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Eine junge Frau kämpft um Freiheit und Selbstbestimmung
Thüringen, 785. Wie es die Tradition vorsieht, dient Gunhild ihrem Vater, dem Grafen Hardrad, als rechte Hand und Schildmaid. Ihr Stammesgebiet ist Teil des fränkischen Reichs unter Karl dem Großen, und Vater und Tochter sind treue Gefolgsleute Karls, der als Garant für Frieden und Wohlstand gilt. Nur eines ist ihnen ein Dorn im Auge: König Karl verlangt, dass Gunhild einen fränkischen Grafen heiratet. Aus Sicht der Thüringer darf allein der Vater entscheiden, mit wem seine Tochter eine Verbindung eingeht. Doch König Karl lässt die widerspenstige Gunhild kurzerhand entführen. Kann sie sich befreien und ihr Recht durchsetzen?
Recht und Aufstand, Liebe und Verrat - ein spannender Roman aus der Zeit Karls des Großen
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Seitenzahl: 423
Veröffentlichungsjahr: 2024
Eine junge Frau kämpft um Freiheit und Selbstbestimmung
Thüringen, 785. Wie es die Tradition vorsieht, dient Gunhild ihrem Vater, dem Grafen Hardrad, als rechte Hand und Schildmaid. Ihr Stammesgebiet ist Teil des fränkischen Reichs unter Karl dem Großen, und Vater und Tochter sind treue Gefolgsleute Karls, der als Garant für Frieden und Wohlstand gilt. Nur eines ist ihnen ein Dorn im Auge: König Karl verlangt, dass Gunhild einen fränkischen Grafen heiratet. Aus Sicht der Thüringer darf allein der Vater entscheiden, mit wem seine Tochter eine Verbindung eingeht. Doch König Karl lässt die widerspenstige Gunhild kurzerhand entführen. Kann sie sich befreien und ihr Recht durchsetzen?
Recht und Aufstand, Liebe und Verrat – ein spannender Roman aus der Zeit Karls des Großen
Isabel Voss interessiert sich für Rätsel der Geschichte, seit sie als Teenager Ein Tropfen Zeit von Daphne du Maurier las. Nach dem Studium arbeitete sie zunächst als Journalistin und Übersetzerin, bevor sie ihren ersten Roman schrieb. Voss reist gern und fühlt sich überall in der Welt zuhause, deshalb sind auch ihre Bücher an mehr als einem Schauplatz angesiedelt.
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG,Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Heike Rosbach, Nürnberg
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung eines Motivs von © iStock: DianaHirsch, © iStock/Getty Images Plus: wavipicture | Photoshopped und © shutterstock: Groundback Atelier
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-5592-4
luebbe.de
lesejury.de
Der eiskalte Nordwind pfiff durch das Fenster. Obwohl Gunhild es mit zwei Lagen Schweinsblase abgedichtet hatte, fror sie wie schon lange nicht mehr. Das mochte auch daran liegen, dass sie schlecht geschlafen hatte. Heute wäre sie am liebsten liegen geblieben, aber es half nichts. Die Pflicht rief.
Sie nahm eine dicke Wolldecke und stieß Warmunt an, der nur unwillig brummte. Eine Öllampe spendete schwaches Licht, aber es genügte, um seine trotzige Reaktion zu sehen: Mit einer schnellen Bewegung zog er sich das Fell über den Kopf.
Es war so kalt geworden, dass Gunhild angeordnet hatte, alle sollten im Rittersaal schlafen, damit sie Holz sparen konnten. Üblicherweise stand ihr und ihren Brüdern ein eigener Raum zu, ebenso wie ihren Eltern, die im obersten Stockwerk des Burgfrieds ihre Schlafkammer hatten. Sie war nicht besonders groß, aber es passte ein Bett hinein, und es war Platz für zwei Truhen, in denen Mutter und Vater ihre Gewänder aufbewahren konnten. Daneben gab es die Schreibstube, vollgestopft mit Pergamentrollen, und die Kammer für sie und ihre Brüder, in der zwei Betten standen. Gunhild schlief in dem einen, ihre Brüder in dem anderen.
»Du nichtsnutziges Wiesel, steh auf und hilf mir.« Immer musste Gunhild Warmunt an der Hand nehmen oder besser gesagt ihm in den Allerwertesten treten. Das kostete eine Menge Kraft, die sie lieber für andere Dinge eingesetzt hätte. Wann würde das endlich aufhören?
Warmunt brummte wie ein junger Bär. »Du hast mir gar nichts zu sagen, du bist nur eine Frau. Du musst mir gehorchen. Ich bin ein Mann.«
Gunhild seufzte. Es würde nie aufhören. Warmunt würde niemals akzeptieren, dass sie die Herrin auf der Burg war, wenn Vater und Mutter auf Reisen waren. Noch schlimmer würde es werden, sobald er von Vater zum Mann erklärt wurde. Ab da würde er sich überhaupt nichts mehr sagen lassen, von niemandem. Bis dahin würde noch einiges Wasser den Erphes hinunterfließen, und Gunhild wäre dann schon längst verheiratet und hätte damit nichts mehr zu tun. Aber vorläufig kostete es sie einiges an Nerven.
»Ein Mann? Träum weiter.«
Warmunt war dreizehn, und eigentlich hätte er, so wie ihr Bruder Giselher es tat, viel mehr mit anpacken müssen. Gunhild missbilligte, dass Mutter ihn so verhätschelte und Vater das meistens durchgehen ließ. Seit dem späten Herbst hatte sich Warmunt gedrückt, wo es nur ging. Doch wenn der Winter vor der Tür stand, bedurfte es jeder Hand, die der hohen wie der niederen Leute, damit niemand hungern musste. Immerhin hatte Warmunt bei der Getreideernte helfen müssen, doch als es darum ging, Fisch zu salzen und zu trocknen, hatte er allerlei Ausreden erfunden. Die beste war gewesen, dass er von dem Salz einen Ausschlag bekäme, dazu hatte er seine roten Arme gezeigt. Doch ihr war klar, dass er sich Brennnesseln auf die Haut geschlagen hatte. Mutter hatte ihn daraufhin vom Einsalzen befreit, und Gunhild war keine Petze, auch wenn sie sich über Warmunt schwarz geärgert hatte. Aber wenn sie das Sagen hatte, kam er nicht so leicht davon.
Warmunt rührte sich nicht.
»Du kleine Kröte! Wenn du jetzt nicht sofort aufstehst und mithilfst, wirst du heute nichts zu essen bekommen, und du wirst mit den Knechten das Eis im Graben aufhacken und Wasser tragen, bis dir die Nase abfällt.«
Giselher, der ein Jahr älter war als Warmunt, sprang auf. Die beiden waren grundverschieden, nicht nur vom Wesen her. Warmunt hatte die zierliche Figur und das weiche Gesicht seiner Mutter geerbt, Giselher war stämmig wie sein Vater, hatte den Brustkorb eines Schmiedes und ebenso starke Muskeln. Dafür musste er nicht viel trainieren. Sie kamen wie von selbst, etwas, um das ihn Warmunt natürlich beneidete, der sich zweimal so viel in Kampftechniken üben musste wie sein Bruder, um auch nur annähernd so stark zu sein. Dafür konnte er viel schneller laufen als Giselher, und so glichen sich Stärken und Schwächen aus.
Gunhild selbst hatte von beiden etwas: Sie war schlank und hochgewachsen, ihre Haare waren lang und blond, sie war nicht zierlich, aber auch nicht stämmig wie eine Bauersfrau. Sie fühlte sich wohl in ihrem Körper, den Gott ihr verliehen hatte, und wenn sie ihren Eltern Glauben schenkte, dann hatte der Herr nicht mit seinen Zuwendungen gespart und ihr ein engelsgleiches Gesicht mitgegeben.
