Das Gotteslehen - Ludwig Ganghofer - E-Book + Hörbuch

Das Gotteslehen Hörbuch

Ludwig Ganghofer

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Beschreibung

Ein spannender Roman aus Roman aus dem 13. Jahrhundert. Das mächtige Kloster zu Berchtesgaden macht nach und nach alle Bauern zu Hörigen. Nur der Bauer Greimold, der seinen Hof »Gotteslehen« nennt, weil Gott sein einziger Lehensherr sei, kann bislang dem Kloster widerstehen. Der ehrgeizige Dekan Wernherus versucht alles, das "Gotteslehen" in die Abhängigkeit des Klosters zu bringen. Der junge Chorherr Irimbert liebt Greimolds blinde Tochter Jutta. Über Greimold wie über Irimbert hält der gütige Probst Friedrich von Ortenburg seine schützende Hand, als er jedoch bei einem Jagdunfall stirbt, wird Wernherus sein Nachfolger. Während die Soldaten des Klosters das Gotteslehen erstürmen und niederbrennen, fliehen Irimbert und Jutta. Ganghofers Werke, vor allem die Romane, werden noch heute verlegt. Weltweit wurden insgesamt mehr als 30 Millionen Werke verkauft (geschätzt, Stand 2004). Null Papier Verlag

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Zeit:8 Std. 18 min

Veröffentlichungsjahr: 2025

Sprecher:Ernst Krammer-Keck

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Ludwig Ganghofer

Das Gotteslehen

Ein historischer Roman

Ludwig Ganghofer

Das Gotteslehen

Ein historischer Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-954180-86-8

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Au­tor

Ka­pi­tel 1

Ka­pi­tel 2

Ka­pi­tel 3

Ka­pi­tel 4

Ka­pi­tel 5

Ka­pi­tel 6

Ka­pi­tel 7

Ka­pi­tel 8

Ka­pi­tel 9

Ka­pi­tel 10

Ka­pi­tel 11

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Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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Autor

Ge­bo­ren am 7.7.1855 in Kauf­be­u­ren als Sohn ei­nes Forst­be­am­ten. Er ar­bei­te­te ab 1872 als Vo­lon­tär in ei­ner Augs­bur­ger Ma­schi­nen­fa­brik. 1873 ent­schloß er sich, Schrift­stel­ler zu wer­den. Er stu­dier­te in den Jah­ren 1874-1877 Phi­lo­so­phie und Phi­lo­lo­gie in Mün­chen und Ber­lin und pro­mo­vier­te 1879 zum Dr. phil. in Leip­zig. Ab 1880 leb­te er in Wien und war dort Dra­ma­turg des Ring­thea­ters. Von 1886-1892 ar­bei­te­te er als Feuil­le­ton­re­dak­teur, dann als frei­er Schrift­stel­ler.

Vie­le Wer­ke Gang­ho­fers grei­fen Ge­scheh­nis­se aus der Ge­schich­te Berch­tes­ga­dens auf, wo er sich re­gel­mä­ßig auf­hielt. Sei­ne Hei­ma­tro­ma­ne ha­ben Gang­ho­fer schon zu Leb­zei­ten den Ruf des »Hei­le-Welt«-Schrei­bers ein­ge­bracht. Nicht sel­ten sind sei­ne Wer­ke, die meist vom Le­ben ein­fa­cher, tüch­ti­ger, ehr­li­cher Leu­te han­deln, als Kitsch be­zeich­net wor­den. Gang­ho­fer und sei­ne Wer­ke wur­den des­we­gen schon zu Leb­zei­ten Ziel­schei­be sa­ti­ri­scher At­ta­cken, bei­spiels­wei­se von Karl Kraus in sei­nem Werk Die letz­ten Tage der Mensch­heit.

Gang­ho­fers Wer­ke, vor al­lem die Ro­ma­ne, wer­den noch heu­te ver­legt. Welt­weit wur­den ins­ge­samt mehr als 30 Mil­lio­nen Wer­ke ver­kauft (ge­schätzt, Stand 2004).

Gang­ho­fer war ein eben­so pro­duk­ti­ver wie er­folg­rei­cher deut­scher Volks­schrift­stel­ler. Sei­ne Ro­ma­ne aus der bay­ri­schen Al­pen­welt zei­gen in ef­fekt­vol­ler Wei­se die Schick­sa­le und Er­leb­nis­se meist ein­fa­cher Men­schen. Gang­ho­fer starb am 24.7.1920 in Te­gern­see.

Wer­ke u.a.

1886 Edel­weiß­kö­nig

1892 Der Klos­ter­jä­ger

1894 Die Mar­tins­klau­se

1895 Schloß Hu­ber­tus

1899 Das Schwei­gen im Wal­de

1900 Der Dorfapo­stel

Kapitel 1

Mit ro­tem Laub, in der kla­ren Son­ne stan­den die herbst­li­chen Ul­men und Bu­chen rings um das klei­ne Block­haus her und sperr­ten mit dem Netz­werk ih­rer tau­send Äste und dem Flam­men­ge­wirr der far­bi­gen Blät­ter alle Fern­sicht. Man sah nur den blau­en Him­mel in der Höhe, in wei­ter Run­de nur die wei­ßen Spit­zen der Ber­ge.

Über jene stei­len Zin­nen war, ein Vor­bo­te des na­hen­den Win­ters, schon der ers­te Schnee ge­fal­len, wäh­rend auf den tiefe­ren Ge­hän­gen noch die letz­ten Blu­men des Herbs­tes blüh­ten. Der kal­te Nachtreif hat­te die zar­ten Spit­zen ih­rer Blät­ter schon ver­sengt, doch in ih­ren Kel­chen war noch Ho­nig. Die Bie­nen, de­ren Stö­cke un­ter dem vor­sprin­gen­den Moos­dach des Block­hau­ses ge­bor­gen stan­den, flo­gen em­sig ab und zu. Die­ser ste­te Im­mens­ang, ge­paart mit dem Mur­meln ei­nes dünn lau­fen­den Brun­nens, um­schweb­te wie lei­se Mu­sik das nie­de­re Dach und alle Bal­ken­mau­ern des klei­nen, grau ver­wit­ter­ten Hau­ses, wel­ches ein­sam stand, men­schen­fer­ne, ver­sun­ken im Berg­wald.

Das Haus ei­nes Jä­gers. Ne­ben dem Brun­nen wa­ren Wild­fel­le zum Trock­nen über Stan­gen ge­sprei­tet und über der Tür, zu bei­den Sei­ten ei­nes höl­zer­nen Kreu­zes, wa­ren ge­bleich­te Luchs­köp­fe und Bä­ren­häup­ter an die Bal­ken ge­na­gelt. Vor der stei­ner­nen Schwel­le lag ein weiß und braun ge­fleck­ter Jagd­hund in der Son­ne; blin­zelnd und mit den Ohr­lap­pen zu­ckend hielt er in Wohl­be­ha­gen den Hals auf die vor­ge­streck­ten Pfo­ten ge­schmiegt; manch­mal hob er den Kopf, späh­te fun­keln­den Blickes in den Wald, als hät­te er den Tritt ei­nes zie­hen­den Wil­des ver­nom­men, und blick­te zu der al­ten Frau em­por, die spin­nend auf der Haus­bank saß. Die Grei­sin ach­te­te des Hun­des nicht. Sie spann und spann, mit vor­ge­beug­tem Haupt, so daß ihr die grau­en Zöp­fe über die Brust hin­gen. Fal­tig um­schloß eine Kut­te aus blau­em Hanf­tuch den von Al­ter ge­beug­ten Leib. Das Ge­wand ließ die ha­ge­ren Arme nackt, und wäh­rend die eine Hand den halb schon ab­ge­spon­ne­nen Ro­cken hielt, zog die an­de­re ohne Rast den Fa­den und ließ in der Luft die schwe­re Spin­del tan­zen.

Da klang über dem Moos­dach ein äch­zen­der Vo­gel­schrei und lau­tes Flat­tern. Lang­sam blick­te die Grei­sin auf und sah einen Ha­bicht mit der wei­ßen Tau­be, die er ge­schla­gen, im Wald ver­schwin­den. »So fliegt der Tod um und frißt uns auf!«

Als woll­te das at­men­de Le­ben die­sem trüb­se­li­gen Wor­te wi­der­spre­chen, tön­te in die­sem Au­gen­blick, vom spie­len­den Wind­hauch halb ver­weht und doch ge­tra­gen, der kla­re Hall ei­ner sin­gen­den Mäd­chen­stim­me vom hö­he­ren Wald her­un­ter, je­der Laut das Zeug­nis ei­ner Her­zens­freu­de, die sich äu­ßern muß, weil ihr die Brust zu eng ge­wor­den.

Die Grei­sin hob lau­schend das Ge­sicht. »Daß die noch sin­gen kann?«

Da ließ sich Geräusch im Haus ver­neh­men, »So, Herr! Und jetzt das Schieß­zeug noch!« sag­te eine Män­ner­stim­me. »Die Bol­zen sind ge­schärft und neu ge­fie­dert, sie flie­gen über hun­dert Gang. Nur gut hin­hal­ten! Und denk, daß der Hirsch im Zwie­licht all­weil nä­her steht, als wie’s den An­schein hat. Wenn du gut acht­hast auf al­les, mag’s wohl ge­lin­gen, daß du einen weid­ge­rech­tem Schuß tust.«

»Den Schuß ins Herz oder kei­nen!« er­wi­der­te eine ju­gend­li­che Stim­me von so ver­sun­ke­nem Klang, wie eine Glo­cke tönt, an die man sacht mit der Hand ge­schla­gen.

