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Anfang der 80er hat Jochen König alles, was er sich wünscht. Eine attraktive Frau, Kinder und Arbeit auf der großen Werft am Meer im Norden der DDR. Sogar wissenschaftliche Karrieremöglichkeiten. Dazu Freunde und das Segeln auf dem Meer. Aber das Leben meint es nicht nur gut mit ihm. Es gibt Unsicherheiten mit Angie und Herausforderungen durch geheime Kräfte. Auch gefährden Raketen, die weiße oder rote Sterne tragen, sein Glück. Er ringt mit sich und Gott, klagt mit anderen nicht sichtbaren Mächten in ihm. Schafft er es, den persönlichen Untergang zu vermeiden, den des Staates zu überstehen? Aber Angie verlässt ihn, das Sterben der DDR wird zur Nebensache, er kann sich retten. Wollte Angie mehr vom Leben, ist er zu viel geschwebt?
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Seitenzahl: 550
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Mehr vom Leben
Von Jürgen Ostwald
Dies ist ein Roman, alle Handlungen und Namen sind frei erfunden, entstehende Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Verstorbenen sind rein zufällig.
Diese Geschichte habe ich erfunden, um zu erzählen wie es war. (E.Ruge)
Wir erzählen uns Geschichten um zu leben. (Joan Didion)
Der Mensch ist ein Wesen, das sich an alles gewöhnt. (F. Dostojewski)
Anfang der 80er hat Jochen König alles, was er sich wünscht. Eine attraktive Frau, Kinder und Arbeit auf der großen Werft am Meer im Norden der DDR. Sogar wissenschaftliche Karrieremöglichkeiten. Dazu Freunde und das Segeln auf dem Meer. Aber das Leben meint es nicht nur gut mit ihm. Es gibt Unsicherheiten mit Angie und Herausforderungen durch geheime Kräfte. Auch gefährden Raketen, die weiße oder rote Sterne tragen, sein Glück. Er ringt mit sich und Gott, klagt mit anderen nicht sichtbaren Mächten in ihm. Schafft er es, den persönlichen Untergang zu vermeiden, den des Staates zu überstehen? Aber Angie verlässt ihn, das Sterben der DDR wird zur Nebensache, er kann sich retten. Wollte Angie mehr vom Leben, ist er zu viel geschwebt?
Dr. Jürgen Ostwald, 1946 geboren bei Brandenburg/Havel, ging zehn Jahre zur Schule, erwarb danach das Abitur und studierte Chemie. Der Autor arbeitete zuerst im Schiffbau, später dann in medizinischer Forschung. Jürgen Ostwald ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Personen
1. Gott gibt es nicht, das war sicher. Sonst wäre alles anders gelaufen, mit Jochen, mit der DDR. Gott hätte sie belohnt, sie beide. Wenn er gerecht wäre, vorausgesetzt, es gäbe ihn. Hätte belohnt seine Freude an Angie, seine Freude an Krischi und seine Freude an Anja. Hätte belohnt die Ungläubigen, denn die gaben denen das Land, die das Land bestellten, nahmen es natürlich denen, die das Land hatten bestellen lassen. Aber Gott ist gerecht, hatte Oma in ihrem Bibelblatt gelesen und das große Bild von Jesus angeschaut. Hatte es ihm gesagt, immer wieder, wenn er ungläubig zu ihr hinübersah. Ja mein Jochen. Gott ist gerecht.
Das Jochenkind Herbert konnte es nicht glauben, dieses ganz kleine Kind in ihm, so klein, das hieß Herbert, er wusste es genau. Er selbst heißt Jochen, hieß schon immer Jochen. Fast niemand glaubte es, das mit der Gerechtigkeit.
Es stand damals in dem Buch, er konnte bereits lesen, von einem Bobro oder so ähnlich. Da war es geschrieben, von seinem Herbert und dem Schwarzen Johann, die waren in ihm. Und dass, ja, Herbert und der Schwarze Johann, die gehören zusammen. Der schwarze Johann war nie weit von Herbert, hockte in Herberts Löchern, konnte wild werden, zog ihn tiefer, immer tiefer. Und es stand, dass man Herbert heißen konnte, wenn man klein war, dass man ein kleiner Herbert sein konnte, sein eigenes kleines Kind.
Die Kommunisten glaubten nicht an Gott, sprachen von Unsinn und Opium. In der Zeitung oder früher Direktor Neumann, als er die Schule besuchte. Selbst der Vater, häufig am Sonntag um zehn Uhr in der Kirche, schaute nach Fragen fragend dorthin, dahin, wo Gott sein sollte. Blickte suchend in den Himmel, blieb am Kirchturm haften, war er dort zu erkennen? Antwortete unklar, sprach nicht "Ich glaube an Gott...", sprach nicht fest, bestimmend, wie sonst, früher.
Gott prüft, kann hart prüfen, es heißt, er prüft die, die er liebt, prüft sie hart, die er liebt. Da muss er sie geliebt haben, ihn und die DDR. Haben sie die Prüfung bestanden? Die DDR nicht, ist frisch verblichen, friedlich von ihnen gegangen, ohne einen Schuss, mit unklarem Gerede. Und er?
2. Über den Zaun und über die Wiese drangen diese hellen Schreie. Lustschreie, Freudenschreie, Überraschungsschreie, Kinderschreie. Sie spielten wohl Fangen, mit oder ohne Ball. Er verstand nichts Genaues, nur die Freude, die Aufregung, die spitzen Schreie, glückliche Lebensschreie.
Ohne ihn. So dicht und so fern.
Er war nicht mehr da, durfte nicht mehr da sein, durfte sie nur am Sonnabend sehen, mit ihnen sein. Die gelbe Leere in ihm flutete alles. Aufhören. War dies nur ein Traum gewesen, oder war es ein schlechter Traum oder war es sogar ein Teerseetraum, das Schlimmste nach der Trennung von ihnen vor einem Jahr?
Draußen herrschte Dunkelheit, kein Licht drang durch die geschlossenen Augen. Aber das Rauschen war da, war immer da, das einzig Beständige, seit einem Jahr. Die Blade rauschte über das Wehr. Gab Trost, gab Beständigkeit. Gab andere Beständigkeit als das Nebelhorn sie gegeben hatte, aber Beständigkeit. Gab Beständigkeit ohne Pause. Die Beständigkeit des Nebelhorns drang tiefer in ihn, hielt länger, hielt über die Dauer des Nebels und des Nebelhorns hinaus. Musste sich das Rauschen erst einnisten, in der Seele einen dauerhaften Platz schaffen, um zu wirken? Musste es sich einknoten in das Netz, das ihn hielt, nicht nur einflechten, nein, richtig fest knoten? Fest bleiben, auch wenn das Netz geschüttelt wurde?
Der Wecker klingelt, ruft zum Zink und zu Dr. Zink, wie sich Abteilungsleiter Dr. Budly gern nennen ließ. Dr. Zink oder Zinki. Ruft zur Arbeit, ruft in die Werft. Immer noch, seit so vielen Jahren. Am Anfang hatte er anders gerufen, der Duocklock mit seinen beiden Schellen oben und dem kleinen Hämmerchen. Den überhörte man nie. Damals, unmittelbar nach dem Studium. Keine Zweifel, keine Teerseeträume, wo kamen die bloß her? Aber das kam ja erst später. Damals, ja damals, am Anfang in Blademünde vor fast zwanzig Jahren. Er wollte sie beeindrucken, sie mit ihrem Volleyball. Gut, er hatte das Segeln, das Meer, die Bücher. Damals in dem Schlafzimmer, er konnte beide Seitenwände fast gleichzeitig berühren und Angie's schlanker Körper neben ihm. Ach ja, das Schlafen neben ihr, genauer gesagt das Einschlafen. Er spürte den weichfesten Körper. Das Gesicht mit den markanten Zügen, das lange blonde Haar. Das klare Energiegesicht, der endlos lächelnde Mund, der strahlender Blick. Dieser verzaubernde Knick in ihren oberen Lidern, er hatte ihn oft heimlich beobachtet. Die schlanke Figur, deren Wachstum mit siebzehn wohl stehengeblieben war. Dieser Sog zu ihr, zu diesem Wesen.Ein Glücksversprechen. Der Sog, an ihr zu liegen, bei ihr zu liegen, neben ihr zu liegen. Mit ihr in die Tiefe fallen, konturlose Tiefe bis zum Morgengrauen. Die Hand noch lange auf ihrer Haut, draußen das Säuseln des Nachtwindes, das Murmeln verschlafener Wellen.
Dazu das Schniefen von Krischi, der war erst wenig über Eins, hatte immer noch Windeln an. Damals, als Angie neben ihm lag. Erst ein Blick über die Dünen auf das schwarze Wasser des Meeres, die Kiefer dicht am Fenster schlief immer noch. Schnell einen Aufgebrühten, ein Brötchen mit Marmelade, einen Kuss auf Angie, die musste erst um acht zu ihrer Schule, vorher Christian in den Kindergarten bringen. Ein Abschiedsblick auf das schwarze Wasser, sechzig Stufen runter und raus in die kalte Dunkelheit. Die Kutter dämmerten langsam atmend vor sich hin. Ließen unter kristallinem schwarzblauen Himmel gemächlich die Propeller laufen. Versuchten sich vor dem Tod durch Einfrieren zu retten. Weiter im Trab zum Bahnhof, der Zug fuhr sechs Uhr dreizehn, die gleichmütig laufenden Diesel gaben den Takt. Als ob die Kutter leise miteinander sprachen, sich gegenseitig Mut machten, ein wenig an ihren Leinen zerrten. Schrauben zerwühlten das Wasser. Weithin zu hören in der morgendlichen Winterstille. Kling-Ding, Kling-Ding, Kling-Ding. Gleichmütig und beständig durchdrang es die Nacht, flog weiter über das Meer, flog vielleicht zu den Kuttern im nächsten Hafen, viele Kilometer entfernt. Während er vollkommen erschöpft auf den anfahrenden Zug sprang, entstand im Osten erste Rötung in der Finsternis. Schnell die Füße auf eine glühende Heizung, Herman Melville in der Hand. Die Bahn fuhr schneller, es wurde leiser vom Wasser her. Kling-Ding, Kling-Ding, Kling-Ding. Eine halbe Stunde warmer Ruhe, versunken in Nantucket auf der "Pequod". Er, Jochen König, sechstausend Kilometer weiter westlich. Über die Grenze und alle anderen Grenzen hinweg. Auf der "Pequod" wäre von dreieinhalbtausend Seemeilen die Rede. Eine halbe Stunde Einsamkeit auf einem noblen Ecksitz, inmitten immer mehr werdender Menschen. Eine halbe Stunde in Verwandlung. Inmitten von Menschen, die zur Arbeit fuhren, die über Fernsehen, über Chefs, über Unsinn redeten oder mit ruckelndem Kopf schliefen. Eine halbe Stunde Glück vor Arbeitsbeginn. Ein Glück, das niemand wahrnahm.
