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Der Roman erzählt die Geschichte von Tamara, die aus der Feenwelt nach Berlin reist, um einen Jungen zu retten, der seinen Vater verloren hat. Mit einem Professor und dem sprechenden Biber Felix muss sie in Berlin viele Abenteuer bestehen.
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Seitenzahl: 211
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Tamaras Zaubereien in Berlin
In Berlin
Die Villa
Die Nachbarn
Geld macht glücklich
Der schwierige Patient
Das Baumhaus
Das Hauskonzert
Die Party
Die Delegation in Berlin
Der Kinobesuch
In der Diskothek
Das Heim
Die Halloweenparty
Die Hochzeit und die Rabenuhr
Ein leichter Wind wehte vom Meer über die Insel, und man spürte, dass die Tage heller und schöner wurden. Tamara ging langsam durch den Garten, in dem viele Kräuter und seltsame Pflanzen aus aller Herren Länder wuchsen. Sie setzte sich in ihre Schaukel und betrachtete die vielen Wolken, die bald wie Schäfchen, bald wie kleine Burgen aussahen. Sie nahm ein Glas vom Tisch und trank eisgekühlten Ananassaft, der auf der Zunge prickelte.
Fast wäre sie eingeschlafen, als ein Knall und eine Rauchwolke am Berg Turmelin sie erschreckten. Was war das?, dachte sie und schaute in die Ferne. Sie war unruhig geworden und ein wenig ungehalten über die seltsame Störung.
„Das war bestimmt ein Experiment, das Professor Simonis durchgeführt hat“, sagte ein kleiner Biber, der sich unter dem Tisch sonnte. „Aber Felix“, sagte Tamara, „ich verstehe nicht, wozu wir diese Experimente brauchen – wir haben doch alles auf unserer Insel. Der Professor ist manchmal einfach unausstehlich.“ Der Biber Felix bewegte sich ein paar Meter weiter. „Tamara, du musst noch vieles lernen“, erwiderte er, „ich bin fast dreihundert Jahre alt und habe vieles in meinem Leben gesehen. Dass der Professor so viel tüftelt, daran bist nur du allein schuld“, sagte der Biber. „Warum ich nur?“, erboste sich Tamara, „immer soll ich an allem schuld sein.“
„Nein, du darfst es nicht falsch sehen. Wenn du nicht immer die Feenschule geschwänzt hättest, müsste Professor Simonis nicht ständig neue Dinge erfinden. Aber statt fleißig zu lernen, hattest du ja nur diesen komischen Prinzen im Kopf. Wie hieß er doch gleich?“ Tamara, die ein wenig empört war über Felix, stampfte mit dem Fuß auf den Boden und verzog mürrisch das Gesicht. Auch der Ananassaft schmeckte ihr nicht mehr so richtig. „Er hieß Balduin“, sagte sie verärgert, „und das weißt du genau, Felix.“ „Der gute Balduin“, witzelte Felix und schüttelte sich vor Lachen. „Ich weiß noch, wie du ihn um Mitternacht in eine Giraffe verwandelt hast und die Prinzessin vor Schreck in Ohnmacht fiel.“ Tamara wollte sich nicht an den Vorfall erinnern; immerhin hatte Balduin die Prinzessin trotzdem geheiratet, und seit diesem Tag galt sie in der Feenschule als eine Stümperin. Denn jede anständige und seriöse Fee beherrschte den Liebeszauber, und keine hatte je zuvor aus Liebeskummer einen Prinzen in eine Giraffe verwandelt. Die Feenschule hatte ihr schlimmes Verhalten getadelt und ihr das große Feeneinmaleins weggenommen. Der Prinz wurde wieder in einen Menschen zurückverwandelt, und weder die Prinzessin noch er konnten sich an das Geschehene erinnern. Die Direktorin der Feenschule, eine alte kratzbürstige Frau mit einer roten Nase und einem feurigen Zauberstab, hatte sie dazu verurteilt, sieben Jahre nach dem Feeneinmaleins zu suchen. Doch inzwischen waren die sieben Jahre um, und sie hatte das kostbare Buch immer noch nicht gefunden.
