Das Glück wohnt in der Ivy Lane - Juliet Ashton - E-Book

Das Glück wohnt in der Ivy Lane E-Book

Juliet Ashton

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Beschreibung

Notting Hill: ein Ort für Liebe, Familie, Freundschaft – und herzerwärmende Schicksale Eigentlich wohnt Sarah gerne in der Ivy Lane im Westen Londons. Die Hausgemeinschaft ist bunt, man hilft sich aus. Doch seit kurzem ist die Idylle zerbrochen, denn Sarahs Exmann wohnt jetzt ein Stockwerk tiefer – bei seiner neuen Frau. Sarah ist am Boden zerstört und sucht plötzlich die Nähe zu den anderen Nachbarn. Vor allem zu Jane und Tom, den neuen Bewohnern im Hochparterre. Sie helfen Sarah wieder auf die Beine. Trotzdem: sich neu zu verlieben kommt für Sarah nicht in Frage. Ein Flirt mit Tom schon gar nicht. Schließlich möchte sie keine glückliche Ehe zerstören. Nur eins ist klar: Wenn das Glück in die Ivy Lane zurückkehren soll, dann muss ein Wunder geschehen. Oder am besten gleich mehrere …

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Seitenzahl: 427

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Juliet Ashton

Das Glück wohnt in der Ivy Lane

Roman

Aus dem Englischen von Silke Jellinghaus und Katharina Naumann

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Notting Hill: ein Ort für Liebe, Familie, Freundschaft – und herzerwärmende Schicksale

 

Über Juliet Ashton

Juliet Ashton stammt aus Irland und lebt heute mit ihrer Familie in London. Sie hat bereits zahlreiche Romane unter ihrem Klarnamen veröffentlicht. Als Juliet Ashton schrieb sie den Bestseller «Ein letzter Brief von dir». Nach «Immer wieder du und ich» folgt nun ihr neuester Roman im Rowohlt Taschenbuch Verlag.

Prolog

Sarah hatte direkt nach dem Standesamt gehen wollen, aber Leo hatte sie so lange beschwatzt, bis sie zunächst noch zu den Reden und schließlich sogar zum Anschneiden der Hochzeitstorte blieb.

«Wir müssen nachher noch einen Boogie zusammen tanzen», hatte er lachend gesagt, als die Band zu spielen begann.

Aber es hatte keinen Boogie mehr gegeben. Leo hatte nur Restposten für sie übrig, den Trostpreis, der nur noch betonte, was Sarah verloren hatte. Als sich die Tanzfläche füllte und die Gäste sich wie Arbeitsbienen um die Königin scharten, hatte sich Sarah endlich abgeseilt. Niemand hatte mehr versucht, sie aufzuhalten und zum Bleiben zu überreden. Die meisten hatten sich wohl ohnehin gewundert, dass sie überhaupt gekommen war.

Zeit, nach Hause zu gehen. Sarah sehnte sich nach Stille, damit sie ihre Gedanken ordnen und an einem sicheren Ort verstauen konnte, um später vielleicht noch einmal auf sie zurückzukommen. Jetzt wollte sie nur noch ins Bett. In ihr verlassenes Bett, dessen Laken nicht länger durch die langen Beine ihres Mannes zerwühlt wurden.

Immerhin musste sie kein Taxi rufen. Die Hochzeitsfeier in Wohnung B lag nur eine Treppe von Sarahs Wohnung ganz oben im Blauen Haus entfernt. Der elegant geschwungene Treppenaufgang bildete das Rückgrat des Hauses, von ihm aus gingen die Wohnungen ab, eine auf jeder Etage, außer im Souterrain, in das herzlose Bauunternehmer schon vor langer Zeit zwei Wohneinheiten gezwängt hatten.

Das Geländer, durch zweihundert Jahre ständige Benutzung ganz weich poliert, fühlte sich unter Sarahs Händen kühl an. Noch immer dröhnten die Bässe in ihren Ohren, als sie aus den Schuhen schlüpfte und ihre gemarterten Zehen massierte. Der Aufstieg kam ihr länger vor als sonst, fast als ob jemand heimlich Stufen hinzugefügt hätte. Sie stieg mit der müden Vorsicht einer Invalidin hinauf. Der Blumenstrauß fiel ihr aus der Hand, und die Blüten verteilten sich über die abgewetzten Dielen auf dem Treppenabsatz.

Hatte die Braut ihn extra in ihre Richtung geworfen? Sarah hatte gar keine Wahl gehabt, sie hatte die fleischfarbenen Rosen, die ihr direkt ins Gesicht flogen, fangen müssen. «Du bist die Nächste!», hatten die Gäste gerufen, und der Bräutigam hatte sie betreten angeschaut. Sarah hatte sich große Mühe gegeben, begeistert zu wirken. Sie hatte ihre Rolle gut gespielt, aber jetzt fühlte es sich an, als brenne die fröhliche Maske auf ihrem Gesicht, und Wohnung A ganz oben übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus.

«Na endlich, junge Dame!» Eine kleine, flinke Person fortgeschrittenen Alters in einem speckigen Kleid versperrte den Weg zu Sarahs Wohnungstür.

«Hallo, Mavis», seufzte Sarah.

«Was sind Sie denn so aufgetakelt? Sagen Sie bloß nicht, dass Sie zu dieser Hochzeit gegangen sind?» Ihre Nachbarin wirkte beinahe erschüttert, aber gleichzeitig schrecklich neugierig. Ihr Gesichtsausdruck war der einer Gafferin, die extra langsam an einem Verkehrsunfall vorbeifährt.

«Wollten Sie etwas von mir?» Sarah blieb stehen und fürchtete, dass sich ihre Beine nach dieser ungewollten Pause womöglich nicht mehr in Bewegung würden setzen lassen. Auf dem Weg nach oben war sie gefühlt um drei Jahrzehnte gealtert, die Qualen des Tages hatten sich in ihre Knochen gefressen.

«Ich hab jetzt schon ein paar Mal bei Ihnen geklopft», sagte Mavis verdrießlich. Sie nahm Sarahs Abwesenheit offenbar persönlich. «Ich musste den Empfang dieses Briefes bestätigen, während Sie sich amüsiert haben.» Sie drückte ihr den Umschlag genauso nachdrücklich in die Hand, wie die Braut ihren Strauß geschleudert hatte. «Ich habe schließlich auch ein Leben, wissen Sie? Ich bin hier nicht die Dienerin.»

«Vielen Dank.» Die Erfahrung hatte Sarah gelehrt, Mavis’ Köder niemals zu schlucken. Die Frau zog ihre gesamte Lebensenergie aus Streitigkeiten, und Sarah brauchte jetzt dringend Ruhe und Frieden.

«Wollen Sie ihn denn gar nicht öffnen?»

«Tja … Ehrlich gesagt: nein.» Sarah musste fast lachen, so unverstellt neugierig war die Frage. «Jetzt nicht. Ich hatte einen langen Tag, Mavis.»

«Kein Grund, mich anzublaffen», blaffte die alte Frau sie an. Sie trat einen Schritt auf sie zu und schaute Sarah fest in die Augen. Augen, die sehr sorgfältig geschminkt waren, sodass ihr Grau leuchtete und die Wimpern ganz lang wirkten.

Die Schminke, das enganliegende rote Kleid, der neue Pashmina-Schal, der ständig von ihren Schultern glitt – das alles war Sarahs Rüstung. Sie zuckte zusammen, als der Blick aus den unnatürlich blauen Augen der zerknitterten alten Dame durch ihren Schutzschild drang.

«Sie haben geweint.» Es war eine Feststellung. Mavis fragte auch nicht, warum. Wahrscheinlich, weil das ebenfalls auf der Hand lag.

«Mavis!» Eine hohe, fröhliche Stimme erklang von unten.

«Ich komme ja schon», quäkte Mavis. Und an Sarah gewandt, knurrte sie: «Verdammte Familie. Die glauben, man gehöre ihnen mit Haut und Haar.» Sie wandte sich zum Gehen.

Neugierig lehnte sich Sarah über das Geländer und schaute Mavis hinterher, die beschwerlich abwärts tappte.

Ganz unten schimmerte das blasse, ovale Gesicht einer Frau, deren Blick sich kurz mit Sarahs traf, bevor sie wieder zurück in den Schatten trat.

Sie war alt, so viel erkannte Sarah auch aus der Entfernung, aber gleichzeitig zeitlos schön, wie eine Göttin aus heidnischen Zeiten, deren Blick retten und zerstören konnte. Und sie kam ihr bekannt vor.

