Das Gold der Küste - Isabel Voss - E-Book

Das Gold der Küste E-Book

Isabel Voss

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Beschreibung

Eine junge Frau kämpft gegen den Untergang ihrer Heimat - ein spannender Historischer Roman über die Küstenstadt Rungholt, das »deutsche Atlantis«

Rungholt, 1361. Gelegen auf den weitläufigen Salzwiesen der nordfriesischen Küste, ist Rungholt durch den Abbau von Salz, durch Fischerei und internationalen Handel reich geworden. Zwei verfeindete Familien teilen sich die Macht: die von Tammo Jaspers, dem die meisten Salzwiesen gehören, und die von Ove Barwegen, der im Besitz der Fischereiflotte ist. Tammos Tochter Fenna und Oves Sohn Jorik lieben sich, doch das darf niemand erfahren, sonst käme es zur blutigen Fehde. Und nicht nur ihr Glück ist bedroht: Der Salzabbau schädigt die Küste. Fenna warnt seit Langem, dass der nächste Sturm zu Rungholts Untergang führen kann, aber niemand will auf sie hören. Wird es ihr dennoch gelingen, die Stadt und ihre Liebe zu retten?

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Seitenzahl: 514

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INHALT

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressum123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051525354555657585960616263646566676869707172Fakten und Fiktion

Über dieses Buch

Eine junge Frau kämpft gegen den Untergang ihrer Heimat – ein spannender Historischer Roman über die Küstenstadt Rungholt, das »deutsche Atlantis« Rungholt, 1361. Gelegen auf den weitläufigen Salzwiesen der nordfriesischen Küste, ist Rungholt durch den Abbau von Salz, durch Fischerei und internationalen Handel reich geworden. Zwei verfeindete Familien teilen sich die Macht: die von Tammo Jaspers, dem die meisten Salzwiesen gehören, und die von Ove Barwegen, der im Besitz der Fischereiflotte ist. Tammos Tochter Fenna und Oves Sohn Jorik lieben sich, doch das darf niemand erfahren, sonst käme es zur blutigen Fehde. Und nicht nur ihr Glück ist bedroht: Der Salzabbau schädigt die Küste. Fenna warnt seit Langem, dass der nächste Sturm zu Rungholts Untergang führen kann, aber niemand will auf sie hören. Wird es ihr dennoch gelingen, die Stadt und ihre Liebe zu retten?

Über die Autorin

Isabel Voss interessiert sich für Rätsel der Geschichte, seit sie als Teenager Ein Tropfen Zeit von Daphne du Maurier las. Nach dem Studium arbeitete sie zunächst als Journalistin und Übersetzerin, bevor sie ihren ersten Roman schrieb. Voss reist gern und fühlt sich überall in der Welt zuhause, deshalb sind auch ihre Bücher an mehr als einem Schauplatz angesiedelt.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Heike Rosbach, Nürnberg

Titelillustration: © shutterstock.com: Inga Nielsen | Groundback Atelier; © Richard Jenkins Photography

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2832-4

luebbe.de

lesejury.de

1

Rungholt

1350

»Gott hat seine Hand über uns gehalten!« Adalrich, der Bischof von Rungholt, thronte auf einem Podest auf dem Marktplatz und streckte die Arme gen Himmel, der in der Mittagssonne blau leuchtete und nur von einzelnen dicken grauen Wolken durchbrochen wurde, die sich in wilder Hatz zu jagen schienen.

Auf dem Marktplatz drängten sich die Menschen, jeder versuchte, einen Platz zu ergattern, möglichst nahe an dem Podest, um zu hören, was Adalrich sagte. Denn nur wenige Meter entfernt verwehte der auffrischende Wind die Worte.

Fenna stand auf einem Schemel unterhalb des Podests in der ersten Reihe und hörte gespannt zu. Sie liebte es, wenn viele Menschen um sie herum waren. Es gab immer etwas zu sehen und zu hören, immer etwas Neues und Interessantes. Ihr Vater hatte einmal gesagt, dass sie ihm Löcher in den Bauch fragte. Fenna war erschrocken und hätte fast geweint, weil sie geglaubt hatte, Vater wehgetan zu haben. Doch der hatte ihr schnell erklärt, dies sei nur eine Redensart und sein Bauch unversehrt und er sei froh, dass sie mit ihren fünf Jahren so wissbegierig sei, und dass sie ihn immer alles fragen dürfe.

Vater war der Redjeve von Rungholt, der Bürgermeister und erster Richter, deshalb gebührte ihr, seiner Tochter, ein besonderer Platz. Darauf war sie stolz, ebenso wie Mutter, die an der Seite des Schemels stand und sie festhielt. Vater hatte sich neben Adalrich gestellt. Er sah prächtig aus in seinem grünen Samtwams und der goldenen Amtskette. Er hatte eine ernste Miene aufgesetzt. Die passte so gar nicht zu ihm, denn wenn er zu Hause war, lachte und scherzte er oft, warf Fenna in die Höhe und fing sie wieder auf. Es war wie fliegen. Fenna schaute in den Himmel und stellte sich vor, Vater würde sie so hoch in die Luft werfen, dass sie sich auf eine Wolke setzen konnte.

Adalrichs Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie sah sich um, und für einen Moment schaute sie Ove Barwegen in die Augen, dem Amtsmeister der Fischer. Sein grimmiger Blick erschreckte sie, schnell schaute sie wieder Vater an, der in die Ferne zu sehen schien.

Der Bischof fuhr fort, seine Stimme klang schrill. »Der Herr hat unsere Gebete erhört und uns verschont, obwohl es noch immer viele gibt, die den alten Göttern anhängen. Nur wenige sind in Rungholt und auf den Uthlanden dem Schwarzen Tod zum Opfer gefallen. Gottes Gnade ist unermesslich.« Mit einer Holzkelle nahm er Salz aus dem Fass vor sich und verstreute es in den Wind, der es sofort mit sich forttrug. »Nimm dieses Opfer, o Herr, als Dank für deinen Schutz.«

Ein Teil des Salzes landete auf Fennas Kleid. Sie befeuchtete einen Finger, stippte einige Krumen auf und leckte sie ab. Es schmeckte wunderbar, doch sie war ärgerlich, weil Adalrich das Salz einfach wegwarf. »Mutter, warum verschwendet der Priester das gute Salz?« Fenna hatte bereits gelernt, dass man es nicht verschütten durfte, denn es war zu wertvoll.

»Das ist keine Verschwendung. Er dankt Gott dafür, dass der Schwarze Tod unsere Stadt verschont hat und auch das ganze Bistum. Das hat er doch gesagt, nicht wahr?«

»Ja, das hat er. Ich habe ihn gehört. Wenn Gott aber so mächtig ist, warum will er dann, dass wir Salz verschwenden?«

Mutter sah Fenna ernst an. »Das kannst du noch nicht verstehen mit deinen fünf Jahren, mein Kind. Die Götter tun so vieles, dessen Gründe uns Sterblichen verborgen bleiben.«

Fenna wusste genau, wann Mutter nicht weiter über etwas reden wollte. Jetzt war so ein Moment, und deshalb schwieg sie, obwohl sie gerne erfahren hätte, warum die Menschen irgendwann sterben mussten und die Götter nicht.

Ein kräftiger Windstoß ließ ihre Mutter wanken. Ein Raunen ging durch die Menge, die Menschen bogen sich wie Halme auf einem Weizenfeld. Fenna hob den Blick erneut zum Himmel. Wo vor wenigen Augenblicken noch blauer Himmel zu sehen gewesen war, türmten sich nun schwarze Wolken, die immer dichter wurden. Es würde Regen geben, da war sich Fenna sicher. Regen war gut, denn sie brauchten das Wasser für das Vieh und zum Trinken, sie sammelten es in Brunnen. Dennoch wollte sie nicht nass werden. Nur gut, dass es bis zu ihrem Haus lediglich ein paar Schritte waren.

Aber es waren so viele Menschen da, dass man sich kaum rühren konnte. Obwohl Fenna auf dem Schemel stand, um besser zu hören und zu sehen, konnte sie die Menge nicht überblicken. Sie füllte den gesamten Marktplatz aus, und sogar in den angrenzenden Gassen waren noch Leute und versuchten, ein Wort des Bischofs zu erhaschen. Einige, die Adalrich hören konnten, gaben seine Worte nach hinten weiter. Aber manchmal kam bei den letzten Leuten etwas ganz anderes an als das, was anfangs gesagt worden war. Das war Vater einmal passiert. Er hatte von neuen Prahmen gesprochen, Schiffen, die zum Fischen benutzt wurden, und viele hatten sich gefragt, wozu sie Rahmen bräuchten.

Nun ergriff Vater das Wort, Fenna sah ihn voller Bewunderung an. Sie konnte sich nicht vorstellen, vor so vielen Leuten zu sprechen.

