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Der neue Roman von Spiegel-Bestsellerautorin Juliet Ashton behandelt die großen Frauenthemen: Liebe, Familie, Muttersein, Glück - und wartet mit überraschenden Wendungen und zahlreichen Menüvorschlägen auf. Immer wieder Sonntags trifft sich die 40-jährige Anna mit ihrer bunten Familie zum Essen. Stets dabei sind ihre drei Geschwister, die geliebte Oma - und ihr Exmann. Manchmal wird Wichtiges verschwiegen, manchmal werden die falschen Worte benutzt, aber am Ende freuen sich alle auf den Nachtisch. An diesem Sonntag lässt Dauersingle Anna jedoch die Bombe platzen: Sie ist schwanger. Der Vater: ein One-Night-Stand. Auch wenn die Familie hinter ihr steht - mit einem eigenen Kind hat auch Anna nicht mehr gerechnet. Und erst recht nicht damit, sich schon beim nächsten Sunday Lunch neu zu verlieben …
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Seitenzahl: 470
Veröffentlichungsjahr: 2020
Juliet Ashton
Roman
Der neue Roman von Spiegel-Bestsellerautorin Juliet Ashton – charmant, berührend, sehr unterhaltsam
Immer wieder sonntags trifft sich Anna mit Familie und Freunden zum Essen. Meistens sind ihre drei Geschwister dabei, die geliebte Oma – und ihr Exmann. Es wird geredet, gelacht, gegessen. Manchmal wird Wichtiges verschwiegen, manchmal fallen die falschen Worte, aber am Ende freuen sich alle auf den Nachtisch.
An einem dieser Sonntage lässt Dauersingle Anna jedoch die Bombe platzen: Sie ist schwanger. Der Vater: ein One-Night-Stand. Auch wenn die Familie hinter ihr steht – mit einem eigenen Kind hat Anna nicht mehr gerechnet. Und erst recht nicht damit, sich schon beim nächsten Sunday Lunch neu zu verlieben …
Juliet Ashton stammt eigentlich aus Irland, lebt mit ihrem Mann und der gemeinsamen Tochter sowie zwei Hunden aber mittlerweile in London. Sie hat bereits zahlreiche Romane – unter verschiedenen Pseudonymen – veröffentlicht. Seit ihrem erfolgreichen Spiegel-Bestseller «Ein letzter Brief von dir» wird Juliet Ashton mit Cecelia Ahern verglichen.
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «The Sunday Lunch Club» bei Simon & Schuster UK Ltd., London.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2020
Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«The Sunday Lunch Club» Copyright © Juliet Ashton, 2018
Redaktion Nadia Al Kureischi
Covergestaltung FAVORITBUERO, München,
nach dem Original von Sian Wilson / Simon & Schuster UK Art Dept.
ISBN 978-3-644-40616-2
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Dieses Buch ist für Sonia Lopez-Freire,
in Liebe und Dankbarkeit
No hay mejor hermano que
un buen vecino al lado
Königinpastetchen
Kabeljau, in Folie gebacken
Saftiger Toffee-Pudding
Alles – aber auch alles – hatte sich verändert.
Das Besteck, das Thea neben den Tellern anordnete, war alt und abgegriffen. Über die Jahre war es stumpf geworden und unterstrich die exzentrische Mischung aus altmodischer Gemütlichkeit und Hipster-Style, die in der Wohnung vorherrschte. Thea nahm einen Dessertlöffel, balancierte ihn auf dem Finger und spürte sein Gewicht, dann legte sie ihn wieder ab.
Der Tisch sah perfekt aus, auch wenn das nach Eigenlob klang. Nicht überfrachtet, nicht zu gestylt, sondern einladend und schön und mit Umsicht gedeckt. Sie dachte über alles gründlich nach, auch über ihr eigenes Erscheinungsbild: Sie war schlank, hatte sorgfältig manikürte Nägel, und das gut geschnittene, kornblumenblaue Kleid saß tadellos. Thea beugte sich hinunter, zupfte die saubere Decke zurecht, die sie über das Katzenkörbchen gelegt hatte, und amüsierte sich gleichzeitig über diese Detailversessenheit einer durchgeknallten Hausfrau. Das war sonst nicht ihr Stil.
Es läutete an der Tür.
Thea erstarrte. Nun war es so weit. Das Klingeln brachte sie ins Hier und Jetzt zurück. Sie musste sich zeigen, wie sie war. In diesen vier Wänden war sie in Sicherheit. Sobald sie die Tür öffnete, würde die Welt hereinströmen, eindringen und überall in ihrem sicheren Hort Spuren hinterlassen. Hatte sie sich mehr vorgenommen, als sie bewältigen konnte?
Die alte Furcht, alles zu verlieren, lebte wieder auf.
Thea blickte zur Gartentür. Sie könnte hinausstürzen, über die niedrige Hecke springen und der Türglocke entfliehen, den Kabeljau im Kühlschrank und den Wein zurücklassen. Alle ihre Gäste waren Freunde, aber was würden sie von der neuen Thea halten? Würden sie sie seltsam, exotisch, gar fremdartig finden? Oder würden sie sie als das erkennen, was sie war?
Der Ausspruch einer weisen alten Frau kam ihr in den Sinn. «Deine Seele ändert sich nie», murmelte Thea und blickte sich zum letzten Mal prüfend um, während die Glocke zum wiederholten Mal läutete, diesmal ungehaltener.
Wenn sie etwas vergessen hatte, war es jetzt zu spät. Thea strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, räusperte sich, musterte sich ein letztes Mal kritisch im Flurspiegel und öffnete die Tür.
Es wurde Zeit.
Knabbereien
Roastbeef mit allem Drum und Dran sowie alternativ ein vegetarischer Nussbraten und Karottenauflauf mit Kreuzkümmel
Erdbeeren mit Sahne
Der Sunday Lunch Club der Familie Piper war kein richtiger Club.
Es gab keine Mitgliedsbeiträge, keine laminierten Ausweise oder Regeln. Er bestand aus gelegentlichen Zusammenkünften der Familie und vereinzelter Freunde, Liebhaber oder Haustiere. Manchmal traf sich der Club zweimal im Monat, mitunter auch jede Woche. Dann wieder geriet er wochenlang in Vergessenheit.
Die Treffen hatten angefangen, als Annas Eltern nach Florida gezogen waren. Sie hatten eine große Abschiedsparty gegeben, bei der Annas Mutter im Wintergarten einen «ihrer» Braten serviert hatte. Allen war es schwergefallen, sich von den vier Wänden in dem Vorort zu verabschieden, in denen die zwei Brüder und zwei Schwestern aufgewachsen waren. Jede Menge Erinnerungen, gute wie schlechte sowie eine ausgesprochen grässliche, hatten mit ihnen um den Rinderbraten, die atemberaubenden Pasteten und die sämige Soße am Tisch gesessen. Beim Essen und Trinken, Streiten und Lachen war ihnen aufgegangen, dass es keine Braten mehr geben würde, wenn Mum fort war. Es war ein ernster Moment gewesen; alle hatten ihre Gabeln sinken lassen. Das war die Geburtsstunde des Sunday Lunch Clubs gewesen.
Sie aßen nicht jedes Mal den Braten nach Familienrezept. Nur Anna machte sich die Mühe, die zahlreichen Arbeitsschritte und das präzise Zeitmanagement in Angriff zu nehmen, die dafür erforderlich waren. Mit ihrer ausgeprägten Gewissenhaftigkeit war sie zur Hüterin des Feuers prädestiniert. Das Sonntagsessen musste perfekt sein, es musste vollständig sein. Wenn kein Sahnemeerrettich auf dem Tisch stand, ging sie niedergeschlagen ins Bett.
Genau genommen musste es sowohl frisch geriebenen Meerrettich als auch die Fertigversion aus dem Supermarkt geben. Ihr älterer Bruder, der auf jeden vorüberziehenden Foodie-Zug aufsprang, bestand auf der authentischen Soße, aber Annas Exmann führte an, das gekaufte Gläschen erinnere ihn an seine Kindheit.
Es hängt so viel mehr an einem Roastbeef als ein Mittagessen.
Jeder Braten trägt das Echo vieler vorangegangener Braten in sich. Keine zwei Soßenrezepte sind identisch. Manche Familien beharren auf Erbsen, andere machen einen Aufstand, sobald eine Karotte mit von der Partie ist. Ein Sonntagsbraten ist eine Kuscheldecke aus Fleisch, eine Verbindung in die Vergangenheit und die Zusicherung, dass nicht alles in Veränderung begriffen ist.
Anna verstand das alles und berücksichtigte die Vorlieben eines jeden. Aus diesem Grund musste sie nicht nur ein perfektes Roastbeef zaubern – in der Mitte blutig, außen knusprig –, sondern auch einen vegetarischen Nussbraten, Karottenauflauf mit Kreuzkümmel, kleine wie große Yorkshire-Puddings, Rotweinsoße aus Granulat, geröstete Pastinaken.