Dann begriff Sarah, wen sie gerade gesehen hatte, und jene stürmische Aufregung überkam sie, die man nur in Gegenwart berühmter Menschen erlebt: «Mavis! Ist das nicht …»

«Ich will Ihnen mal was sagen, meine Liebe», unterbrach sie Mavis, die in ihren Pantoffeln ungerührt weiterschlappte, «das geht Sie absolut nichts an. So ist das.»

Sarah fühlte sich wackelig und tief ermüdet nach den Ereignissen des Tages, und sie sehnte sich nach Nettigkeit und Trost, nach einem Beweis, dass es noch so etwas wie Freundlichkeit gab auf der Welt. Mavis war das absolute Gegenteil dessen, was sie jetzt brauchte, also antwortete sie nicht weiter auf deren allgemein bekannte Schroffheit, sondern schloss die Wohnungstür auf.

Wohnung A lag im Dunkeln. Das gedämpfte Jubeln und Schreien, das durch die Dielen drang, unterstrich ihre triste Einsamkeit noch. Sarah stellte sich Leo vor, wie er stolz seine neue Braut herumzeigte und allen sagte, was für ein Glückspilz er doch sei.

Sarah zog das Kleid aus, das ihr Sicherheit gegeben hatte, und atmete erleichtert durch. Wenn die Statistik stimmte und wirklich zweiundvierzig Prozent aller modernen Ehen in einer Scheidung endeten, war sie sicherlich nicht die erste Frau, die zur Hochzeit ihres Exmannes gegangen war. Doch Sarah hielt sich nicht für modern. Eigentlich fühlte sie sich eher wie ein Kind, das man allein zu Hause gelassen hatte. Sie schüttelte ihre mit Haarspray fixierte Frisur, und Konfetti regnete auf den Boden.

Ohne Licht wirkte ihre Wohnung ganz normal. Die Dunkelheit verhüllte die tiefen Löcher in den Wänden und die Tapeten, die wie lepröse Haut abblätterten. Der Verfall schien eine Anklage und forderte Sarah beständig auf, die Renovierung zu beenden, die Wohnung zu verkaufen und endlich ein neues Leben zu beginnen.

Sarah riss ein Blatt von dem Kalender, den sie im Konfuzius Take-away um die Ecke bekommen hatte. Das Datum schien sie zu verhöhnen: So lange hatte sie sich vor dem fünfzehnten Januar gefürchtet. Aber jetzt war er vorbei, immerhin, und sie konnte sich dem Chaos widmen, das jeden Tag, den sie die Renovierung weiter aufschob, schlimmer zu werden drohte.

Sie zerknüllte das billige Papier mit dem täglichen Zitat darauf und warf es über die Schulter. Nicht nur die Angestellten des Take-aways grüßten sie mit Namen, weil sie dort neuerdings ständig aß, auch in dem kleinen Heimwerkerladen gegenüber war sie mittlerweile eine alte Bekannte, die ständig vorbeikam, um Farbproben abzugreifen und sich nach den besten Füllmassen zu erkundigen. Wenn sie gewusst hätte, dass sie dieses Projekt alleine würde zu Ende führen müssen, hätte sie sich nie auf die Renovierung eingelassen.

Mach dich morgen einfach an die Arbeit, krächzte eine mahnende Stimme in Sarahs Kopf.

Überall standen Farbtöpfe und Leitern herum. Und doch wirkte die Wohnung verlassen, als ob Sarah gemeinsam mit Leo ausgezogen wäre.

Schön wär’s, dachte Sarah und zog trotzig den weichen Kragen ihres Frottébademantels zusammen. Dann drückte sie auf den Lichtschalter in ihrem Schlafzimmer, aber es blieb hartnäckig dunkel und erinnerte sie daran, dass die Birne durchgebrannt war. Irgendwo hatte sie sogar aufgeschrieben, dass sie Glühbirnen kaufen musste, aber der Zettel war in dem ganzen Chaos offenbar verlorengegangen. In der Küche fand sie eine Kerze unter der Spüle und stieg ins Bett. Um sie herum schienen sich die Wände im flackernden bernsteinfarbenen Licht zu bewegen.

Die Kerze spendete ein freundliches, charmantes Licht, sodass Sarah die halb abgeschliffenen Dielen und die schiefe Vorhangstange nicht so genau sehen konnte. Und sie beleuchtete das Einschreiben auf dem Nachttisch, das Mavis ihr übergeben hatte. Kein Absender. Sarah fragte sich, was so wichtig sein konnte, dass man es per Einschreiben schicken musste, und öffnete den Umschlag.

Eins

Der Umzugslaster und der Leichenwagen blockierten die enge Straße, und keiner von beiden wollte zurücksetzen. Es war ein aufregender Tag für das Blaue Haus: Ein Paar zog ein, ein anderer Bewohner für immer aus.

Das streng im geometrischen georgianischen Stil gebaute Haus leuchtete im Sommerlicht. Es war blau gestrichen und gehörte eigentlich in eine drollige kleine Gasse in einem Städtchen am Meer und nicht in eine ständig verstopfte Seitenstraße in Notting Hill. Auch wirkte es etwas aus der Zeit gefallen: Die Fassade hatte definitiv bessere Zeiten gesehen.

Aus einem Fenster der obersten Etage schaute Sarah herunter auf die Pattsituation in der engen Straße.

Hoffentlich war Mavis noch im Haus und merkte nicht, dass der Sarg ihrer Schwester eine tragende Rolle in einem Verkehrsstreit spielte. Nicht einmal der Promistatus der Leiche schützte sie vor dieser zutiefst unwürdigen Situation.

Die einzige schwarze Jacke, die Sarah besaß, war zu dick für den Sommer. Und die Meteorologen versprachen – oder besser: drohten mit noch höheren Temperaturen, doch das Blaue Haus, das schon so viele Sommer hinter sich hatte, blieb völlig unbeeindruckt von der Hitze und stand hoch und still in der schweren Luft.

«Du bist genau richtig.» Sarah nahm ein marineblaues Sommerkleid vom Kleiderständer, den sie vor einem Jahr als Provisorium gekauft hatte. Die letzte Beerdigung, auf die Sarah gegangen war, war die ihres Vaters gewesen, und sie erinnerte sich noch an den trotzig weißen Mantel ihrer Mutter. Sarah trug damals Schwarz. Für sie war es die Farbe der Albträume und Krähen, die sie von da an noch konsequenter gemieden hatte.

Sie rückte den geliehenen schwarzen Hut vor dem halbblinden Spiegel an der Wand zurecht, steckte ihr dunkelblondes Haar hoch und erklärte sich für bereit. Sie war so gut wie überhaupt nicht eitel – die Egozentrik ihrer Mutter hatte ihr jedes bisschen natürlichen Narzissmus ausgetrieben –, und sie fand es außerdem irgendwie respektlos, ausgerechnet an diesem Tag zu viel Wert auf ihr Äußeres zu legen.

Vorsichtig ging sie die Treppe herunter, eine Hand immer am Geländer. Womöglich waren ihre Absätze für den traurigen Anlass zu hoch. Auf Zehenspitzen schlich sie an Wohnung B vorbei, durch deren glänzende Eingangstür der fröhliche Soundtrack des Glücks drang. Im Erdgeschoss stand die zerkratzte Tür zu Wohnung C offen; damit sie nicht zufiel, hatte man einen Stapel Umzugskisten davorgestellt. Im Vorbeigehen erhaschte Sarah einen Blick auf wuchtige neue Möbel, die wie befangene Gäste in dem Wohnzimmer herumstanden, das sie so gut kannte.

Bilder lehnten gegen ein durchgesessenes Sofa. Gerahmte Drucke, mutig und bunt, ein eindrucksvoller Kontrast zu dem Kalender vom Konfuzius Take-away, der als einziger Schmuck an Sarahs Wänden hing. Sie war eine seiner treuesten Kundinnen, hatte Matt neulich gesagt. Eine Auszeichnung, auf die sie lieber verzichtet hätte.

Ein gerahmtes Hochzeitsfoto stand ganz vorn. Die neuen Bewohner des Hauses lächelten darauf, beide ganz konventionell in Schwarz und Weiß gekleidet, und ebenso konventionell: außer sich vor Freude.

Sarah verzog verächtlich den Mund, ohne dass sie es wollte. Das strahlende Paar konnte ja nichts dafür, dass Sarahs Beziehung zu Wohnung C dazu beigetragen hatte, dass ihre eigene Ehe gescheitert war.