»Seit Menschengedenken ist keine so große Not mehr über die Menschen gekommen. Die Pestilenz ist durch alle Länder gerast und hat ungeachtet Alter und Stand und Glaube nichts als Tod hinterlassen. Auf dem Festland sind ganze Dörfer verwaist, in den Städten weiß man nicht mehr, wohin mit den Toten, Geisterschiffe treiben auf der See, der Handel ist fast zum Erliegen gekommen. Doch nun geht es wieder aufwärts. Die Plage ist von uns genommen. Wir rüsten Schiffe aus, um Hering zu fangen und auszuliefern. Wir heizen die Siedekessel an, um das Salz des Meeres zu gewinnen, das in den Wiesen auf uns wartet und das uns geschenkt wurde zu unserem Nutzen. Wir müssen hart arbeiten und schnell, denn überall herrscht noch immer große Not. Viele Menschen, die dem Schwarzen Tod entkommen sind, leiden furchtbaren Hunger. Wir können dazu beitragen, ihn zu lindern.«

Ein Donnerschlag ließ alle zusammenzucken. Fenna duckte sich und spürte die Unruhe in der Menschenmenge. Eyk, der Schamane, hatte ihr erzählt, dass es der Donnergott Thor war, der ihn mit seinem Hammer Mjöllnir erklingen ließ, wenn er den auf den Amboss schlug, und damit auch die Blitze entfachte, die den Himmel durchzuckten. Doch sie brauche keine Angst zu haben, denn Thor träfe nur die bösen Menschen und sie sei ein gutes Mädchen, das der Gott sicherlich ins Herz geschlossen habe. Wieder donnerte es, eine Böe riss die Fahne mit dem Wappen von Rungholt vom Mast. Ohne Vorwarnung brach der Regen los. Es war, als hätte jemand einen Eimer Wasser über Fenna ausgeschüttet. Innerhalb weniger Augenblicke war sie vollkommen durchnässt, da half ihr auch der dichte Filzumhang nichts. Vater sprang vom Podest, packte Fenna, hob sie hoch, drängte sich mit ihr zum Haus und drückte sie Frauke, der Kellerin, in die Hand, die dem Gesinde vorstand und schon vor Fennas Geburt bei den Jaspers gearbeitet hatte.

»Ein Sturm zieht auf. Schneller als erwartet. Ich muss hinauf auf den Deich. Gib gut auf sie acht.« Er drückte Fenna an sich, Wasser spritzte, so nass waren beide. »Du machst, was Frauke sagt, verstanden? Als Erstes ziehst du dir trockene Sachen an.«

Er wandte sich an die Magd. »Behalte die Gasse im Blick. Wenn die Flut kommen sollte, dann steig mit Fenna hinauf auf den Dachboden. Ich nehme die Knechte mit. Wir brauchen jede Hand, die Deiche sind an vielen Stellen schwach, denn sie sind lange nicht ausgebessert worden. Mögen die Götter uns behüten.« Wie als Antwort krachte ein Donner über dem Haus, das erbebte, ebenso wie Fenna. So nah und so laut hatte sie noch nie Thors Hammer gehört.

Frauke wurde blass, Fenna bekam Angst, aber nicht wegen des Donners, sondern weil Vater nicht weggehen sollte. »Vater, bitte bleib hier. Geh nicht weg. Wo ist Mutter?«

Sie klammerte sich an seinen Arm, doch er machte sich los. »Ich komme wieder. Hab keine Angst.«

Sein Gesicht war ernst und furchtsam zugleich. Ohne ein weiteres Wort erhob er sich und stürmte aus dem Haus. Der Wind riss ihm die Tür aus der Hand, nur mit Mühe konnte er sie wieder schließen.

Frauke nahm Fenna an der Hand, die nicht vor Kälte, sondern vor Angst zitterte. Sie zog ihr trockene Sachen an und setzte sie an den Ofen. Zwar war Fenna todmüde, doch sie konnte nicht schlafen. Wo war Mutter? Wo Vater? Was, wenn die Flut ganz Rungholt verschlang? Der Sturm heulte immer lauter, Fenna hielt sich die Ohren zu. Frauke wiegte sie in ihren Armen. Die Lider wurden ihr schwer, schließlich schlief sie ein.

Ein Krachen riss Fenna aus dem Schlaf. Die Tür war aufgeflogen. Ihr Herz raste. Wurde sie jetzt von der Flut verschluckt? Musste sie elendiglich ertrinken?

Doch es war nicht die Flut, sondern Vater, Eyk und drei Knechte, die durch die Tür kamen. Sie trugen ein großes Bündel und legten es auf den Tisch. Fenna sprang auf, stürzte zum Tisch, stieß einen schrillen Schrei aus. Es war Mutter.

Frauke zog Fenna weg, doch sie schlug um sich, die Magd musste sie loslassen. Fenna warf sich auf ihre Mutter, die nass war und kalt wie Eis. Schmerz schoss durch ihre Brust, ihr Herz schien zerspringen zu wollen.

»Fenna!« Wie durch eine Wand hindurch hörte sie die Stimme ihres Vaters. »Fenna, du musst jetzt stark sein.«

Er strich ihr übers Haar, Fenna vergrub ihr Gesicht in den nassen Kleidern ihrer Mutter. »Wach auf, Mutter!«, schluchzte sie. »Wach doch auf.«

Sie spürte Vaters starke Arme, die sie von Mutter wegzogen. Er presste sie an seine Brust, sie hörte ihn schluchzen, spürte seine heißen Tränen an ihrer Wange. Sie hatte Vater noch nie weinen sehen. »Sie wird nie mehr aufwachen, mein Kind. Sie ist jetzt bei unseren Vorfahren und sieht auf uns herab.« Er drückte Fenna von sich weg, legte ihr die Goldkette mit der Figur von Frigga um den Hals, die er Mutter zur Hochzeit geschenkt hatte, und drückte Fenna wieder an sich. Seine Stimme brach. »Eines Tages sind wir wieder vereint. Glaub mir.«

Aber Fenna glaubte ihrem Vater nicht, denn er brachte kein Wort mehr hervor und weinte genauso bitterlich wie sie. Sie nahm Frigga in ihre kalte klamme Hand, flehte sie an, Mutter wieder lebendig zu machen. Doch die Göttin erfüllte ihren Wunsch nicht. Dunkelheit breitete sich in Fenna aus, und dann fühlte sie plötzlich nichts mehr.

2

Fenna

11 Jahre später

Seit drei Tagen scheuchte Fenna Frauke, die anderen Mägde und die Knechte durchs Haus. Graf Nikolaus kam zu Besuch, und da musste alles blitzblank sein, nirgends durfte ein Stäubchen liegen, geschweige denn ein Dreckklumpen. Zweimal war der Holzboden geschrubbt worden, danach hatte Fenna Wachs einarbeiten und die Dielen polieren lassen. Alles sollte so glänzen wie in Schleswig, in der herzoglichen Burg, wo man nirgends Stroh oder Sand auf dem Fußboden fand, so wie in den Häusern der Bauern und der meisten Bürger.

Vater war schon mehrfach dort gewesen und hatte Fenna von Räumen erzählt, die so hoch waren wie ihr ganzes Haus, von Dutzenden Bediensteten, von Hunderten Kerzen in silbernen Leuchtern. Die Burg lag inmitten eines kleinen Sees und war nur über eine Landzunge und eine Hängebrücke erreichbar. Sie hatte dicke Mauern mit Wehrtürmen, und es hielten ständig an die hundert Soldaten auf den Wehranlagen Wache. Vater war davon überzeugt, dass die Burg uneinnehmbar war, und Fenna wollte ihn nicht enttäuschen, indem der Graf das Haus der Jaspers als seiner unwürdig empfand.

Natürlich war ihr Elternhaus keine Burg. Aber es war nach dem Rathaus mit den vier Ein- und Ausgängen das schönste und größte Haus in ganz Rungholt.

Bevor es zum Bankett ins Rathaus ging, würde Graf Nikolaus von Schleswig auf einen Krug des jaspersschen Bieres vorbeischauen und bei der Gelegenheit einige vertrauliche Worte mit ihrem Vater wechseln, die für das Schicksal von Rungholt von großer Bedeutung sein würden.

Der Tross des Grafen musste jeden Augenblick in Sicht kommen. Fenna kontrollierte noch einmal, ob die Strohblumen richtig aufgehängt waren, ob die Krüge blitzblank, das Brot geschnitten und Käse, Fisch und Schinken auf den Holzplatten appetitlich angerichtet waren. Das Gesinde hatte natürlich auch sauber zu sein, alle hatten ihre besten Gewänder angelegt.

Das große Festbankett, bei dem alle Noblen Rungholts und der Uthlande ihre Aufwartung machen würden, fand im Rathaus statt. Dort gab es alles, was die Küche zu bieten hatte: Fasan im eigenen Gefieder, Ente im Maul eines Fuchses, Fische aller Art, Gemüse, Obst, feinstes weißes Brot und allerlei Leckereien mit Zimt, Zucker, Nelken und Mandeln. Fenna freute sich auf das Bankett, doch nicht wegen der erlesenen Speisen, sondern vor allem wegen der Spielleute, die für Kurzweil sorgten, und der Neuigkeiten, die an einem solchen Tag zu hören waren.

Das letzte Mal war der Graf vor zwei Jahren zu Besuch gewesen, und Fenna war fast verrückt geworden vor Aufregung, weil sie erstmals ganz allein dafür verantwortlich gewesen war, dass das Haus der Jaspers seinen Ansprüchen genügte. Vater war zufrieden gewesen, und der Graf ebenfalls. Fenna war vor Stolz fast geplatzt, als Vater ihr am nächsten Tag über die Haare gestrichen und gesagt hatte: »Was würde ich nur ohne dich machen, mein Kind?« Wenn er gewusst hätte, dass sie zwei Nächte vorher nicht hatte schlafen können, wäre er vielleicht nicht so begeistert gewesen. Doch in diesem Jahr hatte sie gut schlafen können.