Schwe­re Schrit­te ka­men zur Tür, und Hil­pot, der alte Jä­ger, trat über die Schwel­le. Sein furchi­ges Ge­sicht ver­sank in dem grau­en Bart, der mit strup­pi­gem Haar in eins ver­wuchs und gleich ei­ner ge­stutz­ten Mäh­ne den Kopf um­starr­te. Vom Fuchs­fell, mit dem die stäm­mi­gen Bei­ne um­schnürt wa­ren, hin­gen zer­ris­se­ne Lap­pen nie­der, und das är­mel­lo­se Le­der­wams war schwarz und brü­chig. Eine klo­bi­ge, schwer ge­beug­te Ge­stalt, ver­wit­tert vom Win­ter, vom Sturm der Ber­ge, ver­wil­dert in der Ein­sam­keit. Vor drei­ßig Jah­ren hat­te Hil­pot mit Han­na, sei­nem Weib, die­ses im Wald ver­lo­re­ne Haus be­zo­gen. Weil das Wald­ge­räum­te, auf dem es stand, sich von al­len Ge­hän­gen des Göhl am wei­tes­ten her­vor­schob, nann­ten es die Leu­te das »Vor­der Eck«. Und seit drei­ßig Jah­ren hü­te­te Hil­pot die Gem­sen und Hir­sche, die in rei­cher Zahl die Fel­sen und Wäl­der des ho­hen Göhl be­wohn­ten, des­sen Wild­bann einst der Kai­ser Rot­bart dem un­ge­treu­en Bi­schof von Salz­burg ab­ge­nom­men und dem kai­ser­treu­en Klos­ter zu Berch­tes­ga­den ver­lie­hen hat­te. In die­sen drei­ßig Jah­ren war Hil­pot nur ins Tal hin­un­ter­ge­stie­gen, wenn er an ho­hen Kir­chen­ta­gen die Mes­se hö­ren muß­te oder wenn es einen Hirsch, der für Hil­pots Söh­ne zu ge­wich­tig war, in die Klos­ter­kü­che zu lie­fern galt -- oder wenn er von sei­nen Bu­ben einen auf dem To­ten­brett hin­un­ter­tra­gen muß­te zur ge­weih­ten Erde. Sechs­mal in die­sen drei­ßig Jah­ren hat­te Hil­pot sol­che Last ge­tra­gen. Das hat­te mit­ge­hol­fen, um sei­nen Rücken so tief zu krüm­men.

Eine Wei­le stand er auf der Schwel­le und späh­te nach al­len Sei­ten. Dann trat er ein paar Schrit­te in das Ge­höft hin­aus. Han­na blick­te zu ihm auf und sag­te: »Der Stö­ßer hat uns das letz­te Täubl da­von. Du, Jä­ger, du! Hü­test für an­der Leut das Ge­wild und kannst dei­ne ei­ge­ne Taub nit hü­ten.«

Sie nick­te. »Sol­che Jä­gers­leut sind wir Men­schen all mit­einand!« Hil­pot schi­en nicht zu hö­ren. Lau­schend späh­te er über den Wald­saum hin und rief dann ge­gen die Tür: »Komm nur, Herr! Nur die Mut­ter, sonst ist kei­ne Men­schen­seel in der Näh. Der Forst ist völ­lig still, nur dro­ben in der Wald­hut, ne­ben dem Got­tes­le­hen hört man das arme Mä­del sin­gen.«

Im Rah­men der Tür er­schi­en eine hohe Ge­stalt, ein jun­ger Jä­ger, der eben die Arm­brust hin­ter die Schul­ter nahm. Er war ge­klei­det wie der Alte, nur daß das Ge­wand nicht so ver­wit­tert und ver­braucht war; dazu die Mar­der­kap­pe mit der Ad­ler­fe­der. Das Wams zog Fal­ten, als wär es nicht für die­sen schlan­ken Kör­per ge­schnit­ten wor­den. Und die schma­len Hän­de wie auch die nack­ten Knie wa­ren weiß, als hät­ten sie die Son­ne nicht oft ge­se­hen. Nur we­nig lug­te das kurz ge­schnit­te­ne Schwarz­haar un­ter dem Pelz der Müt­ze her­vor. Auf den blei­chen Wan­gen lag ein bläu­li­cher Schim­mer. Wie fein und scharf wa­ren in die­sem Ge­sicht alle Züge! Die streng ge­schwun­ge­nen Lip­pen ge­schlos­sen wie in trot­zi­gem Schwei­gen, das die Rede haßt. Doch un­ge­stü­me Spra­che leuch­te­te aus der Nacht die­ser großen Au­gen, über de­nen die schwar­zen Brau­en wie mit Koh­le ge­zeich­net wa­ren.

Der Jagd­hund er­hob sich beim An­blick des jun­gen Weid­manns und knurr­te, als stün­de ein Frem­der vor ihm. Mit zi­schen­dem Laut wies Hil­pot das mür­ri­sche Tier un­ter die Haus­bank und nä­her­te sich mit ehr­fürch­ti­ger Scheu.

»Die Weg ver­lie­ren sich im Wald. Soll ich dich nit ge­lei­ten, Herr?«

Der an­de­re schüt­tel­te den Kopf. »Ich will nicht, daß du Mühe hast um mei­net­we­gen.« Ein bit­te­res Lä­cheln zuck­te um sei­nen Mund. »Man könn­te sie dir übel loh­nen. Ich dan­ke dir schon den einen Dienst, den du mir bie­test ge­gen dei­ne Pf­licht.« Den Berg­stock fas­send, den Hil­pot ihm reich­te, trat er aus dem Schat­ten der Tür in die leuch­ten­de Abend­son­ne. Bei den letz­ten Wor­ten, die er ge­spro­chen, hat­te die alte Frau einen erns­ten Blick auf ih­ren Mann ge­wor­fen. Nun woll­te sie den Ro­cken nie­der­le­gen und sich auf­rich­ten. Der jun­ge Jä­ger wink­te mit der Hand. »Bleib, Mut­ter Han­na! Dei­ne Jah­re wol­len ras­ten.« Die alte Frau nick­te wort­los vor sich hin und brach­te die Spin­del wie­der in Schwung. Der an­de­re stand vor ihr und be­trach­te­te eine Wei­le sin­nend ihre Züge. Dann sag­te er: »Dei­ne Spin­del ist heu­te schwer ge­wor­den. Gibt das ein Kleid zur Weih­nacht?«

»Nein, Herr! Ein Hemd für mei­nen Bu­ben. Für den letz­ten, den ich hab. Der­weil ich spinn, muß ich all­weil sin­nen, ob er das neue Hemd wohl tra­gen wird zur war­men Hoch­zeit oder zur kal­ten Freit? Ja, Herr, ich hab ge­spon­nen, der­zeit ich leb. Für sie­ben Bu­ben. Sechs von ih­nen ha­ben mein schö­nes Lei­nen hin­un­ter­ge­tra­gen, manns­tief un­ter den Wa­sen.« Han­na zog den Fa­den, wäh­rend Hil­pot seuf­zend das graue Haar mit bei­den Hän­den in die Stirn strich.

»Klag nicht um die To­ten, Mut­ter! De­nen ist wohl!« sag­te der jun­ge Jä­ger. »Freu dich an dem einen, der euch ge­blie­ben ist.«

Han­na netz­te die Fin­ger. »Was ist Freud, Herr? Was ist Weh? Schier weiß ich’s nim­mer. Es ist mir so ge­kom­men mit der Zeit, daß ich Weh und Freu­den all­weil spür, als wär’s ein glei­ches.«

»Dann bist du eine wei­se Frau.« Der jun­ge Jä­ger at­me­te tief. »Das Le­ben hal­ten auf ru­hi­ger Hand? Schmerz und Won­ne wie ein glei­ches wä­gen? Seit ich den­ke, quäl ich mich um die­se Kunst.«

Ein hal­b­es Lä­cheln glitt um die wel­ken Lip­pen der al­ten Frau. »Hab nur Ge­duld, Herr! Du stehst noch in der un­rech­ten Lehr. Wie­viel Jähr­lein hast du über die zwan­zig? Schau nur, schau! Der war­me, grü­ne Mai will es dem Win­ter nei­den, daß er weiß und kalt ist.« Ni­ckend sah sie an der ho­hen Ge­stalt des jun­gen Man­nes hin­auf. Ihre Au­gen blie­ben an sei­nem le­der­nen Wam­se haf­ten. »Das hat mein äl­tes­ter Bub ge­tra­gen am sel­bi­gen Tag, an dem der Baum ihn er­schla­gen hat.«

Hil­pot wink­te sei­nem Weib, als wär es ihm un­lieb, daß Han­na sol­che Din­ge schwatz­te; und ein Blick sei­ner scheu­en Au­gen streif­te das blei­che Ge­sicht des jun­gen Jä­gers.

Der lä­chel­te. »Ich dan­ke dir, Han­na, für die­ses Wort! Es gibt mir für mei­nen ein­sa­men Weg einen stil­len Ge­sel­len, mit dem sich’s plau­dern läßt, ohne daß ich re­den muß.« Er nick­te grü­ßend, und sei­ne Stim­me klang freund­li­cher. »Ge­hab dich wohl, gute Mut­ter! Dir zu­lie­be möcht ich wün­schen, du hät­test dei­nen Bu­ben noch und ein an­de­rer läge, wo der Baum ge­fal­len ist. Dann wäre zwei­en ge­hol­fen.«

Er wand­te sich ab und schritt den Bäu­men zu.

