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Die Erzählung "Das Glasfigurenkabinett des Lebens" schildert die Verzweiflung einer Frau, die ihre kranken Eltern pflegt. Immer mehr wird sie sich ihrer Einsamkeit bewusst. Viele Träume musste sie bereits aufgeben.
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Seitenzahl: 36
Veröffentlichungsjahr: 2014
von Jan Ringer
Man klammert sich bisweilen an trügerische Gedanken, an Augenblicke der Euphorie, Rettungsinseln in einem Ozean, an ein Idyll. Aber für sie, Andrea Stromberger, gab es diese Idylle nicht mehr, an die sie sich dennoch klammerte, als gälte es, eine Erinnerung zu bewahren, die ihr Leben, ihr kümmerliches, sorgenvolles Dasein noch erträglich machte. Schritt für Schritt konnte man gehen – bald auf einen Abgrund zu, bald auf eine leere Ödnis, die sich endlos dehnte. Nur eines konnte man nicht mehr: an etwas Sinnvolles glauben. Wozu auch? Ein leeres, schales Leben, das erbärmlicher als brackiges Wasser schmeckte – eine von jenen Sinnlosigkeiten, die man nie wahrhaben wollte und die dennoch stets gegenwärtig schienen.
Sie ging über die Straße und klammerte sich förmlich an die Häuserfront, schritt weiter, nahm vertraute Gesichter wahr. In der Ferne sah sie die alte Eisenbahnbrücke, die zwei Dämme miteinander verband. Als sie klein war, hatte sie dort Beeren gepflückt, doch jetzt schwindelte ihr bereits, wenn sie ihren Blick über den jähen Abhang gleiten ließ und sich jener soghaften Tiefe bewusst wurde. Wofür lebte man? Wofür lebten all die Menschen, die sich ihrer Erbärmlichkeit gar nicht mehr bewusst wurden? Ein Leben im Tiefkühlfach, kalt, frostig. Sie hatte einmal gelesen, dass man Verbrecher in Ulan Bator, der Hauptstadt der Mongolei, in einem steinernen Sarg einkerkerte.
Sie ging in den Supermarkt, passierte das Drehkreuz und schob einen Wagen vor sich her. Auch wenn sie es nicht einzugestehen vermochte, für einen winzigen Augenblick war sie frei und atmete eine andere Luft als zu Hause, fühlte etwas Unberechenbares, Enigmatisches, das ihr einen Teil des Albdrucks nahm, unter dem sie so unsäglich litt. Sie tastete nach dem Brot, fühlte, ob es noch weich war und spähte auf das Haltbarkeitsdatum. Vor ihr stand eine Frau, die wie sie selbst um die Vierzig sein mochte. Für einen Tag mit ihr tauschen könne, einmal in ein fremdes Leben schlüpfen, all der Liebkosungen, der Sorgen teilhaftig werden, aus dem ein unerforschliches Schicksal das Lebenslos gewoben hatte. Entrinnen konnte man nicht, man fiel nicht aus der Welt, kein Abgrund tat sich auf, um einen zu verschlingen. Was übrig blieb, war meist Banalität, Resignation und Tragik im Küchen- und Hintertreppenmilieu. Ein steinernes Leben war ein abgründiges, sinnloses Leben, das nirgends eine Abwechslung, nirgends einen Halt bot. Ein leeres Gaukelwerk, geschaffen von Zynikern, die an nichts mehr glaubten und sich selbstgefällig im Kreise drehten. Süffisanz par excellence – eine Tragikomödie für Fortgeschrittene.
Sie taste mit ihrem Blick die Regale entlang, nahm eine Dose und legte sie in den Wagen. Sie suchte nach Nudeln und nach Pfeffer. Sie kaufte oft hier ein und wusste, wo die Waren standen. Nur manchmal irritierte sie ein Sonderangebot, das an einer unvertrauten Stellen sich auftürmte. Eine junge Frau hastete an ihr vorbei und musterte enerviert die verschiedenen Schilder. Ihr ganzes Leben hatte etwas Unruhiges, Fahriges, Gehetztes an sich, als schlüge in ihrem Herzen ein Metronom das Stakkato eines frühen Todes, als schien ihre Zeit unnatürlich verkürzt.
Sie ließ den Blick an ihren Beinen hinabgleiten und stellte fest, dass eine Laufmasche die schwarzen Strümpfe mit dem aparten Krebsmuster verunzierten. Die junge Frau wirkte mit ihrer aufgesetzten Imposanz und ihrer Extravaganz wie ein zerbrechliches, feinsinniges Wesen, das sich hierher verirrt hatte und nach einem Halt suchte. Sie ging weiter und beachtete die junge Frau nicht weiter. Sie legte eine Packung Reis in den Wagen, dann noch eine Salami am Stück und Käse.
Sie ging weiter zu den Getränken und griff nach einem Orangensaft. Sie lief ein paar Schritte weiter und blieb vor den Spirituosen stehen. Verlegen sah sie nach links und rechts und starrte wieder in das Regal. Wieder spähte ihr Blick nach allen Richtungen, und dann nahm sie eine Flasche Kognak aus dem Regal und stellte sie unauffällig in den Wagen.
Am Ende des Gangs entdeckte sie den Kräuterbitter und nahm auch eine Packung. Jetzt hatte sie es plötzlich eilig. Sie bugsierte den Wagen durch die schmalen Reihen und drängte in Richtung Kasse. Sie atmete beruhigt auf, denn an der Kasse wartete kein Kunde vor ihr. Sie hastete, legte die Waren auf das schwarze Förderband und holte ihr Portemonnaie aus der Tasche. Beflissen tippte die Kassiererin die Preise ein, wirkte routiniert und geschäftig. Obwohl sie für einen Augenblick gehofft hatte, die Kassiererin würde die Kognakflasche und den Kräuterbitter kaum zur Kenntnis nehmen, glaubte sie, in den Augen der Frau eine gewisse befremdliche Neugier herauszulesen. Sie zahlte und packte ein.