Der Fluss, die Russen und die Zeit - Jürgen Ostwald - E-Book

Der Fluss, die Russen und die Zeit E-Book

Jürgen Ostwald

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Beschreibung

Hannes Schröder ist zehn. Er lebt in Dönneritz am Fluss, wo die Russen mit Panzern fahren und wo die bessere Gesellschaftsordnung aufgebaut wird, wie Direktor Blume der Klasse erzählt. Der Vater winkt ab, alles Quatsch. Der Vater hat es nicht leicht, früher selbstständiger Schiffer, alles verloren, jetzt armer Sesselfurzer und viel Schuften als Murkelbauer. Hannes hat endlos Zeit für sich, die Freunde und den Fluss, mit dem er sich frei fühlt, der Freund und Feind sein kann. Manchmal jedoch so unfrei in der Enge und Wortlosigkeit der Eltern. Er bemerkt, der Vater ist abgesondert weil er viel weiß, alles besser weiß, weil er nicht mitheult. Hannes weiß nicht, dass um ihn Gebrochene sind, die kranken am verlorenen Krieg. Man sieht, wenn ein T34 den Fuß gefressen hat. Man sieht keinem an, ob er Schlimmes gemacht oder erlebt hat, wie Direktor Blume oder Onkel Willumeit, der alte Flüchtling. Der zeigt Hannes die Welt der Radios, das Löten und die kämpfenden Stimmen aus der Luft, für und gegen den Sozialismus. Er lernt, wie man mit einem Telefonhörer im Wohnzimmer mithören kann. Das ist nicht redlich, bringt ihm aber die Eltern näher. Er weiß nun, die Mutter will in den Westen, der Vater in die Wahlkabine, so dass alle es sehen. Weil er so ist wie er ist. Onkel Willumeit erzählt von den Nazis, der Herrenrasse, dem besseren Blut, seinen Fehlern und welchen Preis sie zahlten. Erzählt auch, wie es mit Gefühlen und Liebe ist, dass man Mut braucht, dass echte Gefühle gut sind. Onkel Willumeit ist für Hannes so wichtig wie Oma. Die ist gut wenn es ihm schlecht geht, der Vater geschlagen hat, Morden mit dem Luftgewehr keine Befreiung bringt. Dann wird Friede, die Tochter des Landarztes wichtig, sie riecht gut und sieht so frisch aus, weiß viel, kann Klavier spielen. Er sieht sie fast jeden Abend vor sich und lügt, um zu prahlen. Daraus gibt es keine Rettung, selbst Onkel Karl, Berufsmusiker auf Kaisers Flotte, kann nicht helfen. Ihn rettet der Mut, er gesteht die Lüge, die sie bereits kannte. Die Welt wird wunderbar, sie rudern auf den Fluss, suchen Muscheln, sie ist nackt, er findet den mystischen Kalmus. Ohne Warnung bleibt der Landarzt mit ihr im Westen. Es hilft nichts, auch keine erneute Mordserie an Sperlingen. Er füllt die Leere mit dem Expander, mit Judo, mit Eckenstehen und dem Erkennen, dass eine Lehre als Tonbrenner auch Nachteile hat. Ein Brief von Friede füllt die Seele, gibt Hoffnung, gibt Kraft für Neues, raus aus Dönneritz.

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Seitenzahl: 448

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Dies ist ein Roman, alle Handlungen und Namen sind frei erfunden, entstehende Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Verstorbenen sind rein zufällig.

Diese Geschichte habe ich erfunden, um zu erzählen wie es war. (E.Ruge)

Wir erzählen uns Geschichten um zu leben. (Joan Didion)

Buchbeschreibung:

Der Fluss ist schön, ist Freude, Trost und Wunder für Hannes Schröder. Er muss seinen Weg finden zwischen Enttäuschten, sichtbar und unsichtbar Verwundeten des Großen Krieges, zwischen Russen mit dem Roten Stern und denen, die für oder gegen den „Fortschritt“ sind. Muss bestehen zwischen Gleichgültigkeit, Freundschaft und Liebe. Muss bestehen in schwierigen Zeiten um 1960.

Über den Autor:

Der Autor ist Rentner, lebt und lebte auch östlich der Elbe am Wasser. Nach einer Ausbildung zum Facharbeiter wurde er letztendlich promovierter Naturwissenschaftler. Nach Abschluss des Studiums ist er zuerst über, unter und durch große Schiffe gekrochen, wollte und sollte helfen, den Rost zu bekämpfen. In den letzten 30 Jahren des Arbeitslebens durfte er Verhalten verschiedener menschlicher Zellen untersuchen, hat dabei eine vage Ahnung der Wunder des Lebens bekommen.

([email protected])

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

"Mein Gott, der hat gehustet, immer nur gehustet. Das ging durch den ganzen Körper. Hannes, das musst du doch gehört haben. Gehustet und gehustet, alles wegen dem Kraut, schon auf Schifffahrt, Hannes, fang bloß nicht an zu rauchen. Meistens in der Nacht, aber am Tag auch. Oh Gott, das war schrecklich."

Oma schaute kurz und entschuldigend zum Jesusbild an der Wand, riesig, gerahmt und hinter Glas. Hatte sie den Herren missbräuchlich erwähnt? Der Herr hielt jedoch weiterhin seine Hände irgendwie künstlich erhoben, segnend, die Finger abgespreizt, unbeeindruckt.

"Und dann war Opa tot, ganz schnell. Ist auch erst zwei Jahre her, du musst dich doch erinnern können."

Hannes nickte. Er erinnerte sich. Opa war klein, gebückt, sein Gesicht zerschrunden. Er kannte ihn nur still, leise, fast nie ohne Pfeife. In diesem Ding röchelte und quöselte es bei jedem Zug. Kam kein Rauch mehr, wurde ausgeklopft, die Pfeife an der Hand durch die Luft zum Boden geschleudert, brauner Saft flog durch die Gegend. Die Mutter verzog angeekelt die Lippen nach unten, wagte nichts zu sagen. Als Opa lebte, fuhr Hannes oft mit den Fingern durch die grünen Tabakblätter. Die wuchsen erst im Garten und hingen anschließend an Schnüren, aufgefädelt unter dem Schleppdach, bewegten sich im Wind, gleichmäßig wie Soldaten. Schien die Sommersonne heiß und ruhig dämmerten sie still vor sich hin, betrachteten verwundert die langsame Veränderung ihrer Farben. Sie wurden leichter, das saftige Grün verschwand, ihr Geruch wurde erwachsener. Am Ende kam das Häckselmesser.

Hannes hatte nie an Rauchen gedacht. Warum sollte er rauchen? Obwohl, er war bereits zehn. Harald rauchte seit zwei Jahren. Hatte mit zehn angefangen. Geklaut, im Konsum. Meist "Casino", manchmal sogar "Orient", da kosteten 10 Stück zwei Mark vierzig, irre.

Sie schwieg einen Moment, schwenkte die kleine Pfanne, voll mit winzigen Krümeln aus geschnittenem Schinken, auf dem Weg in die offene und unheizbare Behelfsküche ihres Altenteils, oben im Haus.

"Möchtest du nun ein oder zwei Eier, Hannes, eins oder zwei?"

Er räkelte sich auf dem grün bezogenen Gründerzeitsofa. Das stand früher in der guten Stube, unten, wo er jetzt mit den Eltern wohnte. Der Stoff war so samtig, er glitt gern mit der Hand darüber, ganz fein stachelig. In den vielen schnurgeraden und oben sich verzweigenden Linien ließ sich wunderbar mit dem Fingernagel entlang schnurren. Das Sofa war uralt, alt wie Oma und immer noch straff bespannt. Er konnte kaum einschlafen, man musste aufpassen, rollte leicht herunter.

"Zwei, Oma, mach zwei."

Hier war das Paradies. Kein Streit, kein Gemecker. Kein Schweigen, mürrisch auf der einen, weinerlich auf der anderen Seite, keine dunklen Strömungen. Gebratene Spiegeleier nach Wunsch mit oder ohne Speck und immer Freundlichkeit, Geborgenheit.

Sie stellte die Eier hin, faltete die Hände.

"Wollen wir nicht beten?"

Ohne ihn anzuschauen murmelte sie leise "Komm Herr Jesus sei Du unser Gast….."

Er murmelte leise mit, undeutlich, so dass sie nichts verstehen konnte, aber das gemeinsame Gebetsgefühl über dem Tisch schwebte. Der Herr half Oma, da war sie ganz sicher. Vielleicht hatte er auch ihm geholfen, damals mit dem Fluch, obwohl, er war sich nicht sicher, aber?

Er hatte es vor einigen Wochen im Halbschlaf gehört, die Oma murmelte mit der Mutter. Tief in ihm stieg eine schwache Erinnerung auf, aus dem Nichts, eine Spur, kaum lesbar. Aber vorhanden.