Da trug der Abend­wind den lieb­li­chen Hall je­ner sin­gen­den Mäd­chen­stim­me über den gold­leuch­ten­den Wald her­un­ter, deut­li­cher als zu­vor. Man konn­te die Wor­te ver­ste­hen:

»Es la­chet um und um der Wald, Es blu­met auf der grü­nen Hald, Und nie­der zu den Auen Stei­gen die Mai­den und Frau­en.«

Der jun­ge Jä­ger ver­hielt den Schritt und lausch­te, wäh­rend Hil­pot zur Haus­bank trat und sei­nem Wei­be zu­flüs­ter­te: »Wes­we­gen hast du’s ihm sa­gen müs­sen? Jetzt wird er über die schie­chen Wänd ein un­gu­tes Stei­gen ha­ben, weil er all­weil den­ken muß, er tragt einen Kit­tel, in dem schon ei­ner ver­blu­ten hat müs­sen. Es hat ihm kein an­de­res Wam­set pas­sen mö­gen. So schlach­tig und hoch ist er ge­wach­sen. Und mein al­tes Schmier­zeug kann ich doch so ei­nem Her­ren nit um­hän­gen. Schau, Mut­ter, hättst es ihm doch ver­schwei­gen sol­len!« Han­na er­wi­der­te kein Wort; sie netz­te die Fin­ger und spann. »Was hat er denn sa­gen wol­len mit dem stil­len Ge­sel­len?« flüs­ter­te Hil­pot. »Wen hat er ge­meint?«

»Den Tod.«

Der Alte schüt­tel­te den grau­en Kopf. »Geh, Mut­ter! So ein jun­ges Blut? Und soll einen Ge­sel­len su­chen, vor dem al­les ein Grau­sen hat, was lebt?«

»Du bist mir ei­ner!« Han­na zog den Fa­den lang und lä­chel­te. »Sechs­mal hast du den Tod schon ge­tra­gen auf dei­nem Bu­ckel. Und noch all­weil hast du ein Grau­sen vor ihm?« Ein mat­ter Seuf­zer schwell­te die Brust der Grei­sin. »Mir grau­set nim­mer. Sooft ich denk an ihn, seh ich all­weil nur ein Ge­sichtl, das mir lieb ist.«

Mit dem mü­den Ge­flüs­ter der al­ten Frau ver­misch­te sich der hel­le, ju­gend­fro­he Klang des Lie­des, das über die leis be­weg­ten, leuch­ten­den Wip­fel her­un­ter­tön­te:

»Ge­gan­gen kom­met Paar um Paar, Und Blu­men tra­gen all im Haar. Sie he­ben an zu sin­gen Und schlin­gen Den lie­be­li­chen Rei­en, Und prei­sen all den Mai­en: Hu­lia­dei! Sei will­kom­men, sü­ßer Mai!«

Der ju­beln­de Laut ver­schwamm im wach­sen­den We­hen des Abend­win­des und ging un­ter im Rau­schen des Wal­des, wie eine Kin­der­stim­me ver­sinkt, wenn rau­he Män­ner zu re­den be­gin­nen. Aus sei­nem Lau­schen er­wa­chend, blick­te der jun­ge Jä­ger auf. Sein Ge­sicht hat­te sich warm ge­rötet. Oder war es nur die Glut des Abends, de­ren Wi­der­schein auf sei­nen blei­chen Wan­gen lag? Er deu­te­te auf einen Pfad, der em­por­führ­te ge­gen die Wald­hö­he, von der das Lied ge­klun­gen, und über die Schul­ter bli­ckend, frag­te er: »Geht hier mein Weg?«

»Nein, Herr!« er­wi­der­te Hil­pot. »Das Steigl füh­ret hin­auf zum Got­tes­le­hen. Den Weg zur Lin­ken mußt du neh­men.« Der Jä­ger folg­te dem schma­len Pfad, auf den der Alte ihn ge­wie­sen hat­te, und ver­schwand im far­bi­gen Schat­ten des Wal­des. Da klang aus der Schlucht, zu der die tal­wärts sin­ken­den Wald­ge­hän­ge sich ver­eng­ten, ein hel­ler Jauch­zer. Be­trof­fen blick­te Hil­pot auf, und halb in Freu­de und halb ver­wun­dert wand­te er sich zu sei­nem Weib. »Hörst du ihn, Mut­ter?«

Han­na nick­te. »Un­ser Bub!«

»Was kann ihn her­auf­füh­ren, jetzt, wo er Fal­ken­dienst ha­ben muß einen Tag um den an­dern? Was meinst du, daß er bringt?«

»Eine Sorg! Was sonst? Mit der Freud wer­den die Kin­der all­weil sel­ber fer­tig. Da brau­chen sie nit zu Va­ter und Mut­ter lau­fen.«

Eine kur­ze Wei­le, und un­ter den Bäu­men trat ein jun­ger Bursch her­vor, stäm­mig und ge­sund, ohne viel Ge­dan­ken im harm­lo­sen Blick der blau­en Au­gen, doch mit der Far­be la­chen­der Ju­gend auf den Wan­gen, um die sich das Blond­haar rin­gel­te. Er trug das bun­te Falk­ner­kleid, das über die Brust her­un­ter in die Far­be ge­teilt war, zur Hälf­te rot und zur Hälf­te grün. Der spie­len­de Wind roll­te ihm das gezad­del­te Tuch der lan­gen Schlit­z­är­mel um die Hüf­ten und mach­te die Sträh­nen sei­nes Haa­res we­hen. Auf der lin­ken Faust, die in gro­bem Hand­schuh steck­te, trug er einen is­län­di­schen Weiß­fal­ken, dem der Kopf mit der Fal­ken­hau­be be­deckt und die Schwin­gen mit der hirsch­le­der­nen Kreuz­fes­sel ge­bun­den wa­ren, so daß er kei­ne Fe­der be­we­gen konn­te. Als Hil­pot den Fal­ken sah, wuß­te er gleich, wes­halb der Bub aus dem Tal her­auf­ge­stie­gen war. »Tu dich nim­mer sor­gen, Mut­ter«, sag­te er, »ich denk, der Falk hat eine Wann1 ge­bro­chen, die ich spu­len muß.«

Mut­ter Han­na at­me­te auf, wäh­rend Hil­pot sei­nem Bu­ben ent­ge­gen­ging, den der Hund mit freu­di­gem Ge­bell um­sprang. »Got­tes Gruß, Rei­nold!« sag­te der Alte und bot sei­nem Bu­ben die Hand. »Tust du dich auch wie­der ein­mal an­schau­en las­sen bei uns da­heim?«

Rei­nold konn­te den Gruß nicht er­wi­dern, denn der Fal­ke, den das Ge­bell des Hun­des un­ru­hig mach­te, zerr­te mit den ge­bun­de­nen Schwin­gen an der Fes­sel. Schel­tend jag­te Rei­nold den Hund zu­rück, nahm die Schwa­nen­fe­der vom Käppl und strich sie dem Fal­ken ein paar­mal schmei­chelnd über den Rücken; das schi­en dem Vo­gel wohl­zu­tun; er wur­de ru­hig. Ver­schnau­fend nick­te Rei­nold dem Va­ter zu. »Da schau, was ich bring! Mit dem hat mich der Herr her­auf­ge­schickt, weil kei­ner das Spu­len so gut ver­steht wie du.«

»Hat er eine Wann ge­bro­chen?« Hil­pot nahm sei­nem Bu­ben den Fal­ken von der Faust.

»Wenn’s nur eine wär! Zwei Wan­nen sind wurz­ab, und die drit­te hat einen Letz ge­kriegt. Wie der Herr den Fal­ken so ge­fun­den hat, ist ihm das Wei­nen nah ge­we­sen.« Rei­nold wisch­te mit dem Är­mel über die Stirn. Der ra­sche und stei­le Auf­stieg hat­te ihm warm ge­macht. »Ich sag dir’s, Va­ter, wenn du die Wann nim­mer spu­len kannst, so krie­gen wir Trau­er­zeit im Klos­ter und se­hen bei un­se­rem Her­ren kein La­chen nim­mer, wer weiß wie lang!« Rei­nold zog die bei­den Dau­men ein und spuck­te über die Schul­ter, um das ge­fürch­te­te Un­heil zu be­schwö­ren. Dann ging er auf die Mut­ter zu. »Grüß dich! Hast du all­weil gute Zei­ten?«

»Wie’s der Tag bringt und nimmt.« Han­na leg­te die Spin­del in den Schoß und faß­te Rei­nolds Hand. Mat­te Röte stieg ihr in die ver­härm­ten Wan­gen, als sie ih­ren Bu­ben, den letz­ten von sie­ben, so vor sich ste­hen sah in la­chen­der Ju­gend, strot­zend von Ge­sund­heit. »Und du? Wie geht’s dir?«

»All­weil gut! Bei ei­nem Her­ren, der die Fal­ken lieb hat, ha­ben die Falk­ner sie­ben Fei­er­tag in je­der Woch. Und Wein und Met und Mahl­zei­ten, daß man aus­einand geht wie He­fen­teig in der Wärm.« Er schlug sich la­chend mit den Fäus­ten auf die Rip­pen und wand­te sich an den Va­ter, der den Fal­ken zur Haus­bank trug. »Was sagst du?«

»Ein Falk, wie ich mei­ner Leb­tag kei­nen zwei­ten ge­se­hen hab, so schön und stark und stolz! Ich kann’s dei­nem Herrn nach­spü­ren, daß ihm der Vo­gel wie sein Le­ben gilt. Schau her, Mut­ter«, auf der Faust hielt der Alte sei­nem Weib den Fal­ken hin, »hät­ten wir den Hau­fen Gold, den der da ge­kos­tet hat, wir wä­ren rei­che Leut. Hun­dert Heim­we­sen wie das uns­ri­ge könn­test du kau­fen da­für, und es tat dir noch all­weil ein Her­ren­gut üb­rig­blei­ben.« Hil­pot ließ sich auf die Haus­bank nie­der, nahm den Fal­ken auf den Schoß, lös­te ihm die Kreuz­fes­sel und be­gann die ge­bro­che­nen Schwung­fe­dern zu un­ter­su­chen. Um den Fal­ken bei Ruhe zu er­hal­ten, strei­chel­te ihm Rei­nold mit der Schwa­nen­fe­der den Rücken und plau­der­te dazu. Den Fal­ken, er­zähl­te er, hät­te Herr Fried­rich, der Propst zu Berch­tes­ga­den, auf bil­li­ge Weis er­wor­ben. »Wie un­ser Klos­ter in al­ter Kai­ser­treu nach dem Fall des Wel­fen­fürs­ten Otto dem jun­gen Her­ren im Deut­schen Reich die Hul­di­gung schick­te, hat der neue Kai­ser un­se­re Stifts­her­ren ge­fragt: ›Wie heißt euer Propst?‹ Und wie sie ihm ge­sagt ha­ben: ›Fried­rich, wie du!‹, da hat der jun­ge Kai­ser ge­meint: ›Wer Fried­rich heißt, dem müs­sen die Fal­ken lieb sein, so wie mir!‹ Und gut ge­trof­fen hat er’s.« Rei­nold lach­te. »Die Stifts­her­ren ha­ben ihm sa­gen kön­nen, daß es für un­se­ren Fürs­ten lie­be­re Kurzweil nim­mer gab als Beiz und Fe­der­spiel. Und da hat der Kai­ser, um dem Klos­ter alle Treu zu loh­nen, un­se­rem Propst den schöns­ten Eis­län­der aus sei­nem Fal­ken­hof ge­schickt.«