Ihre Küche war eher klein und nicht ideal geschnitten, aber ein Sofa passte gerade noch hinein, und der Ausblick in Annas kleinen Garten wertete alles auf. Ein Großteil davon war zugepflastert, aber in den Töpfen rundherum erwachte das Leben. Der April trieb sein Spiel mit den Pflänzchen, wehte ihnen abwechselnd heiße und kalte Luft entgegen. Die klaren Linien des modernen Gartenateliers passten nicht zu den Pflanzgittern und Bänken. Die Werkstatt war neu errichtet worden und stellte Annas Glauben an Artem Accessories unter Beweis, die Firma, die sie zusammen mit Sam gegründet hatte. Sie verbrachten dort im Schuppen mehr Zeit miteinander, als sie es in ihrer Ehe jemals getan hatten.
Anna warf einen Blick auf ihre Liste. Zeit, den Teig anzurühren. Mehl. Eier. Milch. Das tröstliche, stetige Geräusch einer Gabel, die einfache Zutaten in einer Schüssel vermischt. Anna goss die helle Masse in einen Krug und stellte diesen in den Kühlschrank, so wie Dinkie, ihre Großmutter, es auch immer gemacht hatte.
Dann wandte Anna sich dem Tisch zu. Ausgezogen nahm er beinahe den gesamten Platz in der Küche ein. Sie tat gern so, als sei ihr die Tischdekoration gleichgültig, und betonte immer, es komme schließlich auf das Essen und die Gesellschaft an. Nachfolgerin des vorangegangenen Mittagessens zu sein, eines üppigen, vom Caterer angelieferten Mahls im Haus ihres Bruders, war jedoch eine undankbare Aufgabe. Anna fühlte sich unter Druck und versuchte deshalb, mit Serviettenringen zu protzen.
Dafür hatte sie eigens Stofftücher kaufen müssen, Papierservietten sahen in den neuen hölzernen Ringen albern aus. Anna arrangierte die Blumen um. In der Glasvase wirkten sie verloren. Und so nahm sie einen Krug, doch das sah nicht besser aus. Also stopfte Anna die Blumen wieder zurück in die Vase. Zu diesem Zeitpunkt waren sie bereits so erschlafft, wie Anna sich fühlte.
Egal, wie oft sie Gäste hatte, immer gab es diesen einen Moment, kurz bevor die ersten Besucher eintrafen, in dem ihr alles falsch erschien. In dem die abgenutzten Stühle nicht mehr shabby chic aussahen, sondern einfach nur schäbig, und in dem die abgenutzte Tischdecke ins Auge stach. Es war dann zu spät, um von vorne zu beginnen. Zu spät, um den Tisch auf die gewohnt nachlässige Weise zu decken. Zu spät, um den ehrgeizigen Speiseplan zusammenzustreichen. Zu spät, um die Hochfrisur aufzudröseln, die sich im Chrom des Einbauherds spiegelte und nun übertrieben und gewollt aussah.
Anna betrachtete ihr verschwommenes Spiegelbild. Ihr Haar wirkte naturblond und nicht wie Sweet Honey von L’Oréal. Ihre Augen glänzten grün im blassen, ovalen Gesicht, und nur wenige Falten erinnerten an die Turbulenzen, die sie in ihren vierzig Jahre erlebt hatte. Der wahrheitsliebende Flurspiegel erzählte dagegen eine andere Geschichte: Sie hatte die Neigung zu Tränensäcken von ihrer Mutter geerbt. Irgendwo zwischen diesen Spiegelbildern lag wohl die Wahrheit, und Anna hatte schon vor Jahren mit ihrem Äußeren Frieden geschlossen. An schlechten Tagen sah sie mittelmäßig aus, doch das ließ sich verbessern, und wenn sie sich Mühe gab, konnte sie so verführerisch wirken, dass ein Liebesabenteuer heraussprang.
Das Leben war ein Kompromiss zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Anna schob all ihre Bedenken beiseite, was die Tischdekoration anging, die Größe des Bratens und die Frage, ob die Tischkärtchen, die beim Schreiben noch so niedlich ausgesehen hatten, in Wahrheit bloß affig waren.
Sie holte tief Luft und ließ die Bedenken fahren. Ja, es war ihr immer noch wichtig, dass ihre Gäste es schön hatten und satt nach Hause gingen; aber sie konnte nicht alles unter Kontrolle haben.
Was, dachte sie und erblickte einen Schreibfehler auf dem Tischkärtchen vor ihrer Nase, wohl auch besser so war.
Der Raum füllte sich. Mäntel wurden Anna gereicht oder auf das durchgesessene Sofa geworfen. Man drückte ihr Flaschen in die Hand, Küsse auf die Wange, Annas Schwester Maeve bewunderte die Champagnertrüffel, die ihr Bruder Neil, der älteste der vier Geschwister, mitgebracht hatte.
Jemand – vermutlich ebenfalls Neil, der seine Präsenz gern spürbar machte – hatte die Glastür zum Garten geöffnet, wo die spärliche Sonne die vernachlässigten Töpfe und ein Ikearegal beschien, das Anna schon vor Wochen zerlegt hatte.
Sam setzte sich in seinen Sessel, vielmehr in das Möbelstück, das sein Sessel gewesen war, als Anna und er noch miteinander verheiratet gewesen waren. Auch sechs Jahre nach ihrer Scheidung besetzte Sam umgehend das ausgeblichene blaue Samtpolster, wenn er Anna besuchte, und streckte die langen Beine so aus, dass man Gefahr lief, darüber zu stolpern.
«Ach Gottchen, Oliven, ich liebe Oliven.» Maeve nahm eine Handvoll und stopfte sie sich alle auf einmal in den Mund, wobei ihr nicht bewusst war, dass es von Hand eingelegte Oliven waren, deren Preis Anna den Schweiß auf die Stirn getrieben hatte. «Hast du was Vegetarisches für mich gemacht?»
«Mache ich das nicht immer?» Anna zwinkerte Storm zu. Ihr dreizehnjähriger Neffe stand neben seiner Mutter und rollte mit den Augen. Obwohl Maeves Vegetarismus eher von der inkonsequenten Sorte war und vom Duft eines Bacon-Sandwiches leicht ins Wanken geriet, legte Anna stets Wert darauf, sich in ihre Kochbücher zu vertiefen und etwas Vegetarisches auszugraben, das es mit dem allmächtigen Braten aufnehmen konnte. Dieses Mal war es ein Nussbraten. Dazu gab es Karottenauflauf mit Kreuzkümmel.
«Jemand», sagte Santiago und tauchte mit dem Baby im Arm neben Anna auf, die gerade Prosecco einschenkte und sich fragte, ob sie wohl genug gekauft hatte, «hat Kacka gemacht.»
«Und wer?», fragte Anna, und sie lachten beide. Sie war dem Gott der Schwager und Schwägerinnen dankbar dafür, dass er ihr Santiago geschickt hatte. Er war eine Augenweide, lustig und sehr, sehr spanisch. Damit lockte er ihr eigenes inneres Kind hervor. «Ich wette», sagte sie und beugte sich über das Baby in Santiagos Armen, «du warst das, was?»
Paloma war mit ihren dreieinhalb Monaten eine weißrosa Unschuld mit großen blauen Augen in einem runden Gesichtchen. Sie war ihrer aller Schoßkind, ihrer aller Augapfel, das neueste Spielzeug der Familie Piper. «Geh mit ihr nach oben in mein Zimmer, Santi», sagte Anna. «Da ist mehr Platz für die Wickelunterlage.»
Sie sah ihm nach.
«Ich weiß, was du denkst.» Neil stellte sich neben Anna und knuffte sie in die Seite. «Was für ein toller Hintern, denkst du. Zehn von zehn Punkten, 1A, eine klassische Schönheit.» Er seufzte. «Santis Hintern ist mehr oder weniger der Grund dafür, dass ich ihn geheiratet habe.»
Anna knuffte ihn zurück. «Ehrlich gesagt habe ich gerade gedacht, was für einen unglaublich guten Vater er abgibt. Obwohl er so jung ist.»
«Ist das ein Seitenhieb auf mich?» Neil fühlte sich schneller angegriffen, als er Luft holte. «Ich war auch mal jung, weißt du? Es ist kein Talent. Jeder kann jung sein. Und Santi ist auch nicht mehr so jung. Er ist vierundzwanzig.»
«Oder, um es mit anderen Worten zu sagen: zwei Jahrzehnte jünger als du.»
«Erinnere mich nicht daran. In vielerlei Hinsicht ist es herrlich, jeden Abend einen Adonis neben sich im Bett zu haben. Andererseits …» Neil zog den Bauch ein, fasste sich an den Haaransatz und fuhr flüsternd fort: «… erinnert es einen daran, wie fett, alt und passé man ist.»