„Lass uns nach dem Professor sehen“, sagte Tamara entschlossen, „vielleicht ist er in Schwierigkeiten.“ Sie stellte das Glas auf den Tisch, nahm den Biber unter den Arm und murmelte leise eine Zauberformel. Eine Rauchsäule stieg auf und wirbelte die beiden davon. Es machte kurz einmal Plopp, und sie standen mitten im Hause des Professors.
Überall sah man geheimnisvoll schillernde Gläser und Gefäße, in denen Flüssigkeiten und Elixiere blubberten und siedeten. Etwas ängstlich sah sich Tamara um, denn hier roch es noch schlimmer als in ihrer eigenen Küche.
„Guten Morgen, Herr Professor“, sagte sie schmunzelnd, da der Professor noch immer mit seinen Experimenten beschäftigt war und gerade eine Flasche abfüllte. „Ach, guten Morgen, meine Lieben“, antwortete der Professor, der einen großen weißen Bart trug. „Ich habe euch schon vermisst“, fügte er hinzu und stellte die Flasche ab. „Es gab eine Explosion“, sagte Tamara besorgt. „Eine Explosion?“, fragte der Professor und runzelte die Stirn. „Ach so die kleine Verpuffung“, lächelte er und bot Tamara einen Stuhl an. Tamara zog den Stuhl zum Tisch, nahm Felix in die Hand und setzte sich.
„Ich habe eine sensationelle Erfindung gemacht“, rief der Professor und strahlte vor Freude. Wahrscheinlich wieder einer seiner Flopps dachte Tamara insgeheim; denn sie erinnerte sich mit Schrecken daran, dass er einmal Zauberrubine entworfen hatte. Als sie mit den Elfen eine große Party auf dem Berg Turmelin veranstalten wollte und die vielen Rubine ins Gras legte, um ein wunderschönes Glitzern zu erzeugen, verwandelten sie sich alle um Mitternacht in Krokusse.
Und noch jetzt hörte sie das Lachen der Elfen, die ihre Party absolut lustig fanden und den Berg Turmelin in Berg Krokus umtauften. Sie hatte sich entsetzlich blamiert, und jedes Mal wenn sie eine Elfe sah, lief sie vor Scham rot an.
Professor Simonis holte eine Flasche und nahm eine seltsam glänzende Schüssel, die er mitten auf den Tisch stellte. „Dies ist mein größtes Meisterwerk“, verkündete er voller Stolz und hob beschwörend die Hände. Tamara machte sich auf das Schlimmste gefasst. Obwohl sie den Professor sehr liebte und er für sie wie ein Vater war, fand sie seine schrulligen Ideen manchmal gar nicht komisch. Aber ihre Mutter hatte ihn einmal aus großer Not gerettet und ihr auferlegt, sie solle ihn immer beschützen und behüten; denn er wäre ihr großer Glücksbringer. Anfangs fand sie den alten knorrigen Mann mit seinem weißen Bart unmöglich; aber nach einiger Zeit begann sie, ihn lieb zu gewinnen. Wenn sie unglücklich oder traurig war, fand er stets ein paar nette Worte und verstand es prächtig, sie wieder aufzuheitern.
Der Professor beugte sich über den Tisch und nahm eine Pipette, mit deren Hilfe er Flüssigkeit aus der Flasche sog. Ein merkwürdiger orangefarbener Qualm stieg aus dem Flaschenhals empor und verteilte sich bereits im Raum. Tamara begann, leicht zu husten, und auch Felix fühlte sich unwohl und versteckte sich. Der Professor rief: „Jetzt kommt der große unvergessliche Augenblick!“, und er ließ einige Tropfen in die Schüssel träufeln. Innerhalb kürzester Zeit bildete sich auf dem Grund der Schüssel ein sonderbares regenbogenfarbenes Muster, und Nebel stieg wie ein Wirbelwind auf. Es zischte leise, und dann begannen sich in der Schüssel Bilder und Figuren abzuzeichnen.