»Den hat der Kai­ser schon auf der Hand ge­tra­gen?« frag­te Mut­ter Han­na. »Der Kai­ser?«

Selt­sam hör­te das Wort sich an auf die­sen, wel­ken Lip­pen, und hier in der Öde des Wal­des, in die­sem ver­lo­re­nen Win­kel der Ber­ge. Weit drau­ßen in der Fer­ne ging das wir­re Le­ben ei­ner stür­mi­schen Zeit sei­nen ei­ser­nen Schritt, und nur sel­ten bran­de­te eine schon halb ver­rausch­te Wel­le sei­nes Lär­mes in die ver­bor­ge­nen, von him­mel­ho­hen Fel­sen um­schütz­ten Tä­ler. Ein Wort aber hat zu al­len Zei­ten sei­nen Weg auch zur ent­le­gens­ten Hüt­te ge­fun­den, wenn deut­sche Her­zen un­ter ih­rem Da­che schlu­gen.

»Der Kai­ser!«

»Ja, Mut­ter!«

»Der mit dem ro­ten Bart?«

»Aber Mut­ter! Der Rot­bart ist doch lang schon tot.«

»Tot?« Sin­nend schwieg Mut­ter Han­na.

Da sag­te Hil­pot: »Dro­ben der Got­tes­lech­ner meint, das wär eine Lug. Der Kai­ser Rot­bart tät noch all­weil le­ben. Daß er ge­stor­ben wär und im Ju­den­land ver­sun­ken in ei­nem rei­ßen­den Was­ser, das tä­ten nur die an­de­ren sa­gen, die Schie­chen, die den Un­fried ma­chen in der Welt. Die soll­ten nur acht­ha­ben, meint der Got­tes­lech­ner. Eh die schie­chen Un­frie­der sich um­schau­en, war der alte Kai­ser wie­der im Land und tät die gu­ten Zei­ten wie­der auf­rich­ten und je­dem ge­ben, was sein Recht ist.«

»Geh, Va­ter, das ist un­sin­ni­ges Ge­red. So was müs­sen doch wir im Klos­ter wis­sen. Seit der alte Rot­bart tot ist, ha­ben wir schon den drit­ten Kai­ser im Land. Aber ich weiß schon, wie die Leut re­den. Dro­ben der Got­tes­lech­ner sagt: ›Der Rot­bart.‹ Und drun­ten im Tal die bäu­ri­schen Dick­schä­del, die das rech­te Fromm­sein noch all­weil nit ler­nen wol­len, die sa­gen: ›Der Kö­nig Wute im Un­ters­berg.‹ Je­der möcht, daß ei­ner käm und tät ihm hel­fen wi­der den Klos­ter­zins. Und der Got­tes­lech­ner?« Mit ei­nem Seuf­zer späh­te Rei­nold ge­gen den hö­he­ren Wald em­por. »Wenn der auf einen Hel­fer denkt, ich mein, der wird sei­ne gu­ten Gründ ha­ben.« Hil­pot, der auf das Ge­plau­der sei­nes Bu­ben nur halb ge­ach­tet hat­te, er­hob sich und setz­te den Fal­ken auf Rei­nolds Arm. »Ich spul ihm die Wan­nen wie­der und mach ihn wie­der heil zum ho­hen Flug, daß un­ser Herr sei­ne Freud dran ha­ben soll.« Er trat in die Hüt­te.

Freu­den­rö­te schlug über Rei­nolds Wan­gen; er wuß­te, daß ihm klin­gen­der Dank be­vor­stand, wenn er den ver­letz­ten Fal­ken wie­der flug­fä­hig hin­un­ter­brach­te ins Klos­ter.

Da frag­te Mut­ter Han­na in Un­ruh: »Was hast du sa­gen wol­len vom Got­tes­lech­ner?«

Rei­nold zö­ger­te mit der Ant­wort, »Ich fürcht, der Got­tes­lech­ner ist Frei­bau­er ge­we­sen die längs­te Zeit. Mor­gen kom­men sie und bü­ßen ihn um den Al­ben­zins, als ob er ein hö­ri­ger Bau­er wär.«

»Der wird sich weh­ren.«

»Wie lang? Er sollt ein Ein­se­hen ha­ben.« Mit scheu­em Ernst, als gin­ge ihm das Schick­sal nahe, das dem Got­tes­lech­ner be­vor­stand, blick­te Rei­nold wie­der zur Höhe hin­auf, um de­ren Wip­fel das Gold des Abends in leuch­ten­den Wo­gen bran­de­te. »Mut­ter? Wenn ich hin­auf­sprin­gen tät und gäb ihm heim­lich eine gute Rede, daß er sich für­se­hen möcht?«

Er­schro­cken um­klam­mer­te sie Rei­nolds Arm. »Bub! Bist du ge­scheit? Willst du re­den ge­gen dei­ne Her­ren­leut? Tu dei­ner al­ten Mut­ter die Lieb und laß dei­ne Händ von al­ler frem­den Sorg! Schau lie­ber, daß dir sel­ber kein wid­ri­ges Steinl auf dei­nen jun­gen Weg fallt.« Sie er­hob sich, und lei­se Wor­te mur­melnd, be­kreuz­te sie ihm die Stirn und den Mund.

»Der Got­tes­lech­ner möcht wohl den Schna­bel hal­ten, wenn ich ihn war­nen tät. Ich steh in lin­der Gunst bei mei­nem Herrn. Was könnt denn Übles kom­men über mich?«

»Was über den lie­ben Tag kommt, wenn die Sonn ver­sinkt. Und was ich fürch­ten muß bei Licht und Fins­ter­nis, wenn ich denk, daß ich sechs ver­lo­ren hab und du der letz­te bist.«

»Geh doch, Mut­ter!« Ein Schau­er rann über Rei­nolds Schul­tern. Dann reck­te er lä­chelnd die jun­gen Glie­der, hob den Fal­ken hoch und schüt­tel­te das Blond­haar. »Was tust du dich all­weil sor­gen? Ich leb doch und lach.«

Kal­ter Schat­ten fiel über Ge­höft und Hüt­te; die Son­ne war über die Wäl­der nie­der­ge­taucht, und nur um die Höhe, auf der das Got­tes­le­hen stand, und um die be­schnei­ten Berg­gip­fel schim­mer­te noch der rote Glanz. Ver­schwom­men hör­te man die sin­gen­de Mäd­chen­stim­me. Lau­schend blick­te Rei­nold auf. »Hörst du, Mut­ter? Sie singt.« Sein Blick be­geg­ne­te dem ih­ren, und da wur­de er ver­le­gen. »Wa­rum soll ich’s heh­len? Was tät mich der Got­tes­lech­ner küm­mern! Aber mir bangt um das lie­be Mä­del!«

»Lieb und gut, ja, Bub, das ist sie. Aber kannst du ihr hel­fen?« Han­na leg­te den Arm um Rei­nolds Schul­ter. »Sei ge­scheit, Bub! Du hast lich­te Au­gen, such dir eine lich­te Freud!«

Rei­nold schwieg.

Zärt­lich rüt­tel­te ihn die Mut­ter. »Bleib da­heim und schau dem Va­ter zu, wie er dem Falk die Wan­nen spult. Da lernst du was! Und es­sen und trin­ken mußt du auch. Hast du Hun­ger, Büe­b­li?«

Rei­nold lach­te schon wie­der. »All­weil, Mut­ter!«

»Sollst was ha­ben!« nick­te sie ihm zu. Als sie zur Tür ge­hen woll­te, hör­te man von der stei­len Wald­hö­he den pol­tern­den Fall von Stei­nen. Im glei­chen Au­gen­blick trat Hil­pot aus der Hüt­te.

»Sell dro­ben steigt ei­ner um­einand«, mein­te Rei­nold, »da krie­gen wir noch einen Hain­gart auf den Abend.«

Der Alte schüt­tel­te den Kopf, nahm den Fal­ken und setz­te sich auf die Haus­bank.

»Der kommt nit, Bub«, sag­te Mut­ter Han­na auf der Schwel­le, »heut nim­mer, aber mor­gen wie­der, wenn er müd ist von der heim­li­chen Pirsch, zu der ihn der Va­ter ge­wan­det hat.«

Rei­nold schi­en zu er­ra­ten, von wem die Rede war. Er­schro­cken stam­mel­te er: »Va­ter! Wenn sie’s mer­ken drun­ten? Sie bü­ßen dich, weil du ihm hilfst.«

Der Alte schwieg.