»Ich helfe dir gerne, Schwester, wirklich«, sagte Giselher jetzt und schaute sie flehend an.
Hier und da murrte jemand, dass man doch Ruhe geben sollte, es sei mitten in der Nacht. Gunhild konnte niemandes Gesicht sehen, denn alle hatten den Kopf unter den Decken und Fellen verborgen. Aber sie kannte ihre Stimmen. Es war Dado, der Hauptmann der Wache, der sich beschwerte, weil ihm nicht bewusst war, dass der Tag schon angebrochen war.
Ein Tag, auf den sich Gunhild seit Langem gefreut hatte, denn heute, so hatte es ein Bote vor einer Woche verkündet, würden Vater und Mutter zurückkehren von ihrem Besuch bei hohen Adligen, mit denen sie wichtige Dinge zu besprechen hatten. Zum Beispiel, dass Vater seit Monaten bei König Karl vorzusprechen versuchte, um ihn der Treue der Thüringer zu versichern und ihn zu bitten, deren althergebrachte Stammesrechte nicht noch weiter einzuschränken. Dass sie seit Generationen jedes Jahr fünfhundert Schweine als Tribut zahlen mussten, war Demütigung und Prüfung genug. Dass aber jetzt irgendwelche Beamte ohne edle Abstammung über die Thüringer herrschen sollten, das ging zu weit. Einige Fürsten murrten bereits, sprachen von Aufstand.
Für Vater kam das nicht infrage. Er würde im Frühling nach Aquis reisen und die Königspfalz nicht eher verlassen, bis Karl ihn angehört hatte. Die Sache war so wichtig, dass sie zu den adligen Herren aufgebrochen waren, obwohl eine Reise mitten im Winter nicht ungefährlich war. Zwar drohten keine Überfälle, denn kaum jemand hatte Lust, bei dieser Kälte zu kämpfen, und einem gut bewaffneten Zug von Edlen ging man sowieso lieber aus dem Weg. Aber wurde man von einem Schneesturm überrascht, konnte man sich verirren und wenn der Sturm länger andauerte, erfrieren. Im Frühling, wenn der Schnee schmolz, kamen immer wieder Leichen ans Tageslicht, steif gefroren, sogar Reiter, die auf ihren toten Pferden saßen. Einen von ihnen hatte Gunhild gesehen, und noch heute lief es ihr eiskalt über den Rücken, wenn sie daran dachte. Nicht so sehr wegen des Toten an sich, sondern weil er nicht ins Himmelreich eingelassen würde, da sein Kopf fehlte. Den mussten Tiere verschleppt haben, denn er war nirgends zu finden gewesen. Vater hatte ihn dennoch begraben lassen und seine Seele der Gnade Gottes anvertraut.
Gunhild hoffte, dass der Sturm, der in der letzten Woche übers Land gefegt war, Mutter und Vater verschont hatte. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, welche Schwierigkeiten es geben würde, kehrten sie nicht wieder. Ganz abgesehen davon, dass es ihr das Herz brechen würde, wenn ihre Eltern tot wären. Sie liebte sie von Herzen, so wie ihre Brüder, und konnte sich ein Leben ohne sie gar nicht vorstellen.
Sie sah Giselher liebevoll an. »Ich weiß. Du wirst mir immer eine Stütze sein.«
Er strahlte sie an. Seine blauen Augen glitzerten. Warmunt hatte grüne Augen, und die goldenen Sprenkel darin glommen wie Feuer. Zuerst waren sie blau gewesen, wie bei Vater und Giselher, doch dann hatten sie diesen geheimnisvollen Ton angenommen. Da hatte Vater den kleinen Jungen zu einem Seher gebracht, der tief im Wald versteckt lebte, denn hätten die Franken ihn erwischt, er wäre auf der Stelle enthauptet worden. König Karl hatte strenge Regeln erlassen, eine davon hieß: »Wer die alten Götter verehrt oder den alten Kulten anhängt, der ist des Todes.« Doch Vater wollte sichergehen, dass Warmunt nicht von einem bösen Geist besessen war, wie es die Farbe seiner Augen nahelegte, sondern seinem Sohn ein besonderes Schicksal bestimmt war. Der Seher hatte die Runensteine geworfen, hatte den Jungen lange angesehen und ihm dann vorausgesagt, dass er eines Tages über Wohl und Wehe des Fränkischen Reiches entscheiden würde. Nachdenklich war Vater mit Warmunt zurückgekehrt, hatte ihm eingeschärft, niemandem von der Weissagung zu erzählen. Nur Gunhild, Giselher und Mutter hatte er eingeweiht. Und genau deshalb, wegen dieser Prophezeiung, ließen Vater und Mutter Warmunt fast alles durchgehen, vermutete Gunhild.
Hätte der Bischof davon erfahren, es wäre ihnen schlecht ergangen. Vielleicht hätte er sie nicht umgebracht, die Prophezeiung nur als Hexenglaube eingestuft, was ebenfalls einem Todesurteil nahegekommen wäre. Denn König Karl hatte verfügt, dass aller Hexenglaube unchristlich sei, und daher strikt untersagt, ihm nachzuhängen, und jeden, der es dennoch tat, exkommunizieren zu lassen.
Anfänglich hatte Warmunt die Voraussagung eher als Bürde denn als Geschenk empfunden, da ihm zum einen bewusst war, dass der Seher gegen die Gesetze verstieß. Zum anderen mied er selbst gerne jegliche Verantwortung, vor allem, wenn es um andere ging. Doch als er begriff, dass ihm eine besondere Behandlung zuteilwurde, dass er sich herausnehmen konnte, was andere, vor allem sein Bruder, nicht durften, war er immer aufsässiger geworden, besonders ihr gegenüber, denn sie war die Einzige, die ihn zur Arbeit anhielt und seine herausgehobene Stellung nicht anerkannte.
Giselher jedoch hatte sich Gedanken gemacht. »Wie soll Warmunt denn das Fränkische Reich retten?«, hatte er eines Tages gefragt. Es war einer der seltenen Augenblicke, in denen er seinen Bruder nicht in Schutz nahm. »So ganz allein, ohne Hilfe? Warmunt würde es ja noch nicht einmal gelingen, sich selbst zu schützen. Und welche Gefahr droht uns? Wir liefern jedes Jahr die fünfhundert Schweine, wir stellen Krieger und verteidigen das Reich gegen die Slawen. Und ist es nicht Gott der Allmächtige, der allein über unser Schicksal entscheidet?«
Gunhild war ehrlich gewesen und hatte zugegeben, dass sie das nicht wusste und dass Gottes Wege oftmals nicht vorhersehbar seien. Allerdings war es der Wille des Herrn, dass die Menschen sich für das eine oder andere entschieden. Gunhild liebte diese Gespräche, und sie musste eingestehen, dass Giselher ihr näherstand als Warmunt, der ihr immer wieder Probleme bereitete. Dennoch liebte sie ihre Brüder gleichermaßen und würde sie jederzeit mit ihrem Leben verteidigen.
Giselher war ein heller Kopf. Er hatte sie angegrinst und gefragt: »Aber es waren doch die alten, die verbotenen Götter, die das geweissagt haben? Gibt es sie also doch?«
»Du bist ein schlauer Junge, Giselher.« Sie hatte die Stimme gesenkt. »Vielleicht sind ja der Herrgott und die alten Götter ein und dasselbe? Aber das darfst du nicht laut sagen, hörst du? Niemals.«
Er hatte einen Finger auf den Mund gelegt. »Nichts davon wird je über meine Lippen kommen.«
Gunhild war sich nicht sicher, wie es sich mit den Göttern verhielt. Sie glaubte an den einen Gott und hielt die Verehrung von Bäumen oder Flüssen für Unfug. Aber letztlich steckte doch in jedem und allem der liebe Gott. Wenn sie also einen Baum betrachtete, so war der Gottes Werk, ebenso wie sie selbst und die ganze Schöpfung. Insofern hatte sie keine Zweifel an der Bibel, am Wort Gottes, und befolgte es, ohne jedoch die zu verurteilen, die es nicht begriffen oder ablehnten. So wie sie die Bibel verstand, forderte Gott sie auf, seine Regeln zu befolgen, sich bewusst zu entscheiden, stets von Neuem, was auch immer sie tat. Am Tag des Jüngsten Gerichtes würde der Herr dann über sie richten, so wie über alle anderen Menschen. Dass der König die tötete, die den Glauben nicht annehmen wollten, hielt sie für falsch, denn niemand entging dem Gericht Gottes. Tötete man sie, nahm man ihnen die Möglichkeit, sich richtig zu entscheiden und gottgefällig zu leben.