„Was soll das sein?“, fragte Tamara neugierig, die das Ganze für einen ausgemachten Hokuspokus hielt. „Es ist ein Seelenspiegel“, sagte der Professor voller Aufregung und gestikulierte nervös mit seinen Händen. „Mit seiner Hilfe“, fuhr er fort, „können wir in die Menschenwelt sehen.“ Felix kam aus seinem Versteck hervor und lachte. „Jedes Kind weiß doch“, sagte der Biber altklug, „dass die Welt der Menschen schrecklich ist. Die Menschen leben noch wie im tiefsten Mittelalter; sie können nicht einmal zaubern oder sich in einen Vogel verwandeln.“ Der Biber lachte schallend, und der Professor war ziemlich verärgert, denn er hatte jahrelang an dem Seelenspiegel geforscht. „Mein lieber Felix“, erwiderte er leicht gereizt, „die Menschen können vielleicht nicht zaubern und sich in Vögel verwandeln, aber dafür haben sie Flugzeuge, und die sind schneller als jeder Vogel.“
„Schon gut, lieber Professor“, beschwichtigte ihn Tamara, die inzwischen neugierig geworden war, „aber wozu sollen wir den Seelenspiegel verwenden?“ Professor Simonis schüttelte ungläubig den Kopf, als könne er gar nicht fassen, was ihn Tamara gefragt hatte. „Wir suchen das Feenbuch – was sonst!“, antwortete er. „Du musst jetzt ganz fest daran denken, dass du dein Zauberbuch finden willst – nichts darf deine Gedanken stören. Denke immer daran – du suchst das Zauberbuch.“ Gebannt starrten die drei in die seltsam schillernde Schüssel, in der die Farben umherwirbelten. „Ich sehe nichts“, sagte Tamara, „ich sehe einfach nichts – nur Farben.“
„Unsinn“, schimpfte der Professor, „du musst mehr Geduld haben.“
Plötzlich änderte sich das Farbmuster, und langsam sah man schattenhafte Umrisse, die wie in einem Nebel verschwammen. „Was ist das?“, wollte Felix wissen, „es ist so schwer zu erkennen.“ „Es sieht aus wie eine Straße“, wandte der Professor ein. Alle drei äugten weiter in die Schale, und immer deutlicher erkannte man ein Bild. „Es ist eine Straße, und dort am Straßenrand sitzt ein Junge und weint“, sagte Tamara nachdenklich. „Warum weint er?“, fragte Felix. Niemand sagte etwas, aber der weinende Junge am Straßenrand beschäftigte sie sehr. „Seltsam er geht zur Brücke“, meinte der Professor. „Er will von der Brücke springen, in den Fluss springen“, schrie Tamara aufgeregt und fuchtelte mir den Armen in der Luft herum. „Wir müssen ihm helfen – er ist in Not“, sagte der Biber Felix. Alle drei waren entsetzt, und jeder dachte für sich nach, wie man dem armen Jungen helfen konnte. „Wir müssen ihm helfen“, sagte Tamara entschlossen, die ganz außer sich war vor Sorge, „aber wir wissen noch nicht einmal, wo der Junge ist und warum er so weint.“ „Du hast doch die Zaubermuschel“, wandte der Biber ein, „mit ihr können wir alles erfahren, was wir erfahren wollen. „Ein ausgezeichneter Vorschlag“, rief Tamara, „wir müssen sofort nach Hause und die Zaubermuschel befragen; und du, lieber Professor, kommst gleich mit.“ „Aber meine Experimente“, sagte der alte Mann.