Sie seufzte, fasste kurz an die kleine Holzfigur von Frigga, die seit Mutters Tod um ihren Hals hing. Mutter hatte diese Aufgabe immer spielend bewältigt, gleich wer zu Gast war. Fenna erinnerte sich voller Wehmut daran, wie sie in der Küche gesessen und Mutter mit ihrer warmen Stimme allen aufgetragen hatte, was sie wann und wie zu tun hatten.

Nur zwei Monate später war Mutter in den tosenden Wellen einer Sturmflut ertrunken, als sie zwei Kinder retten wollte. Der Deich von Klein-Rungholt, der südlich gelegenen Siedlung der Salzsieder, war gebrochen. Dutzende waren ertrunken. Die beiden Kinder hatten überlebt, weil Mutter sie auf ein treibendes Scheunentor gehievt und daran festgebunden hatte, bevor ihr die Kräfte geschwunden waren. Sie hatte sich nicht mehr festhalten können und war untergegangen. Vater und Eyk hatten sie aus dem ablaufenden Wasser bergen können. Nur wenigen wurde dieses zweifelhafte Glück zuteil, denn was die Nordsee verschlang, gab sie nur selten wieder her. Die meisten Familien hatten ihre Angehörigen nicht bestatten können, und einige Familien hatte der Sturm vollständig ausgelöscht.

Bevor die Trauer sich ihrer bemächtigte, rief sie nach dem Braumeister, der im Keller nach dem Bier sehen sollte. Es musste frisch sein, es musste das Beste sein. Sie ging noch einmal alles durch und kam zu dem Schluss, dass alles trefflich vorbereitet war. Dennoch klopfte ihr Herz heftig bei dem Gedanken, sie könnte etwas vergessen oder falsch gemacht haben.

Die Glocken von Sankt Bonifatius ertönten. Der Graf war da! Dunkel schlug die große, hell und durchdringend die kleine. Die zwei Glocken waren nicht mit anderen zu verwechseln, denn beide hatten einen winzigen Sprung, der ihnen einen Unterton gab, den man sonst nirgends in den Uthlanden hören konnte.

Fenna reihte sich mit dem Gesinde vor dem Haus auf.

Rungholt hatte nicht nur die größte Schleuse ganz Frieslands, durch die auch die schwersten Koggen in den sicheren Hafen einlaufen konnten, sondern auch weit und breit den schönsten und geräumigsten Marktplatz. Er war fast quadratisch und maß dreihundert Fuß in der Länge und ein wenig mehr in der Breite. In der Mitte thronte das Rathaus, auch das »Weiße Haus« genannt, denn die Backsteine waren gekalkt. Die Farbe symbolisierte die Reinheit der Gedanken, die Gerechtigkeit des Gesetzes und die Unbestechlichkeit des Redjeven und der Ratsleute. Die vier Ein- und Ausgänge standen für die Handelsbeziehungen, die in alle Himmelsrichtungen reichten: von Stockholm bis in das Land der Rus, von Aragon bis Byzanz, von Hamburg bis Jerusalem.

Der Platz war schwarz von Menschen. In der Mitte hatte die Stadtwache einen Weg frei gemacht, damit der Graf und sein Gefolge ungehindert passieren konnten. Sie präsentierten Fahnen mit dem Wappen der Stadt und der Ämter, wie die Zünfte in Rungholt genannt wurden. Fanfaren ertönten. Durch die Ostgasse kamen die ersten Ritter in einer Zweierreihe auf ihren Schlachtrössern auf den Marktplatz geritten, hielten Banner in der Hand mit dem Wappen des Grafen: die blauen Löwen auf gelbem Grund.

Die Ritter stellten sich rechts und links auf, bildeten eine Gasse, die bis zu Fenna reichte. Vater und der Graf von Holstein ritten nebeneinander und schienen bester Laune. Nikolaus sah aus wie ein wahrer Ritter, als käme er gerade von der Tafelrunde des Königs Artus: Seine Rüstung schimmerte, er hielt sich aufrecht, lenkte sein Pferd lässig mit einer Hand. Sie plauderten angeregt, machten Scherze, lachten. Graf Nikolaus wandte seinen Blick Fenna zu, hielt sein Pferd vor ihr an und sprang aus dem Sattel. Vater ging es etwas ruhiger an.

Nikolaus lächelte Fenna an, die vor ihm knickste und, wie es sich gehörte, in gebeugter Haltung blieb. Er nahm ihre Hand und zog sie hoch.

»Wir grüßen Euch, Frou Jaspers. Wir müssen sagen, Ihr seid zu einer wahren Schönheit erblüht.«

»Ihr hofiert mich, Graf Nikolaus.« Fenna musste zugeben, dass sie sich geschmeichelt fühlte, aber sie wusste auch, dass es zur Etikette der Ritter und des Hofes gehörte, die Frau des Gastgebers mit Komplimenten zu überhäufen. Da Mutter nicht mehr lebte, war sie die Gastgeberin und daher die Empfängerin dieser Komplimente.

»Aber, aber, mein Kind. Ihr solltet Euch nicht kleinmachen, im Gegenteil. So mancher Ritter würde ohne Zögern in den Kampf ziehen, um Eure Gunst zu gewinnen.« Er beugte sich zu ihr herunter. »Wer weiß, was der Tag für Euch noch bringen wird.«

Fenna hielt den Blick gesenkt, sie wollte nicht, dass der Graf den Schrecken in ihren Augen sehen konnte. Hoffentlich war Nikolaus nicht gekommen, um mit Vater Heiratspläne zu besprechen. Dass er sie zur Frau nehmen wollte, war natürlich ausgeschlossen, denn sie entstammte nicht dem hohen Adel. Nur ein Abkömmling des niederen Adels, ein verarmter Ritter, würde sie vielleicht nehmen, wenn die Mitgift groß genug war. Und das wäre furchtbar. Sie wollte nicht auf einer kalten Burg vor Einsamkeit und Heimweh vergehen.

Fenna wusste, dass die Grafen und Herzöge immer bemüht waren, ihren Machtbereich zu vergrößern, sei es durch Heirat oder auch mit Gewalt. Rungholt war die Hauptstadt der reichen und unabhängigen Uthlande, diese wiederum waren in viele Harden aufgeteilt, alles zusammen war ein Teil Nordfrieslands. Schon immer versuchten entweder der dänische König oder die Herzöge von Schleswig und Grafen von Holstein, die Uthlande für sich zu gewinnen und für immer zu besitzen.

Zurzeit galt die Treue der Uthlande den Grafen von Holstein. Vater war es zu verdanken, dass hier nach wie vor altes friesisches Recht galt, und nicht das dänische oder das der holsteinischen Grafen. Als Gegenleistung erlaubte Rungholt den Schiffen der Grafen unentgeltlich die Nutzung des Hafens und zahlte Abgaben, zweihundert Pfund Silber jährlich, genug um vierzig Berittene jeweils mit Pferd, Steigbügel, Sporen, Helm, Schwert, Scheide, Kettenhemd, Messer, Schnalle und Lanze auszurüsten. Ein gutes Geschäft, denn der dänische König wäre nicht so bescheiden gewesen, er hätte das Doppelte verlangt und fünfhundert Berittene zu seiner Verfügung obendrauf.

»Bitte tretet ein, Hoheit.«

Zwei Ritter wollten dem Herrn von Schleswig zuvorkommen, denn es war üblich, dass die Leibgarde jeden Raum, den dieser betrat, in Augenschein nahm, um Anschläge zu verhindern. Doch der Graf hielt sie zurück.

»Schon gut, Männer. Der Redjeve von Rungholt ist über jeden Zweifel erhaben.«

Die Ritter verbeugten sich, Nikolaus trat durch die offene Tür, dann Vater und schließlich Fenna. Die Leibgarde folgte ihnen auf dem Fuße. Fenna spürte, dass sie niemandem trauten und jeden erschlagen würden, der es wagte, dem Grafen in feindlicher Absicht gegenüberzutreten. Vater hatte ihr, den Dienern und Knechten eingeschärft, keine unbedachte Bewegung zu machen, die die Leibwache als Angriff missdeuten könnte.

Vater übernahm die Führung und geleitete den Grafen in den großen Saal, in dem auf Bänken und Stühlen an die achtzig Personen Platz hatten. Nur der Ratssaal war größer. Nikolaus schaute sich um, nickte anerkennend.

»Euer Haus ist wie ein Palast, werter Meister Jaspers. Angemessen für Eure Stellung als Redjeve.«

»Ich danke Euch, Hoheit, dass Ihr unser bescheidenes Heim, das Eurer Stellung in keiner Weise genügen kann, lobt.«

Nikolaus grinste. »Genug der Formalitäten und Schmeicheleien.« Dann stutzte er und wandte sich an Fenna. »Ihr seid davon ausgenommen, Fenna Jaspers, denn was ich über Eure Schönheit und Anmut sagte, ist keine Schmeichelei, sondern die Wahrheit.«

Fenna neigte den Kopf. »Daran habe ich nicht einen Moment gezweifelt.«

Der Graf grinste und legte den Kopf schief.