Er war noch klein, sehr klein, lag im Wagen unter dem Apfelbaum. Dann war da etwas Dunkles, mit Rot Vermischtes, obwohl die Sonne schien und die grünen Blätter schon lange da waren und in der kleinsten Brise flimmerten. Ein kurzer Schatten nur, über ihm, ganz kurz. Später hieß es, die Zigeunerin. War, ohne zu fragen, auf den Hof gekommen, unter den Apfelbaum.

Die Oma hatte es nicht gesehen, behauptete aber, Zigeuner machten keine sichelförmigen Bewegungen, stritt sich mit dem Opa.

"Hier", sie wedelte in einem eckigen Stil ihre dünnen Arme, "so machen sie Verwünschungen. Die hat nur so herumgefuchtelt."

Der kleine knorrige Opa knurrte nur.

"Was weißt Du denn schon davon."

"Kannst Du Dich noch daran erinnern, als wir achtundzwanzig im Sommer in Aussig Getreide geladen hatten und Gustav der Zigeunerin keinen Saft geben wollte. Wie hat die ihn verflucht. Drei Tage später ist er nachts über Bord gegangen, einfach verschwunden."

"Ja, weiß ich noch genau."

Die Oma unterbrach ihn.

"Genau, und da hat sie nicht so gesichelt. Niemals."

Sie bekreuzigte sich schnell.

"Die kann und hat uns nicht verwunschen und unseren kleinen Hannes. Das geht nicht, die sind ja gottlos."

Sie bekreuzigte sich noch einmal, sprach ein Kurzgebet.

"So, nun kann nichts mehr passieren. Unser Herr hilft uns. Und bloß wegen der paar Äppel auf dem Boden. Hättest ihr auch ruhig was geben können, alter Geizkopp. Und Gustav ist vielleicht auch abgehauen wegen Dir."

"Ach, Quatsch. Du fandest sie doch genauso unverschämt, das verdammte Weib, die Schlampe mit ihren roten Schludersachen, Goldstücke um den Hals. Goldstücke! Aber unsere Äpfel haben wollen. Das die schon wieder hier rumlaufen können."

Er sprach leiser.

Konnten die mal nicht so herum laufen?

Nach dem Essen funkelte ihn Oma durch die runden Brillengläser an. Lächelnd, mit der Gewissheit, Verbotenes zu vollbringen.

"Na Hannes, noch ein Gläschen Pepsinwein?"

Ohne Antwort brachte sie zwei winzige Likörgläschen hervor, massiver funkelnder Glasfuß und Goldrand um die Öffnung. Scheinbar von früher, ganz früher. Der Pepsinwein stand neben dem Bett, wurde mit Rezept aus der Apotheke geholt, war gesund, hieß aber Wein, richtig Wein.

Danach wurde angestoßen, die Gläser strahlten, die Brillengläser strahlten, der braune Wein strahlte nicht, schmeckte ekelig süß, jedoch richtiger Wein.

Dann mit Bestimmtheit, "So, mehr gibt es nicht!"

Er stellte sein Glas auf das alte Radio, sank zurück in das Sofa, die große Schlaguhr zertickte die Stunden. Vollkommen gleichförmige Zeitabschnitte stapelten sich im Zimmer, erreichten fast die Decke. Draußen flog ein Storch dicht am Fenster vorbei.

Hannes' Leben glich der bewegungslosen Oberfläche des hochsommerlichen Teiches hinter dem Haus, von grünenden Büschen umgeben. Hier schliefen nachts die Vögel, um tagsüber die unersättlichen Jungen zu füttern und gelegentlich still auszuruhen. Kein Windhauch berührte das Wasser. Es lag traumlos, träge und matt in seinem dunklen Bett. Nichts mehr zu hören vom schrillen Heulen der Granaten in der Endphase, schon zehn Jahre her das dumpfe Einschlagen vergessener Bomben auf dem Rückflug von Berlin. Da, wo nachts oft das rote Licht am Horizont zu sehen gewesen sein soll.

"Sind denn hier noch Bomben?"

Er fand Bomben toll, vielleicht könnte man irgendwie das Pulver rausholen und dann: Peng, Peng. Andere hatten das schon gemacht.

Verweht das ängstlich wilde Schreien der Eroberer, das Schreien der Opfer, vor kurzem selbst ausgezogen, die jüdisch-bolschewistischen Untermenschen zu vernichten. Nicht zu besiegen, sondern zu vernichten. Wegen der Überlegenheit der Rasse, wegen der Auserwähltheit des Führers, seines Blickes und weil es damals so nicht weiter gehen konnte. Da brauchte man sich keine Sorgen zu machen, Gott sei dank führte ER sein Volk seiner Bestimmung entgegen. Unterstützt zuerst nur von einigen wenigen Getreuen und Voraussehenden, dann von den Meisten, selbst alles schon vorausgesehen Gehabten aber sich dies nicht auszusprechen getraut Habenden, also von wahren Volksgenossen.

Keine Hinweise auf Morast im See, auf in dunklen Schatten zerfallende Baumleichen, auf Vergänglichkeit, auf atemlose Risse. Flüchtig betrachtet, also von Frau Meier, Frau Kuhlmann und allen Anderen. Auch von Hannes' Eltern. Die hatten ihre eigenen Risse.

Der kleine knorrige Opa gehörte zum Fluss, hatte ihn und andere Flüsse, viele Flüsse befahren, zusammen mit Oma, auf eigenen Schiffen. Von Böhmen bis Rotterdam, das letzte große Schiff auf der örtlichen Werft bestellt, auf Pump, dann nach 1918 gefahren in Belgien, Luxemburg, Niederlande auf Rhin, Waal, Issel, Maas und Schelde, durch Zuid Willemsvaart, Juliana- und Albertkanaal, immer für Goldwährung. Erfolgreich in Zeiten der Inflation, sehr erfolgreich, das Schiff nach kurzer Zeit wie geschenkt. Nicht für den Kreditgeber, aber so waren nun mal die Zeiten. Sowieso nicht einfach aber kein Vergleich mit den Hungerleidern zu Hause. Dabei auch ein bisschen eitel geworden, man hielt die Nase schon ein wenig hoch, nicht unter Schiffern aber sonst, man wurde etwas herrisch. Kaufte und umbaute das Haus, war ja alles günstig mit den Goldgulden. Fiel aber auch nicht in die Hände.

"Siebenhundert Tonnen Kies, siebenhundert Tonnen haben wir selbst raus gekarrt, in drei Tagen. Laut Vertrag ab Kaikante, also landseitig. Durch uns, ohne Murren, anfangs soo schräg die Planke, als noch voll abgeladen."

"Wenn Opa in den Stall kommt, gehen die Ziegen an den Wände hoch."

Die Mutter blickte sich scheu um. Es waren eben keine einfachen Zeiten. Auch, weil die Russen den Kahn geklaut hatten. Also eigentlich konfisziert oder so ähnlich, da gab es so einen Wisch, der Vater sprach manchmal verächtlich von einem Propusk, und dann musste man den Kahn selbst nach Stettin bringen. Er schüttelte ungläubig den Kopf mit den langen Haaren. Er sprach das Wort Propusk so lächerlich aus, verdrehte die Augen, Hannes merkte, so ein Propusk war etwas, mit dem nichts anzufangen war, mit dem man sich den Hintern abwischen konnte, wie der Vater manchmal sagte. Etwas, was typisch für die Russen war. Hannes spürte Geringschätzung gegenüber diesen Horden, Kommunisten mit ihren Knechten hier im Land. Er spürte Seitenblicke, Wortbruchteile, Lautstärkeveränderungen, Satzabbrüche. Er spürte Angst, er spürte Ohnmacht.

"Möchte nicht wissen, wie viele davon auf der Ostsee abgesoffen sind, die hatten ja gar keine Ahnung."

Dann kam auch noch die Schwiegertochter, untergekrochen als Flüchtling. Der Junge wollte es ja so, jedenfalls zuerst. Hatte auch das Alter und sie war blutjung. Und er spreizte sich, kannte die Welt, jedenfalls die der Flüsse und Kaikanten und hatte Abitur. Konnte was darstellen, war nicht im Krieg, brauchte nicht in den Krieg, fuhr auf den Flüssen, zuerst für sich selbst, dann für den Endsieg. Aber sie hatte Vorstellungen, wo hatte sie die bloß her? Irgendwie so romantisch, das konnte nicht gut gehen. Das ging alles viel zu schnell.

Die Zeiten waren eben nicht leicht.

"Hannes, willst du schon wieder los?"

"Ja, ja Oma, noch n bisschen angeln, mal runter zum Fluss. Vielleicht kommt Uwe mit."

2

"Toll, wat?"

Harald legte den zappelnden Fisch zwischen die beiden großen Zahnräder und drehte an der Kurbel. Langsam fassten die Zähne, packten enger, begannen zu drücken, dann zu zerdrücken. Das Zappeln ging über in Zittern, blutiges Wasser rann aus dem Spalt. Harald schaute triumphierend um sich.