«Du bist erst vierundvierzig!» Da sie ihm mit vier Jahren Abstand als Nächste folgte, hasste Anna es, wenn er über sein Alter lamentierte. Sie zog es vor, den Zeitschriftenartikeln zu glauben, die behaupteten, vierzig sei das neue dreißig. Sie hatte sich immer älter gefühlt, als sie den Jahren nach gewesen war. Wenn Anna auf ihre Teenagerjahre zurückblickte, kamen ihr nicht wie anderen Menschen sonnenflirrende Strandszenen in den Sinn. Da ihre Eltern so oft außer Landes gewesen waren, hatte sie sich stets wie eine Mutter für die kleineren Geschwister gefühlt. Anna und Neil waren im Vergleich zu den anderen beiden relativ kurz nacheinander geboren worden. Sieben Jahre nach Anna war Maeve zur Welt gekommen, dann Josh. Es hatte sich stets angefühlt wie «sie und wir», Anna und Neil verspürten immer noch eine unbestimmte Verantwortung für Maeve und Josh.
«Ich bin in Menschenjahren vierundvierzig», sagte Neil und griff nach dem Baguette. «In Schwulenjahren bin ich tausendundneun Jahre alt.» Er schüttelte über die Brotstange hinweg den Kopf. «Warum sind deine Knabbereien immer so langweilig?»
«Langweilig?» Anna war beleidigt. «Es ist eine Tradition, du Esel.»
«Das ist doch keine Tradition, sich jahrelang an Hummus, Oliven und verdammtem Tsatsiki festzuklammern.»
Neil war heute besonders gemein. «Und wann essen wir? Ich sterbe vor Hunger.»
«Sobald es fertig ist.» Anna ging mit dem Tablett voller Proseccogläser zu ihren Gästen.
Die offene Küche, die in L-Form in einen Essbereich überging, war einer der Gründe dafür gewesen, dass sie das kleine viktorianische Doppelhäuschen in einer Reihe ähnlich gepflegter Häuser in der Nähe des Parks gekauft hatte. Aber der offene Grundriss war ein Nachteil, wenn sie Gastgeberin des Lunch Clubs war. Der unerschöpflichen Bedürftigkeit der Gäste konnte man kaum entkommen. Sobald sie durch die Haustür traten, mutierten sie zu Kleinkindern, die nicht in der Lage waren, sich selbst Getränke einzuschenken, und die vor Hunger speichelten. Nein, dachte sie, keine Kleinkinder. Eher Vogelküken mit offenen Schnäbeln, die mit ihren Schreien die Luft erfüllten. Anna stellte sich vor, wie sie Würmer in ihre geöffneten Schlünde steckte. Sam musste ihr Kichern gehört haben: Er schaute sie amüsiert an, lehnte sich in seinem Sessel zurück und ahmte ihr Kichern nach. Er war groß, stämmig, eine Eiche. Sein Erscheinungsbild war den unaufdringlichen Farben der Natur entlehnt – die Augen von sanftem Haselnussbraun, das Haar eine schwer zu beschreibende Mischung aus Blond und Braun. Sam besaß zudem die Ruhe einer Eiche. Auch Eisberg war eine Metapher, die Anna gern für ihn benutzte. Nicht, weil Sam kalt gewesen wäre – er war weit davon entfernt –, sondern weil ein großer Teil von ihm im Verborgenen lag. Auf die Welt im Großen und Ganzen machte Sam einen gelassenen Eindruck, aber selbst in zehn Jahren Ehe hatte Anna kaum gelernt, die Hinweise zu lesen, die auf inneren Aufruhr hindeuteten. Heute war er heiter, fast schon ein wenig beschwipst. Sam vertrug keinen Alkohol.
Auch wenn ihre Ehe keine Chance gehabt hatte und auseinandergebrochen war, blieb Annas Exmann ein fester Bestandteil ihres Lebens – ein Freund. Heutzutage spornte er sie bei ihren Liebesabenteuern an. Das letzte war vor einiger Zeit in Flammen aufgegangen. Sam hatte jede Wendung der Ereignisse verfolgt, Ratschläge gegeben, sie getröstet und ihr Selbstbewusstsein gestärkt. Anna fand, er hatte es beinahe so gut gemacht wie eine Frau.
Er selbst schien Beziehungen abgeschworen zu haben. Vielleicht hat ihn unsere Ehe gegen jegliche Art von Romantik geimpft, dachte Anna, als er sich ein Glas von dem Tablett nahm und sagte: «Du siehst gut aus.»
Es klang, als sei das etwas Ungewöhnliches.
«Ja», stimmte Maeve zu, schnappte sich ein Glas und schob ihr Gesicht direkt vor Annas. «Deine Haut strahlt richtig, und deine Augen sprühen. Oooh! Du schlimmes Mädchen! Du hattest Es – E – Ix!»
Storm zuckte zusammen, leichte Schamesröte überzog seine karamellfarbene Haut. «Mum!»
«Dinkie hat das immer gesagt. Damit wir es nicht verstehen. Es – E – Ix!», wiederholte Maeve genüsslich. Ihre oft zitierte irische Großmutter war gelegentlich ebenfalls Mitglied des Lunch Clubs. «Wer ist denn der Glückliche?»
Anna eilte zurück zum Ofen und ignorierte das Gelächter der anderen. Sie hoffte, dass niemand bemerkt hatte, dass auch sie rot geworden war. Während sie so tat, als sehe sie nach dem Rindfleisch, hatte sie einen lebhaften Flashback.
Ein Hauswirtschaftsraum. Weiße Putzmittel. Ein Kenwood-Standmixer. Sie selbst gegen eine Kühl-Gefrier-Kombi gelehnt, völlig von Sinnen, während ein Mann seinen Körper leidenschaftlich immer wieder in ihren stieß. Eine Hand hatte sie ausgestreckt, um sich abzustützen, und dabei eine Flasche Weichspüler umgestoßen, wie sie hinterher feststellte.
Anna warf einen verstohlenen Blick zurück zu den anderen. Nur Sam sah in ihre Richtung. Er zwinkerte.
Er hat genau gesehen, wie ich rot geworden bin. Anna stieß einen Salzstreuer um, richtete ihn wieder auf und war dankbar, dass ihr Handy brummte.
«Oh», sagte sie, als sie die Nachricht las. «Leute! Josh schafft es leider nicht.»
«Und mit welcher Entschuldigung dieses Mal?», fragte Neil sarkastisch.
«Er ist ziemlich … beschäftigt.» Die Nachricht hatte präzise gelautet: Ich bringe es einfach nicht über mich, Schwesterherz. Wie üblich ließ Anna ihren Bruder ungeschoren davonkommen. Obwohl er neunundzwanzig Jahre alt war, würde Josh immer das Baby der Familie bleiben. «Ich habe diese Woche mit ihm gesprochen.»
«Wie hat er geklungen?» Neils Versuch, nonchalant zu wirken, war nicht überzeugend. Sie machten sich alle Sorgen um Josh.
Anna log. «Super. Er klang super.»
«Onkel Josh kommt nie.» Storm zog die Mundwinkel nach unten.
«Klappe, du», sagte Maeve liebevoll. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass man Josh nicht kritisieren durfte. Mit familiärer Telepathie hatten sie sich alle darauf verständigt, dass er eben mit einer dünneren Haut geboren worden war. Josh traf jeder Schlag härter. Er nahm Rückschläge persönlicher.
«Er verspricht, beim nächsten Lunch Club dabei zu sein», sagte Anna. Eine weitere Lüge, aber eine, die sie versuchen würde, in Wahrheit zu verwandeln.
Paloma, deren Manieren ebenso hinreißend waren wie ihr Gesicht, verschlief in ihrer Babytragetasche den Hauptgang und verpasste die Komplimente für das Rindfleisch.
«Noch besser als das von Dinkie!» Neil näherte sich der Blasphemie.
«Die Karotten waren ein bisschen hart», sagte Maeve.
«Und trotzdem hast du sie tapfer alle aufgegessen», betonte Anna.
Alle ächzten. Hosen wurden diskret aufgeknöpft. Neil sah aus wie ein Mann, der die letzte Röstkartoffel bereute.
«Ich war nicht mehr so voll», sagte er, «seit wir uns das letzte Mal getroffen haben, zum Willkommensessen für Paloma.» Sein Gesicht war gerötet, als habe er harte körperliche Arbeit verrichtet und sich nicht einfach bloß vollgestopft.
«Wie hieß noch mal dieser Eintopf, den wir hatten?», fragte Maeve, goss den letzten Rest Wein in ihr Glas und winkte mit der leeren Flasche in Annas Richtung, die sich erhob, um eine neue zu holen.
«Baskisches Lamm.» Neil schloss selig die Augen. «Ein Rezept von Santis Mum.» Das einzige Gericht, das nicht vom Caterer gebracht worden war.
«Das war ein krass guter Tag», sagte Storm, der das ganze Essen hindurch kaum gesprochen und stattdessen seinen gepflegten Afro über den Teller gesenkt hatte.
Ihr letztes Treffen war das triumphale Finale von Neils und Santiagos Bemühungen um die Adoption eines Kindes gewesen. Sie waren über zwei Jahre lang am Ball geblieben und hatten dabei jede Hürde genommen. Gelegentlich war es ihnen allen vorgekommen, als würde der Prozess niemals ein Ende nehmen. Jeder weitere Schritt hatte sie beide beflügelt, nur um wieder in sich zusammenzusinken, wenn sie einen erneuten Rückschlag hinnehmen mussten. Dann war die Sternstunde gekommen, und das Unmögliche war geschehen: Paloma war geschehen.