Mut­ter Han­na trat mit ei­nem schwe­ren Seuf­zer in die Hüt­te. »Sie su­chen ihn drun­ten schon seit dem Mor­gen«, flüs­ter­te Rei­nold dem Al­ten has­tig zu, »und wenn sie’s aus­spü­ren, daß du ihm wie­der ge­hol­fen hast, das könnt schief aus­fal­len. Kei­ner im Klos­ter mag ihn lei­den, alle Her­ren ste­hen im Zorn wi­der ihn.«

Hil­pot nick­te. »Mir ist er lieb. Er hat Jä­ger­blut. Und geh’s, wie’s mag, ich muß ihm zu Wil­len sein. Er hat mir’s an­ge­tan mit sei­nen Glut­au­gen. Dem sei­ne Seel ist ker­zen­ge­rad ge­wach­sen. Wenn ihn die an­de­ren schel­ten, tun sie’s bloß, weil er bes­ser ist als sie. Aber komm, Bub, tu mir hel­fen und leg den Fal­ken in Zwang.«

Scheu blick­te Rei­nold noch ein­mal über den Wald­hang hin­auf. Dann trat er zum Va­ter, faß­te mit kun­di­gem Griff den Fal­ken an bei­den Fän­gen und schwang ihn, daß der Vo­gel mit dem Rücken auf Hil­pots Schoß zu lie­gen kam; der Fal­ke flat­ter­te und woll­te sich weh­ren. Rei­nold gab ihm den Dau­men und den klei­nen Fin­ger zwi­schen die grei­fen­den Fän­ge und preß­te ihm die drei Mit­tel­fin­ger auf die Brust; nun lag der Vo­gel, ohne sich zu re­gen, nur die Spit­zen der ge­spreiz­ten Schwin­gen zit­ter­ten lei­se. Hil­pot lä­chel­te. »Recht so, Bub! Das Zwin­gen hast du mir gut ab­ge­schaut. Und jetzt paß auf, das rich­ti­ge Spu­len mußt du noch ler­nen!« Mit be­däch­ti­ger Ruhe be­gann er an den ge­bro­che­nen Schwung­fe­dern das Heil­werk, das in der gan­zen Falk­ne­rei des Klos­ters kei­ner so si­cher zu üben wuß­te wie der alte Hil­pot.

Den Fal­ken mit pres­sen­der Hand im Zwang hal­tend, kau­er­te sich Rei­nold auf die Erde nie­der. In stum­mer Acht­sam­keit ver­folg­te er je­den Hand­griff des Va­ters, der mit schar­fem Mes­ser eine der ge­knick­ten Schwung­fe­dern an der Bruch­stel­le ent­zwei­schnitt und die bei­den Tei­le der Fe­der­spu­le mit schief ge­schnit­te­nen Rän­dern wie­der an­ein­an­der­füg­te, in­dem er eine leich­te, mit Wachs über­zo­ge­ne Stahl­na­del als Halt in das In­ne­re der Spu­le schob.

»Gleich drei Wan­nen auf ein­mal!« sag­te Hil­pot, wäh­rend er einen haar­fei­nen Lei­nenzwirn in eine dün­ne Nähna­del faß­te und den Fa­den, um ihn zä­her zu ma­chen, mehr­mals durch einen ge­schmei­di­gen Harz­bro­cken zog. »Das ist viel, Bub! Wie ist denn das Un­glück ge­sche­hen?«

»Wie’s ge­sche­hen ist, weiß ich nit. Ich bin erst dazu ge­kom­men, wie Herr Fried­rich den Fal­ken schon wie­der auf der Faust ge­habt hat. Und du kannst mir’s glau­ben, vor Kum­mer über sei­nen Lieb­ling sind dem Herrn die Zäh­ren im Aug ge­stan­den. Wer hätt auch den­ken mö­gen, daß die heu­ti­ge Freud ein so trau­ri­ges End nimmt? Die gan­zen Wo­chen her, der­weil der Falk in der Mau­ser war, ist der Herr all­tag ein paar­mal in die Fal­ken­stub ge­kom­men und ist vor der Stang ge­stan­den, als hätt er dar­auf war­ten kön­nen, daß dem Falk ein Fe­derl wachst. Eh­ges­tern hat un­ser Meis­ter ihm mel­den kön­nen, daß der Eis­län­der aus­ge­mau­sert hat und wie­der fer­tig ist zum Flug. In der ers­ten Freud hat der Herr für heut im Un­ter­stei­ner Moor auf Rei­her und wil­de Schwä­ne ein großes Bei­zen an­ge­sagt. In der Nacht noch ha­ben wir hin­aus­rei­ten müs­sen zu den Grenz­bur­gen und die Bur­gher­ren und Frau­en la­den. Die from­men Schwes­tern im neu­en Klös­terl ha­ben Ver­laub er­hal­ten, daß sie mit­rei­ten dür­fen. Ges­tern auf den Abend sind von Salz­burg die fah­ren­den Leut ge­kom­men, ein gan­zer Hau­fen, und drei rit­ter­li­che Sin­ger sind im Klos­ter ab­stie­gen, je­der mit sei­nem Fal­ken und sei­nem Spiel­mann. Da hat’s im Re­fek­to­ri ein Lie­der­sin­gen und eine Kurzweil ab­ge­setzt, daß der Bru­der Glöck­ner aufs Met­ten­läu­ten ver­ges­sen. Und drau­ßen auf dem Un­ter­stei­ner An­ger ha­ben die Kü­chen­brü­der schaf­fen müs­sen die gan­ze Nacht, ha­ben die Zel­te auf­ge­schla­gen und den Herd ge­mau­ert, und einen Kar­ren um den an­de­ren ha­ben sie hin­aus­ge­fah­ren mit Freß­werk und Wein und Gu­tig­kei­ten zum Beiz­mahl. Heut in al­ler Got­tes­früh sind drun­ten im Klos­ter schon alle Leut auf den Fü­ßen ge­we­sen, Herr Fried­rich sel­ber hat das große Hochamt ab­ge­hal­ten, und weil er sei­nem Lieb­lings­fal­ken eine re­che Ehr hat an­tun wol­len, hat er ihn vom Kre­do bis über das Sank­tus sit­zen las­sen zwi­schen Kelch und Meß­buch.«

Hil­pot brumm­te ein paar un­wil­li­ge Wor­te in sei­nen Bart. »Was meinst du?« Rei­nold sah ver­wun­dert auf.

»Ich mein, du soll­test lie­ber schwei­gen und acht­ha­ben, wie man die Spul bin­det.«

Rei­nold schi­en den Är­ger des Va­ters nicht zu be­grei­fen. Wenn sei­ne Auf­merk­sam­keit nicht durch den Duft des schmo­ren­den Wild­brets ab­ge­zo­gen wur­de, der aus Mut­ter Han­nas Herd­stu­be quoll, war er mit acht­sa­men Au­gen bei der Sa­che. Er sah es wohl nicht zum ers­ten­mal, wie eine ge­bro­che­ne Wan­ne »ge­spult« und »ge­bun­den« wird, aber ihm fehl­te die Ruhe und die ge­schick­te Hand, um dem Va­ter die­ses Falk­ner­kunst­stück nach­zu­ma­chen: die Bind­na­del so sacht durch die Fe­der zu ste­chen, daß der Schaft nicht zer­sprengt wur­de und je­der Stich eine Öse der in das In­ne­re des Kiels ge­scho­be­nen Spul­na­del traf, und eine bin­den­de Fa­den­sch­lin­ge so fest und gleich­mä­ßig ne­ben die an­de­re zu le­gen, daß die zer­schnit­te­nen Tei­le der Fe­der un­ver­rück­bar wie­der an­ein­an­der haf­te­ten, und das kle­ben­de Harz so kun­dig zu mi­schen, daß es den Bart der Fe­der nicht ver­pich­te, son­dern an der Luft ein­trock­ne­te, so­bald die Fa­den­sch­lin­ge ge­legt war. Je­des kleins­te Ver­se­hen mach­te die gan­ze Ar­beit un­nütz, und sa­ßen die ge­bun­de­nen Fe­dern nicht wie an­ge­wach­sen, so steu­er­te der Fal­ke schlecht im Flug und war un­brauch­bar für die Jagd.

Auf dem be­schnei­ten Grat der Ber­ge war der letz­te Son­nen­schein er­lo­schen, und es fiel schon die Däm­me­rung über den Wald, als Hil­pot die Ar­beit vollen­det hat­te. Sich auf­rich­tend, hob er auf der Faust den Fal­ken em­por, der mit aus­ge­spann­ten Schwin­gen schlug, als möch­te er das Heil­werk sei­nes Arz­tes er­pro­ben. »Der Schlag ist gut und si­cher«, sag­te der Alte, »ich mein, daß ich nichts ver­se­hen hab.«

Wäh­rend die bei­den mit prü­fen­den Au­gen den flat­tern­den Fal­ken mus­ter­ten, ließ sich klir­ren­der Huf­schlag von ei­nem stei­ni­gen Pfad des Wal­des ver­neh­men. Sie blick­ten auf, und er­schro­cken stot­ter­te Rei­nold: »Um Got­tes Lieb, Va­ter, da kommt der Herr!«

*

Auf bunt ge­schirr­tem Maul­tier, das von ei­nem Knecht am Zü­gel ge­führt wur­de und von der Müh­sal des stei­len We­ges keuch­te, kam Propst Fried­rich un­ter den Bäu­men her­vor­ge­rit­ten. Sein brau­nes Samt­ge­wand, des­sen Säu­me mit dem zar­ten, gold­gel­ben Pelz­werk von der Keh­le des Edel­mar­ders ver­brämt wa­ren, glich ei­nem rit­ter­li­chen Kleid, nicht der Tracht ei­nes Pries­ters, den nur das gol­de­ne Kreuz ver­riet, das an brei­tem Sei­den­ban­de um den Hals ge­knüpft war. Der Abend­wind, der dem Rei­ter ent­ge­gen­weh­te, lüf­te­te das ge­stick­te, von der Pelz­kap­pe über die Ohren nie­der­hän­gen­de Nack­en­tuch und zeig­te am Hin­ter­haupt den Halb­mond ei­ner spie­gel­glat­ten Glat­ze. Auch un­ter dem Rand der Kap­pe stahl sich kein Här­lein her­vor, die brei­te Stirn und die glatt ra­sier­ten Wan­gen des run­den, le­bens­freu­di­gen Ge­sich­tes glänz­ten wie po­liert, und die klei­nen flin­ken Au­gen blitz­ten in hel­lem Glanz. Klug­heit und Er­fah­rung re­de­ten aus dem Blick die­ses Fünf­zig­jäh­ri­gen, der dem Heil sei­ner See­le mit al­len Mit­teln ge­dient ha­ben moch­te, nur nicht mit Fas­ten und Pö­ni­tenz. Um die leicht auf­ge­wor­fe­nen Lip­pen lag der spöt­ti­sche Zug des Man­nes, wel­cher Welt und Men­schen kennt und nicht son­der­lich viel von ih­nen hält. Den­noch sah man es die­sem Ge­sich­te an, daß es freund­lich und in Nach­sicht lä­cheln konn­te. Jetzt frei­lich war es ge­rötet von der Mühe des Rit­tes, je­der Zug war in Er­re­gung um das Schick­sal des ge­lieb­ten Fal­ken. Die­se un­ge­dul­di­ge Sor­ge hat­te et­was von der Un­ru­he ei­nes Kin­des, das sich um ein zer­bro­che­nes Spiel­zeug küm­mert, weil es ihm lieb ge­we­sen. Noch ehe das Maul­tier hielt, ließ sich Propst Fried­rich schon aus dem Sat­tel glei­ten. Ohne auf Rei­nold zu ach­ten, der sei­nem Herrn mit scheu­em Gruß den Saum des Är­mels küß­te, rief er dem al­ten Jä­ger zu: »Wie steht es, Hil­pot? Wirst du ihn hei­len kön­nen? Oder ist er ver­lo­ren für die Jagd?« Da­bei streck­te er nach dem Fal­ken schon die Hän­de, die mit blit­zen­den Rin­gen be­steckt und so schlank wa­ren, so weiß und wohl­ge­pflegt wie Frau­en­hän­de.