Sie wandte sich wieder den alltäglichen Dingen zu. Als sie Giselher betrachtete, spürte sie, wie eine große Liebe zu ihm sie durchflutete.
Mit Freuden hätte er geholfen, doch Gunhild durfte Warmunt gegenüber keine Nachsicht walten lassen. Bestimmt ein Dutzend Mal, seit sie auf der Erphesburg das Zepter in der Hand hielt, hatte sie sich mit ihrem kleinen Bruder angelegt, und er hatte stets den Kürzeren gezogen. Immerhin kamen ihre Eltern ihr dabei nicht in die Quere. Das würde heute nicht anders sein. Er wusste das, lehnte sich aber dennoch auf und sehnte deren Rückkehr herbei.
»Warmunt«, zischte Gunhild. »Ich zähle bis drei.«
Der Junge verschanzte sich hinter seinem Fell. »Es ist kalt.«
Es war seit Wochen kalt, und Warmunt besaß die gottgegebene Eigenschaft, nur zu frieren, wenn man ihn einen halben Tag nackt in den Schnee stellte. Vater meinte, sein jüngster Sohn habe einen Kohlenmeiler im Bauch, deshalb könne ihm die Kälte kaum etwas anhaben.
»Eins.«
Inzwischen waren die Mägde erwacht, ebenso die Knechte und Wachen. Sie verfolgten gespannt den Machtkampf zwischen Schwester und Bruder.
Warmunt schaute sie trotzig an.
»Zwei.«
»Ich will aber nicht!«
Heute legte es Warmunt wirklich darauf an. Vielleicht lag es daran, dass Dado ihn gelobt hatte, weil er mit dem Bogen große Fortschritte gemacht hatte, und ihm prophezeit hatte, ein großer Krieger zu werden.
»Drei.«
Ihr Bruder fegte das Fell beiseite und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich erzähle alles Mutter, die wird …«
Weiter kam er nicht. Gunhild zerrte ihn an einem Arm auf die Beine, stieß ihn zur Tür, riss sie auf und stupste ihn nach draußen. Der Junge stolperte, fing sich aber, bevor er in den Schnee plumpste. Er war klug genug, keine Gegenwehr zu leisten, denn Gunhild hatte die starken Arme einer Schwertkämpferin und konnte ihn mühelos mit einer Hand auf Abstand halten.
»Du weißt ja, welche Knechte du dir als Hilfe mitnehmen darfst.« Dann machte sie die Tür zu, denn der eiskalte Wind blies Schnee in den Saal.
Emecha, die Vorsteherin der Mägde, schaute Gunhild kurz an, dann schlug sie die Augen nieder. »Herrin, seid Ihr sicher, dass Warmunt sich nicht erkältet? Vor allem, wenn er nichts zu essen bekommt?«
»Hat er sich erkältet, als er zwei Tage im Wintersturm umhergeirrt ist, weil er zu spät zum Sammelplatz gegangen ist und im Dunkeln den Abzweig verpasst hat?«
»Nein, Herrin.«
»Siehst du. Er kann sich warm anziehen, und eines sollte dir genauso klar sein wie mir.«
Emecha hob den Blick. »Er wird sich etwas zu essen besorgen, meint Ihr das?«
»Genau das meine ich. Wer außer mir kann seinem schmachtenden Blick schon widerstehen?« Gunhild wartete die Antwort nicht ab. Niemand konnte das, vor allem keine der Mägde. Sie machte eine Bewegung, die alle Dienerinnen mit einbezog. »Und jetzt genug über Warmunt. Heizt den Kamin an, kocht den Morgenbrei, und dann räumt und putzt, was das Zeug hält. Oder wollt ihr, dass meine Eltern glauben, ihr hättet mir nicht gehorcht und die ganze Zeit über nur am Feuer gesessen und euch Zoten erzählt?«
Gunhild wusste, dass Emecha niemals säumte, ihre Ansprache galt eher den Mägden, die sich gerne mal drückten.
Emecha verneigte sich, huschte davon und trieb die anderen mit deftigen Worten an. »Ihr habt die Herrin gehört, ihr unnützen Dinger! Los, los oder euch ereilt dasselbe Schicksal wie Warmunt.«
Die ganze Zeit hatte Giselher stumm neben Gunhild gestanden. Jetzt öffnete er den Mund, schloss ihn aber gleich wieder.
Gunhild wusste, was ihm auf der Seele brannte. »Nur zu, Bruder. Was willst du sagen? Heraus damit!«
»Darf ich Warmunt helfen? Er ist doch mein Bruder. Hat Vater nicht gesagt, wir müssen uns beistehen, was immer es sein mag?«
Gunhild strich Giselher über den Kopf. »Das hat er gesagt, und es sind weise Worte. Also. Lauf schon.«
Giselher lachte und drehte sich einmal im Kreis. »Du bist die beste Schwester!«
»Du hast ja keine andere«, rief sie ihm hinterher, aber er war schon durch die Tür verschwunden.
Sie brachte die Decke am Fenster an, um die Kälte ein wenig mehr draußen zu halten. Weitere Öllampen wurden entzündet, im Kamin loderte bald ein munteres wärmendes Feuer, und der Duft von Haferbrei zog durch den Saal. Die Männer räumten ihre Schlaffelle weg, gingen vor die Tür, um ihr Wasser abzuschlagen. Die Mägde fegten, räumten allerlei Kram beiseite, Kleider, Hörner, Waffen und Decken, damit die Tafel aufgestellt werden konnte. Zu neunt nahmen sie an ihr Platz. Gunhild sprach das Morgengebet. Sie liebte diesen Moment der Kontemplation, der sie auf den Tag einstimmte, ihr Kraft und Zuversicht gab, denn sie war sich sicher, dass Gott mit ihr war. Dann wurde der dampfende Brei ausgeteilt, in dem Apfelstücke schwammen. Die Ernte war hervorragend gewesen und würde bis zum Frühling reichen. Mit jedem Monat würden die Äpfel kleiner und süßer. Am meisten liebte Gunhild im Frühjahr die verschrumpelten, denn die war am süßesten.
Gunhild tauchte gerade ihren Löffel in die Morgenspeise, als ein Horn erklang. Kamen ihre Eltern bereits jetzt zurück? Alle hielten inne mit dem, was sie gerade taten. Erneut erscholl das Horn. Dado ließ seinen Löffel fallen und sprang auf. Gunhild erkannte, warum er so erschrak.
Das Horn, das da blies, war nicht das ihres Vaters, sondern das von Graf Sintwich, ihrem ärgsten Konkurrenten, der schon immer den Platz ihres Vaters hatte einnehmen wollen und nun, mitten im Winter und in dem Wissen, dass ihr Vater nicht anwesend war, die Erphesburg angriff, um sie im Handstreich zu nehmen.
»Ganz langsam«, sagte Alkuin zu sich selbst. »Zuerst das eine Bein, dann das andere.« Alt zu werden, darauf hätte Alkuin gut verzichten können. Überall in seinem Körper zwickte und zwackte es, aber sein Knie brachte ihn an die Grenzen seiner Geduld.