„Papperlapapp“, fauchte Tamara, „hier ist jemand in großer Not. Auf jetzt, wir dürfen keine Minute verlieren. Wer weiß, ob er nicht doch in den Fluss springt.“
Tamara hüpfte in einem Dreieck, zog einen Kreidekreis auf dem Fußboden und bat den Professor und Felix, den Kreis zu betreten. Dann breitete sie ihren schwarzen Seidenumhang über die beiden aus und murmelte eine lateinische Zauberformel. Es zischte, und sie befanden sich in Tamaras Schloss. Sie eilte zu einem alten Eichenschrank und holte eine wunderschöne, große Muschel heraus. „Sag uns, liebe Muschel“, sprach sie in feierlichem Ton, „wie heißt der Junge, warum ist er so verzweifelt, und wie können wir ihm helfen?“ Die Muschel hustete erst einmal, denn ihrem Innern hatte sich Staub angesammelt, und sie krächzte anfangs wie ein heiserer Rabe: „Der Junge, den ihr gesehen habt, heißt Samuel. Er ist ein armer Waisenjunge, denn sein Vater ist vor einer Stunde im Krankenhaus an einer Lungenentzündung gestorben.“ „Wie schrecklich“, seufzte der Biber und hatte Tränen in den Augen. „Seine Mutter lebt nicht mehr; und als er merkte, dass ihn eine Sozialarbeiterin in ein Heim bringen wollte, hat er sich losgerissen und ist abgehauen. Jetzt irrt er allein und einsam durch Berlin und hat niemanden mehr, der ihm hilft und beisteht“, sagte die Muschel. „Wie traurig“, sagte Tamara und begann zu weinen, „wir müssen ihm helfen.“ „Wir könnten doch seine neuen Eltern sein“, schlug Felix vor. „Wenn das so einfach wäre“, murmelte der Professor, „in der Menschenwelt ist alles anders als hier. Die Menschen sind kompliziert, sie haben viele Regeln und Vorschriften.“
„Warum nehmen wir Samuel nicht einfach mit auf unsere Insel Prosperina“, schlug Felix vor, „auf unserer Insel ist es viel schöner als in der Menschenwelt; hier muss niemand arbeiten; Milch und Honig fließen aus unseren Gebirgsbächen; wir brauchen kein Geld, und alle sind glücklich.“ Der Professor lachte. „O du törichter Felix, du kennst die Menschen nicht. Auch sie sind glücklich, aber auf eine andere Weise. Und wir wissen auch gar nicht, ob Samuel uns als Eltern haben will und ob er mit auf unsere Insel kommen möchte.“
Tamara wurde immer unruhiger. „Wir können doch jetzt nicht diskutieren, ob der Junge zu uns kommen möchte oder nicht“, sagte Tamara, „das Wichtigste ist doch, dass wir ihm sofort helfen. Dann kann er sich immer noch entscheiden.“
Sie nahm den Professor bei der Hand und den Biber Felix unter den Arm und rannte los. Vor einem alten Spiegel blieben sie stehen. „Was ist das?“, wollte Felix wissen. „Das ist die Pforte zur Menschenwelt“, sagte Tamara, „auf der anderen Seite leben die Menschen.“ „Das ist aber unheimlich“, meinte der Biber. „Keineswegs“, sagte der Professor leicht entrüstet, „ich bin auch in der Menschenwelt groß geworden; die Menschen haben viele interessante Dinge wie Autos, Telefone, Flugzeuge.“ „Aber zaubern können sie nicht?“, erwiderte Felix neugierig. „Nein, zaubern können sie nicht“, sagte der Professor leicht gekränkt. „Kommt, lasst uns gehen“, sagte Tamara, „auf der anderen Seite wartet bereits eine Delfin-Rikscha auf uns.“
Tamara murmelte eine Zauberformel, und dann hörte man ein seltsames Klirren und Klingen wie von tausend Glocken, und Sternenstaub zerstob vor ihren Augen in tausend Funken. Ein merkwürdiger Strudel aus Sternen und Licht zog sie durch einen lichterfüllten Tunnel, und dann standen sie plötzlich in einem Unterwasserfeld. Fische zogen an ihnen vorbei, und Luftbläschen stiegen wie Perlen in einem grünen Wasser auf. „Ich bin Neptun“, sagte ein Mann mit Dreizack und einem Fischleib und einem riesigen Schwanz, „stets Tamara zu Diensten.“
„Bring uns so schnell wie möglich zu dem Jungen“, sagte Tamara und machte eine Handbewegung, worauf ein schummriges Bild im Wasser entstand.