An der Haustür hielt sie inne, als stünde sie an der Grenze zu einem fremden Land, und versuchte, sich an die Pilates-Atmung zu erinnern. Sie wühlte in ihrer besten Handtasche. Ihre Finger ertasteten sofort den Brief, den sie immerzu mit sich herumtrug, selbst wenn sie wie jetzt ungebeten auf einer Beerdigung auftauchte.

Sie kannte die Zeilen des Briefs auswendig. Es gab darin keine Anrede, keinen Gruß, und er war auf eine herausgerissene Tagebuchseite gekritzelt. Nur ein zerfleddertes Stück Papier, aber für Sarah war es unersetzlich. Sie wiederholte den Wortlaut im Kopf.

Wenn ich dich nicht sehen kann, muss ich dir eben schreiben! Ich habe nichts Neues zu erzählen, bloß einen Rat, den du dir zu Herzen nehmen musst. Versprochen? Sei du selbst, weil du, meine süße Sarah, viel mehr bist als bloß gut genug. Und finde in jedem Menschen das Schöne, denn das ist die Zauberformel, die alles wieder in Ordnung bringt.

Kein «Alles Liebe von …» oder so, weil das nicht nötig gewesen war.

Heute wollte sie den zweiten Ratschlag beherzigen und die Schönheit im anderen suchen, in jedem anderen. Nicht nur in den Menschen, die sie mochte, nicht nur in den Menschen, bei denen die Schönheit an der Oberfläche lag.

Dieser Rat – oder war es ein Befehl? – erwies sich in seiner Umsetzung jedoch schwieriger als erwartet. Sarah entdeckte Mavis vor dem Haus. Ganz in Schwarz gekleidet, stand die alte Dame mit Kopftuch an der Bordsteinkante. Ihre mottenzerfressenen Winterstrümpfe schienen das warme Wetter verspotten zu wollen. Sie wandte den Kopf ein wenig zur Seite, als Sarah neben sie trat. Kein Augenkontakt, natürlich: Eine Kleinigkeit wie der Tod verbesserte Mavis’ Manieren nicht. Trotzdem fand Sarah, dass selbst ein solch bärbeißiger alter Drachen wie ihre Nachbarin nicht allein zu einer Beerdigung gehen sollte. Also übersetzte sie Mavis’ Schnauben als Einladung. Als Einverständnis, ihre einzige Schwester, die gefeierte Schriftstellerin Zelda Bennison, von der Queen mit einem Orden ausgezeichnet, gemeinsam mit ihr unter die Erde zu bringen.

Neben den anderen Trauergästen in edlem, schwarzem Leinen und mit ausladenden Hüten glich Mavis in ihrem Mantel aus einem Billigkaufhaus eher einer Putzfrau. Gemäß Zeldas letztem Wunsch waren nur eine Handvoll Trauergäste anwesend, sie alle sahen tief erschüttert aus. Der Tod ist der große Gleichmacher – wenn er kommt, reagieren alle Menschen gleich: ob die Hinterbliebenen nun schick und vermögend waren wie Zeldas Freunde oder wie ihre Schwester eher einem Roman von Charles Dickens entsprungen schienen.

Wie den Zeitungsartikeln der Boulevardpresse zu entnehmen war, hatte die Schriftstellerin niemandem von ihrer rasch fortschreitenden Nervenkrankheit erzählt, nicht einmal ihrem Ehemann, mit dem sie seit zwei Jahren verheiratet war. Zelda war von jenem Besuch bei ihrer Schwester nicht mehr heimgekehrt, sondern ein paar Monate später still und leise im Souterrain des Blauen Hauses verstorben. Sarah hatte Zelda in den ersten Wochen noch kommen und gehen sehen, aber als ihr Zustand immer schlechter wurde, hatte die arme Frau das Haus nicht mehr verlassen.

Mavis stand ein paar Schritte entfernt von den anderen und starrte in den aufgerissenen Schlund des Grabes. Das blasse Gesicht, das unter dem Kopftuch hervorschaute, wirkte nicht untröstlich, sondern vielmehr verärgert, als würde sie am liebsten den Sarg öffnen und Zelda ordentlich zurechtweisen. Jeder Mensch geht bekanntermaßen unterschiedlich mit seiner Trauer um.

Auf der anderen Seite des unheilverheißenden Erdlochs stand ein ungeheuer gutaussehender dunkelhäutiger Mann und tupfte sich die Tränen ab. «Das ist der Ehemann», flüsterte eine Frau hinter Sarah. Der Witwer war über zwanzig Jahre jünger als seine Frau. Aus dem missbilligenden Geraune hinter sich schloss Sarah, dass sie nicht die Einzige war, die dem Mann seinen Kummer nicht abnahm.

Mavis verharrte in ihrer Verdrießlichkeit, als der Sarg ins Grab herabgelassen wurde. Die eleganten Trauergäste blieben von ihr unbeachtet, und noch nicht einmal ihren Schwager begrüßte sie. Obwohl Mavis’ Körpersprache «Lass mich in Ruhe!» schrie, drängte sich Sarah nach vorn und stand schließlich Schulter an Schulter mit ihrer widerborstigen Nachbarin. Sie musste nicht erst auf ihre Psychologiekenntnisse zurückgreifen, um Mavis’ Gefühlslage zu erspüren. Schließlich war sie eine Expertin in Sachen Verlust.

Dad, Smith, Leo – alles Verluste, auf die eine oder andere Art. Jeder Einzelne hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht, fast als ob das Leben ihr einen grausamen Streich nach dem anderen spielen wollte, indem es ihr immer wieder den Boden unter den Füßen wegzog.

Eine Stimme in ihrem Kopf versuchte, ihr einzureden, dass sie sich etwas vormachte, was Mavis anging, dass sie hier nur von sich auf andere schloss und das alte Mädchen ihre Hilfe nicht brauchte. Aber der Brief in ihrer Tasche sagte etwas anderes. Sarah war Smith so dankbar dafür, dass sie es kaum in Worten ausdrücken konnte, und sie beschloss, heute dem Wortlaut des Briefes zu vertrauen und Mavis die Hand zu reichen.

Als sich die kleine Gesellschaft am Ende der kurzen Zeremonie zum Gehen wandte, nahm Sarah Mavis’ Arm, um sie auf dem unebenen Weg zu stützen. Doch Mavis schüttelte sie schweigend ab und ging gebeugten Nackens zwischen den Grabsteinen hindurch, die wie verfaulte Zähne aus der Erde ragten.

Die wenigen Trauergäste folgten der alten Frau zum Blauen Haus. Sie stiegen die Steinstufen zum Eingang hinauf, gingen über den im schwarz-weißen Schachbrettmuster gefliesten Boden der Eingangshalle und die wenigen Stufen zum tristen Souterrain hinunter. Sarah bemerkte, wie sich die Tür von Wohnung D einen Spalt öffnete und dann wieder zugeschlagen wurde – zwischen den Bewohnern der untersten Etage tobte ein stiller Bürgerkrieg.

Als wollten sie betonen, wie ausgesprochen lebendig sie doch noch waren, redeten alle nahezu unablässig. Vor Mavis’ Wohnungstür angekommen, verspürten die Trauergäste plötzlich einen ungeheuren Hunger und Durst auf eine gute Tasse Tee oder etwas Hochprozentiges – ein akutes Bedürfnis anlässlich des makabren Tages.

Mit stillem Optimismus hoffte auch Sarah auf ein Blätterteigtörtchen – ein vollkommen aus der Mode gekommener Klassiker, der inzwischen fast nur noch zu Beerdigungen serviert wurde.

Zeldas Witwer war ohne ein Wort an Mavis verschwunden. Die Frau, die am lautesten geraunt hatte, sagte jetzt zu jedem, der es hören wollte: «Immerhin hatte Ramón den Anstand, sich nicht auch noch bei ihrer Beerdigung in den Vordergrund zu drängen.»

«Ich hätte für sie da sein müssen, als sie starb», sagte eine kleine Frau mit verhärmtem Gesicht. «Wir hätten alle für sie da sein müssen. Warum hat sie ihre Krankheit geheim gehalten? Und warum wollte sie unbedingt hier sterben?»

Zustimmendes Gemurmel kam aus der Gruppe. Alle schienen erschrocken darüber, sich in einer derart bescheidenen Umgebung wiederzufinden.

«Sie ist zu ihrer Familie zurückgekehrt», sagte Sarah und hoffte gleichzeitig, dass Mavis zu beschäftigt damit war, die drei Schlösser ihrer Wohnungstür aufzuschließen, um das Gespräch zu verfolgen. «Das ist doch ganz normal.»

