüfer erneut freundlich.
"Herr König, Danke, Bitte, Sie hören von uns."
Was Danke, Bitte? Dann verstand er, Danke für die Antworten, Bitte mit nem Blick zur Tür, er kann verschwinden, draußen saß noch ein dünner Typ seines Alters.
Zurück in die Kleinstadt mit gutem Bauch, Stolz, die Universität, das Institut. Nach vier Wochen ein Brief, "Die Universität...", zugelassen. Irre, einfach so, studieren, das klang gut.
Wieder flog die Landschaft an dreckigen Fenstern entlang, die Hügel, Felder, Wiesen und Seen gerahmt von Wäldern. Wälder aus Buchen und Eichen, keine drögen Kiefern. Wälder, deren Laub sich verfärbte, die anfingen, sich dem Herbst zu ergeben. Endgültig raus aus der familiären Enge, raus aus der Kleinstadt, raus. Das Neue, Große sollte beginnen, das Schöne am Meer.
"Pass auf, dein Bastkorb fällt dir gleich auf den Kopf."
Er schreckte hoch. Ein älterer Mann, hager, Glatze mit gutmütigen Augen steckte sich eine F6 an. Der Zug rumpelte in einen größeren Bahnhof ein. Die Glatze wies nach oben. Sein prall gefüllter Koffer aus Rohrgeflecht, durch zwei dünne Lederriemen zusammengehalten, stand auf Kippe, musste zurecht geschoben werden. Ein Bote aus früheren Zeiten, damals elegant, jetzt überholt, auffallend, er wartete auf den bekannten Spruch, "Pass uff, wenn's regnet dann kriegt dein biologischer Koffer Blätter."
"Auch ans Wasser?"
"Wie?", Hannes verstand ihn nur schwer, er redete irgend so ein Plattdeutsch.
"Ob du auch ans Wasser willst, zur See fahren oder Fische fangen?"
"Nee", er pulte sich ebenfalls eine Zigarette aus der Tasche, ein weiteres Zeichen von Freiheit, keine Gefahr mehr durch die Eltern. Sollte er es sagen? Warum nicht?
"Ich will da was studieren", nach einem kurzen Blick aus dem Fenster, "Chemie".
"Oh Gott", sein Gegenüber lachte wieder gutmütig, "da habe ich keine Ahnung von, ich kann Schiffe zusammen schweißen. Willste was Besseres werden?"
Er war oft in der Schmiede im Ort, zuschauen, wie Herrmann Meier das glühende Eisen verbog, wuchtige Hammerschläge, den frisch aus dem Feuer gezogenen Vierkant bearbeitete. Er durfte selbst das Eisen halten, "Hannes, weiter nach vorn, so ists gut". Er kannte die Gerüche, der Azetylenentwickler, die großen Wolken am Pferdehuf, sah die gefährlichen Zuckungen am erhobenen Pferdebein, irrsinnig gebeulte Muskeln, mühsam von zwei Männern gehalten.
Chemie war wie ein Wunder, hatte etwas von Kunst. Die Arbeit in der Schmiede auch, Herrmann Meier war ein starker Mann, nicht nur körperlich. Er selbst war nichts Besseres, wollte es auch nicht sein, wie denn besser? Chemie war einfach interessanter, jedenfalls für ihn.
"Das ist nichts Besseres, was glauben sie, wie das stinkt."
"Ja, det glöw ick woll", er schüttelte sich vor Lachen, "warste noch nie am Wasser, mit Motorrad und Zelt oder so?"
"Nee", er wusste nicht, was 'oder so' bedeuten sollte, 'Nee' stimmte aber, in jedem Fall.
"Und ne Freundin zu Hause?"
Hannes sah Friede vor sich, lange her, zog an der Zigarette, schüttelte leise den Kopf.
"Ja min Jong ich merk schon, ick glöw, du bist richtig hier, wird dir alles gefallen, bei den Studenten da ist was los."
"Schön", er nickte, blickte wieder aus dem Fenster, in der Ferne zogen Häuser mit einer Kirche am Fluss vorbei. Hannes atmete tief aus, 'bist richtig hier'.
Ein scheinbar endloser Flur, links und rechts Türen mit Nummern, darunter Papierschilder mit Namen, Ullrich Mewes, Wolfgang Haustein, Johannes König, Hans Moltke. Hannes lauschte, keine Geräusche, klopfte vorsichtig, während er die Klinke drückte rief eine Stimme von innen klar "Herein". Ein freundlich aussehender Blonder, schlank wie Hannes selbst, hob den Kopf aus der unteren Hälfte eines der beiden Doppelstockbetten, drehte sich heraus.
"Du bist", er zögerte, schaute Hannes genau an, "du bist Hans Müller."
"Stimmt fast", Hannes grinste, während er seinen Bastkoffer auf das obere Bett am Fenster warf, ihm gefiel die direkte Art des Mitbewohners, "im Prinzip ja, aber nicht Hans, sondern Johannes und nicht Müller sondern König."
"Oho", der Fremde kam auf ihn zu, streckte die Rechte lächelnd vor, "du kennst den berühmten Sender Jerewan. Ich bin Wolfgang Haustein, genannt Wolle."
Sie setzten sich an den kleinen Tisch, umgeben von vier einfachen Stühlen.
"Und ich, wie gesagt, Hannes König, genauer gesagt Johannes, aber weder heilig noch König."
"Deinen biologischen Koffer...", Hannes unterbrach ihn missmutig, "ja, ja, ich weiß, wenn der in Regen kommt kriegt er Blätter...."
"Du kannst ihn aber trotzdem in einen dieser schmalen Schränke stellen oder unters Bett", Wolle lächelte freundlich, "sicher ist sicher."
Von der verbliebenen freien Wand blickten vier hohe schmale Armeeschränke ins Zimmer, dünnes Holz, Presspappe, öffnete man die Tür intensiver Geruch nach gebrauchtem Leben und Bohnerwachs.
Während sie auf den Betten lagen, berichtete Hannes über seine weit entfernte Stadt Dönneritz, den bei der Binnenreederei angestellten Vater.
"Die Russen haben uns den Kahn geklaut. Na ja, nach 45 beschlagnahmt, kennst du doch, Reparation. Wenn mein Vater darüber spricht kuckt er nur an die Decke oder rührt in der Suppe, blickt nicht hoch. Alles nur wegen der Nazis, diese Idioten, konnten ja den Hals nicht voll kriegen. Und jetzt, na ja", er blickte schräg herunter zu Wolle, "lassen wir das."
Wolle stammte aus Kramperow, ein Dorf in der Nähe der Küste. Alles war interessant, fremdes Leben füllte den Raum. Wolles Vater studierte selber neben der Arbeit, wurde Agronom in der LPG, seine Mutter war Lehrerin. Und das Beste, "Wir wohnen im ehemaligen Gutshaus", er sprach gestelzt, "das Schloss, draußen noch mit Wappen, von Basserwitz oder so. Viel Platz, musst uns mal besuchen."
"Klar", Hannes freute sich, mal ins Gutshaus, nicht schlecht, "ist Agronom so was mit Dünger, muss man da in der Partei sein?"
"Quatsch, mein Vater ist nicht in der Partei, der Vorsitzende ist wohl drin aber sonst nicht viele..", während Wolle weiter sprach öffnete sich lautlos ihre Tür, ein großes schwarzes Ding schob sich herein, gefolgt von einem untersetzten jungen Mann, scheinbar etwas älter als sie, längere dunkelbraune Haare und eine sehr starke Brille, in der Hand einen kleinen Koffer.
"Tach schön", Wörter vermischten sich mit einer deutlichen Bierfahne, füllten den Raum, "ick bin Ulli Mewes und det Ding hier is keene Bombe, det is'n Akkordeon, braucht ihr keene Angst haben."
Sie richteten sich überrascht auf, Hannes ließ die Beine baumeln.
"Und wo kommst du jetzt her?"
In ihrem bisherigen Leben war es nicht üblich, am späten Nachmittag eine Bierfahne zu tragen.
"Wisst ihr wat, ick bin vor ne Woche vonne Sandlatscher weg, Drögeheide, schon mal gehört?"
Sie schüttelten die Köpfe, vielleicht schon mal gehört aber vollkommen unbekannt, irgendwas mit NVA.
"Passt mal uff", er schob den kleinen Koffer ebenfalls unter ein Bett, schmiss seinen kurzen Mantel und das Jackett auf nen Stuhl, "wir grunzen erst mal ne Runde und dann gibt's hier in der Nähe ne Studentenkneipe, da zischen wir noch 'n Bierchen, da erzähl ich Euch von Drögeheide".