»Got­tes Gruß, mein gu­ter Herr!« Hil­pot schwang den Fal­ken. »Ich mein, er ist wie­der heil zum ho­hen Flug.«

»Rei­nold!« rief der Propst in heißem Ei­fer, wäh­rend er den Fal­ken von der Faust des Jä­gers nahm. »Gib ihm das Spiel!«

Der Fal­ke drück­te ihm die Fän­ge tief in das Fleisch der un­ge­schütz­ten Hand, doch Herr Fried­rich ach­te­te des Schmer­zes nicht. »Das Spiel! Und wirf, was du wer­fen kannst!«

In Er­re­gung hat­te Rei­nold aus sei­ner Falk­ner­ta­sche das Fe­der­spiel her­vor­ge­ris­sen -- einen wei­ßen Ball mit klei­nen bun­ten Flü­geln -- und sei­ne jun­ge Kraft zu­sam­men­neh­mend, schleu­der­te er das Spiel hin­auf in die däm­me­ri­ge Luft. Der we­hen­de Abend­wind er­faß­te das bun­te Ding und trieb es den Bäu­men zu.

»Fal­ko! Hu­lii­ih!« Mit die­sem jauch­zen­den Rufe nahm der Propst dem Fal­ken die Hau­be ab und schwang ihn. Gel­lend tön­te der Schrei des Fal­ken durch die Stil­le, mit has­tig flat­tern­den Schwin­gen stieg er senk­recht em­por, ein sau­sen­der Stoß, und ehe das Fe­der­spiel noch zwi­schen die Wip­fel der Bäu­me gau­kel­te, hat­te der Falk schon sei­ne Fän­ge in den Ball ge­schla­gen. »Hil­pot, das will ich dir dan­ken!« rief Herr Fried­rich. Er woll­te einen der blit­zen­den Rin­ge lö­sen, doch vom Griff des Fal­ken wa­ren ihm die Fin­ger auf­ge­schwol­len, daß die Rin­ge wie an­ge­wach­sen sa­ßen. Da faß­te er das gol­de­ne Kreuz auf sei­ner Brust, riß es vom Hals, daß das brei­te Sei­den­band in Fet­zen ging, und warf das Klein­od dem Jä­ger zu. »Nimm!«

»Herr Je­sus!« stam­mel­te Hil­pot er­schro­cken und streck­te die Hän­de, denn er fürch­te­te, daß das Kreuz zur Erde fal­len könn­te. Er hasch­te es noch, be­vor es den Bo­den be­rühr­te. Mit hel­lem Lock­ruf war Herr Fried­rich auf den Wald­saum zu­ge­sprun­gen und hob dem nie­der­schwe­ben­den Fal­ken die Hand ent­ge­gen. Rei­nold kam ge­lau­fen und woll­te ihm hel­fen. Mit ei­ge­ner Hand lös­te der Propst das Spiel aus den Fän­gen, stülp­te ihm die Hau­be über den Kopf und nick­te gnä­dig dem jun­gen Falk­ner zu. »Blei­be bei dei­nem Va­ter! Ich gebe dir frei­en Tag für mor­gen.« Den Fal­ken strei­chelnd und zärt­lich mit ihm plau­dernd, wand­te er sich sei­nem Maul­tier zu und ließ sich von dem Knecht in den Sat­tel he­ben. Ohne Gruß ritt er da­von.

Hil­pot blick­te ihm nach, und als er den Herrn im Wald ver­schwin­den sah, hob er scheu das Kreuz an sei­ne Lip­pen und sag­te leis: »Komm, Bub, wir wol­len’s der Mut­ter zum Kuß hin­ein­tra­gen. Die hat vor lau­ter Sie­den und Bra­ten gar nit ge­merkt, daß der Herr ge­kom­men ist.«

»Du!« Rei­nold hat­te den Arm des Va­ters um­klam­mert und flüs­ter­te: »Wenn sie hö­ren drun­ten, daß du dem­sel­bi­gen da dro­ben Ge­wand und Wehr ge­ge­ben hast, und sie wol­len dich bü­ßen, so sag dem Her­ren: ›Ich hab dir den Eis­län­der heil ge­macht!‹ Und er bie­tet dir eine Gnad, statt daß er dich büßt.«

Der Wind, der über die Wip­fel der Bäu­me strich, drück­te den blau­en Rauch zu Bo­den, der aus al­len Lücken des Schin­del­da­ches quoll, und spann­te ihn gleich ei­nem dün­nen Schlei­er über das gan­ze Ge­höft. Stär­ker hör­te man die Bä­che der hö­he­ren Ber­ge rau­schen, und von den Al­men tön­te ein lang­ge­zo­ge­ner, dumpf mur­ren­der Laut -- der fer­ne Schrei ei­nes brüns­ti­gen Hir­sches.

Schwung­fe­der  <<<

Kapitel 2

Im sin­ken­den Dun­kel stieg der jun­ge Jä­ger, der das Wams ei­nes To­ten trug, durch den Wald em­por. In trei­ben­der Un­ruh klomm er auf­wärts, wie ei­ner, dem ir­ren­de Ge­dan­ken den Schritt be­flü­geln. Nur ein­mal hielt er inne. Der ver­weh­te Laut ei­ner Stim­me hat­te ihn aus sei­nem Sin­nen ge­weckt.

Tief un­ter ihm, wo in der Däm­me­rung noch matt er­kenn­bar eine Lich­tung zwi­schen den Bäu­men schim­mer­te, dort muß­te das Got­tes­le­hen lie­gen. Er hör­te das Pol­tern des Bal­kens, mit dem das Hof­tor ge­schlos­sen wur­de, hör­te das an Wolfs­ge­heul er­in­nern­de Ge­bell ei­nes Hun­des, das hei­te­re La­chen ei­ner Magd. Nun kur­ze Stil­le. Dann wie­der je­nes jauch­zen­de Lied:

»Hu­lia­dei! Sei will­kom­men, sü­ßer Mai!

Die Stim­me dämpf­te sich und er­losch, als wäre die jun­ge Sän­ge­rin ins Haus ge­tre­ten.

Eine Wei­le stand er noch und lausch­te. Als er zö­gernd weiter­schritt, summ­te er die Wei­se vor sich hin. Er kann­te das Lied. Wie lan­ge war es her, seit er den sü­ßen Klang zum ers­ten­mal ge­hört hat­te? Zehn Jah­re? Oder län­ger noch? Er sann. Und jäh­lings tauch­te die Erin­ne­rung in ihm auf. Eine wei­te, wei­ße Hal­le, an de­ren Mau­ern Waf­fen und Ge­wei­he hin­gen, er­hellt vom zu­cken­den Licht­schein der Wachs­pfan­nen. Drau­ßen vor den Säu­len­bo­gen die flüs­tern­den Lin­den und die stahl­blaue Früh­lings­nacht mit ih­ren Ster­nen. An lan­gem Ti­sche sa­ßen die ze­chen­den Le­hens­leu­te, je­der mit dem blan­ken Zinn­krug zwi­schen den Ar­men. Und ge­son­dert von ih­nen, ne­ben dem Herd­feu­er saß die Mut­ter in ih­rem Stuhl. Und er, ein zwölf­jäh­ri­ger Kna­be, an ih­ren Schoß ge­lehnt. Der Bru­der be­trun­ken un­ter den Ze­chen­den; lau­ter klang sei­ne Stim­me als die Stim­men der an­de­ren, und sei­ne Faust mach­te auf dem Tisch die Krü­ge tan­zen. Bei je­dem Fluch und Schlag ging ein schmerz­li­ches Zu­cken über die Stirn der stil­len Frau. Dann blick­te der Kna­be in scheu­er Sor­ge zu ihr auf und schmieg­te zärt­lich sei­ne Wan­ge an ihre zit­tern­de Hand. Und als die Ze­chen­den der Jagd­ge­schich­ten und des Trin­kens müde wur­den, schri­en sie nach dem Spiel­mann und schwie­gen. Da klang die Fie­del. Und dann das Lied:

»Hu­lia­dei! Sei will­kom­men, sü­ßer Mai!«

Schwer at­mend ver­hielt der Ein­sa­me den Schritt und preß­te den Arm über die Au­gen, als möch­te er das Bild der ver­gan­ge­nen Zeit ver­scheu­chen. Has­ti­ger stieg er durch den Wald em­por; doch im­mer wie­der summ­te und sang ihm die Wei­se durch Herz und Sin­ne.