Mühsam hatte er sich in seinem Bett aufgerichtet, nachdem er sich einige Zeit darauf konzentriert hatte, sich von seinem Lager zu erheben. Bei der heiligen Maria Mutter Gottes! Wo war die Zeit hingegangen? Gestern noch, so schien es ihm, war er ein junger Mann gewesen, der ohne Schlaf drei Tage marschieren konnte, dem Kälte nichts hatte anhaben können, der auf dem Rücken eines Pferdes geschlafen hatte wie andere in einem weichen Bett. Heute wäre er wie eine volle Schweinsblase aus dem Sattel gekippt, wenn er seinen Nachtschlaf versäumt hätte. Er musste grinsen. Seine eigene volle Blase war der Antrieb, aufzustehen. Er hätte Wignand, seinen Diener, rufen können, der sich bereits um das Frühstück kümmerte, aber das brachte er nicht über sich, das hätte seiner Ehre Abbruch getan. Seine Haltung widersprach dem, was er seinen Schülern an der Hofschule zu Aquis, allesamt Adlige aus dem ganzen Frankenreich, beibrachte.
»Eure Ehre sollt ihr immer bewahren. Wenn es irgend geht. Doch wenn das Bewahren Eurer Ehre denen Schaden zufügen würde, denen ihr verpflichtet seid, so ist es der falsche Weg, und ihr müsst einen anderen suchen.«
Natürlich fügte Alkuin seinem König Karl, dem Herrscher der Franken, nicht direkt einen Schaden zu, wenn er sich ohne Hilfe aus dem Bett quälte, obwohl ihn sein rechtes Knie Tag für Tag folterte. Nur wenn er durch sein Tun krank wurde und ihn nicht mehr beraten konnte, dann war das ein großer Schaden für den König und das Reich. Denn Karl brauchte seinen Rat, suchte ihn und hatte ihn, in aller Bescheidenheit, gerade jetzt dringend nötig.
Noch immer leisteten die Sachsen erbitterten Widerstand, obwohl Karl sie in vielen Schlachten besiegt hatte, obwohl er vierzig ihrer eidbrüchigen Stammesführer in Verden hatte hinrichten lassen, um der Schlange den Kopf abzuschlagen. Fünftausend Sachsen hatte er in den Süden des Reiches umgesiedelt, um ihren Widerstand zu brechen. Doch die Sachsen waren wie die Hydra. Erschlug man zehn, sprossen zwanzig aus dem Boden und warfen sich den fränkischen Panzerreitern voller Todesverachtung entgegen. Wenn ihnen das nicht erfolgversprechend erschien, griffen sie aus dem Hinterhalt an, schlugen zu und verschwanden wie der Morgennebel. Selbst die Frauen kämpften wie die Berserker. So lebendig waren die barbarischen germanischen Sitten bei den Sachsen. Jedoch nicht nur bei ihnen. Auch viele andere Stämme, die zum Frankenreich zählten, waren eher Germanen als Franken. Die Thüringer gehörten dazu, bei denen die alten Götter noch immer von vielen verehrt wurden, obwohl es strengstens verboten war, ebenso die Baiern und die Schwaben und besonders die Friesen waren in ihrem Herzen keine Franken, sondern beugten sich nur notgedrungen der Macht der Panzerreiter und dem eisernen Willen des Königs, der mit Feuer und Schwert über alle herfiel, die ihm nicht gehorchten oder, noch schlimmer, ihn verrieten.
Späher hatten berichtet, dass sächsische Adlige aufgerufen hatten, im Mai des nächsten Jahres aus allen Stämmen Sachsens ein Heer aufzustellen, um Padaribrunno und die Eresburg zurückzuerobern und die Franken von sächsischem Boden zu vertreiben. Ein aussichtsloses Unterfangen, das fränkische Heer war den Sachsen eins zu zehn überlegen. Und Karl hatte nicht gezögert, hatte wutentbrannt die Krieger um sich geschart und war aufgebrochen, hatte tief im Land der Sachsen das Winterlager aufschlagen lassen, um im Frühling einen letzten vernichtenden Schlag gegen sie zu führen. Alkuin überlegte einen Moment. Es wäre der zehnte oder elfte letzte vernichtende Schlag. So konnte das nicht weitergehen. Davon musste Alkuin seinen König überzeugen. Keine einfache Sache, die ihm schlechten Schlaf und Verdauungsprobleme bereitete.
In der Nähe lagen einige Gehöfte, die man Oldonastath nannte, ärmliche Hütten, da war nichts zu holen, die zivilisierte Welt war weit weg. Alkuin wäre lieber in Aquis geblieben, er ließ die Hofschule, die er seit einem Jahr leitete, ungern allein. Doch der eigentliche Grund war, dass er die warmen Stuben vermisste, die heißen Bäder und die Salben, die ihm der Medicus auf sein schmerzendes Knie auftrug. Natürlich zogen mit dem Heer Heiler, aber die waren bessere Metzger, die wahren Heiler blieben in Aquis, um Fastrada beizustehen. Das hatte Karl höchstpersönlich verfügt, auch wenn das hieß, dass er ohne seine Leibärzte ins Feld zog.
Karl selbst schien unverwüstlich. Außer einem vereiterten Zahn, der im Sommer hatte gezogen werden müssen, fehlte ihm nichts. Im Gegenteil. Er genoss es, bei Wind und Wetter durch die Lande zu ziehen. Er legte sich als Letzter nieder und stand als Erster auf. Alkuin vermisste also vor allem die Annehmlichkeiten der Königspfalz in Aquis, aber es schien ihm geboten, Karl zu begleiten und ihn nach Möglichkeit umzustimmen, ihn davon abzubringen, erneut mit Feuer und Schwert wahllos über die Sachsen herzufallen. Zu viele, die sich bereits dem wahren Gott zugewandt hatten, würden Opfer dieser Strafmaßnahmen, und das konnte Alkuin nicht gutheißen. Und je härter Karl zuschlug, desto erbitterter schlugen die Sachsen zurück. Auf seinem Zug hierher hatte er Abtrünnige bestraft, so manche Siedlung, so manche Motte verwüstet, und nicht immer hatte es die Richtigen getrof-fen.
Alkuin hatte das Schlimmste verhindern können, indem er, Straffeldzug hin oder her, dem König abgerungen hatte, dass ein jeder, der sich taufen ließ, verschont würde. Doch viele Seelen mussten ungetauft in den Tod gehen. Das lag nicht nur an Karls unerbittlicher Härte, sondern auch an Reichsmarschall Rantwig von Sölden und dessen Hass auf die Sachsen.
Durch Alkuins rechtes Knie schoss ein scharfer Schmerz. Er hatte nicht aufgepasst, war vor lauter Grübeln von der Bettkante abgerutscht und hatte das Gelenk zu weit gebeugt, hatte es mit dem ganzen Gewicht seines Oberkörpers belastet. Alkuin stöhnte laut auf. Sofort stürmte Wignand herein.
»Herr, was ist geschehen? Soll ich einen Heilkundigen rufen?«
Alkuin hob abwehrend eine Hand, obwohl sein Knie ihn folterte, und drückte sich mit der anderen hoch. »Nein, nein. Willst du mich umbringen? Lass mich. Das muss ich alleine schaffen. Bin ich denn ein Greis?«
Wignand blickte auf den Boden.
»Du hältst mich also für einen hinfälligen siechen Bettnässer?«
Wignand erschrak. »Aber nein, Herr, ganz und gar nicht.«
»Habe ich dir nicht beigebracht, der Lüge zu entsagen?«
»Aber Herr …«
Alkuin winkte ab. »Schon gut, Wignand. Verzeih einem alten Esel. Ich habe dich in ein Dilemma gestürzt. Was du auch antworten magst, es ist falsch.«
Alkuin legte eine Hand auf das Knie und drückte es vorsichtig durch. Es knackte, dann machte das Gelenk ein Geräusch, als risse eine Sehne. Doch statt noch größeren Schmerz empfand Alkuin Erleichterung. Anscheinend hatte sich durch das heftige Beugen und das Drücken etwas wieder eingerichtet, so wie bei einer ausgekugelten Schulter, die ein Heilkundiger mit einem Griff einrenken konnte.