Uwe sagte nichts, blickte über den Fluss. Der Fisch kam aus Hannes' Eimer, er protestierte, lahm.

"Eh , was soll denn das?"

Er musste protestieren, er musste es, wegen der Ehre. Aber mehr Protest konnte gefährlich werden, mehr war nicht möglich, mehr ging nicht. Aber weniger auch nicht. Weniger ging nicht. Dünnes Eis, mitten im Sommer. In ihm kämpften Grauen, Ekel, auch Faszination, auch Angst. Grauen, Ekel und Faszination schoben sich gegenseitig nach vorn, zogen sich wieder zurück, verdrängten sich. Für kurze Zeit. Führten Kampf, untereinander. Angst schwamm oben. Alle machten, dass Hannes nicht wusste, was er fühlte, nicht wusste, was Recht war zu fühlen, wie man richtig fühlte. Einen lebenden Fisch, einfach zerquetschen, im Getriebe der Fähre, der Fähre ohne Motor. Der Motor arbeitete in der Sowjetunion, vor wenigen Jahren ausgebaut, errichtete den Sozialismus dort. Die Fähre war hier geblieben. Zu schwer, um in die Sowjetunion zu reisen und dort den Sozialismus aufzubauen, wurde hier ebenfalls gebraucht, baute hier den Sozialismus auf. Heute war man selbst der Motor, zog mit Holztatzen am Seil und damit Leute, Autos, sogar Trecker über den Fluss, der den Ort zerteilte. Hier das alte, das eigentliche Dönneritz, drüben die Ödnis, die Murkelbauern.

Es roch jetzt nach Fisch, frischem Fisch, Fischwasser und Flusswasser. Nach Flusswasser roch es immer. Flusswasser war zu Hause, Flusswasser war wie abends im Bett.

"Da staunste, was?"

Harald war zwei Jahre älter als sie, war schon zwölf, in der gleichen vierten Klasse, sein ausgewaschenes Hemd durch ihn prall ausgefüllt. Er sah sie aus blassen Augen an, grinste, aus diesen blassen Augen sprangen Kraft und Macht. Er war nicht größer als sie, hatte aber die Kraft, die Kraft von Tieren. Hatte Muskeln und Wölbungen da, wo es bei Hannes und den Anderen nur Haut gab. Haralds Mutter ging auch blass durch die Welt, hatte er daher die Augen? Sie arbeitete in der Chemiefabrik, dort stank es, manchmal wehte der Wind daher. Haralds Mutter rauchte, rauchte oft, rauchte sogar auf der Straße. Eine richtige Mutter rauchte nicht, erst recht nicht auf der Straße, so im dahin schreiten und dann den Rest so wegschnippen, elegant und schnodderig, beides. Einen Vater kannte niemand. Harald kam aus einer unbekannten Welt, am anderen Ende des Ortes, schon die Namen. Harald Koslowski, seine Mutter hieß Frau Mönchow. Das passte nicht, etwas passte da nicht. Haralds Mutter wurde von Hannes' Eltern gegrüßt, jedoch nie zuerst, entweder zurück oder höchstens gleichzeitig. Eine schwierige Kunst. Kein Wort mehr. Frau Mönchow und Harald Koslowski wohnten auch nur zur Miete. War Harald deshalb so stark, spürte er, dass man auf Abstand hielt? Spürte er, dass seine Mutter und er nicht dazugehörten, genau betrachtet? Nicht gehörten zu den Schiffern, Handwerkern, Hausbesitzern.

Plötzlich hatte Harald den nächsten zappelnden Fisch in der Hand, eine ängstlich blickende Plötze. Blickten Plötzen nicht immer ängstlich?

"Dem beiß ich den Kopp ab, für zwanzich Pfennich, wetten?"

Jetzt starrte Hannes aufs Wasser. Einem Fisch den Kopp abbeißen, lebendig? Das macht man nicht, das geht nicht. Das macht niemand. Fangen ja, auf den Boden schmeißen und töten, ja, aber Kopp abbeißen?

"Oder gib mal deine Pfote her."

Mit einem schnellen Griff hatte er Hannes' Linke zwischen die nassen, nach Fisch riechenden Zahnräder gesteckt, begann mit der Rechten sofort die große Kurbel zu drehen. Die Zähne griffen, bissen, Hannes spürte Schmerz, mehrere Finger waren gefangen im stählernen Maul.

"Na, heiliger Johannes, wat gibste aus?"

Hannes hieß richtig Johannes, Johannes Schröder. Ein furchtbarer Name, kein Junge hieß Johannes, erst recht nicht heiliger Johannes. Ob das vom Abitur kam?

Die anderen hatten richtige Namen, Willi, Bernd, Uwe oder so. Der Vater wollte irgendwann mal den Anderen im "Flusseck" was erklären. War ins "Flusseck" um ein paar Flaschen Bier zu holen. Er erklärte gerne Anderen etwas, von früher, von Geschichte und da kam er auf einen Johannes von Orleans. Der musste uralt sein. Er meinte eigentlich eine Frau aber die im Flusseck schrien "Johannes von Orleans", immer wieder und klopften mit den Biergläsern auf Tisch und Tresen. Seitdem hieß der Vater manchmal der heilige Johannes und er ebenfalls. Meistens hieß er jedoch einfach Hannes.

Harald grinste farblos, hatte wieder die Macht, wusste, dass er die Macht hatte, immer haben würde. In Hannes Ohnmacht, ihm war klar, die Hand wird nicht zermalmt, es ist ein Spiel, ein Spaß, etwas, was wie ein Spaß aussehen soll. Aber kein Spaß ist, kein schönes Spiel, es sieht nur aus wie ein Spiel. An ihm ist es zu bezahlen, mit Unterwerfung, mit Hinwerfung, sich selbst Hinwerfung. Er wird nackt.

"Nun lass doch los, was soll denn das?".

Zahnlose Worte, ohne Kraft, ohne Blut. Harald ließ den Mund offen, die Zunge kam ein wenig hervor, der blasse Blick erhielt weitere Kraft, irgendwo von innen, strahlte plötzlich, an seinen Augenwinkeln bildeten sich Fältchen. Er ruckelte kurz an der Kurbel. Stichartiger Schmerz. Uwe war still, schaute unbeteiligt, wickelte umständlich und sorgfältig seine Angel auf. Prüfte, ob der Haken ordentlich befestigt war, wickelte wieder ab, dann noch einmal, diesmal straffer auf. Das war jetzt wichtig, erzeugte Zeit. Hannes konnte seinen Blick nicht finden. Er sehnte sich nach einem Wort, suchte nach einem Blick. Aber der Blick war auf die Angel gerichtet. Der Blick scheute, wagte sich nicht weg von der Erde.

Um die Ecke der Fährstraße bog überraschend ein SR2, Bürgermeister Gottschalk auf seinem neuen Feuerstuhl. Das Moped schleppte eine bläuliche Rauchfahne nach. Der süßliche Geruch machte süchtig, so süchtig wie die Abdünste der Russen LKW. Gottschalk lachte, die fette Gürtelschnalle an seinem hellen Trenchcoat wippte. Er sah jung aus, wie einer der Männer auf den Schnittmusterbögen der Mutter, elegant, so als ob alles leicht ist, Spaß macht. Er lachte oft, anders als der Vater. Oben links das Abzeichen, der Händedruck. Der Bonbon, wie der Vater stets murrte, Mundwinkel nach unten, ausspucken. Da, der Bonbon.

"Na, ihr Rabauken, spielt ihr wieder Partisan oder macht ihr die Fähre kaputt?"

Gottschalk rollte auf die Fähre, beendete das dünne Geknatter. Hannes mochte Bürgermeister Gottschalk, das Lachen, auch, weil er oft rief:

"Na Hannes, wie gehts in der Schule?"

Er rief dann immer: "Ganz gut", was tatsächlich meist der Fall war.

Haralds Körper löste sich, die Zahnräder lösten sich, Haralds Blick löste sich nicht, ließ Hannes nicht frei, die Augen zusammen gekniffen, der Mund offen, die Zunge.

3

Dietmar Meier kam später, bewegte sich langsam. Eine dicke blaue Beule auf der linken Seite des Gesichtes, er hob kaum den Kopf, blickte Hannes und Uwe nicht an. Die hatten längst die erste Murmel geworfen, Uwe hatte verloren. Es war nötig, unhörbar zu sein. Beim geringsten Geräusch, bereits ein kleiner Streit darüber, wessen Murmel dichter am Rand war, also schon beim ersten Wort, hatte Frau Schrall die Haustür geöffnet. Uwes Mutter schrie, dass ihr das Geschrei jetzt endgültig über sei.