Pünktlich in das Barackenzimmer mit den Drahtglasfenstern, in das Büroaquarium. Pünktlich war wichtig, pünktlich um sieben Uhr. Mehrere Schreibtische, mehrere Schreibstühle, an der Decke kalte Neonröhren. Kein Bild des Generalsekretärs, keine Bilder von Frauen, Geliebten, Kindern oder Katzen und Hunden. Für jeden eine Schreibtischlampe mit gemütlichem gelben Licht. Immer das gleiche Ritual. Jacken in den Schrank, sich fallen lassen auf die Schreibstühle, Zeitungen raus, lesen.
"Hier", Heinz Kleber, ihr Kleinstgruppenleiter im mittleren Alter, schütteres blondes Haar, Diplomingenieur für Maschinenbau, raschelte mit der Lokalzeitung der SED, "wir haben uns verpflichtet, im Jahr ein halbes Schiff mehr abzuliefern."
Er lachte, "Also ich war nicht dabei, ihr etwas?", er schaute zu Otto Schirmer rüber.
"Otto, willst du vielleicht das halbe Schiff am Wochenende selbst bauen, kurz vor der Rente?"
Otto Schirmer verzog sein hageres Gesicht, strich sich über die Glatze, winkte abschätzig ab.
"Die schreiben sowieso, was sie wollen", er blickte sich schmunzelnd um, "das war schon bei Heinkel so, damals zu Zeiten des Gröfatz."
Er beschwichtigte sich schnell selbst, "Ich will ja nichts sagen." Seine Augen huschten über die Schreibtische, "Das kann man nicht vergleichen."
Robert Prolanski, nur wenig älter als Jochen König, rief jubelnd brutal dazwischen.
"Hier, ich hatte Recht. Stahl Riesa hat Vorwärts Frankfurt geschlagen, 5:1, alles richtig getippt, ich ruf gleich mal die anderen an."
Er wedelte mit der "Sportecho", eine der begehrtesten Zeitungen am Montag. Robert war verrückt nach allem aus der Fußballwelt. Spieler, Ergebnisse, Zwischen- und Endstände, Ergebnisse aus aller Welt zwanzig Jahre zurück. Tippte mit Kollegen aus der Werft jede Woche, war Listenführer. Füllte aus jeden Freitag nach Anrufen, Überschrift 'Oberliga 1971/1972'. Er strahlte, das Jahr ging gut los. Jochen war eingeladen worden, jeden Freitag eine Mark Einsatz. Es gelang ihm, sich heraus zu reden, zu wenig Ahnung, keinerlei Ahnung.
"Robert, glaub es mir, null Ahnung."
Was ging ihn das an, Stahl Riesa, Carl Zeiss Jena, Lok Leipzig?
Nichts.
Was hast du denn gedacht, arroganter Sack? Bist der Jüngste und schaust hochmütig herab?
Ach, bin ich arrogant? Aber gut, dass Du mit mir sprichst. Es interessierte mich einfach nicht und dann diese Ernsthaftigkeit, dieser Stolz darüber zu wissen, SC Empor Rostock gegen SC Einheit Dresden am 03.06.1962 6:0. Vor ungefähr zehn Jahren, 6:0. Nicht 5:0, nicht 4:0 oder 7:1. Ich bin eben ein arrogantes Arschloch. Kenne aber Ismael und Queequeg und Kapitän Ahab.
Queequeg? Kenne selbst ich nicht, hast du dir den ausgedacht, willst mich foppen?
Du bist doch allwissend, kannst in jedes Hirn, in jede Seele schauen, heißt nicht umsonst, wie du heißt, Auktorialer Erzähler oder Gott oder das Große Geheimnis oder Allvater. Ich sag Ewiger zu Dir. Du kannst sogar Welten schaffen. Und zerstören. Ja, ich rede von Queequeg!
Hmm.
Aber letztens bei der Volkskammerwahl, kein Wort. Den ganzen Tag im Büro, von sieben bis sechzehn Uhr, viele tausend Wörter auf den Tisch raufgesabbelt. Viele tausend, wenige davon dienstlich. Ununterbrochene Wortströme. Große, mittlere und kleine Wörter rutschten von den Tischkanten zu Boden, selbst kleinste Ja oder Neins verschwanden in den Ritzen der Dielen, neue kamen nach, ein endloser Strom. Dort müssten noch Wörter aus der Nazizeit herum liegen. Aber über die Wahl, fast kein Wort. Otto fragte zwei Tage vorher, wer um sieben morgens hingeht, den Nelkenstrauß als erster Wähler erhalten will. Sollte lustig sein.
Für Angie war alles klar. Vater Abteilungsleiter im Panzerwerk und in der Partei, Mutter Lehrerin und in der Partei. Die Welt erschien eben klar, sie erschien nicht nur klar, sie war klar. Sie war grundsätzlich und wissenschaftlich, war eben klar. Man war auf der richtigen Seite und, was am Wichtigsten war, man hatte ein Ziel. Ein Menschheitsziel, über die eigene Wohnung, über Essen und Trinken hinaus. Ein Ziel, das wärmte, das man manchmal vergaß. Aber ein Ziel, das immer da war, ein zweifelfreies Ziel. Etwas, dass Kraft gab.
Jochen und Angie schlenderten zum Wahllokal kurz vor Mittag. Er schob den Kinderwagen mit Krischi, der konnte und wollte noch nicht wählen. Der verkroch sich gegen nassen und kühlen Wind in seinem Nest. Sie hatten in der Nacht miteinander geschlafen, er hatte ein gutes Gefühl. Angie war wie immer lautlos geblieben, es musste wohl so sein. Auch damals, am Anfang, er hatte es in ihr Ohr geflüstert, was noch nie geflüstert worden war.
"Ich könnte ewig bei dir liegen und in dir sein, mich in dir spüren", auch damals keine Antwort.
Er hatte sich nackt gemacht.
"Gehst du zuerst, ich warte mit Krischi draußen", sie sah ihn an mit diesem Blick, dem er gefolgt war, seit damals. Wie ihrem nordischen Mund und den passenden Augen.
Büroatmosphäre, der Betrieb bereits abgeflaut, etwa zehn Männer und Frauen blickten von Papieren hoch, beendeten kurz ihre Gespräche, musterten ihn.
Ein älterer Herr in Anzug und Schlips, die geschlossenen Hände auf Blech links oben, rief herüber.
"Hier, hier geht es los, ihren Ausweis."
Blick hinein, Listen durchfahren von oben nach unten, blättern, finden, Haken machen, der erste Haken auf einer Liste, gut. Er wurde weiter gegeben, Name und Anschrift noch einmal geprüft, Wahlzettel ausgegeben. Haken auf der nächsten Liste, gut. Er spürte die Blicke, natürliche Blicke, die sich in Kürze verändern werden, verändern mussten, denn Unfassbares geschah. Ein junger Mann unserer Gesellschaft mit abgeschlossenem Universitätsdiplom schritt vollkommen versteift mit starrem Blick an der Wahlurne vorbei. Einfach vorbei. Verfolgt von den erstaunten Augen der jungen Frau im FDJ-Hemd, die Urnenbeauftragte. Sie hatte bereits das Papier vom Schlitz genommen. Wollte den Haken auf ihrer Liste ausführen, zuckte jedoch erschreckt zurück und bedeckte den Urnenschlitz sofort wieder. Verfolgte weiter das Unfassbare. Der junge Mann bewegte sich wie versteinert weiter in die entfernteste Ecke, nahm Deckung hinter einem Tisch mit flachem Sichtschutz. Der junge Mann öffnete den Wahlzettel, schaute hoch in die Reihe der Tische, schaute in aufgewachte Gesichter. Deren Blicke senkten sich oder suchten Wände nach Unbekanntem ab. Oder blieben vorwurfsvoll aufmerksam auf ihn gerichtet. Er hatte am Abend vorher mit dem Vater telefoniert, Verschiedenes besprochen, was man am Telefon besprechen konnte. Dass die von der LPG die Feldwege zerfuhren, dass die Hubschrauber immer intensiver über Dönneritz flogen, lärmte, dass er am liebsten, na ja. Dass es bei der Wahl keine Frage gab, "Jochen, du bist doch kein Schaf."
Das stimmte. Sein Blick fiel wieder auf den Zettel, auf die Reihe der Parteien und der Kandidaten. Er kannte keine Person und faltete den Zettel erneut. Es war getan. Getan, weil man es so tut, gegen das fein abgestimmte Getriebe, die nicht sichtbare Gewalt.
"Jochen, du bist doch kein Schaf."