Studentenkneipe, ein wunderbares Wort. Diederich Heßling war ein mieses Stück gewesen, aber die Studentenkneipen im Film, zusammen mit Anderen, Singen, Begeisterung, Bier, herrlich. Hannes zog die Decke hoch, es war noch hell, sie lagen in ihren Armeebetten, schauten an die weiß gekalkten Wände und nachher in die Studentenkneipe. Er wollte im Meer vergehen, spürte, das 'Vergehen' begann bereits hier. Freiheit, Freude, alles offen.
Bis zum 'Deutschen Haus' waren es nur wenige Minuten. Erstaunlich, dass im ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat eine Kneipe den Namen 'Deutsches Haus' besaß, in Dönneritz und Umgebung gab es das nicht. Schon von außen Lärm und Getöse durch geöffnete Fenster, Unmengen an Rauch mussten irgendwo hin. Nach der Tür nur ein kleiner Raum aber wunderbar, drei Plüschsofas, Plüschstühle, ein paar Tischchen und ein Kachelofen. Hinter der engbrüstigen Theke Frau Knoopf, undefinierbares Alter, Oma, mindestens 60, vielleicht auch mehr. Zwei Tischchen besetzt von Arbeitern in Blaumann, einer hatte den Kopf auf dem Tischplatte, die Gläser standen am äußersten Rand. Sie fanden Platz, Ulli machte sie vertraut, "Ick hab in den letzten Tagen paarmal hier gesessen, hier könnter och anschreiben lassen, det jeht bei Frau Knoopf."
"Wo kommt Ihr denn her, seid Ihr die Neuen?", Frau Knoopf winkte hinter dem Tresen, "setzt Euch mal hin, ich komme gleich."
In der Ecke des Plüschsofas wälzte sich ein dickes Vieh, kam aus tiefen Wülsten heraus und betrachtete sie durch eine dicke Brille.
"Ja", sie freuten sich aufgenommen zu werden, "wir sind die Neuen und wir wollen mal ein Bier."
"Na, dann nehmt mal Platz, natürlich müsst Ihr erst Einstand geben, das ist selbstverständlich, danach sehen wir weiter. Ich bin Hubert, Physik".
Ulli beugte sich vor, fixierte ihn, "Hubert, hör mal her, ick bin Ulli, Drögeheide und wenn hier eener een ausjibt, denn nich wir. Du kannst Dir geehrt fühlen, alles Chemie."
Hubert grinste, sie grinsten, dann fuchtelte Hubert mit erhobener Hand Richtung Theke, bestellte vier Bier quer durch den Raum, "Aber zahlen müsst ihr selbst." Sie nickten, alle lachten. Als die Gläser auf dem Tisch standen beugte sich Frau Knoopf noch einmal vor, musterte die drei Neuen aufmerksam. Aus der Nähe konnte man ihre Runzeln und einen mit Haaren bewachsene größeren Knubbel erkennen.
"Ihr kommt aus dem Wohnheim?", sie bewegte den Kopf und schaute durch die schwarzen Fenster in Richtung ihrer Unterkunft.
"Det is'n riesiger Bienenbau, da wimmeltet von Studies, die woll'n alle hier her", Wotan lachte, wollte lustig sein, Frau Knoopf redete einfach weiter.
"Wenn ihr mal knapp seid können wir anschreiben. Aber höchstens bis zwanzig Mark", in ihren Händen befanden sich schon wieder leere Gläser vom Nachbartisch, "mehr nicht!" "Das langt aber auch", Hannes lachte, "da kann jeder über vierzig Gläser vernaschen, bei achtundvierzig Pfennig, das reicht."
Er war reich, die Eltern hatten ihm siebzig Mark ins Portemonnaies gesteckt, sehr viel Geld für sie. Irgendwann soll es ja Stipendium geben. Jeder nahm einen tiefen Zug, oh ist das schön, Wolle stieß mit Hannes und Ulli an, danach mit Hubert.
"Wann gibt's eigentlich Stipendium?", sie blickten auf Hubert, der muss das doch wissen.
"Seid ihr Arbeiter oder Bauern oder etwa sogar indifferente Angestellte, die haben doch vom Klassenstandpunkt keinerlei Ahnung", er demonstrierte ein dozierendes Gesicht.
"Wenn ihr ordentlich seid, also Arbeiterbauern", er nuschelte bewusst, "gibts 190 Mark, für arme Angestellte nur 140, zehn Mark gehen gleich ans Heim, also an den Bau, der Rest ist für's 'Deutsche Haus'".
Er lächelte um Beifall bittend zu Frau Knoopf, die belustigt zurück winkte.
"Und ausgeschüttet wird der ganze Reichtum am Monatsanfang, nun könnt ihr schon planen."
Sie stießen erneut an, man war das alles schön.
"In Drögeheide", Ulli fixierte streng die Runde, musste unbedingt wieder zu Wort kommen, "in Drögeheide war alles dröge, könnt ihr mia glauben, aber hier", er schnippte mit dem rechten Zeigefinger gegen seine Kehle, "hier war et nich dröge. Mann haben wir da gesoffen, obwohl, natürlich alles streng vaboten. Zwee mal inne Woche Haarwurzelkathar vom Goldbrand und von det Wochenende will ick janich reden."
Am Nebentisch entstand poltrige Unruhe, die Arbeiter gingen nach Hause, schleppten den Kopftischlieger vorsichtig über die Schwelle, neue Gäste nahmen sofort Platz, riefen "Fünf Bier und fünf Korn", begannen Skat zu spielen.
"So, also Drögeheide", Ulli redete unmittelbar weiter, es war klar zu erkennen, er war voll mit Wörtern, die mussten raus, unbedingt.
"Alle haben ganz schnell Sakima abjekriecht, ganz schlimm, kennt ihr nicht wa, könnt ihr auch nicht kennen. Sand-Kiefer-Macke, Grad 1 bis 10. Jeden Tag durch die dröge Heide, Gleichschritt, Dauerlauf oder 'Ohne Tritt Arsch'. Morgens und abends Margarine, Kunsthonig aus Pappeimern oder Harzer Roller. Der war so weich, der konnte schon allene uff's Mischbrot kriechen."
Wieder allgemeines Gelächter. Plötzlich ein lauter Ruf, "Wotan!", alle blickten um sich.
Ulli erhob sich sofort, "Ach du, Hellmut", er winkte zu den Skatspielern rüber, "alter Mittelpisser, wie kommst du denn her?"
Auch Hellmut stand auf, sie umarmten sich, "Spielt mal ne Runde alleine."
Gemurre, aber Hellmut setzte sich zu den Chemikern.
"Da habt ihr ja nen richtigen Vogel gefangen, diesen Sprilli", Ulli drohte mit dem Finger, "aber prima Kerl, hat er uns erzählt, dass er nach Drögeheide Chemie studieren kann. Wenn er uns nicht mit seinen Göttern fertig gemacht hat."
"Ja, interessiert mir allet mit die Jötter," Ulli unterbrach sich selbst, "ick kann och Hochdeutsch, 'mit den Göttern', meine Oma hat ein altes Buch", er blickte sich um, sprach leiser, "aus der Nazizeit. Richtig spannend. Die germanischen Götter."
"Und da biste dann gleich König geworden?"
"Ne, ne, den Namen haben mir diese Sandlatschertypen gegeben, hier, Hellmut und Konsorten, weil ick denen 'n bisschen Bildung beibringen wollte."
"Genau", der Fremde pflichtete schmunzelnd bei, "wenn wir am Wochenende zusammen mit Genossen Goldbrand saßen. Der Sprilli konnte froh sein, dass er mit uns zusammen sein durfte."
"Genau, eine Wahnsinnsehre, mit Mittelpissern zusammen zu sitzen, denen ein klitzekleines bisschen Wissen in die leere
Rübe zu impfen. Sehr sehr schwere Arbeit."
Wieder lautes Gelächter. Für Wolle und Hannes wurden die elementaren Unterschiede erklärt, erstes und zweites Diensthalbjahr, dazwischen die weiten Welten. Und plötzlich war es 23 Uhr und Frau Knoopf wollte nur noch eine Runde geben, denn die Polizeistunde, unerbittlich und sie gab auch nur noch eine Runde. Danach wankten sie leicht benebelt zusammen mit dem "dicken Vieh" in den Studentenbau.
"Guck mal hoch", Wolle wies auf den Giebel. Trotz des blassen Lichtes der Straßenlampe war an der Front Schrift zu erkennen, "Arbeiter- und Bauernfakultät", unzerstörbar im Putz eingelassen.
"Det war die Rabfak."