"Wenn das weiter geht, kommst du rein. Und überhaupt. Gestern Abend ist die alte Frau Freidank, also von Kohlen-Freidank die Mutter, die ist im Murmelloch weggeknickt und hingefallen. Gott sei Dank nichts passiert. Nur das Gebiss links zerbrochen."

Sie fixierte ihren Sohn scharf, kniff die faltigen Lider zusammen, streifte auch Hannes mit distanziertem Blick.

"Ihr macht das Loch nachher wieder zu!"

Sie nickten. Entschieden wurde die Haustür geschlossen. Uwe sah kurz erstarrt zu Boden. Es schien so, als ob er die Laufbahn der geworfenen Murmeln untersuchte, zusammen gekniffene Augen, versteinerter Blick. Winkte dann gleichmütig mit der Linken ab. Schlagartig öffnete sich die Tür erneut.

"Was war das eben?"

Frau Schrall durchbohrte ihren Sohn. Die blauweiße Kittelschürze stremmte um den kugeligen Bauch, verbarg die O-Beine nicht mehr. Sie hatte von innen die gegen eine Feder nach außen zu drückende Briefklappe geöffnet, mittels dieser Technik ließen sich die Ruhestörer in gebückter Haltung aus dem Flur beobachten.

"Wenn das so weiter geht, werd ich es Vater sagen, du wirst schon sehen."

Erneut schloss sich die Tür. Nun fixierten sie die gefährliche Klappe, keine Bewegung. Hannes nahm sich vor, mal wieder den Trick zu machen. Vollkommen leise die eigene Hoftür öffnen, geräuschlos über den Gartengang zur gegenüberliegenden Schrall'schen Haustür schleichen, lautlos die Briefklappe so weit wie möglich nach oben drehen, los lassen. Bereits während die Klappe nach unten sauste, um gegen die hölzerne Haustür zu knallen, musste er wieder auf dem eigenen Hof sein, also in weniger als einer Sekunde, den Riegel nicht hörbar schließen. Reine Hexerei, klappte immer. Kürzlich jedoch, die Katastrophe. Er hatte die Klappe wie bei einer Mausefalle auf maximale Spannung nach oben gedrückt, beide Beine zum Start bereit. Erkannte wie aus dem Nichts an der Innenseite des Briefschlitzes zwei runde, misstrauische Augen, die ihn reglos musterten. Er reagierte sofort. Was ließ so schnell seine Lippen bewegen, Wörter heraus strömen?

"Tach Frau Schrall, ist Uwe da?"

Sie öffnete, kam heraus, beäugte ihn, beugte den kurzen Oberkörper vor und schaute huschend links und rechts den schmalen Gang hinunter. Dann drehte sie sich wieder halb nach innen, wendete ihm einen direkten Blick zu. Da war Erschöpfung, Erschöpfung und Resignation.

"Irgendwann, ich sag dir eins, irgendwann…"

Sie beendete den Satz nicht, zog die Tür hinter sich zu. Hannes äffte sie still nach.

'Ich sag dir eins, irgendwann, irgendwann, irgendwann. Bla, bla, bla, blaaa.'

Er spürte Macht. Macht über sie, er konnte sie terrorisieren, fast quälen, sie war ausgeliefert. Aber da war ebenfalls ein Gefühl von Mitleid. Sie war immer zu Hause, arbeitete nicht, hatte nichts richtig gelernt, war früher mal "in Stellung".

"In Stellung" war, wer nichts weiter gelernt hatte, nichts Besonderes konnte, hatte der Vater mal gesagt. "In Stellung" hieß Herrschaften bedienen, waschen, putzen, kochen. "In Stellung" sein war das Gegenteil von Schiffer sein.

Herr Schrall kam erst am Nachmittag, mit dem Zug aus der Stadt. Herr Schrall war Fleischer, arbeitete in der Konsumschlachterei in der Stadt. Schlachter waren unheimlich, unangenehm. Hannes ahnte Schreie, Blöken, blitzende Messer und Beile, Blutströme, riesige Wunden, gewaltiges Zucken, ohnmächtige Augen, die als Letztes nur Grauen sahen. Herr Schrall aber war klein, immer ruhig, sprach langsam, freundlich. Passte nicht ins Schlachthaus, fuhr jedoch jeden Tag dort hin. Kam er abends nach Hause, erschien er nach einer halben Stunde erneut vor dem Tor in blauen Arbeitssachen, auf der linken Schulter Angeln, Kescher, Ruder und Steckstangen, in der Rechten Kahnschippe und Schlüssel.

Wieder zurück hieß es meist "Na Muttern, hier, kannst mal gucken", er deutete auf einen gut gefüllten Kescher. War der Vater zufällig im Gartengang oder auf dem Schrall'schen Hof, betrachtete er mit Interesse die Beute, zog den Kescher auf einer Seite etwas höher, bewertete die bunt glänzenden, nach Luft schnappenden, Fische genauer.

"Na Willi, da haste ja wieder wat zusammen geräubert."

Hannes spürte Unterschwingungen, der Vater verdeckte Unsichtbares, der Vater verdeckte Neid. Neid auf die Fische oder die vielen Angeltouren auf dem Fluss oder auf die ruhige Art von Herrn Schrall? Oder überhaupt? Beim Vater war alles anders.

"Pass uff Otto, die Kleenen kannst de für die Hühner haben."

Der Vater nahm sofort mit freundlichem Nicken an.

Herr Schrall zeigte auf diesen und jenen Fisch. Dabei war klar erkennbar, dass an seiner rechten Hand drei Finger fehlten. Komplett ab, wie nie dran gewesen. Uwe hatte erzählt, die wären im Kutter geblieben. Hannes verstand nichts, was denn für einen Kutter? Es gab im Ort einen Kutter, der war aus Holz und grau gestrichen, lag neben der Badeanstalt. Ein Stück Wiese mit etwas Sand, umgeben von hohen Pappeln, am Rand des Flusses. Der Kutter besaß zehn Ruder, Riemen genannt, fünf Ruderbänke, zwei Masten mit Segeln und wurde vom großen "Wurschte" Grommel befehligt. Da konnten die Finger nicht geblieben sein. Wie denn? Aber Uwe beharrte.

"Ja, im Kutter, mein Vater wird das wohl wissen, seine Finger."

Hannes' Vater erklärte es ihm.

"Da ist bestimmt ein Cutter gemeint, das ist Englisch und wird gesprochen Katter, das kommt von Schneiden."

Aha. Der Vater konnte etwas Englisch, auch Französisch. Er wies häufig auf die weit entfernte Kirchturmuhr und fragte dann ein wenig theatralisch "Kellöhreetil?" Oder er sagte "Merzibokuh". Zuerst nur ungläubiges Schauen, was?

"Das ist Französisch und heißt: Wie spät ist es."

Die Mutter reagierte darauf meist ungehalten.

"Red doch nicht immer so geschwollen."

Dann kehrte sich der Vater nach innen, wurde wieder grummelig. Hannes antwortete einfach "Halbsieme". Später erklärte ihm der Vater die französischen Zahlen bis zehn, wovon er am nächsten Tag eins bis drei fast richtig konnte. Aber etwas Stolz war auch da, der Vater, Abitur, Englisch und Französisch. Oder früher, als Hannes noch kleiner war, zweite Klasse oder so, der Vater konnte mit negativen Zahlen rechnen. Wenn er manchmal Sonntag früh ins Elternbett durfte, kuscheln, übte der Vater mit ihm. Einmaleins, bis Drei. Da fragte er dann:

"Hannes, was ist minus Zwei mal minus Zwei?"

Hannes verstand nichts.

"Wieso denn minus Zwei, was ist denn das? Es gibt doch nur Zwei. Gibt es denn minus Zwei Kartoffeln?", er lachte.

Der Vater schüttelte den Kopf.

"Nein, minus Kartoffeln gibts wohl nicht."

Sein Blick musterte nachdenklich die Zimmerdecke, in der Ecke hing ein gewaltiges Spinnengewebe.

"Ilse, schau mal, da. Aber, " nun blickte er wieder Hannes an, "man rechnet so. Also, man sagt plus oder minus. Ungleiche Vorzeichen ergeben immer minus, gleiche Vorzeichen Plus. Capito?"

Hannes wusste, das heißt "Verstanden". Das konnte der Vater freundlich sagen, wie jetzt, aber auch so scharf wie einen Schlag, der den Atem nahm.

"Also, minus Zwei mal plus Zwei, was ist das?"

Der Vater schaute ihn an, lächelte. Hannes versteifte trotz des Lächelns, er wollte gut sein, wollte gewinnen, Freude und Liebe des Vaters. Sein linker Fuß zuckte, hin und her. Minus Zwei mal plus Zwei.

"Plus Vier."

"Oh", der Vater verdrehte die Augen.

"Johannes, pass mal genau auf. Minus Zwei, M-i-n-u-s Zwei mal P-l-u-s Zwei. Na?"

Jetzt zuckte der Fuß wie verrückt. Minus mal plus.

"Minus Vier."