Alkuin erhob sich, und siehe da, als wäre ein Wunder geschehen, konnte er das Knie belasten, ohne dass ihn erneut furchtbare Schmerzen heimsuchten. Er spürte nur einen dumpfen Druck unterhalb der Kniescheibe. »Ha!«, rief Alkuin triumphierend. Alle, die sich anmaßten, Meister der Medizin zu sein, hatten ihm stets gesagt, er solle es schonen, doch seine Hartnäckigkeit und die Gnade Gottes hatten sein Knie wieder in Ordnung gebracht.
»Geht es Euch gut, Herr?«
Alkuin strahlte Wignand an. »Schau doch nur! Der beste aller Heiler hat mich von den Schmerzen befreit. Der liebe Gott.«
Wignand schlug das Kreuz. »Die Gnade des Herrn ist unermesslich.«
»Das ist ein wahres Wort, mein lieber Wignand. Nun denn. Mein Magen knurrt. Kannst du dagegen etwas unternehmen?«
Wignand verbeugte sich. »Sofort, Herr.«
Der Diener eilte aus der Hütte, die Karl seinem Ratgeber großzügigerweise zugewiesen hatte, damit er nicht im Zelt schlafen musste wie die meisten anderen.
Sie hatten das Lager im Oktober errichtet. Karl hatte sogleich gegen die Sachsen ziehen wollen, doch ein ungewöhnlich früher Wintereinbruch hatte das verhindert. Zuerst hatte es geschneit wie sonst nur im Januar und Februar, dann war es warm geworden, und die Landschaft hatte sich in einen morastigen Sumpf verwandelt, in dem sich ein Heer von sechshundert Reitern, fünfhundert Bogenschützen und tausend Speerträgern nicht bewegen konnte. So hatten sie den lieben langen Tag fast nichts anderes zu tun, als blutrünstige Stechmücken zu erschlagen, die sich in Schwärmen auf die Krieger stürzten. Gut, dass sie den Standort des Lagers sorgfältig gewählt hatten, auf einer leichten Anhöhe, mit festem Untergrund.
Nur Boten waren derzeit unterwegs, die jedoch die doppelte Zeit benötigten. Täglich trafen Nachrichten ein, und täglich verließen Boten das Lager in alle Richtungen. Nicht alle erreichten ihr Ziel, nicht alle kehrten zurück. Gerieten sie in sächsische Gefangenschaft, so drohten ihnen Folter und Tod.
Alkuin wandte sich seinem Waschbottich zu. Er tauchte die Hände in das eiskalte Wasser und spritzte es sich ins Gesicht. Immerhin hatte er keine Eisschicht aufschlagen müssen. Da ging die Tür auf, der Duft von Haferbrei mit Zimt und Honig drang ihm in die Nase.
»Stell ihn auf den Schemel, mein Bester, dann kannst du dich zurückziehen.«
»Wie Ihr befehlt.«
Alkuin erschrak, wandte sich um. Vor ihm stand Karl und grinste ihn an. In seinen Händen hielt er zwei Schalen voll köstlichem Brei. Hinter ihm kam Autkar von Grimoald, der trotz seiner erst fünfundzwanzig Jahre einer der mächtigsten fränkischen Fürsten war, Karl treu ergeben und einer der besten Schüler von Alkuin. Es gab nichts, das Autkar nicht interessierte. Wenn er mit Karl ins Feld zog, nahm er stets Abschriften von bedeutenden Gelehrten mit. Seine Burg lag am Bodan, dem großen See bei der Königspfalz Potamico, am Rand der Alpes. Ihm unterstand das Stammesgebiet der Alamannen, das von Worms bis zum großen See reichte und darüber hinaus auch noch über den westlichen Teil Schwabens. Bereits als Sechzehnjährigen hatte Karl ihn zum Gaugrafen ernannt, nachdem Autkars Eltern am Fieber gestorben waren, und der König hatte es nicht bereut. Autkar herrschte weise, gerecht und mit fester Hand, stets voller Bedacht, so wie Alkuin es sich öfter von Karl wünschte.
»Mein Freund, Ihr blickt drein, als hättet Ihr einen Geist gesehen. Ich weiß, dass ich mich seit Tagen nicht rasiert habe und mein Oberlippenbart dringend ein Messer benötigt. Dennoch. Wirke ich so furchterregend?«
»Nun, mein König, Ihr wisst, dass auch große Freude einen Menschen erbleichen lässt.«
Karl stellte die Schalen ab und setzte sich. »Ich muss gestehen, dass ich mich nicht mit Euch messen kann, wenn es um den Wettstreit der Worte geht. Ihr habt immer auf alles eine Antwort.«
Alkuin nahm dem König gegenüber Platz, Autkar blieb an der Tür stehen. Das bedeutete, dass er dem Gespräch zwar lauschen, sich aber nicht daran beteiligen würde, bis Karl ihn aufforderte.
»So wie ich mich nicht mit Euch messen kann, was die Kriegskunst angeht«, erwiderte Alkuin diplomatisch.
Karl löffelte von seinem Brei. Er grunzte. »Wie gut, dass ich Rodehard, den Koch, mitgenommen habe. Er ersetzt alle Ärzte und zaubert aus nichts ein köstliches Mahl.«
Alkuin kannte Rodehard. Es mochte stimmen, was Karl über ihn sagte, dass seine Kochkunst Krankheiten vorbeugte, nur dass Rodehard es noch nicht nötig gehabt hatte, etwas aus nichts zu kochen, zumal es nicht möglich war, aus nichts etwas zu erschaffen, es sei denn, Gott hatte seine Hand im Spiel. Doch diese Spitzfindigkeit wollte Alkuin jetzt nicht mit Karl diskutieren. Wenn dieser zu ihm kam, dann hatte er ein Problem, das er lösen wollte, oder eine Frage, auf die er eine Antwort suchte.
Karl schluckte, wischte sich mit einem Tuch den Mund ab. »Und dennoch wollt Ihr mir ständig den Krieg ausreden.«
»Ausreden will ich Euch gar nichts, mein König. Abgesehen davon, dass Ihr das nicht zulasst, wäre ich ein schlechter Ratgeber, wenn ich Euch nicht überzeugen könnte.«
Karl leerte seine Schüssel, Alkuin tat es ihm gleich.
»Seit fast dreißig Jahren bekämpfe ich die Sachsen, und es will kein Ende nehmen. Diese Barbaren kosten mich Unsummen Gold und viele gute Männer. Ich bin es leid. Ich denke, ich sollte ein für alle Mal aufräumen. Die Wälder durchkämmen und jeden Sachsen entweder erschlagen oder ins Frankenreich umsiedeln.«
Mit dieser Idee konnte sich Alkuin nicht anfreunden. Er hatte schon immer dafür plädiert, dass nicht das Schwert, sondern das Wort diese Menschen weitaus gründlicher und vor allem mit weniger Aufwand bekehrt hätte. Karls Härte war leider auch gespeist aus seinem Zorn darüber, dass ein Volk es wagte, sich ihm so lange zu widersetzen. Dass die Edlen der Sachsen heute einen Treueschwur ablegten und morgen Franken und Priestern mit der Axt den Kopf spalteten, Bischöfe aufspießten und Kirchen niederbrannten. Allen voran war es Widukind, der dem König nie einen Eid geschworen und es vermocht hatte, die meisten Stämme zu vereinigen und Karl eine empfindliche Niederlage beizubringen. Diese hatte allerdings nicht er selbst, sondern ein Heerführer zu verantworten gehabt, der für seinen Fehler bereits in der Schlacht, die er vom Zaun gebrochen hatte, mit dem Tode gebüßt hatte. Dennoch, allein wegen dieser Schmach hätte Karl die Sachsen allesamt am liebsten in die Weser geworfen. Doch Zorn war ein schlechter Ratgeber.