Nur noch der Rückweg, er war bereits stolz auf sich, die Schritte zur Urne wurden geschmeidiger, bewusster. Sein Blick heftete sich verschwörerisch schmunzelnd auf die junge Frau im FDJ-Hemd. Das Starre in ihm war jedoch nur geschmälert, nicht verschwunden. Abdeckpapier weg, Wahlzettel hinein, Abdeckpapier wieder herüber, Haken in der Liste. Die im FDJ-Hemd schmunzelte nicht zurück.
"Hast du es getan?", Angie blickte lächelnd aber ernst auf ihn. Krischi war wach geworden, schaute ihn ebenfalls an. Er nickte, wollte lässig sein, "Hat nicht wehgetan".
Wollte fortsetzen 'Kannst es ja auch probieren', sah schlagartig den Ausdruck in den Gesichtern ihrer Eltern vor sich.
"Und, was hast du nun davon?"
Er wusste es nicht, er wusste es doch. Es würde die Wahl nicht verändern, es würde die DDR nicht verändern, es würde die Weltgeschichte nicht verändern. Es hatte bereits ihn verändert.
"Du findest es doch auch gut hier."
"Stimmt, klar."
Er fand es gut, fand vieles gut, die Menschheitsaufgabe, keine Ausbeutung, die Bodenreform.
"Aber es heißt doch Wahl, nicht 'Bekenntnis für die Partei der Arbeiterklasse', in der ich nicht einmal bin. Es heißt Wahl und Wahl kommt von wählen, auswählen und wenn fast alle das gut finden muss doch nicht so ein Druck…"
Jochen spürte Erregung. Er wurde lauter, blickte sich um, zischte nur noch, will sie ihn nicht verstehen? Angie unterbrach. "Was für einen Druck?", sie schüttelte missmutig den Kopf.
All das Schöne der letzten Nacht verschwand, stahl sich aus den Zellen. Sein Gedächtnis konnte die schönsten Momente der Berührungen und Erregungen zurückrufen, jetzt zerfielen die Dinge, verloren ihren Glanz. Reste allerdings blieben, forderten bereits wieder Erneuerung. Er schwieg, bewegte mechanisch Krischi in seinem Wagen, der die Anspannung zu spüren schien. Warum trennst du es nicht, Angie und die Politik? Sie fingerte in ihrer Tasche, suchte den Personalausweis und die Wahlbenachrichtigung.
"Mein Vater hat es sowieso schon nicht leicht, deine Großeltern im Westen und die Sache mit der Polizeieingabe letztens…", er unterbrach sie.
"Ja, was denn, soll ich meine Großeltern abschaffen?", ihm lag auf der Zunge, 'Hättest du dir vorher überlegen sollen' aber undenkbar, nein, total undenkbar. In ihm wäre Leere, er wäre eine Hülle, in der nichts Lebendiges mehr existierte.
Hermann Meierling, in der Freizeit sympathischer Paddler, im Dienst Abteilungsleiter im Panzerwerk, genauer genannt Panzerreparaturwerk, hatte Anfragen bekommen. Nachfragen bekommen, auch Forderungen bekommen. Es sickerte bis zu ihm, ein Schwiegersohn mit Westgroßeltern, Oma Olga und Opa Wilhelm, beide schon lange bei Göttingen. Jochen kannte nur Postkarten, eine zu den Geburtstagen und natürlich zum Weihnachtsgeschenk. Alle paar Jahre ein Besuch, zu Hause, in der alten Heimat. Aber Göttingen klingelte in ihm. Dort waren alle mal, die mitgespielt hatten beim ganz großen Spiel. Oppenheimer, Heisenberg, Jordan, Bohr, Pauli, Fermi, Dirac und Edward Teller und am Ende das Verrühren von Atomkernen mit Neutronen. Peng. Durch, um und über Göttingen zog sich ein Gewebe, ein unsichtbares Netz bis nach Los Alamos, bis nach Tennessee. Müsste man mal hin, vielleicht als Rentner, schnuppern, ob etwas geblieben war. Aber Oma Olga und Opa Wilhelm waren ein Risiko, er fühlte sich persönlich getroffen, konnte nichts ändern, weder an sich noch an Oma oder Opa, ohnmächtig. Er sah zu Angie herunter, beherrschte sich, versuchte, ruhig zu sprechen, schmunzelte verhalten.
"Gefährden sie den Weltfrieden?"
Sie musste Lachen unterdrücken, wurde schnell wieder sachlich, "Aber dass du in der Kabine warst, erzähle ich ihnen nicht."
Das war ihm recht. Jedoch, er spürte die Lust, sie zu konfrontieren, Meinungen an der Betonmauer abprallen zu sehen. Obwohl er selbst die Betonmauer auch hochzog, manchmal. Als er noch mit Bantu diskutierte, bester Freund, Kommilitone. Jetzt hinter den Gittern, Republikflucht. Bantu, der ihn mitnehmen wollte, dahin, wo das Glück zu sein schien. Wo das Glück winkte mit Freisein, Demokratie, Gerechtigkeit. Bantu besaß ihn, den Weggehmut. Aber hier war die Liebe, hier war Angie, hier waren die Eltern in Dönneritz, im Dorf. Hier waren all die anderen, die ihm vertraut waren, wert waren. Hier war auch die Idee. Die gute Idee mit den schwachen Stellen. Aus all dem hier bestand sein Netz. Er brauchte keinen Hierbleibemut. Er hatte nicht das Gefühl, sich schämen zu müssen. Aber Bantu hatte ein Loch gerissen, ein großes Loch. Nach dem Studium veränderte sich das Netz, das war klar. Aber ein so großes Loch? Ein Loch, das blieb.
3."Sie können sich gut erinnern, Herr König, das ist recht genau zwanzig Jahre her. Zwanzig lange Jahre, ich bin auch einundsiebzig fertig geworden. Es ist viel passiert, insbesondere in den letzten beiden Jahren, Ade ihr Generalsekretäre. Haben Sie auch ein neues Leben bekommen?"
Er nannte sie für sich FrauX. Er hatte das Gefühl, ihre grauen Augen könnten tatsächlich blitzen, in ihr Gegenüber einstechen, waren aber meist von einem Schleier der Abwesenheit bedeckt.
"Mehrere, mehrere neue Leben. Manche reden von Frakturen, beide noch in der Heilungsphase, wenn man überhaupt von möglicher Heilung sprechen kann."
Sie sah ihn nachdenklich an, schüttelte langes rötliches Haar von der unmodisch runden Brille. Sie sah nicht aus wie der Modezeitschrift "Sybille" entsprungen. Die feinen Linien um Mund und Augen verrieten Wachheit und Energie. Herbstblätter rollten über die Wiese. Hinter dem Bankrücken rauschte fern Wasser, mittlerer Wind spielte mit der See.
"Sind Sie deshalb hier? Wie hoch bekommen Sie ihren Arm?"
"Achtzig Grad, ich bin führend, Sie sind erst, glaube ich, bei siebzig angelangt."
Jochen König hob stolz den rechten Arm, in der letzten Anwendung vor einer Stunde frisch trainiert, von der Armhebemaschine. Neue Technik, jetzt wo alles anders war. Alte Häuser, alte Zimmer aber neue Technik. Es ging vorwärts mit der Schulter nach seinem Sturz in der Zinkerei, nach dem Gerangel mit Klaus Blinski. Der sich nicht einfach geschlagen geben wollte. Jetzt gab es Wettbewerb, nicht mehr sozialistischen, sondern echten. Den kannst du verklagen, aber warum? Wenn man rangelt kann man stürzen, auch als Sieger. Das mit verklagen und Anwälten kannten sie noch nicht. Jetzt ging es um viel.
"Unser Wettkampf ist noch nicht beendet."
FrauX hatte sich erhoben, kaum älter als er, annähernd gleich groß. Sie schritt elastisch, fast elegant, zum weißen Haus zurück, schaute auf den riesigen Stein und das Meer.
Er konnte es nicht verstehen. Warum nahm sie häufig bei ihm Platz. Sie sprach fast niemanden an, war mit ihm an der Maschine in Konflikt geraten, sein Fehler, die verdammte Zeitumstellung. Seitdem öfter ein Kaffee aus den neuen Automaten, keine Besuche am Wochenende. Er winkte ihr nach, hatte so ein Gefühl. Er sah sie schweben, entwurzelt durch die Zeit schweben, von ihm weg schweben.
Was sah man ihm an?
4. Was hattest du damals empfunden, du und mit dir die DDR und auch Angie und die anderen um dich herum? Damals, als die Studienzeit am Ende und die Liebe am Anfang war?
Lass mich damit in Ruhe. Was soll ich empfunden haben? Die DDR existierte für mich, so wie der Mond existierte, existieren würde. Un-un-unvorstellbar, dass die sich auflöste wie ein Stück Salz in Wasser. Hat der Mond sich aufgelöst? Meinst du, ob ich Angst hatte vor der Zukunft? Wer fürchtet ohne Grund die Zukunft? Dann musst du zum Arzt. Es gibt immer Auf und Ab, das wusste ich nicht, war aber in mir als Möglichkeit angelegt, wie wohl in fast jedem, ohne Nachzudenken. Es gibt immer Sand, der knirscht. Empfunden? Eine irrationale Traurigkeit, dass es mit dem tollen Studentenleben vorbei war, eine irrationale Freude und Anspannung auf das Neue.
Tolles Studentenleben? 90 Mark Stipendium und vier Mann in einer kleinen Bude?