"Prima, und nun minus zwei mal minus zwei?"

Es flatterte in ihm, wie war das, minus, plus, plus, minus? Dann fiel ihm ein, gleiche Vorzeichen, ungleiche Vorzeichen. Ganz einfach, kinderleicht.

"Plus Vier."

"Oh la la", der Vater drehte sich zur Mutter um, "Ilse, wir haben ein Genie."

Ein warmer Glücksball füllte den Körper, dann das ganze Zimmer. Mein lieber Mann. Das konnte kein Anderer. Der Vater trug auch manchmal ein Jackett und hatte immer lange Haare, ordentlich geschnitten, nachts ein von der Mutter gestricktes Haarband, die Haare mussten geschonte werden, damit sie besser lagen. War der Vater deshalb etwas eigenartig, hatte wenige Freunde, saß nicht mit in der Kneipe herum? In der Kneipe rechneten sie nicht mit ungleichem Vorzeichen. Manchmal erschien er ihm wie ein fremder Vogel, eine Krähe mit leuchtend bunten Flecken in den Federn, hatte sich vielleicht verirrt, verflogen oder verfahren, mit dem großen Kahn? Damals? Bevor die Russen kamen? Passte jetzt nicht so richtig hier her.

Der Kutter war also ein Schneider. Die Finger waren in der Maschine mit den blitzenden und wie rasend sich drehenden Messern aus Stahl geblieben. In der Wurstmasse. Waren eigentlich die Finger aus der Wurstmasse geholt worden, ob das überhaupt noch möglich war? Immerhin, drei recht dicke Finger. Wahrscheinlich genauso dick wie die stehen Gebliebenen. Das ging doch gar nicht, Hannes wusste genau, wie Gehacktes aussah. Entweder Schwein oder halbe/halbe. Wie soll man da das Schrall'sche Fleisch erkennen? Und Wegschmeißen? Die ganze Masse? Unmöglich, die Planerfüllung! Dann musste wohl irgendjemand die Schrall'schen Finger mitgegessen haben. Ob man das merken konnte? Herrn Schrall schien dies nicht zu stören oder nicht mehr zu stören.

Nach einem letzten Blick auf die geschlossene Briefklappe wollte Uwe endlich anfangen. Er bot Dietmar mit einer Handbewegung den ersten Wurf von der Linie an.

"Hat dir dein Alter wieder vermöbelt? Der spinnt doch."

"Det stimmt."

Peter Blasske vom Eckhaus an der Kreuzung kam angerannt. Dünn und blass wie fast alle, aber immer mit ordentlichem Haarschnitt, fast so ordentlich wie Hannes. Er musste oft zum Friseur, obwohl es achtzig Pfennig kostete. Wichtig war immer kurzer Schnitt, nicht so wie die Hottentotten, kuck dir doch die mal an.

Peter Blasske wusste Bescheid.

"Den kannste anzeigen, det darf dein Vater nich."

Dietmar winkte ab, leidenschaftslos, es war ihm peinlich. Außerdem passierte es öfter. Und anzeigen, wer würde seinen Vater schon anzeigen und kann einer mit zehn Jahren überhaupt "anzeigen"? Alles Quatsch.

Heinz Meier war wirklich nicht fröhlich. Vor zwei Jahren saß Hannes im Gartengang und zog Kreise in die Erde, da kam Herr Meier mit dem Ziehwagen, stützte sich auf einer Krücke ab, ging zum Garten. Bei jedem Schritt rutschte die blaue Arbeitshose höher auf seinem hellweißen linken Holzbein, fiel anschließend wieder fast auf den Holzfuß runter. Mit jedem Schritt war ein größeres Stück des geheimnisvollen weißen Beines zu sehen. Es machte Angst aber noch mehr Neugier.

"Tach Onkel Meier."

Nach einer kurzen Pause und frischem Atem.

"Onkel Meier, kann ich mal dein Holzbein sehen?"

Herr Meier blieb stehen. Zog an der Zigarette, warf sie in den Nachbargarten. Drehte sich in seinen ausgewaschenen Arbeitssachen missmutig herum, schob die Schiebermütze aus der schweißnassen Stirn.

"Soll ich dir eine runterhauen, du blöder Bengel?"

Blitzschnell war Hannes verschwunden, hatte nichts mehr gesagt, hatte schleunigst das Tor zum Gartengang von innen verriegelt, atmete aus.

Peter Blasske's Vater war anders. Auf seinem jüngeren dünnen Körper saß ein dünnes Dauerrauchergesicht mit langen dünnen Haaren, eng an den Kopf ordentlich gekämmt.

Er trug immer einen Anzug, links oben der Bonbon. Herr Blasske fuhr jeden Tag mit der Bahn in die Stadt, sprach aber scheinbar nie mit dem Vater oder der Vater mit ihm. Hannes wusste weshalb. Herr Blasske war Genosse und Genossen waren nicht gut für die Leute, Genossen wollten nur oben schwimmen. Genossen machten, was sie wollten, sie wollten jetzt, dass die Bauern in eine LPG gingen, die sollte auf einmal besser sein als einfach Bauer. Der Vater meinte leise, die wollen uns total verrussen. Aber Gottschalk war prima, da war kein Zweifel in Hannes. Vielleicht wusste der Vater auch nicht alles oder alles richtig? Er meckerte immer über die Genossen, wenn er mal nach Berlin musste, zur Hauptverwaltung.

"Die haben keinerlei Ahnung, keine Ahnung!"

Brachte er deshalb fast nie was mit, aus Berlin, irgendwas? Höchstens eine Tüte Luft, Berliner Luft.

Herr Blasske meckerte nie, war immer freundlich zu Hannes, dünn freundlich. Kam die Straße entlang, sagte "Na Hannes, wie geht's", stieß eine lange Wolke Zigarettenrauch aus und schaute weiter auf die Straße, in eine fremde Ferne. Herr Blasske trug fast die gleiche Aktentasche wie der Vater, schwarzes Leder, sehr groß. Im letzten Winter hatte Hannes beim Spielen in Peters Wohnung in die Blasskesche Tasche geschaut, sie stand neben einem Schreibtisch im Wohnzimmer. Er erkannte einige gelbe Akten mit irgendwelchen Stempeln, bevor ihm Peters Mutter die Tasche so aus der Hand riss, dass sein kleiner Finger furchtbar schmerzte und etwas zur Seite stand. Aus ihren schwarzen Augen stach eine enge weiße Flamme, sie zischte: "Das ist nichts für dich."

Seitdem war Hannes nicht wieder bei ihnen.

Kam der Vater von der Arbeit, war in seiner Tasche nur die leere Brotbüchse oder Hühnerfutter, mal Weizen, mal Gerste, manchmal Roggen.

Herr Blasske hatte keine Freunde. Der Vater hatte wenige Freunde, im Nachbarort und die alten Schiffer. Die gingen immer wie schwarze Raben. Westen, Hose, Jacke, alles Schwarz und die Schippermütze, auch schwarz, vorn mit bunten Fahnen aus Blech. Ausgemergelt oder mit dicken Bäuchen standen sie zusammen. Kleine Gruppen in den Gängen zu ihren Höfen. Tach Willem, Tach Paul, Tach Justav, Tach Otto.

"Weeste noch damals 38 bei Hohensaaten det Hochwasser, da hat der Pegel nich mal gereicht…"

"Ne, det war doch bei Duisburg-Ruhrort…"

Herr Blasske gehörte zu niemanden, war nicht bei den Jägern, bei den Anglern, den Gärtnern, den Fußballern, war nicht in der Feuerwehr und hatte keinen Kahn. Trank nicht in der Kneipe Bier und Schnaps. Herr Blasske war dünn, rauchte und hatte es eilig.

Hatte es manchmal wohl auch nicht leicht.

"Damals am siebzehnten Juni, weißte noch, da ist Kurt Blasske nicht mit dem Zug nach Hause aus der Stadt, da ist er zu Fuß. Erst durch'n Kanal geschwommen und dann die zwölf Kilometer durch'n Wald. Der wird schon jewusst haben, worum."