Schlagartig wurde Sarah bewusst, dass sie selbst also nicht normal war, denn sie konnte sich absolut keine Situation vorstellen, die so schrecklich war, dass sie zu ihrer Familie zurückgehen würde. Oder vielmehr zu dem einzigen verbliebenen Mitglied ihrer Familie.

Eine andere Frau flüsterte: «Versehentliche Medikamenten-Überdosis … wer’s glaubt. Die Zelda, die ich kenne –» Sie zögerte einen Augenblick und fasste sich dann wieder. «Die Zelda, die ich kannte, war in allem sehr akkurat. Sie hat nie etwas versehentlich gemacht.»

Die Tür gab endlich nach. Mavis trat in ihre dunkle Wohnung und schloss die Tür unmittelbar hinter sich mit einem lauten Klack wieder zu. Unsicher schaute Sarah zu den anderen, die ihren Blick irritiert erwiderten. Hier und da hörte man ärgerliches Murmeln, dann setzte sich die Gesellschaft in Bewegung und trottete die Stufen zum Erdgeschoss wieder hinauf.

Eine wütende männliche Stimme in Mavis’ Wohnung schrie: «Halt die Klappe, du zähe alte Vettel, sonst mach ich dich ein für alle Mal kalt!»

Sarah war erleichtert, dass die Freunde der verstorbenen Zelda Bennison viel zu gut erzogen waren, um auch nur ein Wort darüber zu verlieren.

Zwei

Kinogänger auf der ganzen Welt kennen Notting Hill. Der Stadtteil mit dem ausgeprägten Selbstbewusstsein versammelt alle Extreme und bietet etwas für alle Geschmäcker und Geldbörsen: Armut und Reichtum, Cool Britannia und Künstlerszene, Feierlaune und junges Unternehmertum.

Während die wenigen Bäume tapfer den Abgasen trotzten, verfielen im Laufe der Zeit die beeindruckenden Häuser, die vor Hunderten von Jahren für die damals wohlhabenden Bewohner erbaut worden waren. Ihre großen Salons wurden aufgeteilt und zu Einraumwohnungen umfunktioniert. Die Gebäude warteten anschließend geduldig darauf, dass die Welle der Gentrifizierung abebbte und sie dem Griff der Single-Mieter wieder entriss. Inzwischen wurden ihre Fassaden zwar restauriert und ihr Inneres häufig in den vormaligen Zustand versetzt, doch musste man nur um eine Ecke biegen, um sich plötzlich in der großflächigen Betonwüste einer Wohnsiedlung wiederzufinden oder vor einem ehemaligen Pferdestall, in dem mittlerweile erfolgreiche Werbefachleute hausten, die für die schicke Adresse gerne auf einen Garten verzichteten. Und wenn sie wollte, musste Sarah nur ein paar Schritte gehen, um exklusive Designermode, bewusstseinserweiternde Drogen oder Pringles wahlweise zu kaufen.

Das Blaue Haus in der Ivy Lane verkörperte perfekt die gespaltene Persönlichkeit des Stadtteils – es war einerseits ein großartiges Beispiel für die Architektur des frühen 19. Jahrhunderts, andererseits jedoch müsste das einst prächtige Blau der Fassade dringend mal wieder gestrichen werden.

Schon an den Fenstern erkannte man die unterschiedlichen Schicksale seiner Bewohner. Die Rahmen von Sarahs Fenstern waren so oft übermalt worden, dass sie sich kaum noch öffnen ließen. Die Scheiben in Wohnung B glänzten im Sonnenlicht, neu angebrachte Fensterläden zogen den Blick auf sich. Eine Etage tiefer sah man hingegen die Rahmen von Wohnung C vor sich hin rotten. Smith hatte sich nie um Renovierungsarbeiten gekümmert.

Sarah ging mit einer Willkommenskarte die beiden Etagen herunter, vom tristen Linoleum und dem Geruch nach Fertigsuppe über einen vornehmen Teppich und den Duft nach Feige und Ylang-Ylang vor Wohnung B bis ins Erdgeschoss.

Seit Smiths Fortgang war Sarah nicht mehr in Wohnung C gewesen. Sie fürchtete sich davor zu sehen, wie sich die einst so vertrauten Räume verändert hatten – ein weiterer Beweis dafür, dass Smith für immer gegangen war.

Die Tür stand offen, das Messing-C neben dem Rahmen glänzte. Eine überaus kleine und zierliche Frau stand mit dem Rücken zu Sarah im Wohnungsflur, die Hände in die Hüften gestemmt, und gab jemandem Befehle, den Sarah nicht sehen konnte. «Nein, nein, nicht dahin, dorthin.» Dank des Aushangs am Schwarzen Brett in der Eingangshalle wusste Sarah, dass diese energische Frau die eine Hälfte von Mr. und Mrs. T. Royce war.

«Hallo?» Sarah klopfte sinnloserweise gegen die offene Tür. Sie spähte ins Wohnzimmer, in dem die kitschige Tapete bereits von einer Schicht weißer Farbe auf ordentlich verspachteltem Putz ersetzt worden war.

Die Frau fuhr herum. Sofort breitete sich ein Lächeln auf ihrem elfenhaften Gesicht aus, und die Augen weiteten sich. «Komm rein, komm rein!» Sie zog Sarah in das Umzugschaos. «Herrje, diese Unordnung überall. Tut mir leid. Wir sind noch mittendrin.»

«Ich bin Sarah, aus …» Sarah deutete nach oben.

«Aus dem Himmel?»

«Aus der obersten Etage.» Sarah lächelte, die Fröhlichkeit der Frau war ansteckend. Sie hielt ihr die Karte hin. «Ich wollte willkommen sagen.»

«Oh, wow!» Die Frau drückte die Karte an die Brust. «Das ist aber nett. Ich heiße Jane. Oh, und das ist …» Sie deutete auf einen großen Mann hinter einem Umzugskarton voller Bücher, der beinahe unter dem Gewicht zusammenbrach. «Oh Gott, ich habe deinen Namen vergessen», sagte Jane und verzog bedauernd das Gesicht. Sie wandte sich wieder an Sarah und lachte. «Aber ihr kennt euch ja. Das ist Mr. Wohnung B.»

«Leo. Ja, wir kennen uns.» Sarah nickte ihm zu. Seine Haare waren verschwitzt.

«Brauchst du mich noch, Jane?», fragte Leo und wischte sich die Stirn ab. Die beginnende Wölbung unter seinem Hemd zeigte, dass er nicht mehr ganz so fit war wie früher, und er wirkte ausgesprochen dankbar, als Jane ihn entließ.

«Ich hab den armen Kerl im Treppenhaus abgefangen.» Jane hakte sich bei Sarah ein. «Und irgendwie habe ich das Gefühl, er fand es toll, wie ich ihn herumkommandiert habe.» Sie lachte. «Also, wenn ich mir sein hübsches Frauchen angucke, bekomme ich so eine Ahnung, wer in der Beziehung die Hosen anhat. Designerhosen muss man wohl sagen. Attraktiv ist er natürlich. Das heißt, wenn man Männer in Cordhosen und mit Internatserziehung mag – mein Fall ist er nicht. Ich bin für so was überhaupt nicht anfällig. Wenn du meinen Mann kennenlernst, verstehst du, was ich meine.»

Sarah hatte das Gefühl, sofort ein Teil von Janes Leben zu sein. Sie selbst neigte dazu, sogar den Kauf eines neuen Toasters zum Gegenstand tagelanger Überlegungen zu machen, und genoss Janes Umstandslosigkeit daher sehr.

«Hier. Mach dich ein bisschen nützlich, ja?» Jane gab Sarah einen Arm voller Bücher. «Stell die mal in die Regale. Die Reihenfolge ist egal.»

Das neue Regal stand an der Wand, an der bei Smith billige Matisse- und Hockney-Drucke gehangen hatten, neben einem verblichenen Bilderstreifen aus dem Passfotoautomaten. Sie und Smith, kichernd und ein bisschen blau.

Sarah hielt ein Taschenbuch in die Höhe. «Hast du das gelesen?» Es war ein Chefinspektor-Shackleton-Krimi. Sogar Leute, die niemals auch nur eins der vierzehn Shackleton-Bücher gelesen hatten, kannten die Autorin Zelda Bennison aus der gleichnamigen Fernsehserie.