Ulli kannte sich überall aus, hier haben die Arbeiter und Bauern oder deren Kinder studiert oder Abitur oder so was gemacht, wegen det Bildungsmonopol der herrschenden Klasse. Das fand Hannes gut, Gerechtigkeit, Gerechtigkeit war gut, war sehr gut. Musste er morgen in sein Heftchen eintragen.
"Und was ist Rabfak, schlauer Genosse?"
"Genosse Hannes, det wees ick nich, mir is irgenwie schlecht, det is vonne Russen, ick gloobe Rabotschnie Fakultät, also du weest ja, Arbeiterfakultät, die Bauern sind runter jefallen."
Ende des ersten Abends im neuen Leben, dann Schlaf, tief und traumlos, dann irren durch spärlich erkennbare Gänge, fremde Gänge, um befriedigend einen dicken Strahl abzugeben, dann wieder tief und traumlos. Nachts kurze Geräusche, helle Deckenlampe, nach einem lauten Schrei sofort wieder dunkel. Morgens zersägten Wecker die Stille, stöhnen und fluchen. Das vierte Bett war besetzt. Ein großer Dünner schaute heraus, an sich rotes aber jetzt bleiches Gesicht wie sie alle, dünne Haare, vorn fast schon Platte.
"Hans Moltke, wat birgst du so bang dein Gesicht", Ulli-Wotan war als erster draußen, "siehst du deinen Freund den Wotan nicht? Gestern Abschied gefeiert?"
Also auch noch Dichter. Hans Moltke ließ sich elastisch herabfallen, trotz augenscheinlich nicht guter Verfassung ein sportlicher Eindruck.
"Na klar", mit leiser Stimme begrüßte er sie, zog aus seinem Koffer ein Paket heraus, intensiver Duft füllte das Zimmer, Bienenstich.
"Von unserem Walnussbaum auf dem Hof, meine Mutter kann das am besten, sagen alle."
"Na her mit die Klappstullen", Wotan zerrte aus einem Schrank vier Teller, Hannes brühte in der kleinen Küche um die Ecke eine angeschlagene Kanne auf, türkisch, Muckefuck, Bohnen hatte niemand. Hans berichtete von seinem Dorf, Bauernhaus, Abitur in der Kreisstadt.
"Passt mir gar nicht mit dem Ernteeinsatz, am Wochenende die ersten Punktspiele, Bezirksklasse."
Er atmete stolz aus.
"Ach dann haste dir die Haare uff de Stirn schon weggeköppt?"
Wotan musste immer, war so die bekannte Berliner Schnauze?
"Nee", Hans legte beide Unterarme auf den Tisch, blickte Wotan einige Sekunden in die Augen, "Nee, hab ich nicht."
Wolle war als Erster fertig, packte sein Zeug ordentlich zusammen, "Na dann los, auf zu den Genossen Bauern."
Punkt acht morgens, im Vorraum des Heimes. Gruppen von Mädels, die aus dem Studentinnenheim, einzeln Stehende, Jungs und Mädels aus der Stadt, die Biertrinker vom vorigen Abend zusammen, bereits eine Gruppe nach fünf Gläsern, Aufregung im Blut. Allgemeines Gemurmel, huschende Blicke, Einschätzen, Mustern von Gesichtern, Figuren. Ein junger Mann in Blouson und grauer Hose, dünnes Haar, rief alle laut zusammen, "Kommen sie mal her in den Vorraum. Mein Name ist Lehmann, ich bin ihr Assistent."
"Das nennt sich Atrium", Wolle ließ den Blick durch die hohe Halle kreisen, oben gesäumt von Geländer der Gänge im ersten und zweiten Stock. Er flüsterte noch einmal in Hannes Richtung, "Typisches Atrium". Was ist das, noch nie gehört, Hannes nickte trotzdem.
"Wie sie vielleicht schon wissen beginnt heute ihr Ernteeinsatz in der LPG "Meer des Friedens", nur fünfzehn Kilometer entfernt."
Herr Lehmann zog eine Liste aus seiner Tasche, begann vorzulesen.
"Karin Förster", seine Blicke durchflackerten sie, etwas lauter noch einmal, "Karin Förster."
"Ach hier", aus der hinteren Reihe wurde eine Hand erhoben, eine laute Stimme rief noch einmal entschuldigend "Hier".
Die großgewachsene Blondine in modischen Keilhosen fuhr verlegen durch das hochtoupierte Haar, ihr offenes Gesicht, ihr breiter Mund, das verschmitzte Lächeln standen im Gegensatz zum ehrerbietigen Ton.
"Na, gut, weiter, Judith Schneider."
"Zur Stelle Euer Gnaden, mit th".
Was mit th? Sie sahen sich an, allgemeines Gelächter, die ist nicht auf den Mund gefallen und überhaupt. Die Einheimischen raunten sich zu, "Typisch Judy".
Sie schob sich vor, hübsch, schwarze deutlich gekräuselte Haare mühsam nach oben gesteckt. Ihre gute Figur und das straffes Gesicht mit dem scheinbar gelangweilten Blick aus halb geschlossenen Augen zog die Aufmerksamkeit auf sich. Sie zerrte aus knapp sitzenden Westjeans ein Heft.
"Hier, meine Zulassung."
Herr Lehmann betrachtete das Papier mit leichtem Lächeln, "Danke, die brauchen wir jetzt nicht", fuhr dann weiter. Gabriele von Oertzen, ebenfalls schlank, braunes halblanges Haar an der rechten Seite festgesteckt, markante Brille, zarte Gesichtszüge. Und so weiter, ihre Stube, dann Bernhard Meier, sympathischer dunkler Typ mit schwarzem Kräuselhaar und Heintz Rantzow, groß, athletisch, auch schwarze Haare mit gepflegtem Schnitt, leicht ausgewachsen. Gabriele von Oertzen flüsterte nach links "...hat zu viele Alain-Delon Filme gesehen, ha, ha, ha."
"Hartmut Fährmann ist ihr FDJ-Seminargruppensekretär, falls Sie irgendwelche Fragen haben wenden Sie sich an ihn. Der wendet sich dann an mich oder die HGL."
Herr Lehmann wies auf einen intelligent aussehenden Jungen in modischem Blouson, mittelblond mit angesagtem Haarschnitt, der hob mit lässigem Grinsen den linken Arm halb hoch, zog die amerikanische Pilotenbrille vom Gesicht. Die hatte Hannes nur im Westfernsehen bestaunt, damals "Abenteuer unter Wasser". Wo kriegt man son Ding her, "darf" man die tragen?
"Hans Michalski", der Assistent wurde unterbrochen.
"HGL, was ist das?", mehrere Arme reckten sich in die Höhe.
"Das ist die FDJ-Hochschulgruppenleitung", Herr Lehmann ging die Liste weiter durch, "Herr Heimann, kommt erst in einer Woche."
Raunen zwischen Einigen aus der Stadt, "Wat is denn", Wotan fragte neben sich, "wat is mit dem los, warum flüstert ihr denn?"
Kurzes Schweigen, dann murmelte jemand rüber, "... kommt aus'm Knast."
Nicht vorstellbar, aus dem Knast und dann ins Studium. Hannes hatte noch nie jemanden aus dem Knast gesehen, nur damals bei der Jugendweihe, Knastbesuch, aber das waren alles Verbrecher.
"Noch einmal, Hans Michalski", ein kleiner Student, semmelblond, mit strahlenden hellen Augen rief leise "Hier" und senkte wieder die Hand. Der wohnte im Nachbarzimmer, Hannes hatte ihn am Morgen im Waschraum gesehen, putzte sich die Zähne, summte dabei ein Lied.
"Zwei Hänse, das geht nicht", Wolle sprach unterdrückt in die Runde, "da müssen wir uns was ausdenken."
'Wild thing, you make my heart sing, you make every sing, Wild thing… '
"Oh, Semsek, mach lauter", Bettina von der großen Insel blickte sehnsüchtig zu Hartmut Fährmann, von Wolle sofort Semsek getauft, "dreh doch mal deine Mühle lauter."
Zustimmendes Nicken, lauter! Semsek nahm den Kopf von der Wand, drehte sein Tonbandgerät bis kurz vor Anschlag, der dumpfe Brummton verlor seinen melodischen Teil. Nur noch rhythmisches Röcheln durchdrang den dämmerigen Raum, drei Kerzen gaben schwächliches Licht.
"Keine Elektrogeräte, kein offenes Licht", mit diesen Worten hatte sie der Brigadier am späten Nachmittag nach der Ankunft entlassen, "um sieben gibt's Frühstück."
"Ist klar."
"Bisschen weniger", sie wippten weiter mit den Köpfen, Flasche in der Hand, gefläzt auf den alten Matratzen und Stühlen, sechs Stück pro Stube. Wotan wusste wieder Bescheid, "Schnitterkaserne", niedrige Fenster, frisch gekalkte Wände. Irgendwie passten sie abends alle in das Stübchen, zehn Jungs und die elf Mädels aus dem Nachbarhaus.