Die Mutter schaute Oma bedeutungsvoll an. Hannes verstand das nicht. Zwölf Kilometer, mit nassen Sachen, unfassbar. Er kannte niemanden, der das schaffen könnte. Und warum? Er wusste nur, es war irgendwie gegen die Partei gegangen. Es wurden auch welche totgeschlagen, welche von der Partei. Er konnte sich nicht vorstellen, dass das gerecht war. Was war überhaupt gerecht? Dass die Junker vertrieben waren, das war wohl gerecht. Junker hatten viel Land, lebten in Schlössern und ließen arme Leute für sich arbeiten. Junker waren Ausbeuter. Auf der anderen Seite vom Fluss gab es ein Schloss, aber angezündet, als der Krieg vorbei war. Dann war der Junker weg, in den Westen. Der Junker war adelig, hieß "von", Herr von Lehse. Dem Junker gehörte alles Land auf seiner Seite, auch die Wiesen, auch das Wasser, alles. Der Vater musste früher als Kind Kiebitzeier suchen für Herrn von Lehse, aus den schmuddligen nassen Kiebitznestern auf den überschwemmten Wiesen. Auch die Eier auf dem Wasser gehörten Herrn von Lehse. Aber man konnte auch welche behalten, man konnte auch alle behalten, wenn man nicht gesehen wurde, von Herrn von Lehse oder dem Inspektor. Drüben, auf der anderen Seite, hatte wohl alles Herrn von Lehse gehört. Schuldirektor Blume sagte, wir haben uns von den Ausbeutern befreit. Das Land gehört jetzt freien Bauern. Das fand Hannes gut, konnte jetzt auch selbst mit dem Kahn rüber fahren und Kiebitzeier suchen, nur so, als Spaß, die Eier dann auspusten und zu seiner Eiersammlung auffädeln. Das schien gerecht.

Der Vater aber sagte, Blume ist dumm, der ist so dumm dieser Kuhknecht und dann noch der Bonbon.

Natürlich hatte der Vater Recht, der konnte alles, Kellöhreetil und Minuszahlen. Und war auch Schiffer, jedenfalls früher. Aber dass die Kommunisten die Junker verjagt hatten und er früher die Kiebitzeier, warum meckert er denn da?

Mittags gab es wieder Plundwurst, braune Wurst aus Blut. Die Mutter und Oma aßen schweigend, kein Wort. Monoton klapperten Messer und Gabeln auf den Tellern, verfolgt von festgesaugten Blicken, die wollten sich nicht lösen, wollten nicht weg von den Tellern und der Tischplatte. Hannes' Muskeln wurden gespannt, der Kopf wie angeschraubt. Die Luft wurde dicker, die Küchendecke senkte sich.

"Na Mutti, schmeckt's denn", die Mutter blickte kurz zu Oma hinüber, das Wort "Mutti" sprang wie eine schleimige Kugel aus ihrem Mund.

"Ich würde schon sagen, wenn man es nicht runterkriegt. Aber, mehr Salz und weniger Majoran."

Oma sprach beim Kauen, verfolgte auf dem Teller die sich verändernden Konturen des kleinen Fladens schwarz-brauner Masse, schob hier und dort etwas zur Seite.

Die Mutter sah kurz auf den akkuraten Scheitel in Omas weißen Haaren, hinten zusammengerollt, ein dünner Dutt, von groben Haarnadeln gehalten.

Messer und Gabeln setzten ihre einsilbige Melodie fort. In Hannes entstand urplötzlich ein Gedanke, hinter den Augen, mit der flachen Hand auf den Teller schlagen, einfach rauf schlagen, dass die Blutwurst durch die Küche flog. Um Luft zu bekommen, Luft. Man müsste. Aber, undenkbar.

"Bei uns sind jetzt fünf Neue."

"Was für Neue?"

Oma und die Mutter erhoben die Blicke, die Bestecke ruhten.

"Was denn für Neue?"

"Na in der Klasse. Jetzt kommen die auch aus...."

Er zählte auf, der Schulbus brachte neue Schüler aus den Dörfern, auch aus dem Wald.

Achso, das Klappern ging weiter.

"Ja, das ist der Sohn von Oberförster Meier, an den kannst du dich halten."

"Ach Friederike, die Tochter von Dr. Fischer."

Heinz Meier war ein eingebildeter Affe, der laut herum schrie, schon am ersten Tag. Hannes mochte ihn nicht, aber der Vater kannte Oberförster Meier, sagte Friedrich zu ihm.

Da war Friede anders. Sie sah irgendwie zart aus, ganz blond. War mit Westsachen angezogen, war aber nicht eingebildet. Was Westsachen waren, war nicht ganz klar, auch nicht, wie man die bekommen konnte. Ja doch, in Westberlin. Aber er sah, dass es Westsachen waren, das sah man. Friede sagte wenig. Kam über die Flussbrücke, mit dem Fahrrad. Er sah sie heimlich gern an, er wusste nicht warum, musste immer wieder hinsehen.

"Ja, die Kleine von Dr. Fischer. Der nimmt doch öfter einen."

Oma schaute sich bedeutend um.

"Der hat sich ja letztens fast vergiftet, hat mir Olle Freidank erzählt. War aber nicht ganz so schlimm."

"Wieso, vergiftet?"

Hannes schaute sie ungläubig an. Das konnte er sich nicht vorstellen, Dr. Fischer und vergiften wollen. Der war doch immer so beschäftigt, hatte sogar ein Auto, fuhr damit ständig rum. War zum Vater nachts gekommen, als der laut stöhnte. Was mit dem Herzen.

Und überhaupt, Olle Freidank. Wohnte drei Häuser weiter, hing mit ihren riesigen Brüsten, in gewaltigen Bahnen von schwarzem Schürzenstoff gewickelt, den ganzen Tag auf dem Fensterbrett. Schaute auf die Straße, in die Sonne, wartete auf Leute, verfolgte das Leben auf der Straße, war Teil dieses Lebens, fraß Straßenleben, verdaute es, gab das Verdaute wieder von sich. Von jedem, mit jedem, zu jedem. Wusste alles. Redete immer. Redete schlimm.

Der Vater sagte Alte Tratsche, das sollte Hannes aber nicht hören.

"Und wie die redet, schlimmer als in Berlin. Als ob die halb zerkaute Nägel auskotzt", der Vater schaute vorsichtig um sich. Redete so, wie er sonst nicht redete. Und außerdem, Olle Freidank war die Schwester von Ernste Freidank, Schiffer Ernste Freidank.

"Der musste nachts nach Bresewitz, da lag einer dod, war aber nischt mehr zu machen. Da hat er die Scheine aufgeschrieben und dann stand da ne Flasche rum und er hat einen Zug genommen. Im Schnaps war aber Rattengift, da hat sich der Andere umgebracht. Dat muss man sich mal vorstellen."

Oma schüttelte den Kopf.

Hannes konnte sich das gut vorstellen. Nachts, dunkel, ein Toter auf dem Sofa, da mal nen Schluck Schnaps nehmen, das war doch nicht schlimm. Der Vater trank ja auch mal Schnaps, aber wenig. War auch zu teuer.

Dann sah er wieder Friede, hinter seinen Augen.

4

Sonnenstrahlen machten zerrissene Säulen im Wasser. Schnell wechselnd, schräge Türme, die bald wieder zerfielen. Neue Türme entstanden, huschten lautlos fort. Lange grüne und graue, bizarre Schnurpflanzen pendelten in der Strömung, berührten sich, tanzten einen Reigen. Gaben den dunklen Grund frei und bedeckten ihn wieder in ständigem Wechsel. Hin-her, hin-her. Kein Dirigent zu erkennen.

Wie von Zauber geblendet verfolgte Hannes das endlose Spiel. Er lag flach auf einem Steg im Wasser, blickte durch Spalten in die dunkle Tiefe, suchte im Dämmerlicht nach Nichtsichtbarem, was dort zu sein schien, sich aber nicht zeigte. Vermutete Flussgeheimnisse.

Er lief oft durch das Wasser, trat auf Steine, es schmerzte. Oder suchte am Boden schlangenähnliche Wurzeln, knollig. Riss man sie raus und zerbrach sie an der Luft, entstand ein Geruch, ein Duft, nicht aus diesem Fluss, nicht aus dieser Welt. Er setzte sich auf den Steg und roch, dann legte er sich hin und roch weiter, sah nur noch das bewegte Wasser, den fernen Horizont, hörte das ruhige oder aufgeregte Geplätscher der Wellen. War allein auf der Welt. Süßlich, schwer, nichts Vergleichbares gab es. Wäre der Geruch ein Geräusch, müsste man sich die Ohren zu halten. Ob Kalmus aus dem Urwald kam, vielleicht hatte Kalmus das Trompeten der Elefanten, das Brüllen der Löwen gehört und auch das Zischen der Giftpfeile. Kalmus war nicht aus dieser Flusswelt.

Schlimm war es, in Scherben zu treten. Die Scherben waren Scherben von Bierflaschen, geworfen von müden Männern am Abend. Diese Männer waren nicht reich, niemand war reich, vielleicht Auto-Freidank mit seiner Werkstatt. Aber nach einigen geleerten Flaschen war es gleichgültig, ob arm oder reich. Dann machte es Spaß, wenn die Flasche ins Wasser segelte. Lässig, locker aus der Ellenbeuge, geworfen mit der Linken, nach der nächsten Flasche schon suchend, dabei einfach weiter redend: "Weeste schon, det Horschte gestern soon Hecht..."