Fenna bereute ihren Satz, denn sie erkannte, dass ihre Antwort zweideutig war. Einerseits wollte sie sagen, dass sie Nikolaus glaubte, andererseits konnte der sie als überheblich empfinden, weil sie damit sich selbst als Schönheit bezeichnete.

Doch er grinste nur. »Der Ritt war lang und anstrengend. Wir haben ihn nur ertragen, weil Wir Uns vorstellten, wie Wir einen Krug Bier an die Lippen setzen und ihn in einem Zug leeren.«

Vater schnippte mit den Fingern. Sofort brachte ein Diener drei irdene Krüge auf einem silbernen Tablett, die randvoll mit Bier gefüllt waren. Graf Nikolaus nahm den einen, Vater den anderen, Fenna als Letzte den dritten.

Einer der Ritter räusperte sich. »Herr, verzeiht, aber sollte nicht der Vorkoster …«

Der Graf wedelte mit der Hand durch die Luft. »Wären Wir am Hofe des dänischen Königs, würden Wir Euch recht geben. Hier aber fühlen Wir Uns sicher. Denn der Redjeve hat keinen Grund, Uns aus dem Weg zu räumen. Ist es nicht so, Meister Jaspers?«

Vater hob seinen Krug. »Bei meiner Ehre, so ist es!«

Nikolaus ließ seinen Krug gegen den des Vaters krachen. Fenna fürchtete schon, dass sie zu Bruch gehen würden. Doch sie hielten, und nur wenige Augenblicke später waren die Krüge geleert. Jetzt, da die Männer getrunken hatten, durfte auch sie einen kleinen Schluck nehmen.

Der Graf seufzte lustvoll. »Euer Bier ist wahrhaft vorzüglich. Was ist Euer Geheimnis?«

Vater deutete eine Verbeugung an. »Es ist der Hopfen. Wir lassen ihn aus dem Herzogtum Bayern kommen, im Gegenzug liefern wir Pelze, die wir von den Nordländern gegen Salz aus Rungholt und Bernstein von der Ostsee eintauschen. Ich habe meinen Kellermeister bereits angewiesen, zehn Fässer auf einen Wagen zu laden.«

»Ihr wisst, wie man sich einen Grafen gefügig macht!« Nikolaus lachte dröhnend.

»Bitte, Hoheit, nehmt Platz«, entgegnete Vater.

Fenna hatte ein Podest vorbereitet, auf dem ein Scherenstuhl stand, belegt mit mehreren weichen Schaffellen. Der Graf durfte nicht auf derselben Höhe sitzen wie Fenna und ihr Vater. Das wäre eine schwere Ehrverletzung gewesen. Diener reichten die kleinen Leckereien. Nikolaus sollte sich nicht sattessen, es war lediglich ein Zeichen der Wertschätzung, dass die Jaspers das Beste aufboten, was Küche und Keller zu bieten hatten.

»Noch einen Krug Bier, Hoheit?«, fragte Vater.

Doch der Graf winkte ab. »Euer Bier ist nicht nur schmackhaft, sondern auch stark. Wir müssen noch Recht sprechen, das sollten Wir mit klarem Verstand tun, und sofern Wir Eure Briefe richtig verstanden habe, müssen Wir ein Ärgernis aus der Welt schaffen, nicht wahr?«

»Lasst uns allein«, befahl Vater. Sofort verließen alle Bediensteten den Saal und schlossen die Tür. Die Ritter jedoch blieben. Vater sah Fenna kurz an. »Meine Tochter ist meine Vertraute. Was meine Ohren hören, sollen auch ihre hören. Sie ist absolut verschwiegen. Dafür stehe ich mit meinem Kopf ein.«

Der Graf sah ihr in die Augen. Fenna wurde heiß, so als hätte sie plötzlich Fieber. Sie unterdrückte den Drang, ihren Blick zu senken, denn in diesem Moment wäre das falsch gewesen. Nikolaus wollte prüfen, ob er ihr vertrauen konnte, ob sie stark war und furchtlos. Also musste sie seinem Blick standhalten. Er ließ einige Augenblicke verstreichen, dann nickte er und wandte sich wieder Vater zu.

»So soll es sein. Euer Kopf gegen die Treue Eurer Tochter. Wir werden Euch beim Wort nehmen. Nun denn, Tammo Jaspers, Redjeve der mächtigen Stadt Rungholt, Zentrum der Edomsharde und Hauptort der Uthlande. Welches Begehr habt Ihr an Uns?«

»Es geht um Euren Bruder, Graf Heinrich, der auch der Eiserne Hinnerk genannt wird.«

Der Graf hob die Augenbrauen. »Hinnerk? Wir wähnten ihn auf einem Feldzug. Er ist immer irgendwo unterwegs und schlägt sich mit allen möglichen Leuten für alle möglichen Herren. Manchmal auch für Uns. Obwohl Wir nicht sein Herr sind.« Der Graf lächelte breit. »Anstatt zu regieren, wie es ihm als Graf und Miterbe zustünde, übernehmen Wir die Geschäfte für ihn, denn er ist zwar ein Heißsporn, aber er weiß, was gut ist für Uns und das Land.«

Er lachte dröhnend, doch Fenna wusste, dass ihm die Eskapaden seines Bruders nicht gefielen. Er wusste seine wahren Gefühle gut zu verbergen.

»Das mag sein, Hoheit, aber unter ihm dienen Kapitäne, die es nicht so genau damit nehmen, woher sie ihre Fracht bekommen, die sie dann entlang der Nordseeküste verkaufen. Es sind dänische Schiffe, die Euer Bruder, so hört man, nach schwerem Kampf erbeutet hat, die ihm also von Rechts wegen gehören, und es ist ja nichts dagegen einzuwenden, dem dänischen König zu zeigen, wer der Stärkere ist, und ihm die eine oder andere Prise abzuknöpfen. Allerdings machen diese Kapitäne auch nicht vor den Schiffen der Hanse, der Venezianer und anderer Handelspartner Rungholts und der Uthlande halt.«

»Was schert Euch das?«

Der Graf klang nicht mehr so freundlich. Seine Stimme bekam einen scharfen Unterton. Vater musste behutsam vorgehen, damit er Nikolaus nicht verärgerte.

»Diese Kapitäne fordern das Recht ein, den Hafen von Rungholt als Stützpunkt zu nutzen und dort ihre Waren weit unter dem üblichen Preis feilzubieten.«

Vater schob geschickt die Schuld auf die Kapitäne, denn hätte er den Bruder des Grafen frank und frei der Piraterie bezichtigt, wäre es zum Eklat gekommen.

»Es sind also die Kapitäne Unseres Bruders, die Euch Sorgen bereiten?«

»Manche Handelsvertretungen spielen mit dem Gedanken, sich einen anderen Standort zu suchen. Einen, der sicher ist. Einen, der fairen Handel gewährleistet. Signore di Amalfio zum Beispiel, der die Niederlassung der Venezianer seit einiger Zeit leitet, hat mich bereits darauf angesprochen. Wir haben sehr enge Handelsbeziehungen zu Venedig. Sie kaufen viel, zahlen gut und sind zuverlässig. Bis heute ist noch kein Venezianer auch nur einen Schilling schuldig geblieben. Ihr seht, Hoheit, es geht um einiges. Handel braucht Sicherheit. Ich vermute, dass Eurem Bruder nicht bewusst ist …«

»Schon gut, Redjeve.« Die Miene des Grafen verdunkelte sich. »Wir haben verstanden. Eure Worte sind ebenso stark wie Euer Bier. Sie vernebeln Uns die Sinne. Ich muss über Euer Ansinnen nachdenken.«

»Selbstverständlich, Hoheit.«

Plötzlich grinste Nikolaus wie ein Lausbub und schaute Fenna an, der erneut heiß wurde. Was führte der Graf im Schilde?

»Da Ihr Eurer Tochter bedingungslos vertraut und sie über alles gründlich im Bilde ist, möchten Wir erfahren, was sie zu der Angelegenheit sagt. Lasst mich hören, Frou Jaspers, ob hinter Eurer schönen Fassade ein wacher Geist wohnt.«

Fenna schluckte. Mit allem hätte sie gerechnet, aber nicht damit, dass der mächtige Graf Nikolaus ihre Meinung wissen wollte. Sie war die Tochter des Redjeven, und Rungholt war in der Tat eine Stadt mit großem Einfluss. Aber sie war eine Frau. Nur in Rungholt und allen Orten, an denen altes friesisches Recht galt, war es ihr als Frau erlaubt, vor dem Rat und dem Thing, der Versammlung der freien Friesen, zu sprechen. Nach dem Recht der Christen, das sie aus der Bibel ableiteten, die kaum jemand lesen konnte, waren Frauen nur ein Abklatsch des Mannes, die nichts anderes zu tun hatten, als Kinder zu gebären und Männer zufriedenzustellen. Der Graf war Christ, umso mehr erstaunte es sie, dass er sie nach ihren Ansichten fragte.