Trotz der Tatsache, dass Neil und Santiago bereit gewesen waren, ein Kind jeden Alters anzunehmen, waren sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen, um ein Neugeborenes adoptieren zu können. Mit ihren zehn Wochen war Paloma ein Winzling in einer Windel gewesen. Sie würde sich nie an das Leben erinnern, das sie geführt hatte, bevor sie in den Kokon aus Liebe und Fürsorge eingesponnen worden war, den die Pipers um sie herum bauten. Anna fand das ergreifend. Paloma weckte eine Vielzahl unterschiedlichster Gefühle in ihr, die sie überraschten. Sie sah etwas in den runden Augen des Babys, eine Frage, die in Anna nachklang.
«Komm her, Paloma!» Maeve holte das Baby aus seiner reich verzierten Tragetasche. Die anderen wechselten Blicke. Maeve war ein impulsives Wesen, sie lebte ganz in dem einen Moment, was sich des Öfteren nachteilig auf den nächsten Moment auswirkte. Unweigerlich wachte Paloma auf und begann zu schreien.
«Ooooch. Wassnloos?», flötete Maeve, und ihre ungezähmte braune Mähne fiel über das Baby. Mit der freien Hand griff sie nach ihrem Glas.
«Na, dass das arme Kind fest geschlafen hat und jetzt nicht mehr schläft, das ist los», antwortete Anna.
«Deine Tante Anna ist eine Nörglerin, oder?», säuselte Maeve. «Ja, das ist sie!» Sie quiekte es mehr, als dass sie es sprach, wobei der Wein ihre Worte verwischte.
«Mum», sagte Storm, ohne von seinem Handy aufzublicken, das er im sicheren Schutz der Tischdecke auf seinen Schoß gezaubert hatte, «hör auf.»
«Wir sind von Spielverderbern umgeben, Paloma-woma.» Maeve vernichtete den Rest ihres Getränks, und Neil räusperte sich bei der Verwendung dieses unautorisierten Spitznamens für seine neue Tochter. «Dein Daddy ist nicht mit mir einverstanden, und mein eigener Sohn verbreitet das Flair eines Bankangestellten.» Sie streckte die Hand aus, um Storm das Haar zu zerzausen. «Was habe ich nur richtig gemacht?»
Storm wich ihr aus und fragte: «Was gibt’s als Nachtisch?»
«Erdbeeren mit Sahne.» Anna verließ sich zumeist auf diesen Publikumsliebling.
«Es ist gar nicht die Saison für Erdbeeren», beschwerte sich Maeve.
«Dann erschieß mich doch.» Anna war nicht in der Stimmung für einen von Maeves Vorträgen über allergenfreie Biolebensmittel von Produzenten vor Ort.
«Sie sind vermutlich den ganzen Weg von Marokko hierhergeflogen worden», erwiderte Maeve seufzend, als die große Schüssel mit den reifen roten Früchten in die Tischmitte gestellt wurde und sich alle vorbeugten.
«Dann iss sie eben nicht», murmelte Neil.
«Es wäre auch nicht richtig, sie zu verschwenden», sagte Maeve andächtig.
Wieder wurden Blicke im Lunch Club gewechselt.
«Und bevor du nachfragst …» Anna setzte die Kanne ab, die sie in einem Trödelladen gefunden hatte. «Die Sahne stammt von einer Kuh, die ich persönlich kenne.»
Maeve blickte entgeistert auf, bevor sie in Gelächter ausbrach. Nach ihrem dritten Glas Wein glaubte sie alles.
«Lasst uns dafür sorgen, dass beim nächsten Lunch Dinkie dabei ist», sagte Santiago und hielt Anna sein Schälchen zum Auffüllen entgegen. «Ich vermisse sie.» Ik vermieeße sie. Er sprach flüssiges Englisch, das von seinem Akzent aufgehübscht wurde.
«Sie scheint sich im Heim gut einzuleben», sagte Neil und warf Storm eine Erdbeere zu.
«Nenn es nicht Heim!», meckerte Maeve.
«Es ist eine betreute Wohnanlage für Senioren.» Anna brachte Neil mit einem Blick zum Schweigen. Ihre alte Gewohnheit, sich miteinander über die Köpfe der kleinen Geschwister hinweg zu verständigen, war nur schwer abzulegen.
«So was wie eine Legebatterie, nur mit Alten anstelle von Hühnern», sagte Neil und genoss ganz offensichtlich das Entsetzen, das er damit auslöste.
«Es muss ein ganz netter Ort sein», sagte Maeve, die noch keinen Fuß in Dinkies Heim gesetzt hatte.
Anna ergänzte unsicher: «Sie ist mit Menschen ihres Alters zusammen.»
«Genau. Und seit wann will sich Dinkie mit alten Leuten umgeben?», fragte Neil.
«Wir haben das besprochen.» Anna sprach leise und bestimmt. «Sie war nicht mehr in der Lage, allein zu leben, und …»
«Ja, ja», sagte Neil. «Es ist das Beste so, aber … ihr wisst schon …»
Das taten sie. Sie wussten schon. Sie wussten, dass es in den Sunville-Wohlfahrtseinrichtungen nach Kohl roch. Und sie wussten, dass ihre kleine Großmutter unendlich viel Stolz besaß.
Sam sagte: «Es ist nicht leicht, aber ihr habt das Richtige getan.»
Er klang so klar und vernünftig, dass Anna ihm glauben wollte. Das war die Stimme, mit der er zu ihr gesprochen hatte, wenn sie nachts aufgewacht war. Er hatte ihre Tränen getrocknet, sie überzeugt und in den Arm genommen, bis sie wieder eingeschlummert war. Sie hatten eine harte Zeit gehabt. Und Sam war da gewesen. Wenn sie jetzt nachts aufwachte, war sie mit ihren Gedanken allein. Manchmal gewannen sie die Oberhand, und Anna musste sich aus dem Bett schleppen und Tee mit Milch machen, wie er in solchen Momenten angezeigt war.
Anna setzte den Löffel mit den Erdbeeren ab, den sie gerade zum Mund führte. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Würde sie jemals wieder neben einem Mann schlafen? Nicht eine oder zwei Nächte lang, sondern Jahre, in denen sie mit ihm in der Dunkelheit eine vertraute Form bildete? Es war nicht nur der Sex, der ein Ehebett zu etwas Besonderem machte. Es waren die ineinander verschlungenen Gliedmaßen, die mollige Wärme. Das gemeinsame Umdrehen. Die zerwühlten Kissen. Wir gegen den Rest der Welt.
Sie blickte Sam an, der sich Sahne von den Fingern leckte. Er hatte das immer so gesagt. Damals war es wahr gewesen. Aber sie hatte irgendwann bemerkt, dass aus ihrem Bett eine Festung geworden war und ein solches Bollwerk die Gefühle erstickte. Lustig, dass Anna manche Aspekte ihrer Ehe so sehr vermisste und trotzdem erleichtert war, ihr entkommen zu sein.
«Storm hat in der Schule mit Japanisch angefangen, habe ich euch das schon erzählt?» Maeve spitzte ihre Lippen so, wie sie es immer tat, wenn etwas sie besonders glücklich machte. Ihre Sommersprossen unterstrichen die Begeisterung. «Das muss dir nicht peinlich sein, Süßer!» Dass ihr schlauer Sohn sich in seinem Adidas-Shirt wand, schien ihr teuflische Freude zu bereiten. «Nur fünf Jungen in seinem Jahrgang haben es gewählt.»
«Pantsu», sagte Santi plötzlich.
Neil starrte ihn an. «Langsam, Santi. Ich bin der Schlaue, mein Schatz. Du bist die Schönheit. Du kannst kein Japanisch!»
«Mehr kann ich auch nicht sagen», gab Santi zu, und seine Grübchen vertieften sich. «Das habe ich gelernt, als ich Kellner war. Es heißt hallo.»
«Äh, nein, heißt es nicht, Onkel Santi.» Storm verzog das Gesicht. «Es heißt Unterhose.»
Santi bedeckte vor Lachen sein Gesicht mit den Händen. «Ich sage das zu jedem Japaner, dem ich begegne!»
Anna war aufgestanden, um die Teller einzusammeln, und hielt inne. Sie war in Gedanken zu einem früheren Thema zurückgekehrt und umkreiste es sorgenvoll. «Äh, wie lange ist das Essen für Paloma her? Einen Monat?»
«Genau vier Wochen.» Santiagos dunkle maurische Augen glitzerten nostalgisch, er war eine sentimentale Seele. «Ich werde nie den Tag vergessen, an dem wir unsere niña der Familie vorgestellt haben.»
«Hört, hört.» Sams Miene verzog sich zu einem Lächeln. «Mich hat es total umgehauen. Erinnert ihr euch an den Cocktail-Typen?»
«Und den Schokoladenbrunnen», sagte Storm.
«Und diese Amuse-Gueule-Dinger!», rief Maeve. «Ehrlich gesagt», fuhr sie fort und blickte in die Ferne, «dieser Cocktail-Kellner sah verdammt gut aus.»