«Ich habe alles gelesen, was Zelda Bennison geschrieben hat. Meine absolute Lieblingsautorin. Ein echter Verlust, dass sie letzte Woche gestorben ist.» Janes Lächeln verschwand. «Wusstest du, dass sie eine Nervenkrankheit hatte, die sie vor allen geheim hielt? Das hat doch wirklich Stil, oder? Trotzdem ist es eine tragische Geschichte. Sie verlor langsam ihr Gedächtnis und nahm dann zu viele Tabletten. Es ist furchtbar, sich vorzustellen, wie sehr sie gelitten haben muss. Zu spüren, dass sie vor ihrem Tod derart verfiel.»

«Die Trauerfeier gestern hier im Haus … Das war Zelda Bennison.»

Jane schien nicht zu verstehen, also fügte Sarah erklärend hinzu: «Sie war Mavis’ Schwester. Mavis ist –»

«Die alte Schachtel im Souterrain?» Jane fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. «Zelda Bennison war ihre Schwester? Aber sie ist …»

«Grauenvoll.» Anders konnte man es nicht ausdrücken. Denn Mavis gab sich in der Tat alle Mühe, grauenvoll zu sein – und sie hatte es darin zu einer gewissen Meisterschaft gebracht.

«Hast du Zelda mal kennengelernt?» Jane schien die Vorstellung aufregend zu finden. «Offenbar war sie eine ganz tolle Person.»

Doch Sarah musste Jane enttäuschen, sie hatte Zelda nur ein- oder zweimal von weitem gesehen. Wie ein gut angezogener Geist war sie durch das Treppenhaus gehuscht, zart und alterslos – das absolute Gegenteil ihrer Schwester. «Sie ist am Ende gar nicht mehr vor die Tür gegangen. Da war sie vermutlich schon sehr krank.» Mavis war ständig umhergehastet, gehetzt und voller Angst. Ihre Hingabe hatte Sarah überrascht.

«Standen die beiden sich nahe?»

«Mavis behauptet, Zelda habe sie im Stich gelassen, als sie berühmt wurde.» Sarah tat es jetzt leid, dass sie die Autorin nicht kennengelernt und ihr gesagt hatte, wie sehr sie ihre Arbeit bewunderte. Sterben war sicher für niemanden ein Spaß, aber in Mavis’ Souterrainwohnung zu sterben, musste ganz besonders furchtbar sein.

«Zelda Bennison war ein Genie», sagte Jane. «Und offenbar haben die Schwestern sich vor ihrem Ende noch versöhnt.» Der Gedanke schien ihr zu gefallen. «Ich muss Mavis unbedingt mal nach ihrer Schwester fragen.»

«Ehrlich gesagt, würde ich das lieber nicht tun.»

«Meinst du? Vielleicht hast du recht. Ich habe gehört, wie sie einen Mann angeschrien hat. Ihren Mann vermutlich.»

Einen Mann an Mavis’ Seite gab es nicht, das wusste Sarah. Die Vorstellung, dass Mavis Herrenbesuch gehabt haben könnte, amüsierte sie. «War es ein unangenehmer Streit mit vielen Flüchen? Hat er sie einen mageren alten Vogel genannt?», fragte Sarah.

«Genau. Ich hätte mich beinahe eingemischt.»

«Das war Pick, ihr Kakadu. Sie hat ihn offenbar nach ihrem Lieblingshobby benannt: mit dem Schnabel nach anderen hacken.» Der Vogelkäfig, ein riesiges verschnörkeltes Ding, nahm fast den ganzen Flur von Mavis’ Wohnung ein. «Seit Zeldas Tod ist er noch viel lauter und angriffslustiger.»

Sie hörten die Wohnungstür schlagen. Jane schaute über Sarahs Schulter und strahlte den hochgewachsenen Mann an, der eine Imbiss-Tüte hochhielt, als wäre es die olympische Flamme.

«Tom! Schau mal, das ist unsere Nachbarin Sarah. Sarah, bleibst du zum Essen?», fragte Jane. «Kein normaler Mensch sagt nein zu Pommes.»

Das «T» auf dem Klingelschild stand also für Tom.

«Pommes mit Erbsenpüree», fügte er lächelnd hinzu. «Und köstlichen eingelegten Zwiebeln.»

Sarah nickte erfreut. Sie konnten ausgesprochen gut lächeln, diese Royces. Und Sarah verstand augenblicklich, warum sich Jane für andere Männer nicht interessierte. Tom wirkte geradeheraus und sehr sympathisch. Er hatte breite Schultern und, wie Sarah fand, einen schönen, beinahe edlen Kopf. Das wellige kastanienbraune Haar war aus seiner Stirn gekämmt, die hellbraunen Augen wirkten amüsiert. Er war ein sehr gutaussehender Mann.

«Setz dich, setz dich.» Jane wedelte mit den Händen und schob ein paar Zeitungen vom Sofa. «Aber hier gibt’s keine Teller. Pommes schmecken schließlich direkt aus der Tüte am allerbesten.»

Das spontane kleine Picknick war sehr gemütlich. Jane sorgte dafür, dass keine Gesprächspausen entstanden, und erzählte, dass Tom das Sofa, auf dem Sarah saß, selbst gepolstert hatte.

«Inklusive Paspeln!» Er lachte.

«Ich bin beeindruckt», sagte Sarah und blies auf ein paar Pommes, um sie abzukühlen. Sie hatte noch nie einen Mann kennengelernt, der wusste, was Paspeln waren, und schon gar keinen, der sie sogar selbst nähen konnte. Auf die Nachfrage ihrer Gastgeber, wie lange sie schon in der Ivy Lane wohne, erzählte Sarah, dass es nun schon zwei Jahre seien und ihre Wohnung einen ähnlichen Grundriss habe wie diese, aber glücklicherweise weiter von der ständig auf- und zuklappenden Haustür entfernt sei. Dabei erinnerte sie sich daran, dass Smith einmal mit schiefem Grinsen angekündigt hatte, sich eines Tages noch eine Portiersuniform anschaffen zu wollen.

«Diese Wohnung zu finden, war ein absoluter Glücksfall.» Jane nannte einen Kaufpreis, der jeden Hausbesitzer außerhalb der Großstadt hätte erstarren lassen, aber in den Ohren eines Londoners wie ein echtes Schnäppchen klang. «Das Haus ist einfach wundervoll.»

«Ist es das?», fragte Sarah lächelnd. Ähnlich wie in einer Langzeitbeziehung musste sie erst überlegen, was ihr damals am Blauen Haus eigentlich so gefallen hatte.

«Wir haben so viele Pläne für diese Wohnung.»

Und jede einzelne Veränderung würde Smith weiter in die Vergangenheit rücken, dachte Sarah.

«Seht euch doch nur mal die Wandfriese an.» Jane schwenkte eine eingelegte Zwiebel in Richtung Decke. «Und die breiten Dielen.» Sie seufzte träumerisch. «Und den alten Marmorkamin.»

«Jane ist Immobilienmaklerin», erklärte Tom. «Deshalb versetzen sie schöne Fußbodenleisten in Ekstase.»

Jane gab ihm einen Klaps auf den Oberarm. «Jetzt sei nicht so unverschämt! Ich suche das passende Haus für meine Kunden», erklärte sie Sarah. «Für reiche Idioten, die keine Zeit haben, selbst zu suchen.»

«Hoffentlich steht es nicht genau so auf deiner Website», bemerkte Sarah spöttisch. Ihre Gastgeber wechselten einen anerkennenden «Die gefällt uns»-Blick.

«Offiziell heißt es Immobilienfachberaterin. Ich habe gerade einen neuen Kunden gewonnen. Der Typ hat säckeweise Geld und sucht ein Herrenhaus in Suffolk, also werde ich diesen Sommer durch den Osten Englands gondeln.»

«Klingt lustig.»

«Du kannst gerne mal mitkommen.»

Tom machte ein missbilligendes Geräusch. «Jane. Sarah hat vielleicht auch noch ein eigenes Leben, einen Job und so.»

«Und ich könnte schließlich auch eine Axtmörderin sein, das weißt du ja gar nicht.» Sarah fragte sich, seit wann sie so schlagfertig war. Auf jeden Fall bewunderte sie Janes impulsives Wesen – sie selbst war eigentlich eher zögerlich, was neue Bekanntschaften anging.

«Na, wir müssen doch Freundinnen werden, oder?», sagte Jane. «Jetzt, da wir im selben Haus wohnen.»

Bisher hatte das so zwar noch nie funktioniert, dachte Sarah, aber sie musste lachen und nickte. Als Jane dann fragte, ob das Blaue Haus ein freundliches Haus sei, schwieg sie zunächst, woraufhin Tom zu Jane sagte: «Da hast du deine Antwort!»