Wie ein Lied doch wan­dern kann! Vom son­ni­gen, re­ben­grü­nen Fran­ken­land bis zu den kal­ten, blau­en Ber­gen. Und wie ein Lied doch Wun­der wirkt! Wie es trös­ten kann! Und freund­lich lü­gen! Ist ein Lied nicht wie ein Son­nen­strahl, der aus lich­ten Hö­hen sei­nen Weg auch in den kal­ten Schat­ten ver­sun­ke­ner Wäl­der fin­det? Ge­sche­he­nes wird un­ge­sche­hen, Ver­gan­ge­nes wird le­ben­dig, und al­les Kom­men­de, das du fürch­ten soll­test, siehst du ver­wan­delt in fro­hem Bild. Hat­te nicht der na­hen­de Win­ter mit sei­nem wei­ßen Man­tel schon die Ber­ge ge­streift, lag nicht das Ster­ben über den Blu­men und die kal­te Herbst­nacht über dem Wald? Den­noch hat­te jene hol­de Stim­me dort un­ten son­nen­froh und früh­lings­freu­dig auf­ge­ju­belt: »Sei will­kom­men, sü­ßer Mai!«

Aus sei­nen Ge­dan­ken er­wa­chend, blick­te der jun­ge Jä­ger im Dun­keln um sich her. Er hat­te den Pfad ver­lo­ren. Und such­te ihn nicht wie­der. Gera­den We­ges be­gann er über den Wald­hang em­por­zu­klim­men. Im­mer wie­der sperr­te eine klei­ne Fels­wand, eine Kluft oder ein Wirr­sal ge­fal­le­ner Bäu­me sei­nen Weg. Häu­fig strau­chel­te er bei der Hast, mit der es ihn auf­wärts trieb. Oft ret­te­te ihn nur ein küh­ner Sprung vor be­denk­li­chem Stur­ze. Die­se Müh­sal er­schöpf­te ihn nicht, sie schi­en die Kraft sei­ner jun­gen Glie­der zu stei­gern. Manch­mal hielt er inne, späh­te im Dun­keln um­her, at­me­te tief und lach­te vor sich hin, um sich im nächs­ten Au­gen­blick über ein neu­es Hin­der­nis zu schwin­gen, als wäre ihm die­ser Kampf ge­gen die Fins­ter­nis, die ihn um­droh­te, zu ei­ner Freu­de ge­wor­den.

End­lich er­reich­te er das of­fe­ne Wei­de­land ei­ner Hochalm. Auf vor­ge­stütz­tem Berg­stock, das Kinn über die Hän­de ge­legt, schöpf­te er Atem und blick­te in die dunkle Run­de. »Wie still und schön!« Es war in schwei­gen­der Nacht kein Wind­hauch mehr zu spü­ren. Gleich ei­nem schwar­zen Rie­sen­hü­gel, durch­wür­felt von den grau­en Tö­nen kah­ler Blö­cke, er­hob sich das wei­te Alm­feld, über dem sich der stahl­blaue Him­mel mit strah­len­den Ster­nen wölb­te. Ein Wi­der­schein ih­res Zit­ter­lich­tes blitz­te hier und dort in den Eis­kris­tal­len, mit de­nen der Nachtreif die wel­ken Grä­ser um­spann. Von der Höhe des Fel­des klang das Rol­len ge­lös­ter Stei­ne, und der Schrei ei­nes star­ken Hir­sches dröhn­te durch die Nacht. Ein zwei­ter Hirsch gab zor­ni­ge Ant­wort, nun schwie­gen die Stim­men, und da klirr­ten die kämp­fen­den Ge­wei­he. Zwi­schen pras­seln­den Stei­nen kam’s über den fins­te­ren Hang her­un­ter­ges­aust. Zwei schwar­ze Schat­ten flo­gen an dem Jä­ger vor­über und ver­schwan­den im Wald. Der Star­ke hat­ten den Schwä­che­ren in die Flucht ge­schla­gen, und mit stol­zer Wild­heit sei­nen Sieg hin­aus­schrei­end in die stil­le Nacht, stieg er wie­der über den Hang em­por. Noch eine Wei­le stand der Jä­ger und lausch­te. Dann rich­te­te er sich auf. »Haß und Lie­be, Streit und Rin­gen bei al­lem, was Le­ben fühlt! Und dem klügs­ten al­ler Tie­re, dem Men­schen, pre­di­gen sie wi­der die Na­tur den fei­gen Frie­den. Weil die Schwa­chen den Star­ken ja­gen wol­len, soll er die Waf­fe sei­ner Kraft aus der Hand le­gen, soll lie­ben ler­nen, was er haßt, eh­ren, was er ver­ach­tet, mei­den, was er be­gehrt. Wie mir ekelt vor ih­nen!« Er schüt­tel­te die jun­gen Arme. »Kampf! Wie schön bist du! Wie lieb ich dich!«

In dunk­ler Fer­ne dröhn­te der Schrei des Hir­sches, daß es wi­der­hall­te im fins­te­ren Wald.

»Du und ich! Auf mor­gen!« Trei­ben­den Schrit­tes stieg der Jä­ger über den Hang em­por. Nach kur­z­er Wan­de­rung kam er zu ei­ner Alm­hüt­te, die schwarz im Dun­kel lag. Die Tür stand of­fen, und man spür­te noch den Dunst der Her­de, wel­che die Alm vor we­ni­gen Ta­gen ver­las­sen hat­te. Zö­gernd trat der Jä­ger in den fins­te­ren Raum. Bei dem bläu­li­chen Schein des Schwe­fel­fa­dens, den er mit Feu­er­stein und Zun­der in Brand ver­setz­te, ge­wahr­te er einen Hau­fen dür­rer Äste. Als aus der Asche des Herdrau­mes die Flam­men auf­zün­gel­ten, blick­te er um­her. Kah­le, ruß­ge­schwärz­te Bal­ken, ein zer­klüf­te­tes Dach und in der Ecke eine Stan­gen­prit­sche, mit zer­le­ge­nem Rei­sig be­deckt. Die­ses La­ger schi­en den Mü­den nicht zu lo­cken. Oder fühl­te er kei­ne Mü­dig­keit? Er leg­te die Arm­brust und den Bol­zen­kö­cher ab, warf ein paar klot­zi­ge Äste in die Flam­men und trat ins Freie. Ne­ben der Tür ließ er sich auf einen Holz­block nie­der. So saß er, die Arme um das Knie ge­schlun­gen, und blick­te sin­nend in die Nacht hin­aus.

»Ein­sa­me Stil­le! Wie bist du schön! Und wie süß das wäre, solch ein Schwei­gen ewig zu ge­nie­ßen, im Tod sei­ner Ruhe be­wußt! Ob der Tod die Ruhe bringt? Sie sa­gen: nein!« Der Jä­ger lä­chel­te vor sich hin. »Him­mels­freu­de dem Gu­ten, Höl­len­qual dem Bö­sen? Wie klein und mensch­lich wäre Gott, wenn er loh­nen und stra­fen wür­de gleich ei­ner Kin­der­magd. Dem gu­ten Kind den Ho­nig­ku­chen, dem schlim­men die Rute. Wie sie er­bärm­lich von ihm den­ken!« Wie­der lä­chel­te er. »Und wer ist gut? Der de­nen dort un­ten wohl­ge­fällt und zu ih­rem Nut­zen han­delt? Wer böse? Der sei­ne ei­ge­nen Wege geht und sei­ne Kraft ge­braucht, um sich der an­de­ren zu er­weh­ren? Sieht Gott nicht hel­ler als die­se Blin­den in ih­rem Ei­gen­nutz? Und wenn er auch die Star­ken haßt, wes­halb er­schuf er sie?«

Fern und ver­schwom­men klang ein Jauch­zer durch die Nacht, und in der Tie­fe, wo zwi­schen den Bu­chen­wäl­dern die Nie­deral­men la­gen, glomm ein win­zi­ger Licht­schein auf. Die Al­men­dirn, die den Gruß ih­res Liebs­ten ver­nom­men hat­te, muß­te die Tür der Hüt­te ge­öff­net ha­ben, da­mit das Herd­feu­er dem Kom­men­den leuch­ten und ihm sa­gen möch­te: »Sieh, wie ich bren­ne für dich!« Hell und weich, wie eine schwin­gen­de Sai­te, klang der freu­di­ge Jo­del­ruf der Sen­ne­rin, ihr Bub gab jauch­zen­de Ant­wort, und die bei­den Stim­men um­schlan­gen sich in der schweig­sa­men Nacht und flos­sen in­ein­an­der zu ei­nem ein­zi­gen Laut. Sie ver­stumm­ten. Und der Licht­schein dort un­ten er­losch.

»Zwei Her­zen, die sich su­chen muß­ten und die sich fan­den, da­mit aus ih­rem Glück eine neue Not des Le­bens wach­se!«

Lan­ge blick­te der Ein­sa­me zur Tie­fe nie­der, wo der Licht­schein auf­ge­glom­men und er­lo­schen war. »Wie­der ei­nes von den tau­send Rät­seln, die ich nicht fas­se und nicht löse! Daß es den Mann zum Wei­be zieht, das Weib zum Man­ne? Sie sa­gen, das wäre das Tier im Men­schen. Ob es nicht das ein­zig Gött­li­che in ihm ist, die­ses jauch­zen­de Sor­gen für die Ewig­keit des Le­bens? Wenn aber Gott das in die Men­schen leg­te, wes­halb soll es mir ein Frem­des blei­ben? Weil ich ge­schie­den bin von den an­de­ren? Ge­löst von al­lem La­chen des Le­bens? Weil sie mir sa­gen: Wi­der die Na­tur zu le­ben, ist wohl­ge­fäl­lig vor Got­tes Au­gen? Das Wort ist Tor­heit oder Läs­te­rung. Kann ein Men­schen­wort die Zwe­cke Got­tes hin­dern und die Na­tur ver­keh­ren? Wenn aber Gott das in die Men­schen leg­te als einen Trieb, den das Lä­cheln ei­nes Wei­bes weckt, wie in der Blu­me ein Son­nen­strahl den Wil­len zu blü­hen? Wes­halb er­wacht es nicht in mir? Mein Herz ist stumm und ohne Sehn­sucht. Mich sehnt nach Ruhe.«

Tief at­mend er­hob er sich und woll­te in die Hüt­te tre­ten, vor der Schwel­le blieb er ste­hen.