Der Professor, Felix und Tamara stiegen in die Delfin-Rikscha, eine Art Kutsche, die aus einer großen Muschel und einem Baldachin bestand und von zehn Delfinen gezogen wurden. „Los geht es“, rief Neptun den Delfinen zu, worauf das sonderbare Gefährt sich in Bewegung setzte.
Mit großer Geschwindigkeit schwammen sie durch das Wasser vorbei an Algen und zahllosen Fischen. Immer schneller stieg die Rikscha nach oben, und schon konnten die drei das Tageslicht erkennen, das durch die Wasseroberfläche schimmerte. „Seht nur“, sagte der Professor, „man kann bereits Häuser erkennen.“ Tamara nickte und war erstaunt.
Sie selbst war nur einmal kurz in der Menschenwelt gewesen, als die Klasse ihrer Feenschule die Abschlussprüfung hatte. Aber sie erinnerte sich nur noch, dass sie bei der Prüfung durchgefallen war, weil sie ein paar Goldtaler herbeigezaubert hatte. Ihrer Lehrerin hatte sie getadelt, denn die Menschen bezahlten mit bunt bedrucktem Papier und nicht mit Gold. Überhaupt gab es auf Prosperina kein Geld, und sie hielt das alles für eine Albernheit der Menschen.
„Sind die Menschen gefährlich?“, wollte Felix wissen. „Nein“, lachte Professor Simonis, „sie sind manchmal nur sehr unwissend.“ „Ja“, lachte Tamara, „sie arbeiten den ganzen Tag und machen dann ihr Essen selbst; sie können weder fliegen noch sich in Tiere verwandeln. Sie haben auch keine Kristallkugeln, mit denen man in die Zukunft oder ferne Orte sehen kann. Für mich sind die Menschen immer ein Rätsel geblieben. Von unserem lieben Professor einmal abgesehen.“ Alle lachten, und auch Professor Simonis, der sonst eher ernst war, kraulte sich vor Freude seinen weißen Bart.
Je näher sie der Wasseroberfläche kamen, desto mehr blubberte und rauschte es.
Tamara war etwas verlegen, denn sie hatte den Zauberspruch vergessen, mit dessen Hilfe man ein Boot herbeizaubern kann. Auch konnte sie sich nicht mehr erinnern, wie diese Boote bei den Menschen aussahen. Aber sie fürchtete, der Professor könnte sie auslachen, und auch Felix würde es komisch finden. Sie dachte angestrengt nach und sprach dann eine Zauberformel. Man hörte ein lautes Rauschen und Plätschern, und dann standen die drei plötzlich in einer Barke, die auf dem Fluss schwamm. Das merkwürdige Gefährt wurde von fünf Seehunden gezogen. „Das ist ja großartig“, frohlockte Felix und staunte über die vielen Häuser und Autos, die den Fluss säumten. „Wie wunderschön es hier ist, wie bunt und bezaubernd, wie alles lebt. So habe ich mir die Menschenwelt nicht vorgestellt“, sagte Felix voller Begeisterung.
Auch Tamara war beeindruckt von der bunten Menschenwelt, den vielen Geräuschen und der Stadt, die so ganz anders war als ihre kleine Insel Prosperina.
Nur der Professor blieb zurückhaltend und runzelte die Stirn.
Irgendetwas kam ihm merkwürdig vor, aber er wusste nicht genau, was es war. Während die Seehunde sich durch Neptuns Anfeuerung mit immer mehr Kraft durch das Wasser pflügten und das Boot noch schneller zogen, trug sich am Ufer etwas Merkwürdiges zu.