Es war das Zeichen, die Männer konnten es sich leisten. Konnten leere Buddeln ins Wasser "feuern". Und überhaupt, waren ja nur Bierpullen aus dem Konsum. Kam Hannes näher an die Männer heran, musste er "Tach" sagen. Der Vater und die Mutter verlangten, dass er grüßen sollte, jeden! Wenn er nicht grüßte, wurde es erzählt, das gehört sich nicht, der Mutter im Konsum oder dem Vater im Zug. Dann hatte die Mutter Schuld, immer. Neben den Männern in ausgewaschenen, geflickten blauen Arbeitssachen standen oder lagen Angeln und Steckstangen. Die Männer gingen zum Kahn oder kamen vom Kahn oder waren im Kahn oder wollten gerade zum Kahn gehen, vom Kahn kommen oder im Kahn sein. Manche hatten Arbeitssachen, die waren schon fast weiß. Aus blau weiß gewaschen, aber frühestens nach fünf Jahren.

Die Kähne schwammen in Gruppen am Ufer, an Stegen oder waren an Stangen oder großen Steinen angeschlossen, damit sie durch die Wellen der Schleppzüge und Motorschiffe nicht abgetrieben wurden. Und damit nachts niemand einfach über den Fluss ruderte, wenn die Kneipe die Letzten ausspülte und die Fähre im Dunkel bereits eine Weile am Ufer schlief. Manchmal schliefen die Besoffenen auch in den Kähnen, die ganze Nacht, das war aber nicht schlimm.

Diese Männer angelten immer. Jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr. Vor der Schicht, zwischen den Schichten oder nach der Schicht. Die Männer waren Arbeiter und fuhren morgens oder nachmittags oder abends oder nachts in den Chemiebetrieb oder ins Stahlwerk. Mit dem Zug oder dem Fahrrad. Einmal im Jahr gingen die Männer mit ihren Frauen zum Anglerball, wenn sie Frauen hatten. Ohne Frauen gingen sie auch, tranken dann aber mehr Bier und Klaren. Männer ohne Frauen prügelten sich dann manchmal oder prügelten sich früher. Der Anglerball fand im großen Saal statt.

Der Vater angelte fast nie und ging auch nicht zum Anglerball.

Der Vater war jetzt ein Angestellter, Dietmar sagte Sesselfurzer. Fuhr jeden Tag mit dem Fahrrad zum Bahnhof, mit dem Zug in die Stadt, abends wieder zurück. Andere arbeiteten als Traktorist oder Gasstocherer. Der Onkel von Gert war Gasstocherer. Ein eigenartiger Beruf. Hatte er Hannes erklärt, er stocherte im Stahlwerk in der Kohle, die machte Gas. Da musste gestochert werden. Gerts Onkel war ruhig und freundlich. Also musste das mit dem Gasstochern auch nicht so schlecht sein. Gert hatte keinen Vater, wie so viele Andere aus dem Städtchen. Wenn Hannes fragte nuschelte die Mutter:

"Die sind im Krieg geblieben." Oder

"Die sind gefallen. Hannes, wünsch dir bloß keinen Krieg. Hat Opa auch immer gesagt, obwohl der nicht mal im Krieg war, der war ja in der Grube."

Hannes wünschte sich keinen Krieg. Warum auch. Obwohl, das Geballere mit den MGs und das Rumstreunern in der Fremde musste auch was Tolles sein. Auf einem Bild saß der Vater mit anderen Soldaten auf Betten rum, mit freiem Oberkörper. Sie hielten Pistolen in den Händen, Äxte oder hatten große Messer im Mund. Es musste lustig sein, alle lachten. An der Wand hing eine Tafel: "Es lebe hoch die Waffe, die Axt und Säge führt, das Chor der Pionieren, das nie den Mut verliert." Und alle sahen so dunkel aus, gebräunt, so gesund. Aber eine ganze Menge aus dem Ort sind dann doch totgeschossen oder irgendwie anders zermatscht worden. Aber wie denn: gefallen?

Immer: Der ist gefallen, vierundvierzig, Ostfront. Ganz selten Westfront oder Frankreich. Einfach so gefallen? Garantiert nicht. Gefallen. Fast alle sind GEFALLEN. Oder haben was verloren, Onkel Meier hat sein Bein verloren. Die meisten habens von den Russen, diesen Bestien. Diese Russen haben sogar unsere Schwäne auf dem Fluss erschossen, der Vater blickte anklagend um sich.

"Mit MPis, das stelle man sich mal vor, mit MPis! Und dann wahrscheinlich noch gefressen. Schwäne!!! So sind die Kommunisten."

Das war unmenschlich, diese weißen Vögel mit den langen edlen Hälsen, und dann mit MPis. Brrrrrrrrrrrr. Dauerfeuer. Das war doch viel schlimmer als mit Schrot aus den Flinten des Jagdkollektives und außerdem macht man so etwas nicht. Schwäne erschießen und dann noch vielleicht essen. Hannes kannte diese Vögel nur aus Büchern und Fotos im Album, von früher, so friedlich, so adelig. Schwammen auf dem Fluss und hielten den Kopf so. Gerader Hals, direkter Blick, manchmal auch schief. Aber meistens gerade, das Adlige eben. Auf dem Fluss und auch dem See gab es keine Schwäne mehr. Gänse waren ja auch friedlich, aber nicht so adelig. Die Russen sind eben so. Das würden die Amis im Westen nie machen, die sollen ja nur Kaugummi kauen, Chesterfield rauchen und überhaupt gut sein. Chesterfield, das Wort klang schon so gut. Die Leute sagten immer Tschester, Tschesterfield, das klang auch schon fast adlig, richtig metallisch, gut metallisch. Und bei uns nur Papirossi, so wie paperlapapp. Nichts mit Tschester. Da haben wir wohl Pech gehabt, aber das lässt sich nun nicht mehr ändern.

"Die Nazis, diese Idioten, konnten ja den Hals nicht voll kriegen."

Der Vater ging mürrisch nach draußen, packte die Sense und holte Gras für die Kaninchen.

Der Vater lachte nie, jedenfalls fast nie, hatte immer zu tun. Vom Zug nach Hause, eine hastige Stulle, dann im Sommer graben, jäten, Wasser geben, Gras holen, Heu machen, Heu einfahren, Heu einfahren immer mit Gewitter, immer. Im Herbst ernten, Kartoffeln, Äpfel, Gemüse, alles verstauen und lagern, Ziege oder Schaf schlachten mit Herrn Schrall.

Im Winter Tannenspitzen als Vitamine aus den Wäldern holen, Schilfrohr für künftige Zäune vom Eis ernten. Er war immer unterwegs, mager, drahtig, voller Unruhe. Andere Männer schienen ruhiger.

Der Vater lachte nur, wenn er aus Mark Twain vorlas, "Bummel durch Europa", vorlesen wollte, wie ein deutsches Pferd aufgezäumt wird. Dann lachte er nur, kam über die ersten zehn Sätze nicht hinaus, die Tränen liefen herunter, er versuchte den elften Satz – vergeblich. Die Tränen liefen weiter, der Vater lachte und wurde luftlos, sackte zusammen, konnte einfach nicht weiter lesen, versuchte, weiter zu lesen, lachte wieder und wurde wieder luftlos.

Der Vater hatte Bücher, drei kleine Regale voll. Hannes kannte niemanden, der so viele Bücher hatte. Aus diesen Regalen quoll Stolz, durchtränkte auch ihn. Drei kleine Regale mit Büchern.

Das Gleiche bei Jürnjakob Swehn, ihr Schlottern und Zangen, ihr Schlangengezücht. Hier musste man um das Leben des Vaters bangen, hier zeigte er ein anderes Wesen als sonst, er wurde kicherich. Auch Hannes musste lachen, musste mit dem Vater lachen. Aber das Unheimliche blieb. Standen die Bücher wieder im Regal, war die Seele wie fast immer verschlossen, schnell hatte er dunkle Schalen davor gezogen, musterte wieder mit gelblichen Augen finster und argwöhnisch die Welt um sich her.

Nachts heulte die Sirene, wie öfter. Am nächsten Morgen, Hannes schlenderte zur Schule, rief Olle Freidank über die Straße, Stellmacher Schulze ging in seine Werkstatt:

"Da sind wieder welche jetürmt, ausm Zuchthaus, hat mir Horschte erzählt, weeste, der ist doch Bulle innen Knast. Drei Mann. Paß uff, wenne innen Wald gehst."

Es gab nicht nur Fabriken, es gab auch einen Knast, einen riesigen Knast, det Zuchthaus. "Det" Zuchthaus soll schrecklich gewesen sein aber auch berühmt, hier hatte Erich Honecker gesessen, der war jetzt schon wieder ein hohes Tier, bei "de EfDeJot". Und voll sollte es auch schon wieder sein, hatte Olle Freidank gesagt, hatte Horschte gesagt, "aba bloß nischt sachen."

Sie rief Hannes hinterher.

"Du, Hannes, sach mal deine Mutter, morjen sollet in Konsum Kunsthonig mit 60 Prozent Bienenhonig geben, mit 60 Prozent! Wer soll det bloß bezahlen?"