Tolles Studentenleben und wenn es nicht toll war, habe ich es nicht gemerkt, das Nichttolle. Was auf das Gleiche hinaus läuft. Du kennst das natürlich nicht, hast nie studiert, weißt trotzdem alles, Ewiger. Also, irrationale Freude und Anspannung auf das Neue. Auf die Liebe, auf Kinder, auf den Beruf. Ja, auch auf das Wunder und Unkalkulierbare mit Kindern, die gehörten dazu, ohne nachzudenken. Ohne 'Wenn und Aber', so war das Gefühl, was für 'Wenn' und was für 'Aber' denn? Das Leben wird es richten. Haben wir nicht bewusst gedacht, 'Das Leben wird es richten', war in uns. War wie das Licht am Morgen und die Dunkelheit am Abend und die Gewissheit, des neuen Lichtes am neuen Morgen.
Alles zusammen, dies kennst du, und so war es: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Dieser Zauber, nicht Zauber genannt, hatte uns verzaubert, bereit gemacht für Kinder. Und, falls man darüber nachdenkt weiß man, man macht die Fehler, die man macht und vorher ist man schlauer als hinterher. Nachdenken geht hinterher besser als vorher. Außerdem, wenn es so weit ist, denkt man nicht.
Da toben diese kleinen Moleküle, diese Ine, Dopas, Endos und Seros, dann noch Adres und Noradres, die toben rum. Tanzen, springen, machen die Rezeptoren verrückt. Es fühlt sich so leicht, so leicht, man braucht weder Schlaf noch Essen, ist unter Druck, wenn sie da ist und wenn sie nicht da ist auch. Da denkt man nicht.
Und die Anderen, Bantu, Wolle, Oertzel oder Jimmy, und Angie? Ich denke, denen ging es genauso, alle wollten nach vorn, ins Leben, hatten studiert über Atome, Moleküle oder anderes, hatten studiert das Zwischenmenschliche. Ob genug studiert? Wann hat man je genug studiert, sich vorbereitet?
Du bist uralt und weißt natürlich alles. Vielleicht bist du weise, wenn man alt ist, ist man weise, wenn man ewig ist gewiss. Auf jeden Fall weiß man mehr. Hilft es? Man kann das vorher nicht wiederholen. Das hilft nur bei einem neuen vorher. Du hattest bereits Trillionen Vorher's. Ich habe vielleicht noch eines, vielleicht noch zwei. Ja, natürlich. Ich hatte nie Zweifel an Angie. Wenn mein Herz einmal eng wurde, musste ich sie nur anschauen, ihr Gesicht, ihre Augen, ihre Haltung, ihr Tun. Das Herz wurde wieder weit.
Das ist nur Oberfläche.
Die Oberfläche spiegelt das Innen wieder, dies war in mir. Woher weiß ich nicht, dies war tief in mir, angeboren, meine Interpretation.
5. Endlich mal wieder Stammtisch, endlich mal wieder wiedersehen. Lange nicht da gewesen in der "Heringsklause", sich fast ein Jahr nicht gesehen. Sonntagabend im Januar, nicht viel los, die Touristen verschwunden. Sonntagabend, der deprimierendste Teil der Woche. Blick auf das schwarze Wasser, Lichtreflexe der Lampen im undurchsichtigen Gewühle. Das Eis verschwunden, draußen eine gute Fünf. Rauschen von Wasser, Geruch von Wasser, einfach nur Wasser. Ein hohes Haus mit vielen hell leuchtenden Fenstern schob sich langsam nach Norden, schob sich zum Klassenfeind. Für sie verboten, wegen der Idee. Der Klassenfeind, ein Wort mit scharfen Kanten. Geeignet, verschiedenste Gefühle aufzufangen, ihnen eine Richtung zu geben, ein Kristallisationskeim. Der Klassenfeind selbst bot andere Kristallisationskeime. Kommunist an sich, verbunden mit Anhängseln wie unmenschlich, verblendet oder diktatorisch.
Angie hatte zu tun, seit über einem Jahr Lehrerin, Deutsch-Kunst in der 12. Polytechnischen Oberschule in Bladow, jeden Abend Vorbereiten, Nachbereiten, Korrigieren. Dazu am Wochenende Volleyball, "Das muss sein."
Er verstand es, beneidete sie, eine nette Truppe, die Begeisterung, die Erschöpfung, die Freude.
"Geh mal zu deinen Studies, schönen Gruß, mach Judy und Oertzel keine blanken Augen", sie grinste ihn zum Abschied an, kannte alle. War mit ihm und den anderen oft zusammen im Studententurm, der selbst ausgebauten FDJ-Kneipe. Vor zwei Jahren, als sie noch studierten. Dort hatten sie sich kennen gelernt, näher kennengelernt. Sie wusste, zwischen Oertzel und ihm war etwas gewesen. Wusste auch, dass er bei Judy, wie viele andere, weiche Knie gehabt hatte. Er schmunzelte still vor sich hin, sah Angie vor sich, ließ sie in sich ablaufen, wanderte auf ihrem Äußeren. Nach einem kleinen Umweg am Wasser stand er neben "Sirius". Der Dreißiger-Seekreuzer, sein Gefährte mit Jimmy und wenigen Anderen in fast jedem der vergangenen Sommer. An manchem Tag und mancher Nacht, bei Sturm und bei Flaute. Hatte sie getragen mit starkem Wind und hohe Wellen, gegen starken Wind und gegen hohe Wellen. An die Küsten fremder Staaten, auch NATO-Staaten. Jetzt schlief "Sirius", wie in jedem Winter. Beschützt und behütet unter einem provisorischen Dach und einer alten Werftplane. Ruhte sich aus. Entspannte sich. Entspannte alles, was wichtig war an und in ihr, Wrangen, Weger und Spanten. Decksbalken, Planken und Steven. Alles treu zusammengehalten im letzten Sommer und Herbst. "Sirius" ließ kalten Wind und Schneekrümel unberührt an sich vorbei ziehen. Es störte sie nicht im tiefen Schlaf.
Er spürte auf den letzten Schritten Aufregung, Vorfreude, auch ein wenig Unsicherheit. War alles noch so, wie es war? Sie hatten sich nach Ende des Studiums kaum gesehen. Hatten sich zerstäubt in den Alltag, den richtigen Alltag. Waren nicht mehr täglich zusammen, vormittags Vorlesungen, nachmittags Labor. Wird Judy dabei sein? Ihr Blick, ihr Gesicht, ihre Figur, alles Klebstoff für Gedanken, alles Aussichten, vermeintliche Versprechungen, Trugbilder?
Die große Eckbank hatte sich gut gefüllt. Selbst Juri aus Berlin saß und hatte ein Bier in der Hand. Er war nach dem dritten Studienjahr nach Berlin gegangen, hatte bei der Kripo angefangen.
"Ich will nicht nur Moleküle zur Räson bringen, sondern auch Heruntergefallene."
Alle wussten nach drei Jahren, Juri war in Ordnung, aber Kripo? Kripo war Polizei und Polizei war Staat, zu viel Staat. Aber Juri war in Ordnung.
"Mensch Juri", Jochen schlug ihm auf die kräftige Schulter, "wieder deine Eltern besucht?"
Der nickte, freute sich zurück, Jochen ließ sich neben ihn fallen. Wolle Haustein mit blondem Vollbart machte brabbelnd Platz. "Du weißt doch, ich bin jetzt in der Physik, wo ein Körper ist kann kein zweiter sein, habe ich schon gelernt."
Alle lachten, alle redeten, zeigten blanke Augen, hoben Gläser, die schnell leer wurden.
Gabriele von Oertzen, genannt Oertzel mit ihrem Wotan, dem Philosophen. Anfangs genannt Danny, nach einem dieser Revoluzzer drüben. Wegen der Ähnlichkeit und wegen seiner Vorliebe für Bücher. Aller Bücher und dazu die der Existenzialisten, Gott ist tot. Nach einigen Anfangswochen mit ihnen zusammen in Labor und Vorlesung war es ihm zu viel geworden. Doch nicht seine Sache, das mit den Molekülen. Er wurde jetzt 'Mensch für Heizungen'. Der Existenzialismus blieb, so wie das Akkordeon.
Henry mühte den großen dünnen Körper unter dem Tisch hervor. Langes schwarzes Haar flog energisch aus der Stirn, er schob Jochen eine kräftige Hand rüber.
"Na Kindesvater, hast Ausgang bekommen?"
Henry hatte bereits zwei Kinder, Kneipenabende waren nur selten seine Sache. Er forschte abends im Institut an den eigenartigen Heterocyclen mit nem Stickstoff im Ring, schwierige Gesellen. Jimmy gehörte genau genommen nicht zu Ihnen. Der saß bei den Maschinenbauern im Hörsaal, jetzt in einer Ingenieurschule. Sollte jungen Leuten selbst was erzählen. Jimmy erzählte gern, sehr gern. Alles, was ging. Spitzname Rotbart oder Wortschwall. Wortschwall weckte keine Begeisterung bei ihm, "Ej, lass gut sein.".
Er kannte Jochen, Bantu und Wolle von Anfang an. Es wurde gefragt, gelacht, eilig neu bestellt. Oertzel beugte sich vor, schob die markante schwarze Brille hoch, konnte die immer gleiche Frage nicht mehr hören, wie haste die olle Brecht bloß abgeluchst.
"Weiß einer was von Bantu?"
Kurzes Schweigen, kurze Blicke zu Juri, der vor sich in das Glas blickte. Juri war immer ehrlich gewesen. Bleibt man der, der man war, nach drei Jahren Kripo?
"War eigentlich schon der Prozess?"
Jimmy strich mechanisch seinen roten Bart, sprach leiser, beugte sich vor, "Er ist doch schon fast ein Jahr drin. Ist was bekannt, erfährt man das überhaupt?"
"Das steht nicht in der Zeitung."
Henry kannte sich aus in diesen Sachen. Hatte Kontakt mit den Mächten gehabt, die man nie sah, von deren Existenz man aber wusste. Wenn man sie sah, war es meist zu spät, wie damals auch bei ihm selbst. Aufgefischt zweihundert Meter vom Ufer entfernt.
"Die Familie erfährt das, ich frage mal nach."