«Es ist eben typisch London», verteidigte Sarah die Ehre des Hauses. «Man mischt sich nicht ein bei den Nachbarn.»

«Aber du redest immerhin mit Mavis.» Jane gab sich Mühe, doch noch eine zufriedenstellende Antwort zu bekommen.

«Mavis schimpft eigentlich eher mit mir, als dass wir uns unterhalten.»

«Und was ist mit den anderen Nachbarn?» Jane zerknüllte ihr Pommespapier. Ganz offensichtlich hatte sie jetzt Appetit auf Neuigkeiten. «Gibt es irgendwelchen Klatsch?»

«Jane …» In Toms Tonfall lag eine sanfte Warnung. «Zieh doch erst mal richtig ein, bevor du dich in die Privatsphären deiner Mitbewohner drängst, okay?»

«Ach, sei doch ruhig.» Jane schaffte es, Ärger und Zuneigung geschickt miteinander zu verbinden.

Sarah beneidete die Royces um diesen selbstverständlichen und gleichzeitig liebevollen Umgang und das Selbstbewusstsein, das aus einer glücklichen Ehe erwächst.

«Klatsch liegt mir nicht so», erklärte sie schließlich.

«Blödsinn.» Jane war wie ein Labrador: verspielt, aber jederzeit in der Lage, den anderen umzuwerfen. «Jeder mag Klatsch. Wohnung B zum Beispiel. Dieser feine Pinkel und seine sexy Frau. Wie sind die so?»

«Die sind erst seit vier Monaten verheiratet», antwortete Sarah. «Er ist Antiquitätenhändler und besitzt diesen großen Laden im Viertel, das Old Church. Sie ist Innenarchitektin. Helena Moysova. Vielleicht habt ihr schon von ihr gehört.»

«Das hätte ich jetzt auch googeln können.» Jane klang enttäuscht.

«Siehst du? Hab ich doch gesagt. Nicht so meine Baustelle.»

Tom, der aus dem Zimmer gegangen war, erschien mit einem Hammer. «Jane wird es dir schon beibringen.»

«Er ist sehr praktisch veranlagt», sagte Jane mit einem Blick auf ihren Mann. «Der Typ aus Wohnung B scheint das auch zu sein, wenn du mich fragst.»

Sarah nickte lediglich. Sie war erleichtert, als Jane endlich die Wohnungen im Souterrain aufs Korn nahm.

«Wer wohnt denn Mavis gegenüber? Die junge Frau mit ihrem kleinen Mädchen, oder? Dort riecht es irgendwie nach Traurigkeit.»

«Das ist Lisa.» Sarah bemühte sich, alles hervorzukramen, was sie wusste. «Sie hat dort früher mit einem Typen namens Graham zusammengelebt, der ist aber irgendwann ausgezogen, nachdem sich die beiden lange Zeit lautstark gestritten hatten.»

«Arme Frau.» Jane schüttelte den Kopf über die Grausamkeit des Lebens im Allgemeinen und über die der Männer im Besonderen. «Wie kommt sie denn zurecht?»

Sarah wusste es nicht. Sie war zu sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt gewesen, und sie kannte Lisa auch kaum.

«Ich lade sie mal zu einem Glas Rosé ein», sagte Jane. «Vielleicht kann ich auch mal babysitten, wenn sie mal ausgehen und ihre Sorgen ertränken möchte.» Die entwaffnend offene Art, wie Jane auf ihre Mitbewohner zuging, war so ganz und gar nicht London. «Wie heißt denn die Kleine?»

Es war Sarah peinlich, dass sie auch das nicht wusste. Mehrmals in der Woche begegnete sie dem Kind, aber es huschte immer nur gesenkten Kopfes an ihr vorbei.

«Sie leben ziemlich für sich.» Mehr fiel ihr nicht ein.

Als einzige Tochter einer alleinerziehenden Mutter hätte sich Sarah ruhig engagierter zeigen könnten. Aber vielleicht war ihre eigene Familiengeschichte auch genau der Grund, aus dem sie die beiden zu meiden versuchte.

«Und du?», fragte Jane und sah Sarah aufmerksam und fast ein wenig listig an. «Was läuft bei dir unterm Dach so?»

«Ich bin Psychologin.» Sarah musste lächeln, weil Jane so beeindruckt wirkte. «Kinderpsychologin, um genau zu sein.»

«Ein ausgesprochen nützlicher Mensch», sagte Tom anerkennend.

Vielleicht war sie das mal gewesen. Sarah wollte nicht lügen, aber es war ihr zu früh, um vor diesen Fremden all die Dramen der letzten Monate auszupacken. «Kennt ihr das St. Chad’s?», antwortete sie deshalb ausweichend. «Eine große Klinik ein paar Straßen weiter. Wir haben es hauptsächlich mit Sucht- und Traumabehandlung zu tun, für Kinder und Heranwachsende.»

«Wow, das ist toll», sagte Jane.

«Na ja. Wir haben leider überhaupt kein Geld und zu wenig Personal. Der Klassiker. Aber wir geben unser Bestes.»

«Das ist sicher sehr befriedigend.» Tom klang fast ein wenig neidisch.

«Das ist es.» Sarah spürte die Wahrheit in dieser schlichten Bestätigung. «Ja, das ist es wirklich.» Beziehungsweise: Es war befriedigend.

«Wusste ich’s doch, dass du zu den Guten gehörst», lachte Jane.

«Jetzt sieh dir mal an, wie stolz sie auf deine Karriere ist. Als wäre es ihre eigene», sagte Tom.

Jane achtete nicht auf seinen Einwurf und stellte die Frage, vor der sich Sarah schon die ganze Zeit gefürchtet hatte. «Und bist du liiert, Sarah?»

«Du musst nicht darauf antworten», sagte Tom entschuldigend.

«Leider nein», sagte Sarah lächelnd.

«Was! Das glaube ich nicht. So eine schlaue und sympathische Frau. Mit diesen wundervollen Haaren und dem hübschen Gesicht?» Jane klang fast wie eine liebevolle Großmutter. «Außerdem stehen Männer doch auf Frauen mit einer Zahnlücke, oder? Und dann dieser Schlafzimmerblick, ich bitte dich!»

Sarah errötete ob des Komplimenteregens. Sie hatte tatsächlich das, was man gemeinhin als schwere Lider bezeichnete. Trotzdem hatten diese Augen mit ihren langen Wimpern eine ganze Weile schon niemanden mehr in ihr Bett gelockt.

«Also, wenn ich ein Mann wäre», sagte Jane entschieden, «würde ich mich sofort in dich verknallen. Tom? Du etwa nicht?»

«Wenn ich ein Mann wäre, meinst du?» Tom zwinkerte Sarah zu, und plötzlich hatte sie den Mut, es zum ersten Mal laut auszusprechen.

«Ich bin geschieden.» Innerlich zuckte sie zusammen, als sie Janes bestürzten Gesichtsausdruck sah. «Es tut noch ziemlich weh, um ehrlich zu sein.»

«Wie lange ist es her?», fragte Jane ganz ernsthaft.

«Erst fünfeinhalb Monate.» Sarah hätte es ihnen auf die Minute genau sagen können. «Aber eigentlich», fügte sie schnell hinzu, «ist es eine ziemlich lustige Geschichte. Jetzt hab ich doch noch ein bisschen Klatsch für euch.»

Die Royces beugten sich aufmerksam vor, als Sarah ihnen erzählte, dass der praktisch veranlagte Leo aus Wohnung B ihr Exmann war. Und dass er eine Affäre mit der jüngeren Helena angefangen hatte, nachdem diese in die Wohnung unter ihnen eingezogen war. «Tja, irgendwann habe ich es herausgefunden. Wir haben gestritten. Ich dachte danach, unsere Beziehung sei wieder im Lot. Aber nein. Ein paar Monate später ließ er sich von mir scheiden, um mit ihr zusammenzuleben.» Smith ließ sie fürs Erste aus. Egal, was die Stimme in ihrem Kopf sagte und was Leo immer behauptet hatte: Smith war nicht das Problem gewesen. «Zwei Wochen nach dem Scheidungsurteil haben sie geheiratet. Und jetzt wohnt mein Exmann mit seiner neuen Frau in der Wohnung unter mir.»

Nach einem längeren Schweigen sagte Jane schließlich: «Ich finde das überhaupt nicht lustig», und breitete ihre Arme aus.