«Ich habe persönlich das Bewerbungsgespräch mit ihm geführt», sagte Neil.
«Lass das!», mahnte Santiago leise.
«Was?» Neil zog verärgert seine Brauen zusammen.
«Sei nicht so tuntig.» Santiago stand auf und ging zur Glastür in den Garten hinüber. Er zog sie zu und starrte in den dämmerigen Nachmittag hinaus. Niemand hatte sich über die Kälte beklagt. Es war Santiagos Art, einem Streit aus dem Weg zu gehen.
Neil beobachtete ihn, wechselte aber das Thema. «Es war wirklich eine fabelhafte Party. Obwohl irgendeine unerzogene Person Weichspüler über den gesamten Wäschekorb verteilt und es nicht zugegeben hat.»
Die unerzogene Person war anderweitig beschäftigt, dachte Anna und kratzte Essensreste in den Mülleimer. Sie gehörte eigentlich nicht zu der Sorte von Menschen, die während des letzten Gangs leidenschaftlichen Sex in der Abstellkammer hatte. Aber offenbar gehöre ich doch zu der Sorte Menschen, dachte sie und war überrascht, dass sie nicht ganz unzufrieden mit dieser Version ihrer selbst war. Sie setzte den Stapel Teller ab und sagte: «Ich gehe mal kurz raus, Leute. Muss noch schnell Milch für den Kaffee holen.»
Der Laden an der Ecke verkaufte alles. Ketchup. Papiertaschentücher. Grauenvolle Pornos. Bestimmt hatte er auch Milch, aber Anna ging weiter.
Sie beeilte sich – nicht, weil sie schnell wieder zurück sein wollte, vielmehr, um einen wachsenden Verdacht auszuräumen. Wie schnell sie auch immer lief, er wuchs mit jedem Schritt weiter. Als sie die Tür zur Drogerie aufstieß, spürte sie ihn direkt neben sich stehen. Anna kaufte, was sie benötigte, und versteckte das Päckchen ganz unten in ihrer Handtasche, als handele es sich um Schmuggelware.
«Es steht Milch im Kühlschrank!», rief Sam, als Anna eilig den engen Flur betrat. Er hielt ihr die Milchpackung triumphierend entgegen.
«Ich bin ja blöd.» Anna schlüpfte aus ihrem Regenmantel, drängte sich an ihm vorbei und griff nach dem leeren Tablett. «Okay. Wer möchte Kaffee?»
«Ich hätte gern …», begann Maeve.
«Deinen doofen Sonst-was-Biotee, ich weiß.» Anna setzte das Tablett mit einem Rumms ab und knallte Tassen darauf. Sosehr sie die Gästeschar auch liebte, sie musste sie so schnell wie möglich loswerden. Dieser entspannte Sonntag hatte plötzlich einen dringenden Programmpunkt erhalten.
«Wer ist als Nächstes mit Kochen dran?», fragte Sam und folgte ihr mit den Trüffeln zurück an den Tisch.
«Du», antwortete Maeve prompt. «Vergiss nicht, dass ich Vegetarierin bin.»
«Liebste Maeve», sagte Neil, «niemand könnte jemals vergessen, dass du Vegetarierin bist.» Seine Geduld dafür, dass seine kleine Schwester ihre unterschiedlichen «Ismen» konstant beschwor, war begrenzt. «Du erwähnst es zuverlässig einmal pro Stunde.»
«Aber du hast mich dafür lieb.» Es sollte scherzhaft klingen, dabei wussten alle, dass Maeve ständig das Vertrauen in ihren Platz in der Welt suchte.
«Ich kann nichts so Spektakuläres in Aussicht stellen wie Neil und Santiago auf ihrer Feier», sagte Sam. Er suchte für einen Moment Annas Blick. «Es wird kein Weichspüler vergossen werden.»
Anna hustete, blickte zur Seite und sehnte sich danach, ihre Tasche zu durchwühlen und das Päckchen herauszuholen. Warum gehen sie nicht endlich alle nach Hause?
Neil erhob sich, und in Annas Herzen regte sich die Hoffnung, dass die anderen seinem Beispiel folgen würden.
Sie taten es nicht.
«Lasst uns das Trivial Pursuit holen», sagte er.
Der gesamte Alkohol im Haus war ausgetrunken. Maeve war zum Laden an der Ecke entsandt worden, um Nachschub zu holen. Sie waren in das vordere Zimmer umgezogen, verteilten sich über die Sofas, die einander gegenüberstanden. Das Brettspiel war vergessen.
Es war Annas eigene Schuld. Ihr gemütliches, unaufgeräumtes Haus war zu einladend. Es forderte jeden Herumtreiber dazu auf, sich hier ganz wie zu Hause zu fühlen. Die Mittagessen bei Anna waren berüchtigt dafür, dass sie sich bis in die Nacht erstreckten. Es gab immer noch eine weitere Tasse Kaffee, einen neuen seltsamen Likör ganz hinten im Schrank, den man probieren musste, eine weitere skurrile Geschichte. Heute badete sie jedoch nicht in ihrem Ruhm als Gastgeberin. Stattdessen räumte sie so geräuschvoll auf, wie sie nur konnte, knallte die Schubladen zu, in die sie die Teller stellte, begann sogar Staub zu saugen.
Niemand rührte sich.
Tatsächlich hörte sie vom Flur aus Maeve die gefürchtete Frage an Sam richten: «Und wie läuft es bei dir so?»
Anna ließ sich gegen den Garderobenständer sinken und stöhnte leise auf.
«Na ja», sagte Sam. «Lustig, dass du fragst. Meine Beine tun weh, wenn ich das hier mache.»
Offenbar tat Sam im Wohnzimmer, was immer «das hier» war. Sie hatten nun lange Ausführungen vor sich; sein Gesundheitszustand war Sams Lieblingsthema. Wie viele Hypochonder war er unerhört gesund, trotzdem veranlasste ihn jedes Zwicken und jeder Husten dazu, im Internet seine Symptome zu recherchieren.
«Und dann ist da natürlich», fuhr Sam an seine gebannte Zuhörerschaft gerichtet fort, «dieser Ausschlag an meinem Ellenbogen. Weiß der Himmel, was das ist.»
Anna hätte am liebsten gerufen: Es ist ein Ausschlag!, aber aus langer Erfahrung wusste sie, dass Sam unmöglich vom Thema abzubringen war, wenn er einmal angefangen hatte.
Unfähig, länger zu warten, schlich sie nach oben. Sie musste ihre Furcht zerstreuen, ihre albernen Einbildungen widerlegen. Das Manöver mit dem winzigen Plastikstäbchen hatte sie noch nie zuvor durchgeführt, man musste den Dreh raushaben. Anna wusch sich die Hände, setzte sich und wartete. Dabei zwang sie sich, das Badezimmer zu betrachten, statt auf das Stäbchen zu starren.
Der Raum hätte liebevolle Zuwendung nötig gehabt. In der Dusche war eine Fliese gesprungen. Der Wasserhahn wackelte. Sie würde sich darum kümmern. Die Arbeit am Haus war ein endloser, nie abgeschlossener Prozess – wie das Leben. Anna pfiff vor sich hin. Dann summte sie. Dann klopfte sie mit dem Fuß. Schließlich gab sie nach und senkte den Blick.
Das anonyme Plastikstäbchen hatte große Neuigkeiten.
Das Thema Babys lag für Anna hinter verschlossenen Türen mit einem dicken, fetten Nein darauf. Etwas, das anderen Leuten zustieß. In zehn Jahren Ehe war es nicht ein einziges Mal knapp gewesen, nicht ein einziges Mal beinahe passiert. Sie hatte mit Sam nie über Babynamen gesprochen, sich nie gefragt, ob das Gästezimmer ein gutes Kinderzimmer abgeben würde. Elternschaft war ein mit Absperrband gesicherter Bereich, in den sie keinen Zutritt hatte. Nun hatte sich das Band gelöst.
Wie eine Schlafwandlerin tappte Anna die Treppe hinunter und hinaus in den Vorgarten, wo sie in tiefen Zügen die kühle Luft einsog.
Sie schlang die Arme um ihren Körper und rief sich scharf zur Besinnung. Diese Neuigkeit war zu gewaltig, um sie in einem Stück aufzunehmen. Sie würde sie später nach und nach begreifen, wenn sie allein war. Jetzt musste sie sich zusammenreißen, bis alle ihre Gäste weg waren.
Falls sie jemals gingen.
Maeve machte in der Küche noch einmal Tee und Storm «half» ihr dabei, wenn man die vorgebliche Suche nach der Teekanne, ohne den Blick vom Telefon zu wenden, so nennen wollte. «Wir sind jetzt bei Sams Diabetes angelangt», sagte Maeve fröhlich, während sie ihren Kopf in den Kühlschrank steckte.
«Er hat keinen Diabetes.» Anna sagte es so mürrisch, dass der Kopf ihrer Schwester über der Kühlschranktür erschien. Maeve starrte sie an.
«Du liebe Güte, okay», sagte Anna. «Verschone ihn.»