"Wo hast du diese Dinger her", Hans Moltke fragte mit geschlossenen Augen, "Klassenfeind oder so?"
"Klar", Semsek zauberte eine frische F6 aus der linken Hemdtasche, rechts schaute die amerikanische Pilotenbrille heraus, "aufgenommen, Rädio Danmark oder Rädio Kopenhagen, alles UKW."
'Ist das irre', Hannes hatte die Augen fast geschlossen, 'Wild things, you make my heart sings', er bewegte seinen Oberkörper kreisförmig, Judys Gesicht tauchte vor ihm auf, dieser scharf genaue Blick aus scheinbarer Schläfrigkeit, die war nicht hier, warum eigentlich nicht? Und Rädio Kopenhagen oder Danmark, UKW, von der anderen Seite des Meeres, sprühte die freie Westwelt, dänische Westwelt, tolle Musik rüber, sprach in kehligem Singsang, direkt vor der Haustür.
"Wo ist denn die Schneider?"
Schulterzucken, "Vielleicht krank?", aber kann man krank sein mit diesem Aussehen?
"Sag mal Hans...", Hans Moltke und Hans Michalski antworteten fast gleichzeitig, Wolle winkte ab.
"Hab ich doch gleich gesagt, mit zwei Hänsen, das klappt nicht, wir müssen das anders machen", er überlegte kurz, "ich schlag vor großer Hans und kleiner Hans, was meint ihr?"
Dünnes Brummen, "Bisschen umständlich."
"Na gut, dann Hans Eins und Hans Zwei", lautes Grölen, Hans Eins und Hans Zwei, das war gut. Sie riefen im Chor, Hans Eins, Hans Zwei, Hans Eins, Hans Zwei, Eins, Zwei, Eins...
"Also, sag mal Hans Eins, wie kommste auf Klassenfeind oder so, biste inne Partei?"
"Ja", mit leiser aber fester Stimme bestätigte Hans Eins erneut "Ja" und nickte.
Alle hoben überrascht die Köpfe, öffneten die Augen, "Hans, wie kommste denn dazu?"
"Das war ganze einfach, mein Vater ist in der LPG und in der Zwölften wurde ich gefragt, Kandidat und so und", er bewegte ein wenig unruhig seinen Kopf, die fast Platte war trotz des spindeldürren Lichtes klar zu erkennen, "warum denn nicht?"
Warum, warum nicht, eine unklare Atmosphäre waberte im Raum, Arbeiter- und Bauernstaat warum nicht, Gerechtigkeit war gut aber Partei...?.
Wolle wälzte sich herum, schlug ihm auf die Schulter, "Alles klar Eins, macht doch nix, Du bist unsere Vorhaut."
"Was", Hans Eins schaute irritiert hoch "Wie meinst du das?"
Wolle schaute sich um, sprach leiser.
"Na, die Vorhaut eben, weißt Du doch, Du gehörst zur Vorhaut der Arbeiterklasse, in die son alter ex FastIngenieur-Beamtenschweinsohn wie ich nicht rein darf. Die Vorhut der Arbeiterklasse man, na ja", er schaute Eins freundlich und bejahend an, "ist son doofer Spruch."
Behutsames Gelächter, nicht bösartig, Hans Eins macht gute Miene, dann Themenwechsel.
Semsek drückte erneut an seinem Gerät, 'Pretty woman, walkin' down the street, Pretty woman the kind I like to meet...'. Wieder Kopfschütteln, Oberkörper kreisen, schreien 'Pretty woman'.
Gibts noch Bier?
Milchiges Grau, aus dem Wald hat sich Kühle angeschlichen, knapp über dem Horizont eine gelbliche Blechscheibe. Aufstemmen von Strohsäcken, gemurmelte Worte, "Wo sind die Socken", draußen Katzenwäsche an der Pumpe, "Hast Du mal n Stück Seife?". In alten Klamotten, darüber Blaumann, in gemächlich müdem-schleppigen Gang über die Dorfstraße zum Speiseraum. Frühstück bei dünnem Kaffee, stark gestreckt mit gebranntem Malz, dazu Marmeladenbrötchen. Auch Jagdwurstscheiben und Käse. Soviel man wollte und konnte. Der Appetit war begrenzt nach der Nacht, der Durst weniger.
"Wat die man so wegsaufen vonne Stadt", die füllige Frau in Kittelschürze hinter der Ausgabe wunderte sich, "kriegt ihr nix tu supen inne Stadt, oder", sie zwinkerte, "isset allens nur Brand?"
Eine halbe Stunde später zog sie der Hänger hinterm Trecker aufs Feld, immer noch durch Kälte und Nebelschwaden. Dann ran an die Kartoffeln. Langsam wurden die matten Glieder wieder beweglicher. Reihe um Reihe, der Roder umkreiste sie wie ein Raubtier, forderte Leistung, erzeugte Wärme. Irgendwann kam die Sonne, die ersten Jacken landeten in der Furche.
Gabriele von Oertzen richtete sich stöhnend auf, der Roder tobte noch weiter entfernt, sie wies auf die jetzt strahlende Sonne.
"Morgen erglüht, China ist jung, Rote Sonne grüßt Mao-Tse-Tung."
Irre, Hannes fuhr sich über den schmerzenden Rücken, "Oertzeline, machst du jetzt hier die Kulturrevolution?"
Sie warf sich theatralisch in Positur.
"Genossen Studenten, wir dürfen dem Fortschritt nicht im Wege stehen, niemals, es lebe die FDJ und unser hochverehrter Semsek, der Genosse Fährmann."
Alles krümmte sich vor Lachen, Semsek nahm mit erdeverkrusteten Fingern die amerikanische Pilotenbrille ab, "Genossin Oertzel, niemals bin ich gegen den Fortschritt, niemals nicht, immer bin ich für den Fortschritt aber Genosse bin ich nicht, tut mir leid. Und außerdem, überall hier wimmelt es von Fröschen, auch die Arbeiterklasse möchte einmal das essen, was Euer Gnaden in Frankreich alltäglich zu sich nehmen, Froschschenkel."
Er nahm eine größere Kartoffel und erlegte den ersten grünen Quaker. Oertzel schrie gellend "Ekelhaft" aber der Kampf war eröffnet. "Froschschenkel, Froschschenkel". Kaum hatte der Roder passiert, waren die Kartoffeln auf dem Hänger, schlichen Wotan, Hannes, Bernhard Meier und Wolle über den Acker, erlegten Frösche, sammelten sie in einem Glas vom Wegesrand. Mittags chauffierte sie der Anhänger wieder in die Küche, dort dann Bouletten oder Kotelett oder saure Eier und die Bewährungsprobe, Einschlafen am Tisch oder nicht. Dann wieder raus, ran an die Kartoffeln. Wieder mit den Fingern in die Erde, wieder den Erdgeruch an den Händen, wieder stöhnendes auf und nieder. Später sich häufende Blicke auf die Uhr, dann die Erlösung, kurz vor vier koppelte der Traktorist den Roder ab, sie legten ihre Glieder einzeln auf den Hänger.
Im Dorf Bratkartoffeln mit Rührei und Majoran. Besser ging es nicht.
"Schmeckt's? Den sammeln wir da auf'm Acker", die Küchenfrau wies durch das Fenster stolz auf ein Stück Ödland, "allens von hier, die Tüfften, die Eier und die Kräuter. Ihr ward auch fleißig, ich hab's gehört. Und mit den Quakern", sie winkte ab, "ick wees ja nich. Müsst ihr probieren."
Sie machten sofort Feuer, es war noch ausreichend hell. Wolle und Bernhard Meier zerbrachen einige morsche Zaunlatten, Semsek und Hannes zerteilten die Froschleichname, es blieben winzige Beinchen, gezogen auf dünnen Koppeldraht. Die Mädels verweigerten Kostproben, am Ende verblieben schwarz verkohlte Stückchen einer undefinierbaren Substanz. Geschmack war nicht klar zu erkennen.
Bernhard Meier drehte sich zu Oertzel.
"Davon also hat sich die Aristokratie Jahrhunderte ernährt und die Arbeiter- und Bauernklasse unterdrückt, kein Wunder, dass ihr degeneriert seid."
Es sollte ein Scherz sein.
"Nun halt mal die Luft an du Affe, degeneriert, schau dich doch mal an mit deinen Kokusnußfusseln", sie zeigte auf seine gekräuselten schwarzen Haare, "du siehst doch aus wie ein Bantuneger und erzählst einen Scheiß, du bist degeneriert."