Oertzel und Wotan kichern herum, "Wir sind auch schon mit nem Faltboot auf der Blade gefahren."
"Und das fährt wie verrückt, nicht Wotan", sie lachte ihn an, "zischt nur so ab, da wären wir in fünf Stunden bei den Wikingern."
Betretene Blicke.
"Damit macht man keinen Spaß Gabriele von Oertzen, ich werde jetzt dienstlich, ich als Segler."
Jimmy schaute sie ernst an.
"Die Blade ist nicht die Ostsee, frag mal Jochen. Damit macht man keinen Spaß und damit macht man überhaupt keinen Spaß."
"Da hat er Recht, bei ner Fünf wie heute Abend bist du mit solch einem Ding verloren. Außerdem, Ertrinken ist nicht schön, habe es mir von Heiner Brandt erklären lassen, jetzt Pathologie. Ihr kennt ihn aus unserem Studententurm, absolut nicht schön, du hältst die Luft an, so lange es geht, dann geht es nicht mehr, deine Lunge zieht das kalte Wasser ein, dein Körper explodiert…"
"Hör auf", Oertzel warf sich zurück, blickte flatternd zu Wotan neben ihr, atmete tief aus, beruhigte sich nach wenigen Sekunden.
"Ach Jochen", sie nahm einen letzten Schluck aus dem Halbliterglas, "gibt es noch eins?"
Ihr Blick wechselte zu ihm, "Wie geht's eigentlich Judy?"
Er registrierte ihre starre, angespannte Haltung, gebrochen durch scheinbar freundliches Lächeln, verstand alles, wollte Abstand, nicht mehr Judy.
"Du weißt doch, sie ist mit diesem Biologen zusammen, der sammelt kleine Dinger im Bodden."
Das Kapitel war geschlossen.
"Wie gehts am Institut für Fischverarbeitung. Du bist jetzt auch schon über ein Jahr dort, hast du schon nen Fisch verarbeitet, und was hat der dazu gesagt?"
Oertzels Gesicht entspannte, sie zog die Mundwinkel hoch.
"Wenn das man so einfach wäre. Mein Abteilungsleiter hat mich eingewiesen. 'Frau von Oertzen, im ersten Jahr lernen sie, warum man einen Fisch verarbeitet, im zweiten Jahr wie man einen Fisch verarbeitet, ich betone, wie und im dritten Jahr'", ihr Blick schwenkte im Kreis, "na?"
Fragendes umherschauen, Wolle startete einen Versuch, "Was er kostet?"
Kopfschütteln.
"Ganz einfach. Was man dazu trinkt, Korn oder Kümmel."
Lautes Lachen, Jimmy Rotbart schrie "Ganz einfach, Korn und Kümmel, dann kann sich kein Fehler einschleichen."
"Richtig", Juri hob den Finger, "wer will Korn, wer Kümmel", schritt nach hinten zur Theke, kam mit Schnapsgläsern auf einem kleinen Tablett zurück.
"Eins muss ich euch noch erzählen", Oertzel konnte sich kaum beruhigen, "ich hab einen älteren Kollegen im Büro, Paul Garanski und Paul Garanski liebt Mantel und Degen-Filme. Er schwärmt mir immer was vor von einem Bösewicht. Dieser Bösewicht gurrt von unten, murmelt immer das Gleiche, 'Streicheln sie meinen Buckel Monsieur'. Das hat er mir bestimmt zehn Mal vorgemacht beim Fische zerlegen. Sich runter bücken und dann diesen Satz. Versteht ihr?"
Sie nickten, nicht schwer zu verstehen, eigenartige Vorstellung im Fischlabor.
Oertzel ließ sich nicht bremsen, "Da hab ich mich öfter in der Mittagspause unter den Schreibtisch gekrochen. Und wenn er zurück kam, ich mit dumpfer Stimme 'Streicheln Sie meinen Buckel Monsieur'. Da war der Nachmittag gerettet."
"Kann ich mir bei der Polizei nicht vorstellen…", Juri wurde Von Oertzel sofort unterbrochen.
"Das glaube ich, ihr kommt nicht in Uniform unter dem Schreibtisch hervor und quiekt, na du weißt schon. Also letztens, wieder Mittagspause, ich bin im Büro und höre seine Schritte. Jage unter den Schreibtisch, warte, bin mucksmäuschen still. Die Tür öffnet sich, die Tür schließt sich, die Schritte kommen näher. Ich mit hoher gepresster Stimme 'Streicheln Sie meinen Buckel Monsieur, streicheln Sie meinen Buckel Monsieur'. Keine Reaktion. Ich noch einmal, dann eine laute Stimme 'Was ist denn hier los?' Wer steht da, vor dem Schreibtisch, mein Abteilungsleiter. Könnt ihr euch das vorstellen?", sie kicherte, alle schrien, "Streicheln sie meinen Buckel Monsieur, Holen Sie noch ein Bier, Monsieur."
Irgendwann war wieder Ruhe, Wotan klimperte auf dem Akkordeon, leise, hatte den Kneipier vorher um Erlaubnis gefragt. Klimperte wehmütig, glitt versonnen über die Tastatur. 'Am Brunnen vor dem Tore', er spielte oft nur langgezogene Melodietöne mit wenigen kurzen Anklängen von Akkorden.
"Aber jetzt mal was Flottes", Jimmy Rotbart begann zu summen "What shall we do with the drunken sailor…", "Ja, genau", sie sangen leise mit, wurden lauter, Wotan ging zu Stakkato über, der Kneipier warf einen langen Blick.
"Und weiter", Jimmy ließ sich nicht beirren, fuhr einfach fort, "Twice him up with the running bowline, twice him…"
Sie ließen sich zurück fallen. Es machte zufrieden, eine leichte Form des Glückes. Im Kreis sitzen, sich schon lange kennen, einige Bier trinken. Zu fühlen, man ist nicht allein, zu fühlen, hier ist es gut, jetzt ist es gut. Hier ist ein Netz.
"Was?", Oertzel drehte sich zu Henry, der saß immer noch am ersten Bier. Wotan schaute hoch, ohne dass seine Finger die Perlschnur der Töne vermengte.
"Es ist zu laut, ich versteh dich nicht."
Henry winkte ab, warf ihr für einen Moment einen ernsten Blick zu, flüsterte etwas in ihr Ohr.
Irgendetwas mit Fahrradschläuchen, was soll das, sind doch keine Geheimnisse.
Angie saß immer noch über Papieren, sah mit müden Augen hoch.
"Wie war's, hast du auch Schnaps getrunken?"
Er erzählte, die Zunge saß ihm locker, "Mach doch Schluss, wir gehen ins Bett", er schmunzelte sie an, hätte gern neben ihr gelegen und mehr.
"Und wer macht das hier? Und wer hat abgewaschen?", ihre Augen funkelten, sie drehte sich zurück, blätterte weiter in den Papieren. Sie breitete sich urplötzlich aus, wo kam sie her, diese Welle, diese Welle von Wut, Traurigkeit und Leere. Alles fort, der schöne Abend fort, die Freude auf Angie fort. Er musste irgendetwas sagen, sich verteidigen, so, dass er im Recht war. Im Recht zu sein war wichtig, etwas anderes gab es nicht. Im Recht zu sein war meist mit Schmerz verbunden, mit anschließender Leere. Im Recht zu sein war das Gegenteil von Frieden. War das Gegenteil von Einsicht, nicht von Demut. Er war aber im Recht.
"Hätte ich noch gemacht, du hast nichts gesagt, kein Wort", seine Stimme nahm die Schärfe der Enttäuschung an.
"Muss ich dir alles sagen? Du siehst doch selber, was zu tun ist, bist doch sonst nicht schlafmützig."
Er legte sich wortlos im Nachbarzimmer hin, Schlaf war nicht möglich. Als sie kam, sich mit dem Rücken zu ihm legte, simulierte er gleichmäßige Atemzüge. Driftete danach in halbwachem Zustand durch die Nacht. Wellen von Schmerz, abgelöst von Wellen halben Schlafes, nicht bemerkbar. Trieb dahin mit unbeantworteten Fragen. Vagabundierte scheinbar schlafend mit nebulösen Gefühlen durch Verlust und Ohnmacht, vagabundierte durch Unglück. In der Dämmerung des grauen Halbschlafes am Morgen legte er seine Rechte sanft über sie. Wollte sich ihr nahe kommen, wollte wortlose Auflösung, wollte zu spannungslosem Glück. Keine Reaktion, die Leere des Abends füllte den Raum nach wie vor. Mischte sich mit dem Gefühl von Perspektivlosigkeit, der Vorstellung, ungerecht behandelt zu werden. In ihm keine Vorstellung, kein Wille etwas zu tun, sich heraus zu bewegen aus der Tiefe. Warum diese Ungerechtigkeit, verdammt nochmal, warum?
Um sechs bewegte er sich wie gewohnt roboterhaft durch die Wohnung. Weckte Krischi vorsichtig das erste Mal, der fiel sofort erneut in sich zusammen. Zähne putzen, türkischen Kaffee trinken und Marmeladenbrötchen. Das nächtliche Meer entspannte, mindestens zehn Schiffe schliefen auf der Reede in weichen Bewegungen. Helle Lichter zeigten, dass in ihrem
Schlaf auch Leben stattfand.