Drei

Sarah stand gedankenverloren am Tresen des Konfuzius Take-away. Ihre Sohlen klebten am schäbigen Fußboden. Sie kannte das Menü in- und auswendig und konnte heute absolut nichts finden, was ihren Appetit angeregt hätte. Also kaufte sie schließlich eine Portion Bratnudeln, die ihr wie gewöhnlich schwer im Magen liegen und ihren Tag vollends ruinieren würden.

Auf dem Weg nach Hause hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. Sarah drehte sich um und sah Keeley über den Zebrastreifen rennen. Ihre unzähligen Zöpfchen mit den Perlen daran hüpften dabei wild auf und nieder.

«Hey. Auf dem Weg ins St. Chad’s?», fragte Sarah.

«Wohin sonst?» Ihr karibischer Einschlag klang zart und verbarg die beeindruckende Stärke dieser Frau. Sie deutete auf Sarahs mit Farbe bespritzten Arbeitsoverall. «Und du gehst die Sache also jetzt an.»

«Ja. Wie geht es Nadia?» Sarah musste einfach fragen.

«Oh nein.» Keeley drohte ihr ironisch mit dem Finger. «Du wolltest das Sabbatjahr, meine Liebe, und du hast es bekommen.» Doch als sie Sarahs enttäuschten Gesichtsausdruck sah, lenkte sie ein. «Nadia ist bei deiner Vertretung in guten Händen. Diese Dinge brauchen einfach ihre Zeit. Wenn du es wirklich wissen willst …»

«Ich kann noch nicht zurück. Noch nicht.»

«Schon gut, schon gut», sagte Keeley beschwichtigend, aber Sarah kannte sie und wusste genau, was ihr auf der Zunge lag. Sie wollte, dass Sarah zurückkam und sich ihren Ängsten stellte. Keeley war es gewesen, zu der Sarah gegangen war, als sie nicht mehr weiterwusste.

«Ich kann nicht mehr», hatte Sarah damals geflüstert und Keeley dabei verzweifelt umklammert. Keeley hatte sie zurück in den Beratungsraum geführt, wo die zehnjährige Nadia mit dem leeren Blick eines zertrampelten Gänseblümchens wartete.

Das Kind war enttäuschendes Verhalten von Erwachsenen gewöhnt, doch dass Nadia nicht einmal mit der Wimper zuckte, als ihre vertraute Psychologin plötzlich aus dem Zimmer rannte, erschütterte Sarah nur noch mehr. Nun war sie nur eine weitere Person auf einer langen Liste von Erwachsenen, die Nadia im Stich gelassen hatten.

Man hatte sich um das Kind gekümmert, und Keeley hatte Sarah auf einen Stuhl gesetzt, ihr einen Tee gemacht und sie weinen lassen. «Lass alles raus, Liebes», hatte sie gesagt und ihr den Arm gestreichelt.

Stammelnd und kaum verständlich hatte Sarah ihre Reaktion zu erklären versucht. «Es ist, als stünde ich an einem Ufer des Flusses und Nadia am anderen. Ich kann sie sehen, aber ich bin unfähig, sie herüberzuholen.» Und Sarah wusste, dass es nur ihr Egoismus war, der sie von diesem Kind trennte, das sie so sehr brauchte. «Ich kann einfach keine Verbindung mehr herstellen, Keeley. In mir ist ein großes schwarzes Loch, und das schluckt meine Fähigkeit, auf die Kinder zuzugehen.»

Keeley war ganz ruhig geblieben, obwohl Sarah beinahe hysterisch gekreischt hatte.

«Erzähl mir mal von den letzten paar Wochen, Schätzchen.»

Es war schmerzhaft gewesen, alles noch einmal zu durchleben. Die Entdeckung der Affäre. Smiths Krankheit. Dann der Verlust von Leo und Smith mit einem Schlag.

«Dein Selbstvertrauen ist erschüttert.» Keeley hatte so sicher geklungen, das tat sie immer. Sie hatte ihr vierzehn Tage Sonderurlaub verschrieben. Schlaf. Einen Kurztrip an einem Ort, wo die Luft rein war und niemand Anforderungen an sie stellte.

Den Großteil der Zeit hatte Sarah jedoch damit verbracht, ihre Kündigung zu formulieren.

«Auf gar keinen Fall», war Keeleys Reaktion gewesen. Sie hatte den Brief in Fetzen gerissen. Schließlich hatten sie sich als Kompromiss auf ein Sabbatjahr geeinigt.

Jetzt, nachdem schon drei der vereinbarten zehn Monate vergangen waren, sah Keeley sie sanft an. «Hör mal, die Störungen bei Nadia haben sich inzwischen normalisiert.»

«Die Störungen, die ich verursacht habe.»

«Herrje, Sarah, ich hasse es, wenn du diese selbstmitleidige Tour fährst.» Keeley war offenbar unter Stress, nur dann war ihr Geduldsfaden so dünn. «Du hattest einen kleinen Zusammenbruch, Schätzchen. Das passiert eben. Ein Burnout. Das bedeutet nicht, dass du –»

«Stop! Ich bin nicht bei dir in Therapie, Keeley. Du brauchst mich nicht zu analysieren.»

Sie gingen schweigend an der Reinigung, dem Schlachter und einem Ein-Pfund-Shop vorbei, bis Sarah endlich hervorbrachte: «Sorry. Das war unangebracht.»

«Verdammt richtig.» Keeley war zwar voller Mitgefühl, besaß aber auch ein sehr rationales Urteilsvermögen. Mit dieser Kombination konnte sie beeindruckend gut auf Menschen eingehen.

«Ich bin nicht mehr die, die ich mal war, Keeley.» Sarah schwitzte in ihrem unförmigen Arbeitsoverall. «Ich bin nutzlos für St. Chad’s. In mir ist nur noch eine große Leere. Ich weiß, was ich zu tun habe, aber es fühlt sich an, als ob ich es in einer Anleitung läse. Ich bin nicht mit dem Herzen dabei. Wir arbeiten mit Kindern, Keeley. Wie kann ich sie bitten, sich auf mich zu verlassen? Wie soll ich ihnen in diesem Zustand helfen?»

Keeley schwieg. Sie beide teilten die Leidenschaft für St. Chad’s und die Freude daran, etwas für die Kinder bewirken zu können. Ihr Beruf war gleichermaßen fordernd wie wichtig, und doch wurden sie nur sehr schlecht bezahlt. Was sie antrieb, war die Überzeugung, das Leben Einzelner verbessern zu können.

«Wie wäre es denn, wenn du für ein paar –»

«Nein.» Warum wollte Keeley ihr einfach nicht zuhören? «Ich kann es hier nicht mehr fühlen.» Sarah hämmerte mit der Faust gegen ihre Brust. «Als ich mit Nadia gearbeitet habe, war es wie in einem dieser Albträume, in denen man plötzlich ein Flugzeug landen muss. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, welche Knöpfe ich drücken musste.» Einen wilden Moment lang hatte Sarah sogar überlegt, Nadia einfach in ihre Arme zu nehmen und mit ihr durchzubrennen. Diesen irrsinnigen Gedanken hatte sie ihrer Vorgesetzten jedoch lieber verschwiegen.

Eine Taube zockelte vor ihnen her, als sie die Ecke erreichten, an der sich ihre Wege trennten. «Warum glaubst du, deine eigene Trauer hielte dich davon ab, eine Beziehung zu den Patienten aufzubauen? Sie sind auch traurig. Nutze deinen Schmerz. Du bist eins meiner besten Pferdchen. St. Chad’s braucht dich.»

«Setz mich nicht unter Druck, Keeley. Ich will dich ja nicht im Stich lassen …»

«Das habe ich nicht gesagt.»

«Aber du hast es gemeint. Ich kann nicht, okay? Ich habe noch sieben Monate, bis ich zurückkomme.»

«Immerhin», sagte Keeley und deutete auf die unregelmäßigen Farbspritzer auf Sarahs Arbeitsoverall, «kommst du mit deiner Wohnung weiter.»

«Hmm.» Einem plötzlichen Impuls folgend, warf Sarah ihr fettiges Imbissgericht in den nächsten Mülleimer.

«Du fehlst mir», sagte Keeley und trat auf die Straße.

«Ich fehle mir auch.»

Das ließ Keeley plötzlich stehen bleiben, sodass ihr ein Fahrradfahrer mit windschnittigem Helm abrupt ausweichen musste. «Oh. Ähm. Ups!», rief sie entschuldigend. «Pass auf, dass du nicht in deinem eigenen Selbstmitleid ertrinkst, meine kleine Drama-Queen.» Dann rannte sie noch mal zurück auf den Bürgersteig und umarmte Sarah ganz fest. «Komm zurück», flüsterte sie. «Du musst gar nicht perfekt sein. Du musst nur du sein.»