Sie kratzte sich den linken fetten Oberarm.

"Der Krieg is ja schon, warte mal, elf Jahre her und schon jibtet wieda richtjen Honich, na ja, mit 60 Prozent. Toll. Bloß so teuer, Junge, bestimmt ooch nischt für euch, wa."

Bei Hannes gab es nur Kunsthonig mit 10 Prozent Bienenhonig oder echten Kunsthonig. Ein Unterschied war nicht zu schmecken. Beides mussten aus klebrigen Pappbechern mit stabilem Messer heraus gebrochen werden, wie in einem kleinen Tagebau. Lag dann in Klümpchen, süß, fest, schwach gelb auf der Stulle. Schmeckten irgendwie flach, aber Honig. Einmal durfte Hannes Bienenhonig kosten, ein Geschenk. Der schmeckte anders, lief aber immer vom Brot. Eine richtige Sauerei.

5

Der Tisch wie immer mit der Wachstuchdecke geschützt, die Teller mit Suppe gefüllt, Milchklüternsuppe. Milchklütersuppe aus richtiger Milch, Bauernmilch von Moltke, nicht die blassblau wässrige Magermilch vom Konsum. Duft nach heißem Fett und Majoran durchzog Küche und Wohnzimmer, verstärkte den Appetit. Die Mutter brachte dampfende Bratkartoffeln auf einem Probeteller.

"Otto, willst du noch mal abschmecken?"

Die Mutter stand leicht gebückt neben ihm, hielt den Teller vor. Der Vater nahm eine Probe, kaute mehrere Male, schaute an die gegenüberliegende Wand in Höhe der Tapetenleiste. Er krauste die Oberlippe, ließ schnüffelnd zwischen den Augenbrauen eine senkrechte Falte entstehen.

"Ziemlich salzig, noch etwas Majoran."

"Ist gut."

Schweigend ging die Mutter zurück in die Küche, kam mit der vollen Pfanne und verteilte die Kartoffeln.

"Guten Appetit", der Vater zog die Milchsuppe zu sich heran und begann zu löffeln.

"Oh Ilse", er musterte die Mutter unwirsch, "warum ist das denn wieder so heiß? Das kann doch kein Mensch essen. Holst du mir noch einen Teller?"

Die Mutter stand erneut auf, holte aus der Küche einen weiteren leeren tiefen Teller, gab ihn schweigend dem Vater, der umständlich die Hälfte seiner Suppe mit dem Löffel unter Pusten und Rühren darauf verteilte. Die Mutter und Hannes sahen sich kurz an, aßen aus ihren ursprünglichen Tellern, pusteten selbst wenig, löffelten vom Rand. Dies war dem Vater nicht möglich. Nie, er benötigte einen Extrateller zum Kühlen, jederzeit. Weil das Essen zu heiß war, immer. Während des Löffelns ruckte er plötzlich hoch, schaute nach oben in die Glühbirne der Wohnzimmerlampe über der Mitte des Tisches, fragte anklagend:

"Warum ist das Taschentuch weg?"

Wieder blickten sich Hannes und die Mutter an. Die verdrehte die Augen, atmete tief aus. Hannes hatte es nicht bemerkt, das Taschentuch fehlte, tatsächlich. Es musste, zur Hälfte aufgefaltet, mit seinem oberen Teil waagerecht in der Lampe liegen und mit der unteren Hälfte nach unten hängen. So spendete es dem Vater Schatten vor der hellen Glühbirne, ein Komfort, nur für ihn.

Die Mutter entschuldigte sich sofort.

"Ich musste es mal waschen, es war total voll gestaubt, und dann die toten Fliegen."

"Und warum liegt kein neues da, das kann doch nicht so schwer sein."

Die Mutter hörte auf zu essen, schaute starr vor sich hin, ihr Gesicht wurde rot.

Hannes wusste nicht, fängt sie an zu weinen oder zu schreien. Weinen kannte er, schreien kaum. Aber irgendetwas veränderte sich in der Mutter, es war nicht klar was, aber irgendetwas geschah in ihr, langsam. Seit einem Monat arbeitete sie im Bürgermeisteramt. War nicht mehr zu Hause, wenn die Schule schloss. Nur Oma, die war da.

"Hannes, holst du mal eines."

Er stand schnell auf, er verstand das nicht, diese Mätzchen, aber der Vater duldete keinen Widerspruch. Trotzdem. Er fühlte sich an der Seite der Mutter.

"Aber es geht doch auch so, bei mir doch auch."

Er lächelte, wie er annahm etwas aufsässig, nur etwas, aber auch unsicher.

Der Vater ruckte wortlos mit dem Kopf nach rechts, schoss aus halb geschlossenen Augen einen viereckigen Blick ab.

Sie gehörten zu ihm. Sie waren fest mit ihm verbunden, unbewusst hatte er es verinnerlicht, dies waren Zeichen der Macht. Manchmal wollte er dem Vater zu Willen sein, seine Wünsche erfüllen, um Liebe, Anerkennung oder zumindest einen nicht unfreundlichen Blick zu erhalten. Etwas anderes war undenkbar. Man konnte darüber lächeln, Witzchen machen, mal mit der Mutter, meist mit sich selbst aber nie mit ihm.

Nach dem Abendbrot dunkelte der Vater das Zimmer ab, rückte den Stuhl vor das Radio. Die Mutter ging in die Küche und wusch das Geschirr, räumte weg. Die Radios hießen Erfurt oder Weimar oder Adante. Adante war ein Apparat für Leute, die es sich leisten konnten. Der Apparat des Vaters hieß Sonneberg, eine Stadt irgendwo im Süden.

Der Apparat war nicht neu, der Apparat war von Onkel Hans, einem Freund des Vaters. Der Apparat war für ganz wenig Geld. Alle Apparate hatten dieses grünlich schimmernde Auge. Das grünliche Auge, das plötzlich enger oder breiter wurde oder überhaupt nervös zuckte, ein Raubkatzenauge. Dieses Auge flackerte, während der Vater Sender suchte, die richtigen Sender, Westsender. Es fielen Sätze wie "eine freie Stimme der Freien Welt".

Die Jalousien wurden nachts immer herabgelassen, in diesem Herbst besonders früh. Der Vater wirkte vorsichtig, ging manchmal auf Strümpfen im dunklen Flur zur Haustür, spähte aus größerer Entfernung durch die kleinen Scheiben auf die unbeleuchtete Straße, nach links, nach rechts. Hannes spürte, der Vater hatte Angst. Er wusste nicht genau was für eine Angst, wagte nicht zu fragen. Es war alles klar, es war auch alles unklar. Es gab Mächte und Kräfte, die man nicht sah, die lautlos über der Landschaft schwebten, gegen die man machtlos war. Es war auch spannend.

Da war dieser Mann. Der Mann, der im Dunkeln draußen vor dem Wohnzimmerfenster stand. Der nur gelegentlich an der Zigarette zog, die dann glühte. Dieser Mann, der sich bei nähernden Schritten ziellos hin- und her bewegte wie im Spiel, der danach wieder vor dem Fenster mit der geschlossenen Jalousie stand. Dieser Mann wurde gesehen, vom Haus gegenüber. Gesehen von den Nachbarn, die ebenfalls lautlos und aus dem Dunklen die Straße beobachteten.

Früher hatte Hannes Halbsätze und Wörter gehört, "voriges Jahr abgeholt…" oder "…ist wieder da, hat aber kein Wort erzählt…". Da war dieses Gerücht über Herrn Breslau, Bäcker-Breslau, den die Russen "abgeholt" hätten und "abgeholt" hatte einen schlimmen Klang, nicht abholen zum Spielen. Und dann das Gerücht über Anders, der war wieder da, aus "Sibirien", wo immer das auch lag, und der Vater hätte irgendwas gesagt über "Abhauen". Nichts war klar. Und nun neue Meldungen, gemischt mit auf- und abschwellenden Pfeifgeräuschen, es musste ständig am Radio gedreht werden. Das Raubtierauge half beim Trennen von Worten und Pfeifen. Aus dem Radio, eine Wundermaschine, kamen Worte wie Freiheit, Budapest, Imre Noodsch, kommunistisches Terrorsystem, T34 und Panzer. Und Tote. Wollten die Mutter oder Hannes ein Wort sagen winkte der Vater unwirsch ab, stierte auf den stoffbespannten Lautsprecher. Sprach mit sich, murmelte undeutlich Worte wie Bande und Verbrecher, schaltete das magische Auge aus. Verließ die Wohnstube ohne ein Wort.

Hannes blieb zurück. Er wusste, in Ungarn, wo immer das auch war, passierte etwas und trieb den Vater weiter in die Einsamkeit.

Die Tür öffnete sich wieder, ein scharfer Satzspeer flog herein:

"Hannes, ins Bett, Avanti!"