Aus ihren zusammengekniffenen Augen schossen schwarze Blitze, die das Glas der Brille mühelos durchdrangen, "...aber der Bantu bestimmt nicht."
Hannes ergriff ihren Arm.
"Oertzel, das hat er doch nicht so gemeint."
Sie riss sich los, die Blitze funkelten ein wenig schwächer, "Was hat er denn überhaupt gemeint, ich bin nicht Aristokratie", sie sprach jeden Buchstaben gedehnt aus, "ich war noch nie Aristokratie, ich bin auch nicht Partei, blödes Gerede."
Sie fuhr leiser fort, "Ich bin für Gerechtigkeit."
Aus Bernhard Meier war 'Bantu' geworden, für alle Zeit klebte jetzt das Wort, Bantu.
Heftchen. Er hatte bereits in Dönneritz was aufgeschrieben, manchmal, wenn etwas schön war, manchmal, wenn etwas nicht schön war, wenn es nicht mehr auszuhalten war. Das Aufschreiben zog Schlechtes aus ihm heraus oder festigte Gutes, Schönes. An Aufschreiben konnte man sich gewöhnen.
Notiz: Oertzel ist stark. Oertzel ist für Gerechtigkeit. Das gefällt mir. Wo ist Judy, ich werde ihr Bild nicht los. Eigenartig. Kann den Blick nicht wenden, wenn sie läuft, sehe immer ihr gleichmütiges Schreiten. Grade, leicht, federleicht, ohne Anstrengung aber kraftvoll, sicher, unbeirrbar. Da ist kein Stolpern, Tänzeln oder Tasten, da ist kein Zögern. Da ist eine selbstsichere, selbstverständliche Bewegung mit wachem Blick aus halb geschlossenen Augen. Da ist gleichmütig sicherem Auftreten, Abrollen, Vorwärtsschreiten. Da ist kein Widerspruch zwischen dem Äußeren, der Bewegung des Äußeren und dem vermuteten, dazu passenden Inneren, dem scheinbaren und interpretierten Inneren, ihrem Ich? Das ist Judy. Was verbirgt sich hinter den halb geschlossenen Augen, ein Ozean von Gefühlen oder Gleichmut, ein Meer von Gelassenheit oder von Langeweile, allem gegenüber? Ich würde es gern wissen.
Abends das Übliche, Bier, Herumsitzen, auf alten Matratzen liegen. Außer den beiden Hänsen rauchten alle, Heintz Rantzow hielt häufig eine Zigarre entspannt in der Rechten, zog langsam und genussvoll, schaute lange aus dem Fenster in die schwarze Nacht. An Heintz Rantzow klebte ein neues Wort, ließ sich nicht mehr entfernen, schimmerte überall durch. Er hatte in einer kleinen Pause über sogenannte Übungen mit Gewichten und Hanteln gesprochen, scheinbar nur beiläufig, nebenbei, während er mit geradem Hals stolz in die Runde blickte, die Muskeln in dem engen Pullover anspannte, sie waren deutlich zu erkennen.
"Ick hab mir schon jewundert, weshalb du hier bist", Wotan ließ gekünstelt aufgeregt seinen Blick kreisen, "bist du nich Juri Wlassow aus der Sowjetunion, unser Held im Gewichte heben?"
Gelächter, Heintz protestierte, protestierte weil man in dieser Situation protestieren musste, protestierte mit zurückgeworfenem Oberkörper, die Muskeln drückten durch das enge Hemd, protestierte mit stolzem Gesicht, schüttelte lächelnd den Kopf. Aber 'Juri' war erschienen, durchdrang jede seiner Zellen, schimmerte hervor, nahm Besitz. Es war deutlich, Heintz ließ sich von Juri in Besitz nehmen.
Unerwartet kroch Wotan auf den Kachelofen, zog den Kopf unter der niedrigen Decke ein, das Akkordeon entließ tragische Töne.
"Sah ein Knab ein Röslein stehen...", er sang mit guter Stimme, ernst, in sich gekehrt, ein neuer Wotan. Sie blickten sich an, Semsek nahm die Finger von seinem Gerät. Unmittelbar sangen alle mit. Eine traurig schöne Stimmung senkte sich, durchdrang sie, kein Gegröle, kein Gehampele. Wer nicht glaubte singen zu können, steckte eine Zigarette an.
"Wotan, mach weiter".
"Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum...".
Sie fielen noch mehr in sich, ihre Blicke wurden entspannt leer, der Herzschlag ruhiger. Er spielte und sang harmonisch, blickte sie kaum an, "...und seine Zweige rauschten, als riefen sie zu mir...". Ein Zauber ging von ihm aus, drang aus dem Akkordeon, dem Mund, dem Wesen, oben vom Ofen, "...Es zog in Freud und Leide, zu ihm mich immer fort.."
Schweigen, Räuspern, Ändern der Sitz- oder Liegehaltung. Sie waren still, auf einmal unerwartet kräftige Töne, "Die Gedanken sind frei..". Jetzt sangen alle laut mit "...Wer kann sie erraten..., sie fliegen vorbei", wieder alle laut, "wie nächtliche Schatten", die melancholische Magie war geschwunden, Kraft, Energie füllten den Raum, "...kein Jäger erschießen..."
"Genau!", Bantu, Pullover mit Zopfmuster bereits aus, Hemdärmel hochgekrempelt, rief laut dazwischen, "Und an der Mauer?"
Blicke wechselten, "...Mein Wunsch, mein Begehren, kann mir niemand verwehren..."
Sie sangen zu Ende.
"Die Gedanken sollen hier frei sein aber wenn du was Verkehrtes sagst - Knast."
"Na Bantu, nun übertreib mal nicht", Hannes drehte sich ihm zu, "ich glaube, das ist so nicht richtig."
Juri stieß gelassen Zigarrenrauch aus, tupfte Asche ab.
"Das ist nicht richtig, bei uns ist Kritik gefragt, sie muss aber nach vorn weisen, nach vorn."
"Nee? Warum denn nicht, warum nur nach vorn? Man muss doch auch die Vergangenheit beurteilen können, was war denn mit Stalin?"
Die Stimme wurde höher, die Sätze schneller. Allgemeine Ruhe. Hannes bewunderte Bantu, das ist schon nicht ohne, ob alles stimmt?
"In der letzten Klasse stellte mein Staatsbürgerkundelehrer mir die Frage, ob ich überzeugt bin."
"In der Klasse? Wie überzeugt?", Oertzel blickte hoch, veränderte die Lage ihrer schlanken Beine.
"Ja, in der Klasse. Na wie überzeugt? Kennst du doch. Der Sieg des Sozialismus ist gesetzmäßig, da wissenschaftlich durch Marx, Engels und Lenin begründet. Außerdem ist klar, dass wir die kapitalistische Gesellschaftsordnung in der Produktivität bald überholen, weil auch wissenschaftlich begründet, denn bei uns gibt es keine antagonistischen Gegensätze....", Zwischenruf, "Jetzt reicht's bald..."
Er ließ sich nicht beirren, "... und die Produktivkräfte können sich zum Nutzen Aller frei und ungehindert entwickeln."
"Hannes, hasste das in der Partei auswendig gelernt?"
Oertzel's Ton war unklar, ernst gemeint oder sollte es ein Witz werden.
"Bin noch nicht inner Partei gewesen, aber es geht noch weiter: Die höchste Form des menschlichen Glückes, der Kommunismus, ist ungefähr um die Jahrtausendwende zu erwarten und im Übrigen ist die kapitalistisch-imperialistische Gesellschaftsordnung der Verlierer der Geschichte, weil nämlich auch das gesetzmäßig ist. Eigentlich alles sehr einfach", seine Stimme wurde ironisch, "weil g-e-s-e-t-z-m-ä-ß-i-g."
"Hannes, du bist ein ulkiger Vogel, das floss immer an meinem rechten Ohr vorbei, am linken auch."
"Ja, bei mir ebenfalls, meinem Vater brauchte ich damit nicht kommen. Der sagte nur 'alles Quatsch' und 'mit was für nem Zeug sie uns da bloß kommen'."
"Und?"
"Ob du es glaubst oder nicht, ich habe im letzten Jahr 'Moby Dick' gelesen und das 'Kommunistische Manifest', ich wollt einfach mal wissen, was da drin steht."
"Und?", Oertzel, Wolle, Bantu und Juri hoben den Kopf, aus Wotans Instrument perlten leise Töne.
"Na die Sache mit dem Besitz an Produktionsmitteln, den Klassen und dem Kampf und dem riesigen Unterschied zwischen Arm und Reich, die Gerechtigkeit, da ist schon was einleuchtend."
"Aber er macht die bessere Musik."
"Was?"