Hätte Karl seine Wut im Zaum halten können, wären die Sachsen schon längst Teil des Fränkischen Reichs, davon war Alkuin überzeugt. Schließlich gab es genug Edle, die sich ihm willig angeschlossen hatten, weil sie dafür mehr Land und mehr Macht erhalten hatten. Einige davon waren von Karl wieder abgefallen, da er ihnen zu viele Rechte genommen hatte, sie zu sehr gegängelt und den fränkischen Gaugrafen zu viel Handlungsfreiheit gelassen hatte.
Alkuin legte seinen Löffel neben die Schale. »Widukind ist besiegt, die Sachsen aber nicht. Deshalb wird er nicht aufgeben, es sei denn …«
»Es sei denn?«, fragte Karl mit einem drohenden Unterton.
Autkar hob warnend die Augenbrauen. Sogar Alkuin musste dem König gegenüber seine Worte sorgsam wählen. Auch wenn Karl ihn ständig aufforderte, freiheraus zu sprechen, konnte das eine oder andere ihn so sehr in Rage bringen, dass er vergaß, wer Freund und wer Feind war. Das hatte er gemein mit einem anderen Großen seiner Zunft, dessen Name Alexander war, König der Griechen, Bezwinger der Perser, der im Streit seinen besten Freund und General erschlagen und mit der Umnachtung seiner Seele bitter gebüßt hatte. Dieses Schicksal, sowohl das des besten Freundes als auch das Alexanders, wollte er seinem König ersparen.
»Es sei denn, Ihr bietet ihm Freiheit und Wohlstand für sich und seine Sippe und alle, die mit ihm gehen.«
Karl sog scharf die Luft ein. Autkar wusste nicht so recht, wohin er blicken sollte. »Ich soll ihn dafür belohnen, dass er hunderte Franken gemeuchelt, die Häuser des Herrn geschändet und mich verhöhnt hat?«
Alkuin musste Karl einen Grund geben, warum er über seinen Schatten springen sollte, ja, springen musste.
»Denkt an die östlichen Grenzen des Reiches. Denkt an die Bretagne und an die Sarazenen. Ihr braucht den Frieden mit den Sachsen. Zumindest für einige Jahre. Denkt an die Sorben und die Slawen. Sie drängen immer wieder über die Grenzen, drohen ständig Thüringen einzunehmen, unterstützen die Sachsen und die Baiern in ihrem Streben, sich die Selbstständigkeit zu bewahren.« Karl wusste das alles, aber Alkuin musste es ihm immer wieder ins Gedächtnis rufen, hoffte, dass der kühle Verstand das heiße Herz zur Vernunft brachte.
»Haben wir dort nicht den Gaugrafen Hardrad, der sie mit schöner Regelmäßigkeit in ihre Schranken weist?«
»Hardrad ist ohne Zweifel ein treuer Gefolgsmann, er hat die Sorben schon mehrfach besiegt und sie zurückgedrängt, aber solange wir keinen Frieden in Sachsen haben, könnte es sein, dass die Sorben mit Widukind gemeinsame Sache machen. Ihr könnt Euch ausrechnen, was das bedeutet. Wir bräuchten dreimal so viele Männer. Ich mache Euch einen Vorschlag. Sendet mich zu Widukind. Er ist der Mann, der alles entscheidet. Ihm werden die meisten Sachsen folgen. Ich glaube, Widukind ist so weit, dass wir ihn kaufen können. Er ist müde, ausgelaugt, erschöpft. Er ist alt. Das würde wesentlich weniger kosten als ein erneuter Feldzug, bei dem wir es auch noch mit den Sorben zu tun bekommen könnten. Ich denke, ich kann ihn dazu bewegen, sich taufen zu lassen. Allerdings müsstet Ihr ihm zur Seite stehen und …«
Alkuin ließ die Worte in der Luft hängen. Karl würde von sich aus darauf kommen, was nötig war, um Widukind ohne Schlacht zum Aufgeben zu bringen.
Karl schnellte hoch, schlug eine Faust in seine Hand. »Wisst Ihr, was Ihr da von mir verlangt, Alkuin?«
Karl wollte darauf keine Antwort, es war eine rhetorische Frage, eine Methode, die er von Alkuin gelernt hatte.
Karl lief eine Weile in der Hütte hin und her, das hieß, er machte drei Schritte in die eine, dann drei Schritte in die andere Richtung. Bei seiner Körpergröße maßen seine Schritte fast eineinhalbmal so viel wie die Alkuins, und der galt nicht als Zwerg.
»Ich soll den Taufpaten spielen?«
Aus den Augenwinkeln sah Alkuin Autkar kaum wahrnehmbar nicken. Also war er auf der richtigen Fährte und konnte den Faden wieder aufgreifen. »Ich bitte Euch, mein König. Begrabt den Groll, den Ihr gegen Widukind hegt, und gebt mir die Möglichkeit, ihn umzustimmen.«
Karl schnaubte. »Widukind wird Euch auf einen Spieß stecken und über kleiner Flamme rösten. Manchmal frage ich mich wirklich, warum ich Euch mir antue.«
»Weil Ihr ein kluger Herrscher seid, mein König.« Alkuin neigte sein Haupt ein wenig. Eine Geste der Demut, um Karl zu verstehen zu geben, dass er es nicht böse meinte.
Karls Lippen zuckten, dann verzogen sie sich zu einem schrägen Lächeln. »Ihr seid anmaßend, Alkuin!«
»Das ist es, was Ihr von mir erwartet, Herr.«
»Dennoch muss ich Euch strafen. Da ich weiß, wie sehr Ihr das Reisen im Winter verabscheut, befehle ich Euch: Ihr brecht sogleich auf zu Widukinds Lager. Ich gebe Euch zehn meiner besten Männer mit. Ich will sie unversehrt wiederhaben. Und dazu Widukind!«
Er wandte sich zu Autkar um. »Was meint Ihr?«
»Wenn Widukind auf unsere Bedingungen eingeht und sich daran hält, wenn er unverzüglich mit Euch nach Attigny reist, um die Taufe zu empfangen, dann wäre dies ein großer Erfolg. Wir könnten uns in aller Ruhe um die Sorben und Slawen kümmern, mit denen man nicht verhandeln kann.«
Karl nickte. »So ist es beschlossen.«
Alkuin ließ sich seine Freude und seine Erleichterung nicht anmerken. »Ich nehme Eure Strafe demütig an und werde tun, was Ihr verlangt. So wahr mir Gott helfe.« Und das hatte der Allmächtige ja bereits getan, als er sein Knie geheilt hatte, sonst hätte er die beschwerliche Reise kaum auf sich nehmen können.
Karl machte zwei Schritte und legte Alkuin die Hände auf die Schultern. »Und sorgt dafür, dass Euch nichts zustößt. Versprecht mir das.«
Alkuin blickte seinem Herrn in die Augen, der ihn ansah, wie man einen Freund ansieht. Ganz gegen seine Gewohnheit, etwas zu versprechen, von dem er nicht wusste, ob er es einhalten konnte, sagte Alkuin:
»Ich werde Euch nicht enttäuschen.«
Radulf schleuderte die Axt mit aller Kraft, seine Leute johlten und klatschten. Sie verfehlte Bogumil nur um eine Handbreit und schlug in dem Eichenbalken ein, der die Hauptlast des Daches trug. Auf dem letzten Zug gegen die Sorben, einen der westslawischen Stämme, die einfach keine Ruhe geben wollten, hatte Radulf Bogumil zum Sklaven genommen, anstatt ihn zu erschlagen. Der Knabe, kaum elf Jahre alt, hatte sich erbittert gewehrt, mit bloßen Fäusten. Das hatte Radulf beeindruckt. Auch jetzt hielt er sich gut.