»Nun, Fenna Jaspers, Tochter des Redjeven. Zeigt, was Euch Euer Vater beigebracht hat.«

Fenna schossen plötzlich ein Dutzend Gedanken durch den Kopf. Keinen konnte sie greifen. Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Dachte fieberhaft nach. Sie durfte jetzt nicht versagen. Der Graf schnalzte mit der Zunge, rückte seinen Stuhl zurecht. Sie musste etwas sagen, sonst war sie vor Nikolaus blamiert, und Vater ebenso. Der lächelte sie an. Das gab ihr Kraft und Mut.

Sie räusperte sich. »Hoheit. Stellt Euch einfach die Frage, was Euch mehr einbringt: kapernde Untertanen, die Euren Ruf schädigen und den Handel in der Nordsee zum Erliegen bringen, oder eine Stadt wie Rungholt, die Euch im Kriegsfall dreihundert, vielleicht sogar mehr als doppelt so viele Berittene stellen kann und darüber hinaus jedes Jahr, so pünktlich wie die Jahreszeiten und ohne jeden Zwang, Euch die stattliche Summe von zweihundert Pfund Silber übereignet?«

Der Augen des Grafen verengten sich. Fenna spürte Schweiß unter den Achseln. Sie wagte nicht, Vater anzusehen. Sie hatte ihn in eine unmögliche Situation gebracht, da sie so offen gesprochen hatte. Ihre Worte mussten für den Grafen wie eine Ohrfeige sein.

»Werter Meister Jaspers«, sagte der Graf drohend, ohne Fenna aus den Augen zu lassen, »Wir gehören nicht zu den Menschen, die andere unterschätzen, nur weil sie einem anderen Glauben anhängen, aus einem anderen Land stammen oder Frauen sind. Eure Tochter ist scharfsinnig. Allein das Feingefühl fehlt ihr noch. Jedem anderen würden Wir den Fehdehandschuh vor die Füße werfen, wenn er so mit Uns spräche.« Er wandte sich Vater zu. »Sollte ein Wort von dem, was Wir jetzt sagen, nach außen dringen, werdet Ihr es bereuen.«

»Ihr könnt Euch auf mich und meine Tochter verlassen, Hoheit.«

Fennas Mund war staubtrocken, doch sie wagte nicht, nach ihrem Krug zu greifen.

»Wir werden in Unserer unendlichen Güte die Kapitäne eindringlich bitten, Rungholt nicht mehr anzulaufen und die Schiffe der Hanse und anderer Händler zu verschonen, sofern sie in den Gewässern vor Friesland anzutreffen sind.«

Fenna wusste, was das bedeutete: Er würde den Kapitänen einen weniger wichtigen Hafen zuweisen, und sie würden ihre Opfer vor der dänischen und der englischen Küste suchen. Denn er profitierte natürlich auch von der Beute seines Bruders. Niemals würde er ihnen das Kapern untersagen.

»Ich bin Euch sehr dankbar, Hoheit.«

Der Graf beugte sich vor. »Glaubt nicht, dass Wir Euch umsonst die Flöhe aus dem Pelz lesen. Vereinbart war, dass die Schiffe der Schleswiger und der Holsteiner freien Zugang zum Rungholter Hafen haben, immer. Das soll auch so bleiben, solange sie keine Waren geladen haben, die sie nicht redlich durch Handel erworben haben und zu üblichen Preisen anbieten. Dafür erwarten Wir, ganz aus Eurem eigenen Antrieb heraus, dass Ihr Uns ab diesem Jahr fünfzig Pfund Silber mehr überlasst, und dass Ihr Euren Treueeid gegenüber Uns auf zehn weitere Jahre schwört. Denn solltet Ihr auf die Idee kommen, einen Handel mit Waldemar Atterdag zu schließen, weil Euch ein paar Pfund Silber leidtun, so wird der Zorn von Schleswig und Holstein über Euch hereinbrechen wie die schlimmste Sturmflut. Nichts wird von Rungholt bleiben.« Er lehnte sich zurück und grinste wie eine zufriedene Katze, die eine besonders fette Maus erwischt hatte.

Vater lächelte. »So soll es sein, Hoheit. Ich danke Euch für die Gnade.«

Der Graf schien für einen Moment verunsichert. Hatte er mit einer anderen Reaktion gerechnet? Oder ärgerte er sich, dass er nicht mehr verlangt hatte? Die Rungholter waren dafür bekannt, dass sie bei jedem Handel feilschten, als ginge es um ihr Leben.

Der Moment verflog, Nikolaus erhob sich, alles an ihm strahlte die Macht und Würde eines Herrschers aus.

»So lasst Uns den Rat der Stadt Rungholt mit Unserer Anwesenheit beglücken und Recht sprechen in den Dingen, die nicht auf Eurem Thing und nach Eurem Recht abgehandelt werden können. Wie ich hörte, gibt es Unstimmigkeiten mit Adalrich, dem Bischof?«

Der Graf wechselte von einem Moment zum anderen sein Gebaren: vom drohenden Fürsten zu einem Gast, der nur ein wenig plaudert.

Vater nickte und sagte voller Ernsthaftigkeit und Härte: »Er maßt sich an, in die Rechte der freien Friesen einzugreifen, indem er das Recht der Kirche über das unsrige stellen will. Ihr wisst, dass in Rungholt und ganz Friesland jeder glauben kann, was er mag, aber er darf niemanden mit seinem Glauben knechten. Wenn der Bischof so weitermacht, kann es sein, dass ich ihn der Stadt verweisen muss oder dass sogar Schlimmeres geschieht.«

Graf Nikolaus seufzte. »Ihr Friesen seid ein widerspenstiges Volk. Eines Tages werdet ihr begreifen, dass es nur den einen Gott geben kann. Aber bis dahin muss Recht Recht bleiben, darin sind wir uns einig. Ich werde Adalrich in seine Schranken weisen.«

Das war auch im Interesse von Nikolaus, denn die Kirche mischte sich nicht nur in die Angelegenheiten der Friesen ein, sondern auch in die der Könige, Grafen und Herzöge. So hatte der Bischof von Schleswig gedroht, Piraten zu exkommunizieren, und das hätte auch Nikolaus’ Bruder treffen können.

Fennas Pulsschlag verlangsamte sich. Ihr Fehler hatte keine ernsthaften Konsequenzen, die fünfzig Pfund Silber waren es allemal wert, wenn sie damit die Seeräuber loswurden. Dennoch beschlich sie das Gefühl, dass sie noch lange an den heutigen Tag denken würde, denn der Graf hatte seine dunkle Seite gezeigt.

3

Fenna

Zehn Tage waren seit dem Besuch des Grafen vergangen, und tatsächlich, die Kaperschiffe waren ausgelaufen und nicht mehr zurückgekehrt, und mancher fragte sich, warum. Vater wollte seinen Handel mit dem Grafen nach dem Biikebrennen, der Austreibung der Geister nach dem Winter, auf der ersten Ratssitzung bekannt geben, damit er sicher sein konnte, dass die Piraten auch wirklich verschwunden waren. Er hatte dem Grafen im Laufe des Abends die Erlaubnis dazu abgerungen, indem er ihm klargemacht hatte, dass die Spatzen von den Dächern pfeifen würden, was sie besprochen hatten. Denn die höheren Abgaben und auch der Schwur, für die nächsten zehn Jahre dem Grafen treu zu sein, mussten im Rat besprochen werden und ließen nur eine Schlussfolgerung zu.

Das Bankett mit den Noblen Rungholts und der Gerichtstag mit dem Grafen waren zur Zufriedenheit aller verlaufen. Adalrich war zahm gewesen wie ein Lamm und hatte versichert, er wolle sich in nichts einmischen, was ihn nichts anginge. Zumindest schien es so. Was um drei Ecken erzählt wurde, wer sich warum benachteiligt fühlte, erfuhr man oft erst, wenn es zu einer Auseinandersetzung kam, und manchmal auch überhaupt nicht, das hatte Vater ihr eingeschärft. Der Schein trog oftmals, und man musste aufmerksam sein und vor allem immer misstrauisch. Außer seiner Familie gegenüber und den Menschen, die man schon lange kannte und die immer grundehrlich gewesen waren.

In Rungholt liefen die Dinge wie gewöhnlich, Schiffe wurden entladen, die Ware von den Steuerbeamten des Grafen und des Rungholter Rats verzollt und schließlich auf dem Marktplatz feilgeboten. Vater war wie immer damit beschäftigt, die vielfältigen Aufgaben des Redjeven zu erfüllen: Er musste Streitigkeiten schlichten, Urteile fällen, mit den Ratsmännern die Ausgaben und Einnahmen sowie deren Verwendung besprechen und sich um den Verkauf des Salzes kümmern.

Fenna stand ihm zur Seite, so oft es ging, doch heute hatte sie etwas anderes vor. Sie hatte Frauke Bescheid gegeben, dass sie mit Eyk und Beeke, ihrer besten Freundin, im Watt nach den beiden Pfählen sehen wollte, die Eyk vor vielen Jahren tief in den Meeresboden gerammt hatte. Frauke hatte die Augen verdreht und gesagt, diese Pfähle seien doch zu nichts nütze, doch Fenna wusste es besser.

Das Wasser war so weit zurückgewichen, dass sie fast eine halbe Meile laufen konnten, bis sie ans offene Meer kamen, wo die Pfähle am Rand des Heverstroms gute sechs Fuß tief im Schlick steckten.