Anna wollte sich mit ihrer Schwester nicht in dieses Thema vertiefen. Maeve hing der Theorie an, dass Anna verrückt gewesen war, Sam ziehen zu lassen. Wenn sie getrunken hatte, war sie diesbezüglich noch nachdrücklicher und sagte Sachen wie: Eines Tages wird es dir klarwerden, und dann wird es zu spät sein.
«Sam ist der gesündeste Mensch, den ich kenne», sagte Anna und bemühte sich darum, weniger unwirsch zu klingen. «Er wird uns alle überleben.»
«Ich denke, ihm fehlt einfach …»
«Komm, lass mich das machen.» Je schneller Anna den Tee fertig hatte, desto schneller würden sie alle nach Hause gehen.
Anna hatte die Abschiedsworte kaum vernommen und die Umarmungen kaum registriert. Sam war der Letzte, der ging. Als er sie umarmte, klammerte sie sich an ihn, bis er sich mit besorgtem Gesichtsausdruck von ihr löste.
«Anna?»
«Ich …» Sie konnte es ihm jetzt auf der Stelle sagen. Kein Herumdrucksen. Sie konnte es laut aussprechen. Sehen, wie er reagiert, er war doch immer für sie da, und sie sagten sich doch alles. «Kopfschmerzen.» Anna tippte sich gegen die Stirn.
«Autsch.» Sam sah mitfühlend aus. «Du Arme.»
Wir Armen, genau genommen. Anna hatte einen blinden Passagier.
Das Haus war wieder still, es herrschte diese ganz eigene Sonntagabendruhe. Anna schlich wie ein Geist umher.
Ein Baby. Das große Unaussprechliche, vor allem zwischen Sam und ihr. Als sie verheiratet gewesen waren, hatten sie jeden Gedanken daran verdrängt und von sich behauptet: Ich soll eben einem Kind keine Mutter sein. Anna blickte auf ihren Körper hinab und fragte sich, warum er ihr einen solch aufwendigen Narrenstreich spielte, nachdem er all die Jahre zuvor nach ihrer Pfeife getanzt hatte.
Als sie in den frühen Morgenstunden noch immer wach im Bett lag, fielen ihre wirren Ängste vor lauter Müdigkeit von ihr ab, und die eigentliche Frage gelangte an die Oberfläche.
Was empfinde ich in Bezug auf dieses Baby?
Müde bis auf die Knochen, erschöpft von dem Versuch, eine Million Dinge vorauszuahnen, die schiefgehen konnten, antwortete Anna ganz schlicht und ohne nachzudenken.
Ich liebe dich.
Ziegenkäsetarteletten
Beef Wellington mit Spinat und Blauschimmelkäse im Teigmantel
Nutella-Cheesecake
Anna hätte sich beinahe vor dem nächsten Lunch Club gedrückt. Als sie am Morgen erwachte, lag ihr ein Name auf den Lippen, den sie noch nie laut ausgesprochen hatte.
Bonnie.
Sie träumte selten von Bonnie und davon, was sie ihr angetan hatte. Die Schwangerschaft rührte in Annas Hirn wie in einem Eintopf und brachte alle möglichen Knorpel an die Oberfläche. Fetzen des dunklen Traums zerrten an Anna, aber als der Morgen voranschritt, verloren sie an Kraft. Also kümmerte sie sich um ihre Haare, fuhr sich mit einem Lippenstift über den Mund, gab sich einen Ruck und trat hinaus in das unentschlossene Maiwetter.
Der moderne, niedrige Wohnblock, ein sauberer Quader, war umgeben von Gärten mit ordentlich gemähtem Rasen und alten Bäumen, die es einem erleichterten, die viel befahrene Hauptstraße davor zu vergessen. Sam lebte in dem Apartment im Erdgeschoss, das er nach der Scheidung gekauft hatte. Obwohl die Trennung freundschaftlich verlaufen war, hatte eine gewisse Bitterkeit vorgeherrscht, und Sam und Anna hatten zwei Jahre gebraucht, bevor sie miteinander sprechen konnten, ohne dass sich die Unterhaltung um die Frage nach der Aufteilung der CDs drehte. Sie waren beide erleichtert gewesen, dieses Stadium hinter sich zu lassen und das zu werden, was sie – und ihr Umfeld – für ihre Bestimmung hielten: beste Freunde statt Lebenspartner.
Anna schlenderte den betonierten Weg hinauf. Die Äste der Bäume hingen feucht auf den Rasen hinab, und die Wohnungen schienen im Mulch zu versinken. Es hatte seit drei Tagen durchgehend geregnet, und der Weg war mit dunklen Flecken, die erst noch trocknen mussten, wie von Pockennarben übersät.
In den fünf Wochen seit dem letzten Treffen des Clubs hatte Anna Sam kaum gesehen. Sie war daran gewöhnt, jeden Arbeitstag mit ihm in der von ihnen beiden so hoch geschätzten Gartenremise zu verbringen und emsig an Artem Accessories zu arbeiten, aber er war außer Landes gewesen, hatte ihre Fabrik in Rumänien besucht und einen Kunden in New York umgarnt. Ihre stundenlangen Gespräche waren durch kurze Skype-Telefonate ersetzt worden. Die Zeitverschiebung hatte zur Folge, dass er putzmunter und geschäftig wirkte, während sie gerade unter die Bettdecke schlüpfte.
Anna beklagte sich nicht darüber. Sams Weltreisen gehörten Artems Erfolg. Die Firma hatte eine weitere Hürde genommen und konnte es sich nun leisten, sie beide voll anzustellen. Anna machte endlich das, wovon sie in ihren Jahren der Maloche unten in den Katakomben einer großen Kaufhauskette geträumt hatte, während sie überladene Handtaschen für Brautmütter entwarf. Artem produzierte eine sorgfältige Auswahl zeitloser, aber moderner, anspruchsvoll verarbeiteter Lederhandtaschen und Portemonnaies. Als eine große Bestellung von Selfridges bei ihnen eingetrudelt war, hatten sie und Sam sich heftiger betrunken als jemals zuvor, nur um kurz darauf festzustellen, dass Bloomingdale’s in New York ihre dunkelroten, echtblauen und schneeweißen Handtaschen ebenfalls in sein Sortiment aufnehmen wollte.
Aus diesem Grund flog Sam in der Weltgeschichte herum, und Annas Geheimnis war noch immer genau das – ein Geheimnis.
Die Hände in die Taschen gesteckt, starrte Anna auf Sams Fenster. Sie musste ihm die Neuigkeit mitteilen. Heute würde sie einen Mann zum Vater machen.
Ob es ihm gefiel oder nicht.
Die Türklingel schepperte blechern. Hinter dem Milchglas der Haustür war ein Schatten zu sehen. Anna wappnete sich und legte sich passende Worte zurecht.
«Du musst die berühmte Anna sein!» Der Schatten war nicht Sam. Eine Frau ungefähr in Annas Alter mit offenem, gesträhntem Haar öffnete ihr die Tür. Ihr Kleid mit Gürtel war lässig, aber stilvoll.
«Das bin ich wohl.» Anna trat einen Schritt zurück. «Und du bist …?»
Sams Gesicht tauchte hinter der Fremden auf. Es schien zu leuchten, es war ein Strahlen wie von einer Tausend-Watt-Birne. «Das ist Isabel.» Er küsste die Frau auf die Wange. «Meine Isabel.»
«Ach, hör auf damit, du!», lachte seine Isabel.
«Ja, hör auf damit, du!», echote Anna und fühlte sich überrumpelt, als sie die obligatorische Flasche überreichte. «Das», sagte sie und zeigte erst auf Isabel, dann auf Sam, «ist eine Überraschung.»
Sam warf ihr einen kurzen fragenden Blick zu, als hätte er den Unterton bemerkt, den sie nicht aus ihrer Stimme herauszuhalten vermochte.
«Wir sprechen jeden Tag miteinander, weißt du.» Anna wandte sich an Isabel, die sich an Sam schmiegte. «Er hat dich nicht erwähnt.» Sie sah Isabel zusammenzucken und von Sam abrücken, der sie jedoch wieder an sich zog.
«Ich hätte es dir sagen können», sagte Sam. «Ich wollte es, weiß Gott, aber dann habe ich beschlossen, es eine Weile für mich zu behalten. Bis klar war, dass Isabel genauso interessiert an mir ist wie ich an ihr.» Sam rüttelte scheinbar ängstlich an der Schulter der Frau. «Und das bist du doch, oder?»
«Gott, ja!»
Sam strahlte. «Wollte nur sichergehen.»
Die beiden beschrieben ihre putzige erste Begegnung, aber Anna hörte kaum dem Bericht zu, wie sie beide im Minimarkt gleichzeitig nach derselben Flasche Bleichmittel gegriffen hatten. Innerlich taumelte sie vor Entgeisterung und fragte sich dann, warum sie vor Entgeisterung taumelte. Dieser Mann war nicht ihr Besitz. Früher einmal hatte sie das Recht gehabt, sein Privatleben zu kontrollieren, aber nun durfte Sam Freundinnen haben.