Ein Angler, der gerade in sein Butterbrot biss, erschrak: Vor ihm tauchte ein Boot auf, das wie eine Barke bei den alten Ägyptern aussah. Und zu aller Verblüffung wurde die Barke von Seehunden gezogen. Aber in Berlin gab es höchstens im Zoo Seehunde, aber nicht in der Spree. Vor Schreck ließ er seine Angel fallen und rannte zu seinem Auto, wo sich gerade seine Frau schminkte. „Schatz“, rief er, „ich habe etwas Unglaubliches gesehen. Ein ägyptisches Schiff, das von Seehunden gezogen wurde, mit einem Baldachin, einem alten Mann mit Bart und einer Frau, die unter ihrem Arm einen Biber hält und einen schwarzen Umhang trägt.“ Seine Frau klappte den Spiegel zu und sah ihn mit einem vorwurfsvollen Blick an. „Mein lieber Otto“, schimpfte sie, „den Kegelabend kannst du vergessen – du bist ja jetzt schon sternhagelvoll.“ Der Mann seufzte. „Aber ich schwöre dir“, sagte er verzweifelt. Die Frau stieg aus dem Auto und ging ans Flussufer. „Wo bitte ist dein komisches Schiff? Wo sind die Seehunde? Ich sehe jedenfalls nichts. Ich glaube, du bist bekloppt.“ Der Mann stand ratlos da und kraulte sich das Haar.
„Aber ich schwöre dir, Elschen, ich schwöre dir, ich habe das Schiff gesehen.“ Er trat ein paar Schritte näher. Dann plötzlich erschrak er. „Schau mal, schau mal“, rief er aufgeregt, „ein großer Delfin.“ Die Frau lachte nur. „Du hast keinen Delfin, mein Lieber, sondern eine Meise.“ „Aber schau doch mal“, forderte der Mann, „siehst du es nicht – dort drüben.“ Die Frau runzelte die Stirn, blickte aber ihrem Mann zuliebe in den Fluss. „Siehst du es?“, wollte der Mann wissen. „Tatsächlich“, sagte die Frau, „aber es ist kein Delfin, sondern ein Goldbarsch. So etwas solltest du angeln und nicht die mickrigen Fischlein, die du sonst an Land ziehst.“
Die Frau machte eine verächtliche Handbewegung und ging zurück zum Wagen. Der Mann aber war sich sicher, dass es ein Delfin war. Tatsächlich hatten die Delfine Tamara noch ein Stück begleitet.
Unterdessen starrten immer mehr Menschen am Flussufer auf das seltsame Schiff. Plötzlich sprang der Professor auf. „Du musst etwas unternehmen, Tamara. Mit diesem Gefährt können wir unmöglich weiter – wir fallen ja sofort auf“, schimpfte der Professor, „dieses Boot ist einfach unmöglich; die Leute starren uns ständig an.“ Tamara war erschrocken, denn jetzt wussten der Professor und Felix, dass sie eine falsche Zauberformel angewandt hat. Hätte sie doch nur in Menschenkunde besser in der Schule aufgepasst. Aber sie hatte in fast jedem Zeugnis eine Vier; nur in Feenlatein war sie noch schlechter gewesen. Wie hieß nur die richtige Zauberformel?
Solange sie sich das Boot nicht richtig vorstellen konnte, war es fast aussichtslos. Angestrengt dachte sie nach und schnippte mit den Fingern. Die Barke verwandelte sich eine römische Galeere, und sie allen trugen jetzt weiße Gewänder.
„Bist du verrückt?“, schimpfte der Professor, „wir machen uns vor den Leuten lächerlich.“ Tamara war es peinlich, dass sie wieder den falschen Zauber verwendet hatte. Auf der Straße erschrak ein Autofahrer so sehr, als sich das Schiff verwandelte, dass er auf einen anderen Wagen auffuhr.
„Sie sind bescheuert“, brüllte der andere, „können Sie nicht aufpassen; Sie haben mein Auto ruiniert.“ Doch der Mann deutete nur wortlos auf die Galeere, die die Spree hinab fuhr. Auch die anderen Autofahrer und Fußgänger starrten auf das einzigartige Schiff. „Also wirklich einfach großartig, was sich unser Kultursenator alles einfallen lässt; eine römische Galeere mitten in Berlin“, sagte eine Frau.