Der Heverstrom, der größte Gezeitenstrom der Gegend, mischte sich hier mit der offenen See, bevor er sich landeinwärts bis Rungholt streckte und mit seinen verzweigten Armen ihre Heimatstadt fast vollständig umschlang wie die Gräben eine Wasserburg. Einige Arme des Stroms waren Entwässerungskanäle, angelegt, um der See noch mehr Land abzuringen.

Rungholt lag auf einer Erhebung, die nicht von Menschen geschaffen war, sondern wie eine Sandbank durch die Gezeiten entstanden war und aus fester lehmartiger Kleierde bestand. Ein glücklicher Umstand, denn auf vielen kleinen Warften, den von Menschenhand aufgeschütteten kleinen Hügeln, hätte es Rungholt nie zu solcher Blüte bringen können. Manche sagten, ein Gott habe dort eine Handvoll Sand hingeworfen, um auf den Wiesen, die darauf entstanden waren, sein Vieh zu weiden. Doch die Menschen waren gekommen, hatten sein Vieh vertrieben. Nun sann er auf Rache und schickte regelmäßig Sturmfluten, die Rungholt ins Meer spülen sollten. Bisher vergeblich.

Eyk trug wie immer keine Kopfbedeckung auf seinem langen weißen Haar, das ihm bis an die Schulterblätter reichte. Er stützte sich auf seinen Wanderstab, ohne den er nie das Haus verließ. Genauso wenig wie ohne seinen Leinenbeutel mit verschiedensten Tinkturen und Kräutern. Er wandte sich Fenna zu und deutete über die Pfähle hinweg auf den Horizont, an dem sie den Deich von Klein-Rungholt gerade noch erkennen konnten. Rauch quoll aus den Dutzenden Kaminen der Salzsiederkaten, die auf verstreuten Warften nur zwei Fuß über den Deich ragten. Auf jeder Warft standen bis zu zehn Katen dicht beieinander. Den bitteren Geruch des verbrannten Torfs wehte eine sanfte Brise bis hierher. Die Spitze von Sankt Bonifatius in Rungholt war gut zu erkennen. Die Kirche ruhte auf einer besonders hohen Warft.

»Siehst du den Unterschied?«

Sie hob den Blick, spürte den Schlick unter ihren Schuhen glucksen. Sie liebte dieses Gefühl, das noch besser war, wenn zwischen ihrer Fußsohle und dem Watt nicht eine dicke Schicht Stroh und eine derbe Rindshaut lagen. Doch jetzt, im Februar, wären ihre Füße erfroren, wenn sie barfuß gelaufen wäre. In den letzten Tagen hatte es Frost gegeben, nicht streng genug, um das Meer mit einer Eisschicht zu überziehen, dafür musste es wochenlang klirrende Kälte geben. Aber das Marschland war schon ganz hart, und auch die ungepflasterten Wege in Rungholt waren fest wie Stein.

Der Wind kam aus Nordost, trieb auch die Rauchschwaden der Meiler, in denen der Salztorf verbrannt wurde, zu ihnen herüber. Dessen Asche wurde mit Wasser gemischt, diese Lake dann in den Siedepfannen gekocht, bis das Salz übrig blieb. Im Sommer dauerte das bis zu drei Tage, im Winter manchmal fünf.

Beeke, die Tochter von Oke Bögens, dem die meisten Rinder in Rungholt gehörten und der wie Fennas Vater im Rat saß, kam hinter ihnen hergestakst. Sie hatte lange dünne Beine, war einen Kopf größer als Fenna und von ihrem Ausflug nicht begeistert. Aber sie hatte auch nicht zu Hause bleiben wollen, dafür war sie zu neugierig.

»Nicht mehr lange, und meine Schuhe sind durchgeweicht, und dann bekomme ich kalte Füße, werde krank und meine Mutter steckt mich ins Bett, häuft Decken über mich, und ich muss bitteren Tee trinken«, klagte sie.

»Deine Schuhe sind von erlesener Qualität, sie sind wetterfest, du müsstest einen halben Tag durchs knöchelhohe Wasser waten, damit sie durchweichen«, stellte Fenna fest.

»So schnell wirst du schon nicht krank, Beeke. Allein deswegen, weil du die Pflege deiner Mutter mehr fürchtest als Thor die Eisriesen«, sagte Eyk und lachte leise. Er griff in seinen Beutel und zog eine Phiole hervor. »Trink davon einen Schluck. Es schmeckt bitter, aber nicht so bitter wie die erdrückende Fürsorge deiner Mutter. Das wird dich ein wenig schützen. Es ist ein Saft aus Thymian, Koriander, Sauerampfer, Kümmel, Sonnenhut und Petersilie.«

Beeke seufzte, nahm das Fläschchen und trank. Sie verzog das Gesicht. »Ich würde dennoch lieber in der Stube am Feuer sitzen und mir einen heißen Würzwein aus dem Kessel schöpfen. Ich hätte nicht gedacht, dass es so weit ist und so kalt.«

Das war typisch für Beeke. Zuerst hatte sie darauf bestanden, mitzugehen, und jetzt jammerte sie über ihre kalten Füße, obwohl sie genau gewusst hatte, wie weit es war.

Fenna zeigte auf Eyk. »Sicherlich wird er uns einen seiner stärkenden Tees anbieten, wenn wir uns erkälten sollten. Als Schamane weiß er, wie er zwei durchgefrorene Hühner aufwärmen kann.«

Beeke lachte. »Hoffentlich landen wir zum Aufwärmen nicht im Topf.« Sie bewegte ihre Arme auf und ab und gackerte wie ein Huhn. »Ich wünschte, ich könnte fliegen.«

Auch das war typisch für Beeke. Sie jammerte ein wenig, und dann war ihr Leid plötzlich vergessen.

Fenna schloss die Augen. »Das wäre wundervoll. Alles von oben sehen, einfach so im Wind dahingleiten wie die Möwen, sich auf eine Wolke setzen und dort verweilen, den Menschlein drunten dabei zusehen, wie sie ihr Tagwerk vollbringen.«

»So wie Thors Raben Munin und Kunin, die ihm regelmäßig Kunde bringen aus der Welt der Menschen«, sagte Eyk. »Ein reizvoller Gedanke, aber ich glaube, dass es einen Grund gibt, warum die Menschen nicht fliegen können.«

Fenna nickte ernst. »Könnten Menschen fliegen, gäbe es keinen einzigen Vogel mehr. Sie würden allesamt im Kochtopf landen.«

Beeke schüttelte den Kopf. »Sind Vögel nicht wie die Heringsschwärme? Wir haben große Schiffe und starke Netze, ziehen unzählige Fische jedes Jahr aus dem Wasser. Und doch werden es nicht weniger, sondern mehr.«

»Woher willst du das wissen? Hast du die Fische gezählt?«, fragte Fenna und wusste die Antwort bereits.

»Nein, das kann niemand, aber …«

»Eben. Nichts auf der Welt ist unendlich. Selbst die Götter werden in der Ragnarök vergehen, um Platz zu machen für eine neue Welt, von der niemand weiß, wie sie aussehen wird.«

»So ist es«, bestätigte Eyk. »Und nun lasst uns sehen, was sich getan hat in den letzten Monaten. Wir waren lange nicht hier. Also, Fenna, siehst du den Unterschied?«

An den Pfählen hatte Eyk Kerben angebracht. Peilte man die Kerben von einem Pfosten zum anderen an und dann zur Kirchturmspitze, so ergab sich ein bestimmter Winkel. Um diesen Winkel zu messen, hatte Eyk ein Gerät gebaut. Zwei Latten waren mit einem Zapfen verbunden, wie das Gelenk des Ellenbogens. Die erste Latte legte er zwischen die zwei Kerben an den Pfählen. So ergab sich immer eine gerade Linie, deren Steigung sich nie veränderte. Fenna hielt die erste Latte fest an die Kerbe gedrückt, Beekes Aufgabe war es, das Ende der ersten Latte an die Kerbe am zweiten Pfahl zu drücken.

Jetzt hob Eyk das Ende der zweiten Latte an, richtete es auf die Kirchturmspitze und konnte so den Winkel ablesen. Auf einem Stück Papier notierte er den Wert. Der arabische Händler, von dem er es erstanden hatte, schwor einen Eid darauf, dass es nicht mit Reisstärke beschichtet war, die eine Delikatesse für Insekten darstellte und daher nicht besonders gut haltbar war. Sein Papier, so schwor er, war mit tierischer Gelatine überzogen, die Insekten fernhielt. Der Vorteil des Papiers gegenüber Pergament lag auf der Hand: Es war sehr dünn, sehr gut zu falten und es nahm die Tinte viel besser auf. Urkunden auf Pergament waren leicht zu fälschen, denn man konnte die Tinte abkratzen, die Unterschrift stehen lassen und mit einem anderen Text versehen. Das war mit Papier nicht möglich. Kratzte man die Tinte ab, zerstörte man es. Nur auf Feuchtigkeit musste man achtgeben. Wurde Papier nass, verlief die Tinte oder es löste sich auf.

Beeke ließ das Messinstrument los, Fenna klappte die Latten zusammen.