Unvermittelt driftete Angie durch den Raum, ließ im einfachen Bad Wasser rauschen, er hörte das Aufschlagen des Zahnbechers aus Plaste. Ein dünnes "Morgen" zerfloss auf ihrem Weg in die winzige Küche, auf jeden Fall ein "Morgen". Die Analyse begann sofort, Entschlüsselung der Botschaft aus Tonhöhe, Lautstärke und Wortwahl. Im Ergebnis "mehr als Schweigen", aber nur sehr wenig mehr. Unklarer Vorwurf über eingesponnenes, abgesondertes Insichsein? Er atmete tief aus, strich ihr zum Abschied in der Küche über die Wange. Alles in ihm sehnte sich nach Frieden, Zuneigung, Zeichen von Liebe. Sie wendete den Kopf, blickte ernst, neigte ihr Gesicht ihm zu. Während er sie an sich drückte, mit der Rechten über die freie markante Seite ihres Gesichtes strich, begann er zu schweben. Die schweren Säcke mit Vermutungen fielen von selbst. Leere, gefüllt mit der Unfähigkeit, Verkrampfungen zu lösen, verschwand augenblicklich. Er glitt über die Treppe hinab ohne Stufen zu spüren, tänzelte schwerelos am Wasser entlang auf dem frühen Weg zum Bahnhof.
So ist das Leben, die Welt dreht sich nicht nur um dich, ist nicht dazu da, dich zu befriedigen, deine Defizite aufzufüllen.
Was für Defizite, wovon sprichst du? Halt dich da raus. Was für Defizite?
6. Wieder pünktlich im Büroaquarium mit den Drahtglasfenstern. Immer das gleiche Ritual. Jacken in den Schrank, Morgen, Morgen, Morgen, sich fallen lassen auf die Stühle, Zeitungen raus, lesen. Er duzte sich jetzt mit Robert und Heinz, fühlte sich aufgenommen. Abteilungsleiter Dr. Budly wollte in einer Stunde kommen, mit ihm reden. Seine Schritte würden rechtzeitig im Windfang zu hören sein, wie die Schritte jedes anderen.
"Ob sich jetzt irgendwas ändert?"
Otto Schirmer hob das Gesicht, sein Blick flog über die Runde.
"Anfang nächsten Jahres soll der Grundlagenvertrag unterzeichnet werden, Frühjahr 73 steht hier. Das wäre mit der CDU nicht möglich gewesen. Ob sich da was ändert, für uns bestimmt nicht."
Unklares Murmeln, Zeitungsseiten raschelten, wurden umgeschlagen, auf den Schreibtischen mühsam geglättet. Robert bewegte die Lippen beim Lesen.
"Scheiss BFC, hat Hansa Rostock 4:0 geschlagen, Bullenmannschaft."
"Na, na, na. Versündige dich mal nicht Robert", Heinz hob die Stimme, "mit dieser Bemerkung können wir nicht 'Kollektiv der sozialistischen Arbeit' werden, du, du, du!"
Müdes Gelächter, das unvermittelt abbrach. Draußen näherten sich Schritte, es war kaum schaffbar, Zeitungen falten, in die Schreibtische stopfen. Oben lag wie immer Arbeit, Schreiben, Fachzeitschriften, Aktenordner.
"Aha, fleißig bei der Arbeit", Dr. Budly trat zügig ein, schüttelte sich, warf die langen angegrauten Haare hin und her, gab jedem die Hand.
"Übles Wetter, ist eben Mitte Oktober. So, Herr König, lassen sie uns in das Nebenzimmer gehen. Erzählen Sie mir mal bitte, wie weit Sie sich in die Materie eingearbeitet haben."
Jochen berichtete über verschiedenen Eisen-Zink Phasen, die Zusammensetzung der Kristalle, den Eisengehalt. Dr. Budly nickte, murmelte richtig, richtig.
"Ich merke schon, sie haben sich damit beschäftigt. Nun sollen sie sich auf die Ausprägung dieser Merkmale bei Sonderstählen durch Behandlung und verschiedener Silizium- und Mangangehalte konzentrieren. Klar?"
Ja, es war Jochen klar, Versuchsreihen in der Werft, Analysen im Institut für Werkstoffkunde, alles bereits abgesprochen. Er war stolz, eine richtige Aufgabe, klar definiert, und, was ganz wichtig war, lösbar. Eine echte Aufgabe für einen Chemiker. Er schaute Dr. Budly kurz in die Augen, lächelte, "Gut."
Außerdem, ihm wurde wohl bei dem Gedanken, der häufige Aufenthalt in diesem Institut ergab Freiheit. War verbunden mit Unabhängigkeit, mit ungeahnten Möglichkeiten fern von der Werft.
Und, es könnte vielleicht zu einer Promotion führen, Zinki hatte so etwas angedeutet.
Unvorstellbar, jemand aus Dönneritz nennt sich Doktor. Er atmete tief ein.
Dr. Budly unterbrach die Freude, "Ich habe sie jetzt angemeldet in unserer Arbeitsgruppe 'Verzinken'. Gut. Dann geht es kommende Woche los. Im Februar findet die Frühjahrssitzung statt, sie fahren mit Otto Schirmer hin, der führt sie ein. Besorgen sie mal ein Zimmer in Dresden, Hotel oder Pension oder so etwas."
Was soll 'so etwas' sein, Dr. Budly verstand seinen Blick, "Versuchen sie es auch bei der Zimmervermittlung."
Er stand auf, sie gingen nach nebenan, die Tür in der Hand drehte er sich um.
"Fast vergessen. Im neuen Jahr findet wieder eine Werberunde statt. Kampfgruppe. Ich komm nicht in Frage, Gesundheit. Kollege Schirmer auch nicht, Alter, aber sie", seine Aufmerksamkeit wanderte von Heinz über Robert zu ihm, "sie müssen damit rechnen."
Schweigen, die Tür fiel zu.
"Habt ihr Lust?", Heinz Kleber krakelte mit seinem Kugelschreiber auf Papier herum, warf nachdenkliche Blicke um sich. "Warum denn nicht", Robert grinste sie an.
"Macht doch Spaß. Mal von zu Hause weg, bisschen Abenteuer im Wald. Hab mir auch sagen lassen, die Nacht im Zelt erträgt sich mit nem Flachmann besser. Ist so üblich. Also, wenn die mich fragen…", er hob weiterhin lächelnd beide Hände nach oben, "kein Problem."
"Und du, Jochen?"
Der zuckte mit den Schultern, schüttelte unbestimmt den Kopf. Kleinstleiter Heinz lehnte sich nachdenklich zurück, erzeugte zusätzliche Kringel auf dem Papier. Für Jochen war es klar, er macht da nicht mit. Egal, was kommt, er marschiert nicht in diesem Haufen. Ein Haufen in grauausgeleierten Uniformen, Zwang, Willenlosigkeit und Angepasstheit wehten voran, zusammen mit Fusel in feuchten Herbstnächten und Kalaschnikows ohne Munition. Feuchte Herbstnächste und ein bisschen Fusel, an sich mal nicht schlecht, aber so? Hier wehten mit voran die Worte Knecht und Lakai. Der Vater würde ihn nie verstehen, er sich selbst ebenfalls nicht. Der Vater war nie Knecht und Lakai. Er dachte an die echte Begeisterung von Dr. Jungblut, damals im Diplom, an dessen Worte Avantgarde, Sozialismus.
"Wir bauen hier etwas ganz Neues auf, nicht für die Pfeffersäcke, sondern für die Arbeiterklasse, für alle, auch für Euch."
Das klang euphorisch, das klang gut, aber nicht hohl. Das bewegte die Beine von selbst. Hohl klang anderes in den Zeitungen, im Radio. Hohl klang, dass alle immer einer Meinung waren, dass alle alles begrüßten, was die gute Partei beschloss. Nicht hohl klang, dass alle, die anderer Meinung waren zu Verrätern, Klassenfeinden, im günstigsten Fall zu Irregeleiteten wurden. Dafür freiwillig marschieren, sich in einer grauen Uniform bekennen?
Aber, es soll wissenschaftlich sein, wissenschaftlicher Sozialismus, wissenschaftlicher Kommunismus. Abfolge der Gesellschaftsordnungen, Übergang in die klassenlose Gesellschaft. Vollkommen wissenschaftlich, das muss kommen, müssen wir dabei nur zusehen? Während des Studiums intensiv beackert durch marxistische Doktoren. An der Tafel mit Kreide bewiesen, durch sie mit halbblinden Augen verfolgt, im Gedächtnis abgespeichert als amorpher Brei. Nur gelegentlich ein keimendes Korn. "Werden die Produktionsverhältnisse unerträglich, führen sie zu einer neuen Gesellschaftsordnung." Diese Körner rissen ihn damals aus dem Anblick von Judy. Judy, inzwischen mit nem dicken Biologen verheiratet.
Eigentlich waren sie die Guten. Die, die auf der richtigen Seite undsoweiter. Schade, dass sie die Produktionsverhältnisse im Westen nicht kannten. Deshalb in dieser grauen Uniformen herumlaufen?
Aber, das Neue ist der Sieg der Vernunft über die Leidenschaft des Geldes. Das Neue soll für Gleichheit sein, sehr gut.
Obwohl viele meckerten, die Bonzen. Na, klar, der SED-Kreissekretär fuhr nen Wolga, typisch Bonze. Günter Fitzlak, Autowerkstatt in Dönneritz, Heimatdorf und Dorf der Eltern, fuhr nen Mercedes, immer fast neu, keiner wusste woher. Nicht Bonze, nur Handwerker, selbstständig. Die Gleichheit zeigte viele Gesichter.
"Ich glaube nicht", Jochen grinste, Kleinstleiter Heinz hob den Kopf, "ich bekomme nachts leicht Husten."
Jetzt grinste auch Otto Schirmer, nur Robert grinste nicht.
"Bald kommt Weihnachten, dann sehen wir weiter", die Stimme von Heinz Kleber hatte etwas mehr Festigkeit erhalten.
"Und nach dem Mittagessen, es gibt heute Pissnierchen, spielen wir erstmal ne Runde Skat."
Allgemeine Zustimmung, na klar, die tägliche Stunde Skat, der Höhepunkt des Tages. Otto Schirmer als alter Fuchs führte die 72'er Jahresliste mit 4837 Punkten, nicht mehr einzuholen.