Semsek grinste, "Er macht die bessere Musik auf seinen Sendern, der Verlierer der Geschichte."
Stimmt, alle waren sich einig, "Los Semsek, alte Kaderleiche, hast Recht, mach mal einen an."
"Was hast du gesagt, zu deinem Stabülehrer", Wolle fragte ihn direkt, "sag mal."
"Ich habe gesagt, ich bin nicht voll überzeugt."
"Und er?"
"Nach kurzem Zögern 'Es würde ihm vielleicht noch gelingen'. Ich fand, das war eine starke Antwort."
Kopfnicken.
Auch Wolle nickte, schaute zu Bantu, "Kennste denn einen?"
"Was für einen, was soll ich für einen kennen?"
"Na, was du gesagt hast, verkehrtes Wort - Knast."
Bantu zögerte kurz, "Ja meinen Vater, damals 53."
"Das war ne andere Sache, da ging's nicht um ein falsches Wort", Juri setzte sich auf, "da ging's um Mord- und Totschlag, ich bin übrigens auch in der Partei."
Stille. Kein Wort.
"Wisst ihr, mich hat das bestärkt", sein Blick ging gedankenverloren ins Nirgendwo, wurde wieder scharf, richtete sich auf Bantu, die Runde.
"Die Amerikaner wühlen überall, Invasion in der Schweinebucht, glatter Angriff vom Boden der USA, jetzt Vietnam, die greifen Dörfer", er wurde lauter, hob die rechte Hand, "die greifen Dörfer mit Napalm an, wisst ihr was Napalm ist und wie das brennt?"
Bantu winkte ab, "Wissen wir, und was hat das mit 53 bei uns zu tun?"
"Ne Menge", Juri holte Atem, da begann Semseks Gerät zu dröhnen.
'This could be the last time; Maybe ists the last time; I don't know, oh no, oh no...'.
Schwenken der Oberkörper, Öffnen neuer Biere.
Nur noch zwei Wochen, dann ging es richtig los, sollte es losgehen. Mit Säuren und Basen und Gestank. Aber noch lagen riesige Felder da, Kartoffelkraut bereits welk, Kartoffeln unter der Erde, die warteten, warteten auf sie, keine Geduld mehr. Muskelkater war nicht mehr bekannt, morgens und abends Nebel, dazwischen Sonne, grenzenlos, von oben bis unten, von vorn bis hinten. Abends wurde jetzt manchmal früher geschlafen. Der Schweiß floss, die Erde anders als am Strand. Der Roder zeigte wieder sein Hauptmerkmal, die Unerbittlichkeit. Hatte der Traktorist noch etwas vor?
Unmittelbar begann Oertzel im Bücken mit Ausführungen über den baldigen gesetzlich vorhersehbaren Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaftsordnung.
"...denn der ist gesetzmäßig, das weiß doch jeder hier, auch du Hannes und Bantu und ihr alle doch ebenso, oder?", sie warf einen theatralisch strafenden Blick in die Runde.
"...und deshalb sammle ich diesen Korb extra für den Sieg des Sozialismus, ja auch dich du große Kartoffel, her mit Dir, und auch noch du und du, und du und du", sie schmiss drei riesige Knollen in den Korb, "ihr alle dient dem Weltfrieden".
Sie erhoben sich ächzend, bildeten einen Kreis um Oertzel, Semsek schob die Pilotenbrille in die Stirn.
"Weiter, weiter, Commandante Oertzel", fast alle klatschten rhythmisch, während sich der Roder erneut näherte.
"Jawohl, wir lassen nicht nach", sie räumte ein großes Kartoffelnest, halb von Erde verborgen aus, "auch ihr seid dazu da, dass die schamlose Ausbeutung junger lernwilliger Menschen, die angetreten sind, die Höhen der Wissenschaft zu erklimmen, bald überflüssig wird."
Lautes Gejohle, der Roder hatte sie erreicht, musste warten, Oertzel ließ sich nicht einschüchtern, "...auch du eine Kugel gegen General Westmoreland", sie schmetterte eine Kartoffel in Richtung des Roders, verfehlte jedoch ihr Ziel.
"Habt ihr schon wieder zu viel Korn getrunken", der Traktorist sprang heraus, steckte sich eine neue Zigarette an, "oder seid ihr überstudiert? Noch nicht mal angefangen und schon überstudiert?"
"Na klar, schon lange", Bantu verdrehte die Augen, hielt den Kopf schief, zuckte mit seinem rechten Arm, "...das ist so schön, richtig überstudiert, da gibt's im 'Deutschen Haus' Freibier."
Großer Jubel, der Traktorist grinste mit, wurde dann ernst, sprang auf den Traktor, rüttelte an den Hebeln. Unmittelbar stellte sich Wolle vor die tuckernde Maschine, schrie los.
"Einen Moment noch", er blickte alle an, hob einen Arm, begann laut zu singen, "Bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend bau auf ..."
Unter Gelächter und stampfenden Schritten schrien sie das Lied über den weiten Acker, lauter ging nicht, der Traktorist klopfte mit knochigen Händen den Takt auf dem Lenkrad, schmunzelte verschwörerisch. Dann wurde das Tuckern schneller, der Roder ruckelte wieder. Nur noch eine Stunde bis zum Mittag.
Semsek hatte den Kneipier gefragt, ja, sie konnten ne Gitarre mitbringen, aber nicht so laut singen. Ist ja Sonnabendabend. Alles klar. Sie waren nur noch sieben, der Rest für zwei Tage mit Bus und Bahn nach Hause gefahren, Eins musste spielen, Heimspiel gegen Traktor Nienhagen. Karin und Oertzel kamen mit geliehenen Klapperrädern aus ihrer Schnitterkaserne im Nachbardorf.
Gegen zwanzig Uhr war es soweit, die Theke dicht mit mehreren Männern besetzt, in der Mitte ne stramme Frau mit Brille, alle in Arbeitsbekleidung, die meisten Männer mit umgekrempelten Gummistiefeln an den Füßen. Vor ihnen Gläser mit schaumigem Bier und kleine Schnapsgläser voller dicker Rillen, sehr gut gefüllte Aschenbecher. Klar ersichtlich, die sind nicht erst fünf Minuten da. Vorsichtige Begrüßung, die Thekentrinker warfen blasse Blicke auf die Neuankömmlinge, sie durften in der Ecke zwei Tische zusammen rücken, die Vasen mit den künstlichen Alpenveilchen zur Seite stellen. Der Raum war jetzt still, an der Theke wurde nur noch halblaut getuschelt, das klang vor fünf Minuten beim Betreten des Flures anders. Verdeckte Blicke flogen herüber.
"Sieben Bier und fünf Korn", Wotan schrie durch den Raum, fuchtelte mit der Hand Richtung Theke.
"Ich will keinen Korn".
"Oh la, la, wat issen mit dir, Zwei, kannste kenen Korn vertragen, du bist doch och vonne Küste", Wotan lachte, "haste kranke Leber, du, du, du", er winkte künstlich drohend mit dem Finger.
Hans Zwei blickte mit seinen hellen Augen ruhig um sich, wiederholte leise und klar, "Ich trink solch ein Zeug nicht."
"Na, gut, dann trink ich deinen mit."
Das erste Glas floss stöhnend herunter, sie sackten zusammen. Semsek packte die Gitarre aus, begann verhalten zu klimpern. Wolle setzte leise ein, "Gaudeamus igitur iuvenes dum sumus..." Alle summten oder sangen irgendwie mit, hatten bereits zwischen den Kartoffeln geübt. Da da di da, di da da daa. Es war unklar, wer den Text kannte, Wolle natürlich und Hans Zwei, wer konnte sonst lateinisch? Lateinisch war exotisch, Hannes kannte vorher niemanden, der von dieser Sprache eine Ahnung hatte. Inzwischen wusste er, Ärzte brauchen das. Aus den Wörtern quoll Altes, Fremdes, auch Vornehmes. Ein Dicker mit grauem Strubbelhaar kam von der Toilette, blieb neben ihnen stehen, hörte zu.
"Was issen das für'n Lied?"
"Das ist n altes Studentenlied, von früher", Wolle versuchte etwas zu erklären, sprach von Kommersbuch und alten Studentenkneipen, früher wurde da viel Bier getrunken.
"Ach, früher", jetzt standen alle um sie herum, nur die Stramme saß noch an der Theke, "früher", sie grinsten, "kennt ihr auch deutsche Lieder?"
"Klar", Semsek intonierte eine neue Melodie, schrie "Hobelbank."
"Was denn für ne Hobelbank?", die Bauern schauten fragend aber sie sangen sofort los, Semsek startete im Solo, "Ist da nicht ne Hobelbank?", alle fielen laut im Chor ein, "Ja da ist ne Hobelbank...".