«Das ist lustig», sagte sie geistesabwesend und hängte ihre Jacke unter die Treppe. In den sechs Jahren seit ihrer Scheidung hatte Sam kein einziges Date gehabt. Er war immer verfügbar gewesen, einfach immer da. «Hat Sam dich schon mit zur Rettungsstation in Southwold genommen, Isabel?» Seine dämliche Begeisterung für Rettungsboote war Gegenstand allgemeinen Spotts.
«Das musste er gar nicht.»
Isabels Nase kräuselte sich. Anna hatte die Zeit zu bemerken, wie vollkommen diese Nase war, und plötzlich überkam sie das Gefühl, ihre eigene sei ein Stotzen aus Fleisch.
«Ich bin Mitglied der Southwold Lifeboat Society.»
«Sie war schon öfter in Southwold als ich!» Sam schien beinahe zu platzen vor Begeisterung über diesen Beweis dafür, dass Isabel und er wie geschaffen füreinander waren.
Anna setzte sich auf das Sofa in gebranntem Orange. Eine Katze sprang auf ihren Schoß. Mit ihrem Schnurren, das an einen Motorradmotor erinnerte, übertönte sie das Geklapper der Turteltäubchen in der Küche.
«Caruso – hallo, mein Schatz.» Anna kraulte das Tier unter dem Kinn. Sam hatte bei der Scheidung das Sorgerecht für Caruso bekommen. Sein geschmeidiges, gestreiftes Fell zu streicheln war für Anna wie eine Reise in die Vergangenheit. «Ich wollte ihm von du-weißt-schon-was erzählen», flüsterte sie ihm ins weiche Katzenohr. «Aber das kann ich wohl vergessen.»
Anna liebte Sams Wohnung, die sie bei sich immer noch «die neue Wohnung» nannte. Sie lag nur ein paar Gehminuten von ihrem eigenen Haus entfernt, war praktisch und eher karg eingerichtet und wirkte auf angenehme Art maskulin. Die klaren Linien der 60er-Jahre-Architektur wurden durch Mid-Century-Möbel ergänzt. Neben dem Vinylsofa stand auf spindeldürren Beinen ein Wohnzimmertischchen, an den weißen Wänden hing ausgemacht kitschige Kunst. Nachdem er mit Annas Krempel hatte leben müssen – sie hinterließ eine Spur aus Papiertüchern, Make-up und Taschenbüchern, wo sie ging und stand –, hielt Sam alles schön minimalistisch.
«Ein Mojito für die Dame.» Sam trat mit einem Glas auf einem Tablett ins Zimmer.
«Mojito?», fragte Anna. «Normalerweise musst du noch mal eben Eiswein kaufen gehen, wenn du Lunch-Gastgeber bist.»
«Heute ist Isabel die Chefin.»
«Für mich nicht, danke.» Anna nahm die Schwangerschaftsrichtlinien ernst. «Habt ihr auch Saft?»
Sam schaute sie perplex an. «Liebe Güte, bitte sag mir nicht, dass du wieder auf Diät bist.»
«Ich versuche nur, ein bisschen weniger zu trinken.» Anna blickte zu ihrem Exmann in seinen unvermeidlichen Jeans, dem zotteligen Haar und der angesagten neuen Brille auf, die ihn endlich mit der aktuellen Mode in Einklang brachte.
«Also, was denkst du von ihr?», zischte Sam und neigte den Kopf in Richtung Küchendurchreiche. «Ist sie nicht großartig?»
«Sie ist reizend», sagte Anna ehrlich. Isabel wirkte kerngesund, frisch wie ein Klecks Sahne auf einer Ananasscheibe. «Sie ist nicht wirklich dein Typ.»
«Sie ist genau mein Typ.» Dieser Quatsch amüsierte Sam. «Es ist, als wäre sie eigens für mich geschaffen worden.»
Anna hatte geglaubt, sie wäre noch immer sein Typ. Sie spürte, wie er begierig darauf wartete, dass sie etwas Positives sagte, und so versuchte sie, die gekränkte Eitelkeit wegzudrücken. «Sie macht einen sehr netten Eindruck. Tolles Haar. Und die Schuhe.» Obwohl Anna normalerweise ein unerschöpflicher Quell des Positiven war, fiel es ihr jetzt schwer, großzügig zu sein. «Isabel ist sehr nett», wiederholte sie. Aber ich wünschte, sie würde verschwinden, damit wir reden können.
«Sie ist …» Auf der Suche nach Worten ging Sam vor Anna in die Hocke. «Sie ist so …»
«Schon kapiert», sagte Anna. «Du magst sie.»
«Es ist wichtig, dass du sie magst.» Er klang eindringlich. «Das tust du, oder? Du magst sie?»
«Ich bin der Frau eben erst begegnet.» Anna gab ihm einen spielerischen Schubs, sodass er nach hinten auf den Teppich kippte.
Nach und nach trudelten die anderen ein. Maeve fegte ins Zimmer, legte Schicht um Schicht ausgewaschener Ethnokleidung ab und rasselte die Tücken der Zugverbindung Brighton–London herunter. «Für einen Teil der Strecke gab es Schienenersatzverkehr. Wir wären schneller gewesen, wenn wir aus Schottland gekommen wären.» Sie gab Storm einen Schubs in Annas Richtung. «Gib deiner Tante einen Kuss.»
Obwohl Storm inzwischen dazu aufgefordert werden musste, liebte Anna seine Küsse. Er trug einen Liverpool-Trainingsanzug und sah von weitem aus wie jeder andere Teenager, aber für Anna war er noch immer das Wunder, dem sie vor dreizehn Jahren auf die Welt geholfen hatte.
Die Erinnerung daran, wie sie die Geburt hindurch Maeves Hand gehalten hatte, durchzuckte Anna. Geburten waren unschöne Angelegenheiten. Blutig. Schmerzhaft. Überwältigend. Geburten konnten aber auch freudvoll sein. Anna liebte ihren Neffen und hielt Storm fest umschlungen, bis er protestierte.
Bald würde sie selbst Mutter sein. Es kostete sie einige Mühe, das anzuerkennen, nachdem sie so lange auf Zehenspitzen um diese Vorstellung herumgetänzelt war. Sie fühlte sich geblendet vom grellen Scheinwerferlicht, in das Mutter Natur sie nun tauchte.
«Schaut mal, wer da ist!» Maeve führte einen Neuankömmling ins Zimmer, als würde ein Ehrengast kommen.
«Josh!» Anna hätte am liebsten in die Hände geklatscht. «Du hast es geschafft!»
«Ja, na ja …» Josh zuckte mit den Schultern. Wie Maeve besaß er das südländische Aussehen der Pipers. Er hatte dunkle, sanfte Augen und samtbraunes, schulterlanges Haar. «Sam, Kumpel!»
Es folgte maskulines Rückenklopfen. Sam und Josh hatten sich immer gut verstanden.
Isabel wurde Josh vorgestellt, sie blickte beim Nicken und Lächeln hübsch schüchtern drein und spulte das gesamte Neue-Freundinnen-Programm ab. Während Anna sie noch beobachtete, spürte sie das Prickeln eines anderen Augenpaars auf sich. Sam schaute sie an. In seinen Augen stand eine Frage. Anna wendete sich rasch um und begrüßte Neil und Santi.
«Wer ist diese Göttin?» Neil beugte sich hinab, um Isabels Hand zu küssen. Seine Stirn war noch immer leicht rosa von seiner jüngsten Haarverdichtung.
«Das ist die wunderbare Isabel.» Anna fragte sich, ob die Schwangerschaftshormone ihr vielleicht ins Hirn gesickert waren und ihre innere Zicke aufleben ließen.
«Encantado», sagte Santiago mit seinen erlesenen spanischen Manieren. Er stellte Isabel Paloma vor, die schon wieder ein neues Outfit trug und in den Armen ihres Vaters zufrieden strampelte.
Oder eines ihrer Väter. Der Plan war, dass das Kind Santi «Papi» nennen sollte und Neil «Daddy», aber dieser Tag lag noch in weiter Ferne. Paloma gurgelte vor sich hin und nahm ihre neue Welt mit Augen wahr, die aussahen wie Ausschnitte des Himmels. Sie blickte einen unverwandt an, was bei einem Baby von vier Monaten leicht verunsichernd wirkte.
«Sind wir alle da?», fragte Neil so ungeduldig wie immer und bereits gelangweilt von den beiden Turteltauben.
«Noch nicht ganz», erwiderte Sam. «Leute, euch ist noch nicht mal der Tisch aufgefallen.»
«Boah! Besteck!», sagte Anna amüsiert. Niemand erwartete sich von Sams Sonntagessen viel. Üblicherweise war es vom Pling! der Mikrowelle durchsetzt, und sie aßen mit den Tellern auf den Knien. Einmal hatte Anna ihren Pinot grigio aus einer Vase getrunken, doch heute stand ein richtiger Tisch vor dem Fenster, gedeckt mit waschechten Gläsern und Porzellan.