Natürlich würde er ihn nicht verletzen, dafür war der Junge zu wertvoll geworden. Er kannte sich aus bei den Sorben, schließlich war er der Sohn eines Häuptlings, den Radulfs Leute erschlagen mussten, weil er immer wieder in seine Ländereien und die der verbündeten fränkischen Grafen eingefallen war, Dutzende Höfe geplündert und einige hundert Bauern getötet hatte.
Die Sorben versklavten niemand, das war ihnen zu gefährlich, denn sie waren davon überzeugt, dass Sklaven bei jeder sich bietenden Gelegenheit versuchen würden, ihre Herren zu beseitigen. Damit hatten sie nicht unrecht. Das galt vor allem für Krieger. Die waren widerspenstig und mussten unschädlich gemacht werden.
Auch Frauen ließen sie in Ruhe, denn sie wollten ihr Blut rein halten. Das konnte Radulf nicht verstehen. Frauen, insbesondere Mütter, mit denen konnte man etwas anfangen, wenn man ihre Kinder verschonte. Dann waren sie dankbar und taten alles, um diese zu schützen. Bogumils Mutter, die Frau des Sorbenhäuptlings, war von einem seiner Männer umgebracht worden, als der sein Siegerrecht einforderte. Es war das Letzte, das er tat, denn sie hatte ihn getäuscht, ihm vorgespielt, dass sie nur auf ihn gewartet hätte, und ihm dann sein edelstes Teil abgebissen. Er konnte ihr, schon halbtot, nur noch den Dolch ins Herz stoßen, dann war er umgekippt und verblutet. Der dumme Kerl hatte bekommen, was er verdiente.
Radulf hätte die Frau gerne als Geisel genommen, und er musste sich eingestehen, dass er den Jungen geschont hatte, weil ihn das schlechte Gewissen plagte. Frauen zu schänden war das Recht des Siegers, ja, aber was, wenn er selbst eines Tages besiegt würde? Wenn die Adlerburg fiel, wenn die Slawen über das Land herfielen, wie manche fürchteten, da sie von Jahr zu Jahr stärker wurden. Oder die Stämme aus dem Fernen Osten, die, so berichteten es Händler, sich wie die Heuschrecken über die Länder hermachten und nichts als verbrannte Erde hinterließen?
Er schüttelte den Gedanken ab. Das würde nicht geschehen. Die Adlerburg und seine gesamte Familie standen unter dem Schutz Karls, des Unbesiegbaren, und seiner Gemahlin, die niemand anderes als Radulfs eigene älteste Tochter Fastrada war und in Aquis die Geschäfte des Königs am Hof versah, wenn dieser unterwegs war. Und das war er fast ständig, wie sonst hätte er seine Macht behaupten können? Besser konnte es nicht kommen. Obwohl, das war nicht ganz richtig. Es konnte noch besser kommen, doch dafür musste Radulf noch einiges tun. Und davon durfte seine Tochter nichts erfahren.
Er stand auf und klopfte Bogumil auf die Schulter. »Gut gemacht, Junge. Aus dir wird noch ein echter Franke.«
Bogumil neigte den Kopf. »Ich gebe mir alle Mühe, Herr.«
»Das glaube ich dir. Geh jetzt Holz holen und Wasser, nimm dir zwei Knechte mit.«
Bogumil war ein heller Kopf. Man musste ihm etwas nur einmal zeigen und erklären, schon konnte er es wiederholen oder ausführen. Radulf hatte ihm dargelegt, wie die Reiterattacke des fränkischen Heeres vonstattenging, und am nächsten Tag hatte Bogumil ihm eine Schwäche aufgezeigt.
»Wenn aber die Panzerreiter in schweres Gelände kommen, wo es nass ist und sumpfig, dann kann sich die Kraft des Angriffs nicht entfalten, Herr. Dann bleiben die Pferde im Morast stecken, und man kann die Reiter pflücken wie reife Pflaumen.«
Radulf hatte den Jungen lange angeschaut. Natürlich war das bekannt, aber Bogumil war von allein darauf gekommen. Dennoch wollte er ihn prüfen. »Was also müssen wir tun, wenn sich der Feind im Sumpf versteckt? Wenn er sich uns feige entzieht und die ehrenhafte Schlacht meidet?«
»Wir müssen seine Siedlungen angreifen und seine Motten. Dann müssen sie heraus aus ihrem Versteck.« Er hatte einen Moment gezögert und dann mit klarer Stimme, in der Radulf keinerlei Bitterkeit oder Hass erkennen konnte, gesagt: »So wie Ihr es bei uns gemacht habt.«
»Vater!«
Radulf hob den Kopf. »Sigismund, mein Sohn. Nimm Platz.«
»Danke, Vater.«
Sein Sohn räusperte sich. Immer wenn er das tat, hatte er etwas auf dem Herzen. Sigismund war im Herbst achtzehn geworden, er war ein furchtloser Krieger und ihm treu ergeben. Mit ihm hatte er Großes vor.
»Nur heraus damit, Sigismund.«
»Hast du entschieden, wen ich zum Weib nehmen soll?«
Das hatte Radulf noch nicht, zu viel hing davon ab, ob er seine Pläne in die Tat umsetzen konnte. Noch war es zu früh, noch hatte er nicht genug Kräfte gesammelt, die Zeit war noch nicht reif.
»Ich weiß, es ist geboten, mein Sohn, dass du dir eine Frau nimmst.«
Sigismund seufzte. »Wäre es nicht klug, Gunhild, die Tochter des Gaugrafen Hardrad, zur Frau zu nehmen? Damit könnten wir die zwei mächtigsten Familien der Thüringer vereinen. Gemeinsam würden wir von Isinacha im Osten bis an die östlichen Grenzen der sorbischen Mark herrschen.«
Das wäre in der Tat klug, aber Radulf konnte sich Hardrads nicht sicher sein. Er war ein treuer Gefolgsmann Karls, auch wenn er das eine oder andere zu bemängeln hatte. Außerdem hatte Hardrad jemand anderen im Blick für seine Tochter. Nein, er würde nicht einmal fragen, ob er seine Tochter Sigismund zur Frau geben wollte.
»Wahre Worte, mein Sohn. Doch ich bitte dich, ein wenig Geduld zu haben. Bald werde ich jemand für dich gefunden haben, der uns noch mächtiger macht, als es Gunhild und Hardrad je könnten.«
Sigismund nickte. »Wie du wünschst, Vater.«
Radulf nahm die Hände seines Sohnes. »Gunhild ist eine schöne Frau, sie ist stark und wehrhaft. Hardrad ist klug, ein großer Krieger und vermag es, die Herzen der Menschen zu erreichen. Gunhild ist also ohne Zweifel eine gute Wahl. Aber ich verspreche dir, du wirst von meiner Entscheidung nicht enttäuscht sein.«
Sein Sohn lächelte. »Ich vertraue dir, Vater.«
Radulf war stolz auf seinen Sohn. Er hatte ihn mit Strenge erzogen, aber auch mit Zuneigung, Geduld und Lob. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben, Radulfs zweite Frau hatte ihm Fastrada geschenkt, die zweifelsohne von Gott begünstigt war, sah man von ihrer Kränklichkeit ab. Seine dritte Frau hatte ihm acht Kinder geboren, vier Töchter hatten überlebt, die er ebenfalls gut verheiratet hatte. Sigismund war sein einziger Sohn, er würde nicht nur sein Nachfolger und Stammhalter sein, sondern sich über alle Grafen und Edlen der Thüringer erheben und über das Reich der Franken herrschen. Doch von seinen Plänen durfte der Junge nichts erfahren. Schließlich hatte Radulf ihm Gottesfurcht und Gehorsam gegenüber dem König beigebracht.