„Pah“, empörte sich ein Mann, „dieser altertümliche Schnickschnack – was das kostet.“
Auf der Galeere unterdessen versuchte Tamara verzweifelt, die richtige Zauberformel zu finden. Sie schnippte mit den Fingern, und die Galeere verwandelte sich in ein Tretboot. Der Professor trug nun ein Jägerkostüm, und Tamara sah wie eine Krankenschwester aus. Der Biber lachte. „Einfach köstlich der Hut mit der Pfauenfeder“, kicherte Felix. „Wie gut“, sagte der Professor, „dass uns die Elfen auf Prosperina nicht in diesem entsetzlichen Aufzug sehen können.
Ein Professor mit Pfauenfeder.“ Tamara fand das Missgeschick indessen gar nicht so schlimm; sie schmunzelte darüber, dass sich der Professor auch ein wenig ärgern musste. „Und wie geht es vorwärts?“, keifte Professor Simonis. „Wir müssen in die Pedale treten“, sagte Tamara. „Gütiger Himmel“, ächzte der Professor. „Ich kann natürlich auch noch einmal zaubern“, wandte Tamara ein. „Nein, nein, bloß nicht; wir haben für heute schon genug gezaubert“, erwiderte der Professor und trat kräftig in die Pedale. Am Ufer blieb ein Kind stehen und rief zu seiner Mutter. „Schau mal, Mutti, die Krankenschwester und der Förster bringen einen Biber in die Tierklinik.“
Nach ein paar Minuten erreichten sie die Brücke, auf der der Waisenjunge Samuel stand. „Schneller“, rief Felix, „ihr müsst stärker in die Pedale treten.“ Tamara keuchte und schwitzte. Die Menschenwelt war ganz schön anstrengend, dachte sie; aber sie merkte auch, dass Professor schon ziemlich erschöpft war. „Seht nur“, rief Felix aufgeregt, Samuel springt, er springt in den Fluss – wir müssen ihn retten.“
In diesem Augenblick hatte der Waisenjunge beschlossen, in den Fluss zu springen. Er hatte niemanden mehr: seine Mutter war schon lange tot, und sein Vater war im Krankenhaus gestorben. Er war ganz allein auf der Welt, und er fühlte sich schrecklich einsam. In ein Waisenhaus wollte er nicht, denn er wusste, dass es dort nicht schön war. Er wollte auch Eltern haben wie all die anderen Kinder.
Aber für ihn war es zu Ende. Er weinte. Er betete und wünschte seinem Vater, dass die Engel ihn mit in den Himmel genommen hatten.
Er sah hinab in das grünlich schimmernde Wasser. Irgendwann würden sie ihn finden und ihn in einem Waisenhaus bringen, doch er wollte nicht. Er hatte sich immer gewünscht, in einem schönen Haus zu leben mit lieben Eltern und vielen Freunden. Aber jetzt war alles aus. Es gab nichts mehr, was ihn zu trösten vermocht hätte. Er war ganz allein auf der Welt; und selbst an diesem schönen Sonnentag in Berlin gab es nichts mehr, woraus er Kraft schöpfen konnte. Er sagte noch einmal seiner Mutter und seinem Vater Lebewohl, kletterte über die Brücke und sprang in das kalte Wasser der Spree.
„Er ist gesprungen, er ist ins Wasser gesprungen“, schrie Tamara, „er wird ertrinken.“ Der Professor sprang wie besessen auf und wollte mit einem Hechtsprung ins Wasser, und beinahe wäre das Boot gekentert.