Eine Stunde später legte Otto die Karten zusammen, hatte zuletzt noch einen Grand ohne Dreien gewonnen, dieses Glück im Spiel, wie sieht es bei ihm zu Hause aus?
"Haben wir ein Telefonbuch von Dresden, ich brauch die Nummer der zentralen Zimmervermittlung?"
Konsequentes Kopfschütteln, also zur Hauptpost, das dicke Telefonbuch durchblättern, hoffentlich ist die Seite noch vorhanden, nicht herausgerissen.
Am Nachmittag dann der Versuch, Anmeldung beim Fernamt, Dresden 6705. Vergeblich, keine Verbindung zu bekommen, nach einer Stunde Feierabend.
Auf der Fahrt nach Blademünde saß Stanislaus Büdner neben ihm, der Wundertäter, für die müden Feierabendfahrer unsichtbar. Ahab ruhte sich aus, eingereiht unter Z10 "Weltliteratur" im Regal der Stadtbibliothek. Er hatte das verdiente Ende gefunden im wahnsinnigen Kampf gegen die Natur, im blutigen Schlachten. Hatte alle mit sich genommen, alle außer Ismael, hatte sie seiner Allmacht geopfert. Ahab wartete darauf, wieder ausgeliehen zu werden, anderen zu verkünden, gegen die Natur ist gegen sich selbst.
Stanislaus' Charakter war friedlicher, eindeutig friedlicher, aber nicht einfacher. War irgendwie näher an Jochens Leben. Glas fressen und Hühner in den Scheintod befördern hatte er selbst erlebt, selbst getan. Die Marotten gräflicher Allmacht kannte er ebenfalls aus den Erzählungen des Vaters. Die Welt des kleinen Stanislaus war fassbarer. Seine Gegenspieler überwunden, der Graf hatte das Weite gesucht, die Rote Armee war ihm nicht geheuer gewesen, wohl mit Recht. Außerdem, Kiefernwald war Jochen vertraut, schon als Kind riss er an der Schrotsäge, der Vater auf der anderen Seite. Die Säge vorher im Schuppen gefeilt, Zahn für Zahn, anschließend gefettet mit Schweineschwarte. Das passte zu Stanis Leben, einfach, karg, gelegentlich kleine Funken.
"Krischi, wo sind deine Sachen?"
Der wusste Bescheid, rannte widerwillig zum Birnenzeichen, seine Identität im Kindergarten, wollte noch spielen, zottelte mürrisch an den Klamotten. Rosatante schlenderte vorbei, wie immer ernstes Gesicht. Sie warf einen angeschliffenen Satz herunter, "Christian, nun zeig einmal, was du gelernt hast."
Der hob nicht den Blick, zerrte missmutig an der Latzhose, verkehrt herum angezogen, seine kleinen Schuhe unauffindbar. Rosatantes Nylonschürze strahlte wie immer rosa, eng um den gutgenährten Leib gewickelt, auf press gewickelt. Rosatante erzog von morgens bis abends, ließ nie locker. Andere waren anders, besaßen freundliche Wörter, trällerten leise kleine Lieder. Rosatante war Rosatante.
Die Haustür stand in der Dunkelheit halb offen, böiger Wind bollerte ungestört in das Treppenhaus, hinter die Stufen, wütend darüber, hier gefangen zu sein. Um diese Jahreszeit rauschte die See immer oder fror zu Eis. Späte braune Blätter machten es sich in Krischi's Sportkarre bequem. Raschelten gelegentlich zu geselligen Haufen zusammen. Oben war es kühl. Jochen zog unter dem Kinderbett zwei Schuhkartons hervor, naturfarbene und bunt gestrichenen Holzklötzchen. Er stöhnte am Ofen laut auf. Asche quoll eigensinnig heraus. Also vorsichtig den Eimer füllen, sechs Treppen nach unten rasen, auf dem Hof die Windrichtung beachten. Rein mit dem Eimer in die Tonne. Fette graubraune Wolken jaulten rüber in den Nachbarhof. Im Keller Briketts auffüllen, Kohlenanzünder suchen, hoch. Ein wackeliger Turm stand bereits, wurde mit Schrei umgestoßen, er sollte den nächsten errichten. Aber die Kohlen warteten, warten löste bei Krischi erneute Schreie aus. Jochen griff zu seinem bewährten Instrument. Langsam und mit tiefruhiger Stimme reden, einfach nicht aufhören. Reden, reden. Einen einförmigen Lautstrom erzeugen, beruhigen, heranziehen. Das Kind betrachtete hingerissen den auflodernden Kohlenanzünder, Kohle für Kohle wurde aufgeschichtet, "Eins, zwei, drei….".
Krischi zählte mit, "Papa, eins, zwei, sieben…"
Er drückte ihn an sich, strich über die geröteten weichen Bäckchen, bedeckte sie mit einem zarten Kuss und ging mit Krischi an das Fenster zur kleinen zerwohnten Veranda. Wies mit der rechten Hand in die Finsternis auf die fern ankernden Schiffe. Hell beleuchtet, trotzten sie der begonnenen Nacht. Sie zählten erneut, "Eins, zwei, drei…", Krischi wiederholte voll Freude, "Da, Papa, eins, zwei, sieben…"
Er wies mit dem kleinen dicken Finger in die Nacht. Jochens Seele durchdrang den kleinen Körper neben ihm, wurde Teil, spürte rückhaltlose Wärme in sich eindringen. Spürte Nichtalleinsein.
Du meinst, einen Schritt weg von der Einsamkeit, vom Leben ohne mich, vom Leben in der Gottlosigkeit?
Es wurde Zeit, Brei heiß machen, Mohrrüben kochen, Mohrrüben zerquetschen, Mohrrüben löffeln. Auf den Topf, kacken, Lieder summen, weggeworfenes Spielzeug zurück bringen, im Bett Geschichte vorlesen.
"Morgens früh um sechs, kommt die kleine Hex; morgens früh um sieben, gibt es frische Rüben…".
Krischis Augen drehten sich nach oben, noch leicht geöffnet, er brummte monoton weiter, sum sum sum sum sum, sieben, Rüben; sum sum sum sum sum, sechs, Hex, dann Schluss, Augen fest zu, ruhiges Atmen, Licht aus.
Er ließ sich auf der Veranda in den zerfledderten Sessel fallen, durch das eine zu öffnende Fenster drang kalte Luft aus der Nacht. Die anderen Flügel waren untereinander und mit dem Rahmen verbunden, untrennbar, tausende Farbschichten. Der scharf gebündelte Strahl aus Zigarettenrauch jagte gegen den Wind, zerfiel sofort. Angie war irgendwo in Bladow, irgendeine Weiterbildung. Sie sollte an der Schule den Kunstzirkel leiten. Ihr Vater hatte nur genickt, war stolz, unsere Tochter, die Arbeiterklasse kann auch Kunst. Wo der Staat einen hinstellt, wo man gebraucht wird, da geht man hin. Herrmann Meierling erschien Jochen nett, freundlich, begeisterter Paddler auf den vielen Seen um sie herum. Wieso seine Tochter Arbeiterklasse war, musste er sich noch einmal erklären lassen. Vater Ingenieur und Mutter Lehrerin, aber Kinder verwandeln sich zur Arbeiterklasse, schon eigenartig.
Jetzt die ekeligen Windeln aus dem Windeleimer rein in die WM66, anstellen, die Tür zur Küche schließen, noch eine Zigarette auf der Terrasse.
Angie und die Kunst. Eine Spur Neid pochte in ihm, Zink ist anderes als Kunst oder Volleyball. Vielleicht sollte er es mal versuchen, Laufen oder den Ball schlagen oder beides. Die Maschine war durch, Schleuder auf den Tisch, Gummiring darunter, Wäsche rein und los. Die Schleuder tobte wie immer, ein Gorilla im Sack. Festhalten, aufpassen, dass der Abflussschlauch nicht aus dem Spülbecken flog, weiter festhalten, festhalten. Wie war der Witz, bei sexuellen Problemen sollte man sich an die Schleuder pressen, das würde helfen. Dann das Ritual, der letzte Gang, die Quelle von möglichem Stress, von Konflikten, von grau eingefärbten Abenden. Der Moment, in dem wichtige Entscheidungen getroffen werden mussten, in dem man sich anpasst oder beharrt, auf das Richtige oder das Nichtrichtige. Windeln aufhängen, die kleine Ursache mit der großen Wirkung. Zwischen den gegenüberliegenden Schnüren die Windeln parallel oder im Zickzack. Das war die Frage, parallel oder zickzack, aufwendiger oder schlichter, schneller oder fummeliger, mehr oder weniger Verbrauch von Klammern? Wie er es nannte, rational oder irrational. Wie sie es nannte, ordentlich oder verwurschtelt.
Warum soll ich es so machen, ich bin davon nicht überzeugt. Er schrie es lautlos in den Himmel. Nicht überzeugt, aber sie will es, warum? Hat das was mit Liebe zu tun? Welche Liebe und Wozu? Gegen neun dann ihre Schritte an der Tür, sie glitt müde aber elastisch herein.
"Ging alles gut? Wir haben noch ein Bier getrunken."
Sah er ihr frisches Gesicht, wusste, was sich unter der langen Winterjacke verbarg, war alles gut in ihm. Er lehnte sich entspannt zurück, lächelte sie an, ließ den Nachmittag mit Krischi ablaufen. Während seiner Erzählung fiel ihr Blick auf den Balkon, das Gesicht verfestigte sich. In ihm stieg sofort die Anspannung hoch, Festigung von Muskeln, die Lungen wollten nicht mehr tief atmen.
"Angie, nicht schon wieder anfangen. Wenn ich es mache, dann mach ich es so, wie ich es will."
Mit bereits erhobenem Tonfall, "Es ist gut so."