»Bei allen Göttern«, rief Eyk. »Kommt her, seht euch das an.«

Beeke und Fenna rahmten Eyk ein, er hielt das Papier hoch, sodass beide es sehen konnten. Ganz unten hatte Eyk eine dicke Linie von etwa einer Handlänge eingezeichnet, darüber zehn dünne, die in gleichmäßig wachsendem Abstand zur dicken standen. Im rechten Winkel dazu schnitten zehn senkrechte Linien die dünneren. Dadurch ergab sich ein Muster von Vierecken. An den Schnittpunkten hatte Eyk den jeweiligen Winkel eingetragen. Von unten nach oben. Dafür hatte er mehrere Einteilungen angelegt. Standen zwei Linien senkrecht aufeinander, bezeichnete er den Winkel als »voll«. Halb bedeutete, dass die Linie genau in der Mitte der beiden Senkrechten verlief. So teilte er die Winkel immer feiner ein. Durch die regelmäßigen Einträge war über mehr als zwanzig Jahre hinweg eine Linie entstanden. Eyk hatte drei Jahre vor Fennas Geburt die Pfähle so tief im Watt versenkt, dass noch keine Sturmflut sie hatte wegspülen können.

Nur in den Pestjahren hatte er nichts notiert. Zu sehr war er damit beschäftigt gewesen, den Menschen zu helfen, so gut er eben konnte. Doch auch er hatte nicht den Tod einiger Rungholter verhindern können. Dass die Stadt recht glimpflich davongekommen war, führte Eyk darauf zurück, dass zum einen die Götter ihre Hände über sie gehalten hatten und dass zum anderen der Pesthauch von Rungholt im richtigen Moment hinweggeweht worden war. In anderen Städten hatten sich die schlechten Dämpfe gestaut und so ihre tödliche Kraft voll entfalten können. Warum der Pesthauch sich jedoch draußen auf dem Land ebenfalls oft lange gehalten hatte, das vermochte auch er nicht zu beantworten.

Fenna folgte der Linie mit ihren Augen. Zunächst blieb sie flach, doch dann bog sie sich nach unten, immer schneller, bis sie mit dem heutigen Tag fast die dicke untere Linie berührte.

»Es geht immer schneller, nicht wahr, Eyk?«

»Ja, Fenna. Damit habe ich nicht gerechnet. In den letzten fünf Jahren ist die Marsch um fast zwei Fuß abgesunken.«

Fenna hatte Eyk schon oft begleitet, und er hatte ihr erklärt, warum er diese Messungen anstellte. Er war davon überzeugt, dass der Salzabbau das Land im Watt versinken ließ, und dass die nächste schwere Sturmflut Rungholt in die See reißen könnte.

»Und du bist dir sicher, dass die Pfähle sich nicht bewegt haben? Sie könnten doch nach unten absacken.«

»Das bezweifle ich, denn auch die Pfähle, die die Schleuse halten, sinken nicht, da sie tief verankert sind. Aber mir ist aufgefallen, dass die Flut immer höher steigt.«

»Nicht immer«, warf Fenna ein.

Eyk rieb sich den Bart. »Das stimmt wohl, aber immer häufiger. Du weißt, was ich darüber denke.«

»Ich glaube ja, was du sagst. Deswegen sollte man die Deiche erhöhen und verstärken. Was sonst könnten wir noch tun?«

Eyk schaute sie vielsagend an. Natürlich wusste sie, was er am liebsten unterbunden hätte. Aber das kam nicht infrage.

»Eyk, wir können mit dem Salzabbau nicht aufhören. Wir wären ruiniert und ganz Rungholt mit uns. Das Salz bildet das Rückgrat unseres Handels. Ohne Salz kein gepökelter Hering, kein gepökeltes Fleisch, kein Handel.«

»Das ist mir klar. Aber was ist besser: Arm zu sein oder tot, ertrunken in den Fluten der Nordsee, so wie deine Mutter?«

Fenna schossen Tränen in die Augen.

Eyk hob die Hände. »Verzeih mir, mein Kind, ich wollte dich nicht verletzen. Aber es könnte sein, dass deine Mutter noch leben würde, hätten wir den Salzabbau zumindest gedrosselt, bis die Deiche verstärkt und erhöht worden wären.«

So hatte Fenna Eyk noch nie reden hören. Noch nie hatte er sie so sehr gekränkt. Mutter war tot, weil sie Leben hatte retten wollen. Kein Deich der Welt hätte sie davor schützen können. Sie hätte sich so oder so in die Fluten gestürzt.

Eyk schien ihre Gedanken lesen zu können. »Die Kinder wären erst gar nicht in Gefahr geraten, Fenna. Der Deich wäre nicht gebrochen. Darum geht es.«

»Lass uns gehen, Fenna«, schlug Beeke vor. »Eyk scheint heute einen schlechten Tag zu haben.«

»Verzeih mir, Fenna. Du hast recht. Wer bin ich, dass ich mir anmaße, in die Zukunft schauen zu können. Deine Mutter war eine Heldin, die sich auch ohne Flut für andere immer wieder in Lebensgefahr gebracht hat. Denk nur daran, wie sie eine alte Bäuerin aus dem Treibsand gezogen hat, wohl wissend, dass sie selbst auch darin hätte versinken können.«

Vater hatte ihr davon erzählt, aber als das geschehen war, da war sie gerade ein Jahr alt gewesen. Deshalb hatte sie keinerlei Erinnerung daran.

Fenna war hin- und hergerissen. Einerseits war sie furchtbar wütend auf Eyk, weil er so gedankenlos ihre alte Wunde aufgerissen hatte. Wie oft hatte sie nachts wach gelegen und darüber gegrübelt, warum ausgerechnet Mutter hatte sterben müssen und warum sie sich so häufig in Gefahr gebracht hatte. An den Christengott glaubte Fenna nicht. Der war grausam und zornig, hatte seinen eigenen Sohn sterben lassen. Dass der von den Toten auferstanden sein sollte, das hielt sie für ein Märchen. Wer tot war, war tot, für immer und alle Zeiten, und konnte nie wieder die sichtbare Welt betreten. So wie Mutter. Erst wenn Fenna die Anderswelt betrat, wenn sie sterben würde, dann würde sie Mutter wieder begegnen. Sie traute auch den alten Göttern nicht so recht, denn die bedienten sich der Menschen, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Nur auf Frigga, die Göttin der Fruchtbarkeit, war Verlass.

Andererseits konnte sie Eyks Schlussfolgerungen nicht ignorieren. Ja, die Flut stieg immer höher, und die Deiche mussten dringend instand gesetzt werden. Selbst Vater schob dieses zweifellos große und wichtige Werk immer wieder auf. Aber war es wirklich die Marsch, die versank? Oder war es das Meer, das stieg? War es der Salzabbau, der das Unglück heraufbeschwor, oder waren es Dinge zwischen Himmel und Erde, die weder Eyk noch sie jemals begreifen würden? War es der Fluch des Gottes, dem die Menschen die Wiesen gestohlen hatten?

4

Jorik

Jorik betrachtete seine Schwester mitfühlend. Sie hatte einen Krug zerbrochen, weil sie nicht auf Vater gehört und versucht hatte, vier auf einmal zu tragen. Eigentlich wollte sie nur fleißig sein, aber das war gründlich schiefgegangen. Vater war furchtbar wütend, obwohl der Krug nicht viel wert war. Darum ging es ihm auch gar nicht.

»Du hast mir nicht gehorcht!«, zischte Vater. »Ich hatte gesagt, du sollst nur zwei Krüge tragen.«

Rieke senkte den Blick. »Aber ich wollte den Krug doch nicht zerbrechen. Das kann doch jedem mal passieren.«

Jorik stöhnte innerlich. Rieke hätte besser daran getan, den Mund zu halten. Aber sie war schon immer aufsässig gewesen, auch wenn das unangenehme Folgen für sie hatte.

»Mir passiert so etwas nicht«, schrie Vater, machte einen Schritt auf sie zu und hob die Hand.

Rieke duckte sich, Jorik stand von seinem Stuhl auf. »Vater!«, sagte er leise, aber eindringlich. »Sie war ungehorsam und verdient eine Strafe, ja, aber du solltest sie nicht schlagen.«

»Sie verdient eine Tracht Prügel.«

Jorik stellte sich zwischen seinen Vater, den er um gut einen halben Kopf überragte, und Rieke. »Sie ist gerade mal elf. Es gibt bessere Strafen für sie. Und sie ist ein Mädchen.«

Vaters Kiefer mahlten. Er wusste, Jorik würde nicht zulassen, dass er Rieke züchtigte. Als Jorik vierzehn geworden war, hatte er seinen Vater das erste Mal herausgefordert, weil der den Sohn eines Knechts mit einem Knüppel prügelte und nicht aufhören wollte. Jorik hatte befürchtet, dass er den armen Kerl totschlug, war dem Vater in die Hand gefallen, hatte ihn zu Boden gerungen. Danach war er überzeugt gewesen, dass Vater ihn verstoßen würde. Das Gegenteil war geschehen. Vater hatte ihm ein Schwert geschenkt und gesagt, jetzt sei er ein Mann. »Allerdings«, hatte er hinzugefügt, »wage es nicht noch einmal, die Hand gegen mich zu erheben.« So war es gekommen. Joriks Worte genügten, den Vater zu bändigen.