Die Gäste begriffen sofort und schrien mit, "Hobelbank – Blitzeblank, oh du schöne, schöne Hobelbank, heute wird gehobelt, morgen sind wir blank", allgemeine Freude und Belustigung. Zweite Strophe, Hannes und Wolle schauten sich vielsagend an.
"Ist da nicht ne Friedhofsmauer, ja das ist ne Friedhofsmauer, hängt da nicht ein kalter Bauer, ja da hängt ein kalter Bauer, Friedhofsmauer, kalter Bauer..."
Die Bauern schauten erst unverständlich um sich, johlten dann plötzlich los, "...kalter Bauer...", Oertzel und Karin blickten irritiert um sich, wie immer an dieser Stelle, fragten in die Runde, "...was denn für'n kalter Bauer verdammt nochmal?"
Das blieb wie immer ein Geheimnis.
"Pfui Deubel, glaubt ihr eigentlich, ihr seid was Besseres, auf unsere Kosten studieren und dann nischt wie saufen und säuische Lieder herumgrölen."
Die Stramme mit der Brille hatte sich umgedreht, lehnte ihren Rücken an die Theke, schob die Hand des Kneipiers von ihrem Ellenbogen.
"Lass mich in Ruhe Heintz, wird man doch mal sagen können, kuck dir die doch mal an, wollen alle Direktor werden, uns herum kommandieren", sie rutschte fast von ihrem Hocker, konnte sich rechtzeitig festhalten.
"Ach Elsie, lass sie doch, warst doch auch mal jung, noch 'n Helles?", frisches Bier schäumte ins Glas.
"Alles Quatsch", Juri stand auf, konnte problemlos zur Theke rüber schlendern, "hier will niemand Direktor werden und herum kommandieren erst recht nicht, das können sie mir glauben."
"Kannst ruhig du zu mir sagen, du bist aber ein Süßer, haste schon ne Freundin, ha, ha" sie lachte mit tiefer Raucherstimme.
Der Kneipier beugte sich über die Theke, "Elsie, was soll das denn, könnte dein Sohn sein."
"Na und, trotzdem ein Süßer, willste nicht Direktor werden, was studiert ihr denn so?"
"Wir haben noch nicht einmal angefangen, geht erst nach dem Kartoffelsammeln los und dann, na ja, Chemie."
Elsie zog tief an ihrer Zigarette, "Oh Gott oh Gott", das rauchige Lachen ertönte wieder, stoßweise strömte verbrauchter Rauch zwischen ihren fülligen Lippen hervor.
"Dann seit ihr ja verantwortlich für Brot, Schönheit und Wohlstand. Haben die Genossen ja beschlossen. Kann ich alles gut gebrauchen, na ja, Brot haben wir genug, aber Schönheit", sie räkelte sich gespielt kokett, "da ist noch Platz. Dann werdet ihr doch keine Direktoren, dann müsst ihr bestimmt Pevauzeh oder wie das heißt zusammenrühren und Dedete und son Zeug."
Sie stand etwas unsicher auf, nahm das halbvolle Glas und steuerte die Ecke mit den zusammen geschobenen Tischen an, winkte Juri zu mitzukommen.
"Wisst ihr was, Heintz, noch ne Runde für die Jungspunde, wo kommt ihr denn her?"
Sie berichteten von ihren Heimatorten, ihren Eltern, die Bauern und Elsie nickten.
Wotan versuchte wieder einen Scherz.
"Ihr kommt bestimmt alle aus Dingsbumshagen oder Trüdeldüdelfitz", die Mienen verfinsterten sich leicht, Elsie musste kontern.
"Ihr solltet erst mal nen ordentlichen Beruf lernen."
Das Erstaunen war groß, sie alle hatten neben dem Abitur einen Beruf lernen müssen, da saßen junge Maschinenschlosser, Lokschlosser oder einfache Schlosser, auch Melker und Tierzüchter. Hannes besaß Fahrerlaubnis für Trecker.
"Nicht schlecht, zwar alles nur Hasenschule aber nicht schlecht", die Gummistiefelleute nickten, "darauf trinken wir noch einen."
Dann wurde wieder gesungen, "Kurfürst Friedrich von der Pfalz", der "Alte Bruns von Brunzelwitz", die Bauern schüttelten den Kopf oder sangen lachend die Refrains, nach weiteren Runden war Schluss, halbzwölf Zapfenstreich.
Arme winkten, "Mach's jut, mach's jut", Elsie flötete Juri an, "Tschüss du Süßer", der verzog sein Gesicht, Traktorist Paul lallte, "Bis Montag, in alter Frische."
Die Einheimischen verschwanden im Dunkel des Dorfes, Oertzel und Karin kurbelte auf den Klapperkisten zurück. Kaum waren sie allein, zog Wotan eines der dickwandigen Schnapsgläser aus der Tasche, holte aus und warf es gegen einen harten Balken unter ner Straßenlampe. Es flog mit hellem Klirren zur Seite, unzerstört.
"Gibt's nicht, lass mich mal."
Alle versuchten ihr Glück, außer kleinen Abplatzern kein Effekt.
"Jibt det nich, wisst ihr wat", Wotan blickte triumphierend um sich, "det is DDR-Qualität."
Lauter Jubel, sie liefen im Gänsemarsch am Rand der düsteren Dorfstraße, Wotan begann wieder leise, "Wir sind die Moorsoldaten und ziehen mit dem Spaten…", der Rest stimmte laut ein, "ins Moor, ins wilde Moor." Keiner kannte den Text genau, keiner wusste den genauen Hintergrund, ja, antifaschistisch, das was gut, aber mehr war nicht bekannt. Aus dem Lied strömten Gefühle, Ausgeliefertsein, Verlorenheit aber auch Geschlossenheit, Solidarität. Hatte was mit ihnen zu tun, passte also. "…ins Moor, ins wilde Moor."
"Graben bei dem Brand der Sonne, doch nach Hause steht der Sinn..."
Das kannten sie, zwar nicht graben aber in der Erde wühlen schon. Aber schön war es auch, hier mit ihnen, am Rand des Teufelmoors, richtiger Moorsoldat war anders, das war klar. Wotan kannte alle sechs Strophen, es reichte für einige hundert Meter durch die Nacht, lautes Schmettern, die Bauern vor dem Testbild wecken, LPG-Bauern waren nicht arm.
Vollkommene Stille, die Lautlosigkeit zwischen Leben und Tod, zwischen Tag und Nacht. Noch kein Licht, also ganz früh. Er bewegte sich nicht, diesen Zustand nicht stören. Elsie schwebte verhalten von links über die Bühne, schaute ihn vorwurfsvoll an, "...wollt wohl was Besseres werden...auf unsere Kosten studieren..." Er schüttelte den Kopf, der ließ sich jedoch nicht bewegen, aus dem Mund kam kein Ton. Seine Gedanken liefen über ein großes Laufband auf der Rückwand der Bühne, geschrieben oder er sprach sie lautlos, eigenartigerweise für Jeden verständlich.
...nicht besser als 'die Arbeiterklasse', die meisten von uns kommen von Arbeiter und Bauern oder armen Angestellten, er dachte an seinen Vater....studieren...wir haben wenig Geld aber es schien ein tolle Leben...das richtige Leben würde später kommen aber bis dahin... das Studium musste laufen... nicht öffentlich schreien der Sozialismus oder Walter Ulbricht sind doof oder bescheuert oder verbrecherisch...vorsichtiges Denken an Bantu, ganz vorsichtig, das Laufband blieb leer...Elsie schwebte weiter nach rechts, näherte sich dem seitlichen Vorhang...und euer 'Klassenstandpunkt'?...woher hatte die denn dieses Wort, sein Gehirn wunderte sich...der 'Klassenstandpunkt'...unklare Sache...aber wertefrei waren sie nicht, machten sich Gedanken über den Gang der Welt, der Geschichte, des Sozialismus, der Amerikaner, der Deutschen... dass die sich drüben 'Deutschland' nannten und sie hier 'Zone'...Anmaßung...Halbnazis...Globke, Erhardt, Konsorten...Elsie war bereits verschwunden, die Bühne verglimmte nach dem Laufband...Stille...
Er kannte diesen Burschen nicht, noch nie gesehen. Saß auf der Parkbank, winkte ihr zu. Sie verließ die Gruppe, drehte sich noch einmal kurz um, sah Hannes an und verschwand mit dem Burschen hinter der nächsten Biegung. Enttäuschung flutete seinen Körper, was ist mit Judy? Durch seine geschlossenen Augen drang schwaches Licht, er musste wieder eingeschlafen sein. Der Dödel stand sperrig nach oben. Er blickte aus fast geschlossenen Augen über die Strohsäcke, tiefes Ausatmen, heute ist Sonntag.