Die Fenster von Wohnung C standen offen, und man hörte, dass drinnen gestaubsaugt wurde. In der Etage darüber waren die Rollläden heruntergelassen. Auf dem Bürgersteig sortierte ein Briefträger im Sonnenlicht blinzelnd seine Post.

Sarah dachte über Keeleys Worte nach und wie sehr sie dem glichen, was in jenem Brief stand.

Sei du selbst, weil du, meine süße Sarah, mehr als gut genug bist.

«Bei Wohnung E macht keiner auf», sagte der Briefträger und drückte Sarah ein Paket in die Hand.

«Aber …», sagte Sarah zu seinem Rücken, der sich bereits entfernte. Der Mann hatte ja keine Ahnung, dass er sie damit zu einer Unterhaltung mit dem Hausdrachen verdammt hatte. Die Haustür öffnete sich, und zwei Gestalten traten ins Sonnenlicht.

«Hallo, Lisa», sagte Sarah beinahe trällernd.

Jane wäre stolz auf mich.

«Und wie heißt du eigentlich?» Sarah beugte sich zu dem Mädchen herunter, dessen braune Kulleraugen aus einem runden Gesicht mit kleiner Stupsnase in die Welt schauten.

«Das ist Una.» Lisa sah mit unbewegtem Gesicht auf ihre Tochter herunter.

Sarah konnte die Frau einfach nicht einschätzen, und das verunsicherte sie.

«Und wo geht ihr jetzt hin, Una?»

Seit sie nicht mehr im St. Chad’s arbeitete, hatte Sarah mit keinem Kind mehr gesprochen. Aber der ruhige, freundliche Tonfall, ohne erschreckende hohe oder tiefe Töne, kam ihr ganz automatisch über die Lippen.

Una ließ Sarah nicht aus den Augen, während sie an einem Knopf an ihrem gesmokten Kleid herumnestelte.

«Geben Sie sich keine Mühe», sagte Lisa. «Das Kind hier spricht nicht mehr.»

«Ach, wirklich?» Sarah versuchte, nicht überrascht zu klingen.

«Ja, wirklich», erwiderte Lisa und presste die Lippen zusammen.

Sarah dachte hastig nach. Es wäre Wahnsinn, sich einzumischen. Die Parallelen waren einfach zu deutlich. Mitgefühl mit dem Kind einer alleinerziehenden Mutter zu zeigen, war das eine, aber jetzt sah Una Sarah mit einem Blick an, der sie plötzlich an den Ort erinnerte, den sie einst so voller Erleichterung verlassen hatte.

«Könnten Sie ihr nicht helfen?», fragte Lisa entkräftet. «Professionell, meine ich. Sie sind doch so ein Kinder-Dingsbums, oder?»

«Ich bin allerdings ein Kinder-Dingsbums.» Aber diese Angelegenheit war viel zu nah an ihr dran, räumlich wie thematisch. «Lisa, das kann ich leider nicht, es ist ein bisschen …»

Der kurze Hoffnungsschimmer in Lisas müdem Gesicht erlosch. «Vergessen Sie es einfach.» Damit hastete sie an Sarah vorbei.

«Warten Sie.» Sarah spürte, wie sie einknickte. Sie konnte das Kind nicht einfach sich selbst überlassen. «Natürlich kann ich helfen.»

«Danke», formte Lisa stumm mit den Lippen.

«Nehmen Sie diese Karte.» Sarah wühlte sich durch die alten Bons und Verpackungen in ihrer Tasche, bis sie endlich eine Visitenkarte fand und sie Lisa reichte, die sie neugierig studierte.

«Sagen Sie ihm, dass ich Sie geschickt habe. Er ist einer der Besten.»

Lisa senkte den Blick. «Ich dachte … okay. Danke.»

«Rufen Sie ihn an!», rief Sarah ihr hinterher. Lisa zog Una mit sich. Sarah schaute ihnen nach, bis sie außer Sicht waren. Sie wusste, dass sie das kleine Gesichtchen den ganzen Tag nicht vergessen würde.

Nachdenklich schloss sie die Haustür auf. Sie hätte Mavis’ Paket auch auf den Tisch in der Eingangshalle legen können, aber ihr schlechtes Gewissen zwang sie, nach unten zu gehen. Aus Wohnung E drangen kehlige Drohungen – vermutlich wieder Pick. Sarah sprang erschrocken zurück, als die Tür aufflog.

«Was haben Sie denn hier zu suchen?»

«Nichts. Nur …» Sarah hielt ihr das Paket hin.

«Ah. Das ist freundlich von Ihnen», sagte Mavis.

Erstarrt durch die ungewohnte Höflichkeit, stand Sarah da und schwieg.

«Sonst noch was?» Die winzigen blauen Äuglein huschten lebhaft hin und her, und zum ersten Mal sah Sarah die Reste vergangener Schönheit in Mavis’ Gesicht.

Hinter seinem Frauchen hüpfte Pick ärgerlich auf seiner Stange herum und fixierte die Besucherin misstrauisch. «Dummkopf», schrie er und sträubte die makellos weißen Federn auf seinem Kopf.

«Wie geht es Ihnen, Mavis?» Sarah musste nun doch fragen. Diese Frau, egal wie schrullig sie auch war, hatte immerhin gerade ihre Schwester verloren.

«Was glauben Sie denn, wie es mir geht?», versetzte Mavis.

Sarah ging über den barschen Ton hinweg und antwortete sachlich: «Ich vermute, dass Sie traurig sind. Vielleicht stehen Sie auch noch unter einem gewissen Schock. Viele Menschen werden nach solchen Erlebnissen ärgerlich oder fühlen sich schuldig.»

«Schuldig?» Mavis schien das Wort geradezu auszuspucken. «Warum sollte ich mich schuldig fühlen?»

«Das ist ganz normal», erklärte Sarah. «Als mein Vater starb –»

«Das hat überhaupt nichts mit meiner Situation zu tun.» Zitternd vor Wut, trat Mavis einen Schritt in das Dämmerlicht ihrer Wohnung zurück.

«Natürlich nicht, nein.» Schon bereute sie es, Mavis einen Rettungsring zugeworfen zu haben. «Tut mir leid, ich …»

Die Tür war bereits halb geschlossen, aber die Frau hatte ihren glühenden Blick noch immer auf Sarah gerichtet. Es lag Wut darin, zweifellos, aber Sarah erkannte noch etwas anderes und wagte einen mutigen Schritt: «Hören Sie, man kann sich nach derartigen Erlebnissen einsam fühlen, und auch ich wohne da oben allein. Ich wollte eh gleich Mittag essen, vielleicht möchten Sie ja …»

Die Tür wurde mit einem derart heftigen Knall zugeschlagen, dass das Messing-E auf den fleckigen Teppichboden fiel.

Offiziell nannte Sarah den Zustand von Wohnung A «in der Renovierung befindlich», aber ehrlicher wäre es gewesen, ihn «Großbaustelle» zu nennen.

Diese Dachwohnung hatte eigentlich nie ihr Zuhause werden sollen. Sie hatten vorgehabt, sie möglichst schnell weiterzuverkaufen. Leos Plan hatte ganz simpel geklungen:

«Das bedeutet einfach nur, dass wir eine heruntergekommene Wohnung in einer guten Gegend kaufen. Wir setzen uns ein strenges Budget, renovieren sie schnell und statten sie mit allem aus, was im Moment so gewünscht wird. Zum Beispiel einem begehbaren Kleiderschrank, einem an das Schlafzimmer angrenzenden Badezimmer und einem Gasherd. Und dann, bumm!, verkaufen wir sie wieder. Rein und wieder raus. Mit einem Riesenprofit. Weiterziehen und die ganze Sache wiederholen. Dann haben wir bald genug Geld, um dein Traumhaus zu kaufen.»

Vor Leo war Sarahs Traumhaus eben genau das gewesen: ein Traum. Aber mit ihm hatte sie das Gefühl, ihn tatsächlich verwirklichen zu können. Es würde einen Garten geben und einen offenen Kamin. Überall wären Kissen und Bücher. Sarah wollte keine Villa, sie wollte ein Heim.

Stattdessen steckte sie jetzt mitten in dieser misslungenen Weiterverkaufsaktion und musste jeden Tag auf die unfertige Arbeit schauen, deren Bewältigung schon für zwei Leute eine recht ehrgeizige Aufgabe gewesen wäre, für einen allein aber vollkommen unmöglich schien.