«Und saubere Teller!», fügte Santiago lachend hinzu. Er blickte sich nach einem Platz um, wo er Paloma ablegen konnte. Dabei ließ er die verschiedenen Taschen voller Babyausrüstung fallen. Er hielt das Baby Neil hin, aber der war zu sehr mit seinen Begeisterungsbekundungen über den Esstisch beschäftigt.
«Das geschieht», sagte Neil, «wenn man eine Frau in sein Haus lässt. Bravo, Isabel.»
«Und», sagte Sam und drückte die «Frau», «das Essen wird essbar sein.»
«Es ist nur Beef Wellington.» Isabel errötete.
«Nur!», quiekte Storm, der gerade eine vegetarische Phase hinter sich hatte und nun ein zügelloser Karnivore war.
«Aber zuerst», sagte Sam mit der Selbstgefälligkeit eines Zauberers, der sein Publikum gleich in Staunen versetzen wird, «die Vorspeise!»
Die Mitglieder des Clubs waren über so viel Vornehmheit verblüfft, und Sam wieselte hinaus in die Pantry-Küche. Anna hörte ihn leise fluchen, als er sich die Finger an einem Backblech voller Tarteletten verbrannte. Sie ging hinüber und half ihm, das Gebäck auf einer Platte zu arrangieren, die sie noch nie zuvor gesehen hatte – Isabel hinterließ in der Wohnung auf alle Fälle ihre Spuren. «Sam», setzte Anna mit ernster Stimme an. Sam hielt inne und sah sie an.
«Was?»
Sie wollte ihm eigentlich von dem kleinen Wesen erzählen, das gerade in ihr Gestalt annahm. Stattdessen sagte sie: «Wie kommt es, dass du nie eine Minute Zeit gefunden hast, mir von Isabel zu erzählen? Ich meine, es sieht ganz so aus, als läge sie dir sehr am Herzen, aber kein Wort, nada, wie Santi sagen würde.»
Sam wurde ganz leise. «Worum geht es hier?»
Verwirrt davon, dass er auf ihre Frage mit einer Gegenfrage reagierte, warf Anna ihm einfach eine weitere zu: «Worum geht es wobei?»
«Bei deinem Verhalten.» Sam hielt seine Stimme gesenkt. «Du machst spitze Bemerkungen, seitdem du Isabel kennengelernt hast.»
«Mache ich nicht.»
«Oh doch, und das weißt du.» Sam stieß Luft aus. «Hör mal, wenn du es wirklich wissen musst, ich habe Isabel für mich behalten, weil na ja, weil das mit ihr etwas Wertvolles ist, weißt du? Ich wollte nicht, dass mir jeder seine Meinung dazu aufdrängt. Ich wollte sie kennenlernen und herausfinden, was ich wirklich für sie empfinde, bevor ich es öffentlich mache.»
Es schmerzte Anna, mit allen anderen in einen Topf geworfen zu werden. «Aber ich erzähle dir von allen meinen Katastrophen.»
«Das hier fühlt sich anders an», erwiderte Sam. «Freu dich für mich, Anna, ja?»
«Natürlich freue ich mich für dich.» Sie meinte es ernst, wirklich, und trotzdem … «Sam, hör mal, es gibt etwas, das ich dir …»
«Wird auch Zeit», murmelte Sam und blickte an ihr vorbei.
«Ich weiß, ich bin zu spät dran, sorry, Mann.» Groß, mit goldblonden Haaren und verruchten Augen stand der Barkeeper von Neils großer Feier vor ihnen. «Zeig mir die Getränke, und ich lege los.» Er zwinkerte Anna zu.
Auch das noch! Was will der denn hier?
«Hallo», presste Anna zwischen ihren schmalen Lippen hervor. Sie stürmte aus der engen Küche, streifte dabei den muskulösen Körper des Adonis und fühlte, wie ihr Kopf rot anlief.
«Ihr alle», sagte Sam und führte den jungen Mann in das kleine Wohnzimmer, «erinnert ihr euch an Dylan?»
«Ja», sagte Maeve nachdrücklich und streckte die Brust vor.
«Dyl?» Neil war entzückt, eine seiner Nieten zu treffen. Über seine Werbeagentur lernte er viele arbeitslose Schauspieler und Models kennen und hielt für sie immer ein Auge nach Jobs offen, mit denen sie etwas Geld verdienen konnten. Diese Nieten hatten alle eins gemeinsam: Sie sahen sagenhaft gut aus. «Übernimmst du wieder die Bar?»
«Genau.» Dylan fing Annas Blick auf. «Ihr Drink, Madam, ist ein Gin Tonic, wenn ich mich recht erinnere.»
«Ein Wasser mit Kohlensäure», antwortete Anna scheu. Dylans nordirischer Singsang sollte als Heilmittel gegen nachlassende weibliche Libido auf Rezept verschrieben werden. Innerlich stöhnte sie auf. Das war das Letzte, worüber sie mit dem Wesen in ihr jetzt nachdenken sollte.
Das Beef Wellington war ein Triumph. Anna ließ sich eine zweite Portion geben.
«Es ist so schön», flüsterte Santi ihr ins Ohr, «Sam mit einer Freundin zu sehen.»
«Du alter Romantiker, du.» Anna hätte gern zugestimmt.
Paloma wand sich auf dem Schoß ihres Papis und patschte mit ihren kleinen Handflächen auf seinen Teller. Alle Gäste wichen zurück, als sie mit Soße um sich spritzte.
«Du kannst nicht gleichzeitig essen und das Baby still halten.» Anna wischte sich braunen Glibber von den Augenbrauen. «Neil! Nimm du mal einen Moment deine Tochter.»
«Ich bin beschäftigt, Schätzchen.» Neil war damit «beschäftigt», auf seinem Telefon durch die Schnappschüsse von Paloma zu scrollen und sie Dylan zu zeigen, der sich ungeachtet seiner Barkeeper-Pflichten zum Essen an den Tisch gesetzt hatte.
«Schon okay», sagte Santi, doch Isabel kam eilig herüber und nahm ihm Paloma ab.
«Lass mich übernehmen.» Sie lächelte. «Ich liebe Babys.»
Vermutlich trug die Frau irgendwo an ihrem Körper ein Handbuch mit sich herum: Gefällige Dinge, die ich zu den Kumpeln meines neuen Freundes sagen kann.
«Babys mögen wir ja wohl alle», erwiderte Anna. Ihr war klar, dass sie sich damit am Tisch eigenartige Blicke einfing.
«Ich nicht.» Dylan lehnte sich zufrieden zurück. «Kann sie nicht ausstehen.»
«Ich wusste, dass du das sagen würdest!» Maeve tauschte ihren Sitzplatz mit Storm und ließ sich neben Dylan fallen. «Ich bin ein bisschen hellseherisch veranlagt. Manche Sachen weiß ich einfach.»
«Sie meint», sagte Neil und hielt ein Foto von Paloma hoch, auf dem sie als Meerjungfrau verkleidet war, «sie ist ein bisschen durchgeknallt veranlagt.»
«Mein Bruder ist ein Betonkopf.» Maeve beugte sich zu Dylan vor. «Wohingegen ich ein ganz offener Mensch bin. Ich spüre Schwingungen. Ich empfinde Auren.»
«Und du trinkst so viel Rioja, wie du wiegst», sagte Neil.
Anna konnte sehen, dass er verärgert war, weil Maeve ihm Dylan abspenstig gemacht hatte. Dieser hatte seinen Stuhl leicht gedreht, um Maeve anzusehen. Das konnte man ihm nicht zum Vorwurf machen, fand Anna. Ihre Schwester war mit ihrer dunklen Schönheit trotz des schmuddeligen Batik-Looks auf gewisse Weise unwiderstehlich. Sie zog Männer an, selbst wenn ihr Zauber durch Alkohol litt.
Anna fing Storms Blick auf. Der Junge hatte den Glamour seiner Mutter geerbt und verband ihn mit einer ganz eigenen nüchternen Anmut. Er war traurig, der junge Storm. Als Kleinkind war er ernst gewesen, und jetzt war er zu einem introvertierten Teenager geworden. Seiner Mutter beim Flirten zuzusehen stand ganz oben auf seiner Liste unerträglicher Qualen. Anna streckte ihm die Zunge heraus, und er musste gegen seinen Willen lächeln.
Josh, der weniger gegessen hatte als alle anderen, sagte sanft: «Wir haben alle in gewisser Weise übernatürliche Fähigkeiten. Jeder besitzt Intuition, oder?» In allen Familien gibt es Fraktionen, und Josh schlug sich zumeist auf Maeves Seite. Egal, wie exzentrisch sie war.
«Erinnert ihr euch noch an den Abend, als Mum und Dad verkündet haben, dass sie auswandern?» Maeves Gesicht war dem Dylans sehr nahe. «Ich wusste, dass sie uns das mitteilen würden. Stimmt’s?», fragte sie in die große Runde.
«Nein», antwortete die große Runde.
«Genau genommen hast du gesagt», erwiderte Sam amüsiert und zog Isabel und Paloma näher zu sich heran, «deine Eltern würden uns gleich mitteilen, dass sie sich scheiden lassen werden.»