Juri hockte schweigend auf dem Schlafsack, zog sich Sportschuhe an, blickte herüber.
"Willst schon raus?", sie flüsterten.
"Ne Runde laufen."
Fünf Minuten später schlossen sie leise die einfache Haustür. Die Sonne hatte bereits über den Morgennebel gesiegt, Hühner zerkratzten konzentriert den Boden vor sich, traten einige Schrittchen zurück und betrachteten ihr Werk. Elastisch trabte Juri vor ihm auf dem Ackerweg, mitten durch bereits geleerte Kartoffelfelder, von Treckern intensiv zerfahren. In der Ferne mündete der Weg in Hochwald. Sieben Glockenschläge unterbrachen die Stille, dann wieder Ruhe, mehrere Bussarde kreisten lautlos am Himmel.
"Machste das öfter?"
"Ja, immer mal, wenn ich Zeit und Lust habe, ist schön, das Laufen, die Ruhe, die Natur, manchmal auch mit meinem Vater."
Mit dem Vater, für Hannes unvorstellbar.
"Der hat schon immer Sport gemacht, früher Arbeiter- Turn- und Sportbund. War sogar mal zur Arbeiterolympiade, also vor den Nazis."
"Ne Arbeiterolympiade?
"Ja, gab's mal früher, also vor den Nazis, bei den Nazis war's dann nicht so gut für ihn, war Kommunist."
"Verhaftet?"
"Ja, aber nur mal kurz."
Sie umrundeten ein dicht bewachsenes Söll am Rand des Feldes, dicht bepackt mit großen Ackersteinen. Hannes spürte Schweiß, Juri lief scheinbar locker wie eine Maschine, drehte sich um.
"Schön was, bei dem Wetter?"
"Biste deshalb in der Partei, wegen deinem Vater?"
"Spielt bestimmt ne Rolle. Ich find's gut, hier ist was Neues, keine Ausbeutung mehr. Hier hat keiner mehr Interesse am Krieg, hier verdient niemand mehr am Krieg, an all diesen Dingen, die man braucht für Krieg, Uniformen, Kanonen, Fahrzeuge, Panzer und all dem Kram."
"Gut, aber warum sind dann so viele abgehauen, warum die Mauer?"
Er dachte an Bantu aber Juri verströmte Vertrauen.
"Na klar, ist nicht alles perfekt aber die drüben werden von den Amis unterstützt und wir mussten der Sowjetunion helfen, da war doch kein Stein mehr heil. Aber das ist vorbei."
Er lief ruhig weiter, drehte sich kurz zu Hannes um, schaute ihn nachdenklich an.
"Mein Vater spricht vom Traum, viele hatten diesen Traum, wir versuchen es."
Hinter einem Wäldchen kam ein See in Sicht.
"Wir müssten mal in Ruhe darüber reden, nach drei Bier und in aufgeregter Stimmung hat das keinen Sinn."
"Warum denn nicht", Hannes keuchte, "die Fakten ändern sich doch nicht, wenn ich drei Bier trinke."
"Die Fakten nicht aber wie ich darüber denke vielleicht schon. Wollen wir noch da runter zum See, können wir baden oder gleich zurück?"
"Baden, baden ist nicht schlecht."
Hannes ließ sich mit letzter Kraft den schmalen Weg herunter treiben. Das Wasser war noch angenehm, entspannende Kühle durchdrang ihre Körper, wunderbar, der Atem beruhigte sich. Schade, Oertzel oder Judy waren nicht hier, Karin auch nicht. Er schielte zu Juri rüber, nicht schlecht, wie ein Athlet, er selbst ähnelte eher einem dünnen Birkenast.
Am Nachmittag lagen sie entspannt herum, hatten neben der Baracke das Bettzeug auf den Rasen geschmissen, die Herbstsonne wärmte. Hühner liefen gackernd zwischen ihnen durch oder saßen wie bewusstlos in Sandbädern. Wolle berichtete von einer Reise mit Eltern, weit weg, bis nach Budapest, der Trabbi blieb zweimal liegen. Bantu war schon einmal in Prag, tolle Stadt. Hannes hatte nichts zu berichten, seine einzige Reise führte hier ans Meer, hier in den Ernteeinsatz, hatte aber etwas gefunden.
Er hob den Kopf, blickte sich um, "Kennt einer von Euch ne Bretanje?"
Kopfschütteln, "Is det ne neue Hühnersorte", Wotan zeigte auf die emsigen Kratzer.
"Blödsinn Wotan, das ist ne Gegend in Frankreich, schreibt sich Bretagne, spricht man Bretanje und ist phantastisch."
"Is doch ejal, kommen wir sowieso nicht hin", er zeigte erst in den Himmel und dann nach Westen, "noch nie gehört, da kommen wir nie hin und wie kommst du darauf?"
"Ich hab bei uns zu Hause ne alte Zeitung gefunden", Hannes Stimme wurde leiser, "Oberkommando Westfront, also Nazis, da wurde diese Bretanje dargestellt, alles alte Kelten, irre Geschichte und die Landschaft, phantastisch."
"Un wat is da so phantastisch?"
"Nur Felsen und der Atlantik und Stürme und dann paar Tausend Kilometer bis Amerika", während er erzählte entstand in ihm wieder das Gefühl, da könnte er vergehen. Sie ließen sich zurückfallen, erneut Ruhe.
"Wie am Strand", Semsek stöhnte vor Glück, "bloß keine Mädels hier."
"Das wird schon noch", Juri lachte ruhig, dehnte sich demonstrativ, "werd mal nicht unruhig. Hat hier schon einer ne Feste?"
"Was ist denn ne Feste?",
"Meinste jeden Tag bum, bum, bum?"
Wotan schob den Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger durch.
"Na eben ne Feste", Juri grinste, "ihr wisst schon was ich meine."
Keine Reaktion, sie schauten wieder mit geschlossenen Augen in die Sonne, gleichmäßiges ruhiges Atmen.
"Wenn bloß die Hühner nicht wären, dieses Gegaakere", Bantu schmiss sich auf die andere Seite, "Vögel zwitschern geht ja noch aber das Gegaakere..."
Überraschend meldete sich der ruhige Hans2.
"Da könnte ich was machen."
"Wat willst da machen? Aber bei Euch auf'm Dorf, irgendwas mit -itz oder -ow oder-in, weiß man sich zu helfen. Ich weiß, der größte Fehler von uns aus der Reichshauptstadt ist es, euch Dorflümmel zu unterschätzen."
Er lachte freundlich, bedacht, witzig zu sein aber nicht zu verletzen.
"Also, wat willst denn da machen?"
Hans2 erhob sich, ging ruhig zwischen die Hühner, griff blitzschnell zu und hob ein krakelendes Huhn hoch.
"Pass auf."
Er legte das Huhn mit einer schnellen Bewegung auf die Seite. Für alle erstaunlich, es blieb sofort ruhig liegen. Danach bewegte er seine Rechte in gleichförmigen Kreisen über das nach oben blickende Auge, legte das Huhn kurze Zeit später seitlich auf den Boden. Es blieb liegen, bewegte sich nicht mehr. Lag wie ein Plattfisch, schaute mit einem Auge in den Himmel. In kurzer Zeit hatten sie fünf Hühner in Trance gelegt. Die lagen bewegungslos auf ihrer Himmelsseite. Erschien ihnen zwischen den Wolken ein Hühnergott oder galoppierten die apokalyptischen Reiter durch die Luft oder verfielen sie in Todesstarre? Es wusste niemand, sie blieben liegen und betrachteten mit dem rotumränderten Auge fragend hochziehende Wolken. Vielleicht haben sie darüber nachgedacht, wieso auf Kosten der Arbeiterklasse studierende junge Menschen, die wussten, dass der Sieg des Sozialismus gesetzmäßig ist, solche Mätzchen mit freien Dorfhühner veranstalteten. Vielleicht. Waren die Hühner glücklich, in diesem Moment?
Wotan konnte sich nicht beruhigen.
"Vielleicht sehen sie Gott da oben", er ließ heftigst ein Bier in sich hinein laufen, "ihren Gott oder unseren oder", er überlegte kichernd, "Gottes Schwester oder", nach einem weiteren Schluck, "Gottes Oma."
Hans2 schüttelte noch einmal unmerklich seinen Kopf, winkte ab, sprach leise zur Seite.
"Gott kann man nicht sehen, Gott sieht man durch seine Taten, wenn man sie sehen will."
Was war das? Gott kann man nicht sehen? Gott existiert doch einfach nicht. Hannes murmelte leise zurück.
"Bist du in der Kirche?"