Sigismunds Ehefrau würde die Tochter eines nordischen Königs sein. Nichts Geringeres. Dafür war Radulf bereit, alles zu wagen, und wenn es seinen Tod bedeutete.
Ihre Brüder! Sie waren mit Knechten irgendwo außerhalb der Palisaden, am Ufer des Erphes, da, wo das Wasser tiefer war und nicht bis zum Grund zugefroren, so wie an der Furt. Sie waren leichte Beute für Feinde, die sie als Geiseln nehmen würden, um sie zur Übergabe der Burg zu zwingen. Gunhild wäre am liebsten selbst losgestürmt, sie zu retten und sie mit dem Schwert zu verteidigen. Doch das durfte sie nicht. Sie war die Tochter des Grafen, und wenn die Eltern nicht anwesend waren, oblag ihr der Oberbefehl, auch wenn Dado der Hauptmann und ein erfahrener Krieger war. Sie musste ihn nur ansehen und wusste, dass er genauso handeln würde wie sie. Sie nickte ihm zu. »Verliert keine Zeit!«
Er winkte zwei Kriegern, die mit ihm losrannten, um Warmunt und Giselher so schnell es ging, in die Burg zu holen.
»Gott steh euch bei«, rief sie den Männern hinterher.
Dann rannte sie auf den Turm der Motte, den Vater im letzten Herbst hatte erhöhen und mit schweren Eichenbalken verstärken lassen, genau wie die Palisaden um die Vorburg. Sie sah Dado und die beiden Männer auf ihren Pferden im Trab aus dem Tor reiten. Sie konnten nicht galoppieren, das wäre zu gefährlich gewesen. Gunhild sandte ein weiteres Stoßgebet gen Himmel, fühlte die Angst um ihre Brüder in ihren Eingeweiden. Sie packte den Klöppel und ließ ihn in der Triangel wirbeln, während sie bis zwanzig zählte. Das metallene Geräusch drang in jeden Winkel. Krieger stürmten aus den beiden Schlafhäusern, und jeder, der eine Waffe tragen konnte, Mägde wie Knechte, griff sich ein Schwert, eine Lanze oder einen Bogen, und gemeinsam besetzten sie die Wehrgänge. Der Schmied und der Bäcker heizten die Pechkessel an, schon bald zog der Geruch des Todes durch die Burg. Ihre Gehilfen luden Steine in Tragen und hievten sie nach oben. Die Brücke, die den Wehrturm mit der Vorburg verband, wurde hochgezogen.
Gunhild rannte zurück, legte ihren Harnisch und den Schwertgurt an. Sie spannte die Sehne ihres Bogens, nahm den Köcher. Zwei Dutzend Pfeile steckten darin. Sollte Sintwich ihren Brüdern auch nur ein Haar krümmen, würden er und zehn seiner Männer es mit dem Leben bezahlen. Sie bezog mit den anderen Kriegern der Wache Stellung auf der Palisade, die den Wehrturm umgab, und beschattete die Augen gegen das gleißende Licht der Sonne, das der Schnee zurückwarf. Sie musste achtgeben, nicht zu lange ins Licht zu blicken, das konnte sie blind machen.
Dado ließ alle Vorsicht fahren und sprengte mit seinen Männern den Weg entlang, der nach Westen führte und nach einigen Meilen auf die alte Römerstraße nach Uulthaha führte. Giselher, Warmunt und die zwei Knechte kamen ihm entgegengerannt, denn auch sie hatten die Triangel gehört. Erneut erklang das Horn, und das unverwechselbare dumpfe Geräusch galoppierender Hufe auf Schnee kam näher.
Gunhilds Herz schlug schneller, ihr Atem beschleunigte sich. Ein Wachmann zeigte zum Waldrand. Dort tauchten vier Reiter auf. Gunhild hob den Bogen, legte einen Pfeil ein, zog die Sehne aus und zielte. Nur eine Lanzenlänge von Giselher und Warmunt entfernt stieg eines der Pferde, der Reiter stürzte in den Schnee.
Gunhild stutzte, senkte den Bogen, ließ die Sehne locker. Der Mann war unbewaffnet. Ein anderer hing vornüber im Sattel, konnte sich kaum halten, aus seinem Rücken ragte ein Pfeil. Der dritte setzte das Horn an, doch als er blasen wollte, fiel es ihm aus der Hand. Dann rutschte er auf die Seite, verlor das Gleichgewicht und kippte ebenfalls aus dem Sattel. Sein Pferd blieb sofort stehen. Der letzte Mann, der unverletzt schien, parierte sein Ross durch, sprang in den Schnee, hievte den Mann zurück in den Sattel. Es war eindeutig Graf Sintwich. Gunhild überlegte nicht lange.
»Helft den Männern!«, befahl sie. »Öffnet das Tor. Bildet eine Phalanx. Schützt sie!«
Ohne Murren gehorchte die Wache, zwei Dutzend Männer strömten durch das Tor, bildeten eine Gasse, durch die Dado, der Gunhilds Plan erkannt hatte, ihre Brüder und die beiden Knechte hindurcheilten. Dann schloss sich die Phalanx, die Schilde krachten aneinander und formten eine undurchdringliche Mauer. Sie rückten vor, umkreisten Graf Sintwich und seine Männer, schlossen die Phalanx wieder, sodass auch diese hinter den Schilden geschützt waren.
Reiter erschienen. Slawen.
»Gebt ihnen eine Salve!«, brüllte Gunhild, hob erneut ihren Bogen, zog ihn aus, zielte und ließ die Sehne los. Kaum war der Pfeil in der Luft, legte sie den nächsten auf.
Zwanzig Schützen feuerten zugleich auf die nahenden Feinde, einen Pfeil nach dem anderen. Einige Kämpfer fielen getroffen, andere wurden von ihren verletzten und in Panik geratenen Pferden abgeworfen. Dennoch versuchten mehr als zehn Reiter, die Phalanx zu durchbrechen. Doch Speere und Schilde versperrten ihnen den Weg, sie konnten weder hindurch noch darüber hinweg. Als sie erkannten, dass sie wider Erwarten auf Widerstand stießen, kehrten sie um und flohen.
Gunhild atmete auf. Ihre Brüder waren gerettet, sie hatten den Angriff abgewehrt. Die Phalanx zog sich zurück, und schon bald schloss sich das Tor, und alle waren vorerst in Sicherheit. Gunhild hatte nicht einen einzigen Verlust zu beklagen, ja noch nicht einmal einen Verletzten.
Die Brücke zur Vorburg wurde heruntergelassen, Gunhild lief ihren Brüdern entgegen, nahm sie in die Arme und drückte sie so fest sie konnte.
»Du zerquetschst uns, Schwester«, nuschelte Warmunt.
Gunhild ließ sie los. »Verzeiht, aber ich hatte solch eine Angst.«
»Ich auch«, sagte Giselher mit zitternder Stimme. »Ich habe Gott schon um die Vergebung meiner Sünden angefleht.«
Warmunt war bleich wie der Tod. »Die hätten uns umgebracht, oder?«
Gunhild streichelte Warmunt über den Kopf, was er normalerweise mit heftigem Protest abgelehnt hätte. »Nein, sie hätten euch als Geiseln genommen.«
Warmunt schluckte hart. »Das wäre nicht viel besser gewesen, denn weder Vater noch du hätten ihre Forderungen erfüllt, nicht wahr?«
Gunhild konnte ihren Brüdern nichts vormachen. »Wenn sie Gold und Silber verlangt hätten, schon. Nicht aber, wenn ich ihnen die Burg hätte übergeben sollen.«
»Der Sohn des Grafen zu sein hat Vor- und Nachteile«, stellte Giselher fest.