"Ich hab dir schon ein paar Mal erzählt, wie es richtig ist."
Da war es wieder, richtig oder falsch. Sie zog sich mit abgewandtem Gesicht eine Jacke über, hing auf dem kühlen Balkon sämtliche Windeln um. 'Ihre' Windeln? Er atmet tief aus, konnte das Wort 'richtig' in diesem Zusammenhang nicht mehr hören. Es gab richtig und es gab falsch und sie kannte den Unterschied. Er nicht, Universitätsdiplom aber Windeln immer falsch, immer. Die energischen Züge verloren die Anmut, kleine Augen, Lippen wie dünne Striche, kein Strahlen, wo war es geblieben? Nicht alles, aber 'so viel'.
"Ich muss noch vorbereiten", Bücher und Hefte fielen auf den alten Schreibtisch. Die Bakelite-Lampe, von der Straße gerettet, verbreitete bei längerem Betrieb vertraute chemische Gerüche. Wie eben Fortschritt riecht. Am nächsten Morgen umkurvten sich ihre Wege. Körper und Blicke schwebten aneinander vorbei. Gingen von einem 'vorübergehend Abwesenden' aus, obwohl viel getan werden musste, dem 'vorübergehend Abwesenden' nicht zu begegnen. Worte beschäftigten sich mit Krischi, Pausenbrot und Sportbeutel, die Knirpse benötigten bereits etwas zum rumtoben.
Abschiedsdrücken ohne zu drücken, Abschiedsblick mit Seelenausschlußfilter, ergebnisloses Warten auf irgendetwas, etwas, das Wärme auslöste.
Im Zug der Wundertäter, Stanis Vater betrachtetedie wabbeligen Arme des Dickweibes. Begehren glomm in ihm auf'. Würde bei ihm, Jochen, nicht aufglimmen, nicht bei wabbeligen Armen. Feste Oberarme, schlanke geformte Glieder, ein Energiegesicht mit langen blonden Haaren ließen es bei ihm glimmen. Jetzt gestört durch nicht richtig geklammerte Windeln. Er ließ sich zurückfallen, schlaff, ausgelaugt, draußen wechselten Bahnsteiglampen mit Büschen in der Finsternis. Zink reagiert nicht auf verkehrt gehängte Windeln, auf aneinander vorbei sehen. Wunderbar. Das Labor wartete, Zinkbäder warteten, Stahlproben warteten, Messungen und Kollegen warteten. Es wartete kleines Glück.
7. Noch hell, aber die Schatten legten sich bereits lang auf dem Waldboden. Dafür gab es viel Platz im alten Buchenwald, zwischen den Stämmen. Zwischen hingelegten Bäumen, mächtigen und erfahrenen Bäumen, aber das Alter und die Stürme. Aus einer dieser erfahrenen Buchen trat unvermittelt FrauX in seinen Weg. Schlief er beim Wandern nach dem Abendbrot?
"Ich wollte Sie nicht erschrecken. Es ist so wunderbar in diesem Wald. Alles hat seine Bestimmung, seine Klarheit."
Sie schritt oder schwebte sie auf dem Trampelpfad vor ihm. Rechts war Schluss, die Abbruchkante, unten die ewige See. Vorn neigten sich Bäume dem Wasser entgegen. Er wies mit der Hand hinüber.
"Bestimmung und Klarheit. Warten auf den Absturz." Sie nickte.
"Wir haben mehr Möglichkeiten, als zu warten. Wir sind so viel. Wissen Sie, wie viele Gedanken, wie viele Gefühle Sie in ihrem Leben bereits hatten? Nichts wird vergessen, nichts geht verloren. Auch wenn sie es annehmen, wenn es manchmal so scheint. Es kann wieder auftauchen, Sie überraschen. Herr König, Sie sind ein Universum."
Er schoss einen Stein über die Kante, trat dicht heran.
"Ein Universum?"
"Wir alle sind Universen, riesige Mosaike. Mal etwas mehr reichhaltig, mal etwas weniger ausgestattet. Aber immer riesig. Treiben mit den anderen Universen durch den Ozean des Lebens. Berühren uns, lassen uns wieder los. Verklammern uns, machen uns gegenseitig fest. Manchmal lösen sich Leinen durch Vernachlässigung, manchmal werden Leinen bewusst gelöst, abgeworfen. Manchmal wird das Eine oder das Andere hinterher bedauert. Viele manchmal aber so ist es bei den vielen Berührungen."
"Wie heißt dieses Märchen?"
"Das Märchen heißt Leben, Herr König. Wir sehnen uns nach Berührungen, nicht nach dem Alleintreiben. Trieben Sie als Kind allein durch diesen Ozean?"
Sein Atem stand still, allein durch den Ozean? Ganz allein?
Ja, Herbert schrie in ihm, ja, allein, ganz allein.
"Das Sehnen nach Berührung kenne ich. Ich hatte eine Zeit, da dürstete ich nach Berührung meiner Haut. Ich meine nicht Sex, ich meine Berührung meiner Haut. Berührung durch eine flache entspannte Innenhand, liebevoll, ich..."
Ihre Blicke kreisten aneinander vorbei, "Meine Zeit ist um, die Abendübung wartet."
Sie entfernte sich schnell, winkte mit der Andeutung einer Bewegung zurück.
Warum erzählt er ihr das alles? Das alles von früher? Er hatte immer das Gefühl, ihre Augen könnten blitzen, in ihr Gegenüber einstechen. Waren aber meist von einem Schleier bedeckt. Einem Schleier wissender, interessierter Abwesenheit. Warum nahm sie häufig Platz neben ihm, wohl nur wenig älter als er, wandte sich ihm zu? Was sah man ihm an? Er wusste es nach wie vor nicht. Was sah man ihm an?
Sie saß beim Essen auch oft allein.
"Herr König, was haben sie heute bewältigt?"
Sie bot ihm eine Club an, der Wind nahm den Rauch eilig mit. Die See rauschte wie fast immer. Eine nicht ganz genau gehende Uhr ließe sich gut nach dem Wellenschlag stellen.
Rauchen lief ab wie gewohnt nach den Schulteroperationen bei ihm und bei ihr. Bei ihm ging sogar Autofahren, was niemand wusste, wissen durfte.
"Na, neunzig", er lächelte sie übertrieben als Sieger an, "da kommen sie noch nicht ran, sie waren letztens bei siebzig."
FrauX nickte gleichmütig.
"Sie scheinen ihren Sohn sehr zu lieben?"
Jochen zerrte seinen Blick vom Wasser, musterte nachdenklich umstehende Bäume.
"Natürlich, damals war alles noch einfach."
"Bei ihm brauchten Sie nicht unbedingt im Recht sein, bei ihm waren Sie immer im Recht."
Er nickte, bewegte seinen Oberkörper leicht nach vorn und zurück.
"Im Recht zu sein war Ihnen wichtig, ist Ihnen wichtig?"
"Was heißt wichtig? Nicht im Recht gewesen zu sein würde bedeuten, einen Fehler gemacht zu haben. Würde bedeuten, schwach und angreifbar zu sein. Nicht im Recht gewesen zu sein würde auch bedeuten, sich auszuliefern. Schuld zugewiesen zu bekommen. Schuld ist schwach."
"Und schwach gibt es nicht bei Ihnen nicht?"
Statt einer Antwort bot er ihr eine neue Zigarette an, sie lehnte ab.
"Wissen Sie", er zögerte, presste die Lippen zusammen, "bei einem Streit zerreißt in mir fast das gesamte Netz, auf dem ich lebe. Da bleibt nichts mehr."
"Was für ein Netz?"
Er zögerte erneut.
"Das erzähle ich vielleicht später, FrauX."
Schlingende Baumwurzeln verlangten Aufmerksamkeit.
"Die Gewissheit, im Leben zu bleiben. Gehalten werden von dem Netz, das die Seele trägt. Geschaffen vom ersten Tag an, vielleicht schon vorher."
Er verfolgte eine grundlos schreiende Möwe, grundlos?
"Es muss sich festigen in der Kindheit, keine schwach ausgebildeten Halteseile haben, keine blutarmen und zerrissenen Maschen. Es muss erwachsen werden, ständige Arbeit, kein Platz zum entspannt liegen und in die Sonne schauen."
"Anerkennung", Herbert schrie so laut er konnte, man hörte ihn nicht, "es braucht Liebe und Anerkennung."
"Nie entspannt?", sie blickte ihn zweifelnd an, räusperte sich, schaute noch einmal zum Wasser, ihr Mund verzog sich ironisch.
"Sie vermeiden also Streit, indem sie immer im Recht sind, keine Schuld haben. Wenn man überhaupt von Schuld sprechen kann? Haben sie damit schon einen einzigen Streit vermieden? Schuld
zerreißt auch ihr Netz?"
Jochen bejahte, spürte glatten Untergrund. Er wollte nicht weiter.
"Und vergebene Schuld?"
"Vergebene Schuld macht glücklich", er stockte wieder, "wenn es denn Schuld war."
"Schuld kann aber nur vergeben werden, wenn sie zugegeben wird."
"Stimmt, sie haben es gesagt, kann vergeben werden, wenn sie zugegeben wurde, falls es denn Schuld war. Falls, das ist das Problem. Man braucht Mut, in der Liebe braucht man Mut. Nichts entwickelt sich von allein. Mit Mut kann es schief gehen, ohne Mut geht es schief."
Sie stand auf, bewegte sich unvermittelt elastisch in Richtung des riesigen Steines, blickte noch einmal zurück.
"Sie reden von Liebe, ihrer Liebe. Wie war Weihnachten?"
Ja, Weihnachten, alles war so, wie man es sich vorstellte. Wie es sein sollte. Wie er gelernt hatte, dass es sein sollte. Am vierten Advent zu seinen Eltern nach Dönneritz, wie immer.