»Na gut.« Vater verschränkte die Arme vor der Brust. »Du bleibst zum Biikebrennen zu Hause.«

Das war eine harte Strafe. Das Biikebrennen war das wichtigste Fest im Jahr, ganz Rungholt versammelte sich, um mit einem riesigen Feuer die Geister des Winters auszutreiben. Es waren noch vier Tage bis dahin.

Rieke stöhnte auf, Jorik warf ihr einen warnenden Blick zu. Wenn sie jetzt nicht nachgab, würde Vater ihr noch einen Monat Hausarrest obendrauf geben, und wenn es ganz schlimm kam, musste sie wie eine Magd Küchendienst machen, Rüben schälen und abwaschen.

»Und wehe, du stiehlst dich aus dem Haus!« Vaters Stimme ließ keinen Zweifel zu.

Rieke zog mit hängendem Kopf ab, warf Jorik und ihren Schwestern Gesine und Mia, die bedauernd die Gesichter verzogen, einen traurigen Blick zu. Die drei waren wie Pech und Schwefel, Jorik wusste, dass sie Rieke am liebsten geholfen hätten, aber das war nicht möglich. Es hätte nur dazu geführt, dass auch sie bestraft worden wären. Vater kannte keine Gnade, vor allem bei seinen Töchtern nicht. Er würde auch nicht zulassen, dass die beiden ebenfalls zu Hause blieben, denn das hätte die Strafe für Rieke gemildert.

Bei Jorik hatte er oft ein Auge zugedrückt, gemeint, Jungs müssten sich austoben und dabei dürfte auch mal etwas zu Bruch gehen. Zum Beispiel ein Fass mit Rum, das er und sein bester Freund Hennerk, der Sohn des Schiffbauers, aus Übermut so lange über den Boden gerollt hatten, bis es ihnen entwischt und an einer Mauer zerschellt war. Sie hatten den Schaden abarbeiten müssen, sonst war nichts passiert.

»Lass uns gehen, Jorik. Wir müssen die Bestände prüfen.« Vater schaute ihn an. »Was alles müssen wir nachsehen?«

Jorik stemmte die Arme in die Hüften. »Nadel, Faden und Linnen. Was denn sonst? Falls du es vergessen haben solltest: Ich bin keine fünf mehr. Aber bitte, wenn es dich beruhigt: Reicht das Salz, um den Hering einzulegen? Wasser, um ihn vorher zu reinigen? Haben wir genug Arbeiter zum Einsalzen und genug Werg, um die Fässer abzudichten? All das ist in ausreichenden Mengen vorhanden. Doch an Fässern fehlt es. Das wissen wir schon seit dem Sommer.«

Vater brummte nur. Wann würde er endlich akzeptieren, dass Jorik erwachsen war, dass er ein Mann war und alles konnte, was sein Vater auch konnte, zumindest was den Handel mit Fisch anging. Politische Ränkespiele beherrschte Jorik nicht, das war Vaters Spezialität. Er selbst jedoch war einer der besten Schwertkämpfer von Rungholt, denn er hatte im letzten Jahr den Wettkampf gegen den Sohn des Amtsmeisters der Schmiede nur knapp verloren. Es war nicht die mangelnde Kraft seiner Arme gewesen, die Jorik fast den Sieg gebracht hatten, sondern seine Ausdauer, seine Schnelligkeit und seine Geschicklichkeit hatten nicht ausgereicht. Um in diesem Jahr den Schwertkampf zu gewinnen, übte Jorik noch mehr und noch regelmäßiger mit Snorre Wymkes, einem erfahrenen Krieger.

Vater nickte, ging los. Als sie vor die Tür traten, gefror Joriks Atem in der kalten Luft und sah aus wie Dampf aus einem Salzsiedekessel. Ihr Wohnhaus lag am Marktplatz an der Einmündung der Ostgasse, nur einen Steinwurf entfernt vom Haus der Jaspers. Was Fenna wohl gerade machte? Sein Herz fing an zu klopfen, wenn er nur an sie dachte. So nah wohnten sie beieinander, und dennoch waren sie sich so fern. Hätte Vater erfahren, dass sie sich liebten, er hätte ihn nach Nowgorod geschickt und Fenna wäre von ihrem Vater ins Kloster verbannt worden.

Sie überquerten den Marktplatz, gingen vorbei am Rathaus, in dem Fennas Vater als Redjeve residierte. Seit Jahren schon neidete sein Vater ihm das Amt, doch was auch immer er versucht hatte, die Rungholter hatten Tammo Jaspers jedes Jahr von Neuem gewählt, mit großer Mehrheit.

Ihre Lagerhäuser lagen landeinwärts am Hafen, der durch eine Schleuse mit dem Heverstrom verbunden war, durch die auch die großen Koggen ihn anlaufen konnten. Im Hafen waren die Schiffe geschützt vor schwerer See und Piraten. Mehrere Koggen und zwei Galeeren, eine aus Venedig, eine aus Marsilia, hatten angelegt. Flüche flogen durch die Luft, wenn den Kapitänen das Ausladen zu langsam ging, ein Seil riss oder ein Arbeiter einen Sack fallen ließ und dessen Inhalt im Dreck landete.

Ganz am Ende des Hafens lag die Flotte der Barwegens. Ihre Kogge mit Namen »Noorden«, beladen mit Hunderten Fässern fetten eingesalzenen Herings, bereit zum Auslaufen nach Bremen, und sechs große Prahme für den Fischfang, wenn die Saison kam. Die Kogge fasste einhundert Lasten, man hätte hundertfünfzig Kühe damit transportieren können. Sie war die größte von Rungholt und erst seit zwei Jahren in ihrem Besitz, gebaut von Hennerk und dessen Vater Knut Ydsinglond und vielen Dutzend Männern, die in seinem Lohn standen.

Die beste Fangzeit begann im Sommer in der Nordsee, im Spätsommer liefen die Prahme dann nach Schweden aus, wo es den besonders fetten Hering gab. Bis dahin galt es, Netze und Schiffe zu reparieren, winterfest zu machen und den Hering gewinnbringend zu verkaufen. Nicht zu vergessen waren die Verhandlungen über den Salzpreis. In jedem Jahr wurde der Preis neu festgesetzt, und für Vater war es eine Folter, mit Tammo Jaspers an einem Tisch zu sitzen, denn er war abhängig von dessen Salz, da den Jaspers fast alle Wiesen gehörten und sie folglich bei der Salzherstellung das Sagen hatten.

Sie kamen an den Lagerhäusern an, um die herum es nur so wimmelte von geschäftigen Leuten. Die Knechte warteten bereits und verbeugten sich, als Jorik und sein Vater das erste Lagerhaus betraten. Hier lagerten die Fässer. Die eine Hälfte hatte Vater in Rostock gekauft, die andere hatten die Küfer aus Rungholt gebaut. Sie gingen die Reihen durch, zählten und kamen auf 1314.

Jorik hatte es befürchtet. »Es sind noch mal hundert weniger als bei der letzten Zählung, also gut eintausend Fässer zu wenig, Vater. Mindestens. Wir hätten die Fässer im letzten Sommer bestellen sollen, noch vor der Fangzeit. Was nützen uns zehn Prahme voll mit hundert Lasten Hering, wenn du sie nicht in Fässern einsalzen kannst?«

»Ich wollte sie wie immer in Rostock bestellen«, grollte Vater.

Er zog ein Pergament unter dem Umhang hervor, reichte es Jorik, der las. In ganz Rostock gab es kein Fass mehr zu kaufen, die Küfer gaben an, bis ins nächste Jahr volle Auftragsbücher zu haben. Dasselbe galt für die anderen Hansestädte. Nirgends waren Fässer zu bekommen.

»Die Hansestädte wollen uns ganz langsam erdrosseln und dann unseren Handel übernehmen.«

»Bist du dir sicher? Bisher liefen die Geschäfte doch gut. Die Rostocker beziehen unseren Fisch für einen guten Preis.«

»Und warum wollen sie uns dann keine Fässer mehr verkaufen?«

»Weil sie es nicht können. Du weißt doch, wie schwer es ist, an gutes Holz zu kommen. Von Holstein bis Dänemark steht kaum noch ein Baum. Und vergiss nicht, der König von Dänemark macht nicht nur den Harden im Norden zu schaffen, sondern auch der Hanse.«

Waldemar Atterdag, der König der Dänen, hatte die Hoyer-Harde verwüstet, weil sie ihm keine Steuern zahlen wollte. Er musste sich zwar zurückziehen, da die Nordfriesen, auch Rungholt, Bewaffnete sandten. Aber er blieb eine ständige Gefahr: Er konnte blitzschnell zuschlagen, ohne dass sich die nördlichen Harden wehren konnten, denn die Nordfriesen hatten kein stehendes Heer. Im Allgemeinen dauerte es zwei Wochen, bis man den Harden zu Hilfe eilen konnte, denn das Heer musste erst zusammengerufen, die Waffen mussten ausgeteilt und die Hauptleute bestimmt werden.

»Gut gefolgert, mein Sohn. Da könnte was dran sein. Dennoch fehlen uns die Fässer.«

»Jetzt kommen sie uns teuer zu stehen. Im letzten Sommer …«

»Ja, schon gut, Sohn. Es war ein Fehler. Ich hatte damit gerechnet, dass die Preise für die Fässer im Winter fallen, wie jedes Jahr. Doch diesmal war es anders. Das konnte ich nicht ahnen.«