„Professorchen, bleib sitzen“, ermahnte ihn Tamara. „Neptun, Neptun“, rief Tamara ins Wasser, „hol den Jungen.“ Neptun zischte sogleich durch das Wasser, nahm den Jungen unter seine Arme und zog ihn ans Ufer. Auch Tamara und der Professor legten mit ihrem Boot an und kletterten heraus. „Er atmet“, sagte Felix erleichtert, „er kommt schon wieder zu sich.“
Einige Passanten waren auf der Brücke stehen geblieben und beobachteten erstaunt, was geschehen war. Als eine Frau Neptun am Ufer erblickte, fiel sie in Ohnmacht. „Ein Monster“, schrie eine andere Frau, „ganz grün und mit Algen und riesigen Schuppen und einem Dreizack.“ Ein Junge lachte. „Das ist der neueste Horrorfilm, der demnächst in die Kinos kommt“, erklärt eine Junge, „echt Spitze.“
„Das sieht alles total echt aus.“ Die andere Frau hatte sich wieder beruhigt. „Aber es ist ein Skandal, einen so jungen Schauspieler in die Spree springen zu lassen. Wofür haben die denn eigentlich Stuntmen?“
Als Tamara die Menschenmenge bemerkte, bedankte sie sich bei Neptun und bat ihn, wieder im Fluss zu verschwinden. „Wo bin ich?“, stotterte der durchnässte Samuel. „Ruhig, Junge, du bist in Sicherheit; wir sind bei dir“, redete der Professor auf ihn ein. Felix zog es vor zu schweigen; denn obwohl er sich in der Menschenwelt nicht so gut auskannte, glaubte er, dass es sprechende Biber dort nicht gab.
Tamara strich Samuel sanft über das Haar und lächelte. Als Samuel ihre weiße Uniform sah, dachte er, sie sei eine Ärztin oder eine Fürsorgerin oder so etwas. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass man Leute, die von einer Brücke sprangen, in eine Anstalt brachte. Er fürchtete sich. Er tat so, als wäre er noch erschöpft und müde und blieb am Ufer liegen. Als der Professor und Tamara gerade unaufmerksam waren, sprang er auf, riss sich los und hastete in Panik den Hang hinauf. Er keuchte und stolperte, verletzte sich an Brennnesseln und am Gestrüpp, aber er hatte nur ein Ziel: Er wollte in kein Waisenhaus und keine Anstalt. Er rannte wie der Teufel die Uferpromenade entlang, so dass er fast einem entgegenkommenden Radfahrer in die Quere gekommen wäre. Nein, in ein Heim wollte er nicht, lieber würde er noch einmal von einer Brücke springen. Aber wer war der sonderbare grüne Mann mit dem Dreizack?, dachte er. Er musste zu viel Wasser geschluckt haben, denn grüne Männer im Wasser gab es nicht. Er bekam kaum noch Luft und war völlig außer Atem, denn er war so schnell gerannt wie noch nie in seinem Leben. Er war sich fast ganz sicher, dass er die Krankenschwester und den sonderbaren Förster mit der Pfauenfeder abgeschüttelt hatte. Er lachte, als er daran dachte, dass die Krankenschwester einen Biber unter dem Arm trug. Als er vier Jahre alt war, hatte ihm seine Mutter einen wunderschönen Zwerghasen geschenkt. Aber als er an seine Eltern dachte, wurde er wieder ganz traurig und verzweifelt.
„Was ist mit ihm?“, fragte Tamara den Professor, „warum läuft er so schnell davon?“ „Er kennt uns nicht, er hat Angst“, sagte der Professor.
„Oder er glaubt, wir wollen ihn in ein Waisenhaus bringen“, fügte Felix hinzu. „Wir sollten nicht lange debattieren – wir müssen ihn einholen, sonst ist er fort“, sagte Tamara. Ehe der Professor etwas erwidern konnte, flüsterte Tamara eine Zauberformel und verwandelte sich unter großem Getöse in ein Kamel. „Schnell aufsteigen“, rief sie den beiden in der Gestalt des Kamels zu. Der ungelenke Professor ächzte und schnaufte, als er auf den Kamelhöcker klettern sollte, zumal er unter einem Arm Felix festhalten musste. „Los geht’s“, rief Tamara und trabte davon. „Oh Gott“, jammerte der Professor, „mir wird schwindelig – mir wird schlecht. Ich werde seekrank bei dem Geschaukel.“ Auch Felix wurde auf dem Kamelhöcker ganz schwindelig, und alles drehte sich in seinem Kopf. „Daran kann ich jetzt nichts ändern“, sagte Tamara, „ihr müsst durchhalten, bis wir Samuel eingeholt haben.“