»Ob wohl auch mei­ne Mut­ter sang, als sie je­nen lieb­te, den ich nie ge­kannt? Ich habe sie nur schweig­sam und wei­nend ge­se­hen. Nein! Mir hat sie ge­sun­gen.«

Über­wäl­tig­te ihn die Erin­ne­rung an jene Zeit, da ihn das Lied der Mut­ter in Schlum­mer wieg­te? Oder er­wach­te jäh in ihm die Sehn­sucht der Ein­sam­keit? Er streck­te die Arme in die Nacht hin­aus: »Mut­ter! Mut­ter! Steh auf und komm und streich­le mich! Mich dürs­tet nach dei­ner lin­den Hand. Sieh, Mut­ter, ich ken­ne nur Fäus­te, die mich schla­gen.« Mit den Hän­den das Ge­sicht be­de­ckend, lehn­te er sich an den Tür­pfos­ten. »Und wenn sie mich quä­len bis aufs Blut, nur al­les Schö­ne, an das ich noch glau­be, Stück um Stück aus der See­le rei­ßen? Das nen­nen sie Him­mels­dienst und Lie­be Got­tes.« Er ließ die Arme fal­len. »Mut­ter, wo bist du? Nir­gends? Oder dort, wo sie sa­gen, daß die Gu­ten sind? Über den Ster­nen? Ster­ne? Ein Wort, so leer, wie alle Wor­te sind! Leer? Nein! Ster­ne! Die­ses Wort hat Glanz, weil das Rät­sel leuch­tet, das wir nen­nen mit ihm.«

Da fiel’s in der Nacht wie ein sprü­hen­der Fun­ke vom Him­mel her­un­ter, einen lan­gen Feu­er­streif hin­ter sich her­zie­hend, und er­losch in der Fins­ter­nis wie ein Stück glü­hen­der Koh­le, das zer­schla­gen wird.

Der Ein­sa­me lach­te vor sich hin. »Wenn auch die Ster­ne fal­len? Was ist noch ewig in der Welt? Was hat noch Kraft, die al­les über­dau­ert? Nur die Asche, zu der al­les Le­ben zer­fällt? Und aus der das Le­ben wie­der auf­er­steht, wie im Früh­ling die Blu­me aus dem Kot?«

Er stand eine Zeit­lang re­gungs­los. Dann schau­er­te ihn, als wäre ihm die Käl­te der Nacht bis ans Herz ge­drun­gen. Er kehr­te in die Hüt­te zu­rück, schür­te die Flam­me und ließ sich am Feu­er nie­der. In der Wär­me, die den zün­geln­den Flam­men ent­ström­te, schi­en eine mat­te Woh­lig­keit durch sei­ne Glie­der zu flie­ßen.

So saß er, still, bis ihm die Li­der fie­len.

In der Herd­gru­be sank das Feu­er, und dann glos­te­ten die Koh­len mit dunk­ler Glut.

Als die Nacht schon auf den Mor­gen zu­ging, tön­te durch die Berg­wald­stil­le fern aus dem Tal her­auf ein sanft ver­schwom­me­ner Hall, das Ge­läut ei­ner Kir­chen­glo­cke. Lei­se klang es über alle Fer­ne her, kaum noch zu hö­ren. Den­noch er­wach­te der Schlä­fer, wie ei­ner, der ge­wohnt ist, um die­se Stun­de die Au­gen auf­zu­tun. Ver­wun­dert sah er in der Hüt­te um­her, die vom röt­li­chen Glut­schein matt er­leuch­tet war. Dann lach­te er vor sich hin und warf ein paar dür­re Äste über die glü­hen­den Koh­len. Mit Ge­pras­sel be­leb­te sich das Feu­er, und brü­tend starr­te der Ein­sa­me in die zün­geln­den Flam­men.

Aus die­sem Sin­nen weck­te ihn der dröh­nen­de Kampf­schrei ei­nes Hir­sches. Mit has­ti­gem Griff die Arm­brust und den Kö­cher fas­send, er­hob er sich und trat ins Freie.

Wie Asche war das ers­te Zwie­licht des Mor­gens über das Alm­feld aus­ge­streut. Dort, wo die Son­ne kom­men soll­te, wa­ren die Ster­ne im fah­len Blau schon er­lo­schen, ge­gen Wes­ten flim­mer­ten sie noch über den Ber­gen, de­ren ge­zahn­te Gra­te mit grau­en Li­ni­en das Dun­kel durch­schnit­ten. Scharf zog der Mor­gen­wind von den Fel­sen nie­der, die dür­ren Stau­den ra­schel­ten, zu Fü­ßen der Alm­ge­hän­ge rausch­ten die schwar­zen Wäl­der, und das Mur­meln der Bä­che war wie ein mü­des Lied.

Laut­los stieg der Jä­ger über das Alm­feld em­por und er­klomm einen ho­hen Fels, der sich, von Krüp­pel­föh­ren um­wu­chert, ein­sam aus dem kah­len Wei­de­land em­por­hob. Auf der Zin­ne des Stei­nes ließ er sich nie­der, von Bü­schen ge­deckt, spann­te die Arm­brust und leg­te den ge­fie­der­ten Bolz in die Rin­ne.

Die schuß­be­rei­te Waf­fe fest auf den Kni­en hal­tend, lausch­te er hin­aus in das Zwie­licht. Er konn­te hö­ren, wie äsen­des Wild sich nä­her­te und ver­nahm den Lock­ton ei­nes Mut­ter­tie­res. Der Mor­gen däm­mer­te noch so grau, daß der Jä­ger kaum einen un­be­stimm­ten Schat­ten zu un­ter­schei­den ver­moch­te. Nur wenn von den Tie­ren ei­nes den Grat des Al­men­hangs über­stieg, war es mit schwar­zem Um­riß deut­lich in den fah­len Him­mel ge­zeich­net.

Da röhr­te mit zor­ni­gem Schrei ein Hirsch, drei an­de­re ga­ben Ant­wort zu glei­cher Zeit. Dann wie­der Stil­le. Jetzt ein Ren­nen und Flüch­ten im Grau, ein Schnau­ben und Keu­chen, das sich ent­fern­te und wie­der nä­her kam. Ein jun­ges Tier be­gann zu kla­gen. Den ängst­li­chen Laut über­tön­te der mäch­tig hal­len­de Schrei des Hir­sches. Wel­che Kraft und Lei­den­schaft in die­sem wil­den Lie­bes­lie­de der Na­tur! Es wi­der­hall­te an den Fel­sen und im Wald, und von al­len Sei­ten klang die Ant­wort, als wäre eine rie­si­ge Or­gel in den Ber­gen auf­ge­stellt.

Schon hat­ten die Au­gen des Jä­gers sich an das Zwie­licht ge­wöhnt. Rings auf al­len Ge­hän­gen des Wei­de­lan­des konn­te er die hu­schen­den Ge­stal­ten un­ter­schei­den. Die­ses Schat­ten­bild der Lei­den­schaft, die zu ihm re­de­te mit dröh­nen­den Stim­men, er­reg­te ihn so heiß, daß ihm das Herz wie ein Ham­mer schlug. »Nicht Men­schen um mich her! Nur Tie­re! Wie mir wohl ist!«

Die Hel­le des Mor­gens wuchs, ein röt­li­cher Schein flog über den Him­mel hin, und matt be­gann der Reif zu flim­mern, der die wel­ken Grä­ser um­spon­nen hat­te. Dann war’s, als flös­se eine ro­si­ge Wel­le von Licht auf alle Fel­sen und Wäl­der nie­der.

In­mit­ten des Alm­fel­des stand ein Ru­del Hoch­wild, dicht zu­sam­men­ge­drängt. Wenn von den Hir­schen ei­ner röhr­te, wand­ten alle Tie­re die Köp­fe der Rich­tung zu, aus wel­cher der Schrei ge­kom­men war. Das Ru­del in wei­tem Bo­gen scheu um­krei­send, irr­ten die schwä­che­ren Hir­sche am Wald­saum hin. Zwi­schen ih­nen und dem Trupp der Tie­re zog -- ein Star­ker, der sei­nen Be­sitz ver­tei­digt -- der mäch­ti­ge Platz­hirsch über das Feld, dumpf röh­rend, das stol­ze, reich ver­äs­tel­te Ge­weih zu­rück­ge­legt in den Na­cken. Je­des Tier, das sich vom Ru­del ent­fer­nen woll­te, trieb er mit zor­ni­gem Sprung zu­rück. Je­dem Hirsch, der Mie­ne mach­te, sich zu nä­hern, zog er mit dröh­nen­dem Schrei ent­ge­gen. Nur ein ein­zi­ger wag­te ihm stand­zu­hal­ten. Als die bei­den Kämp­fer röh­rend ein­an­der ent­ge­gen­schrit­ten, er­kann­te der Jä­ger die zwei Stim­men, die er am Abend ver­nom­men hat­te. Nach dem Pro­be­kampf in der Däm­me­rung des sin­ken­den Ta­ges soll­te der Kampf im Mor­gen­grau­en die Ent­schei­dung brin­gen. Das schie­nen die Tie­re im Ru­del zu füh­len; er­regt, mit lan­gen Häl­sen die Köp­fe stre­ckend, zo­gen sie Schritt um Schritt den bei­den Strei­tern ent­ge­gen. Die la­gen schon mit ver­floch­te­nen Ge­wei­hen an­ein­an­der. Fast schi­en es im An­fang nur ein Spiel zu sein, die­ses Drän­gen und Schie­ben, Stirn an Stirn. Im­mer straf­fer spann­ten sich die Glie­der der Kämp­fen­den, Stei­ne und Ra­sen­stücke flo­gen un­ter ih­ren Huf­scha­len auf, im­mer tiefer ge­rie­ten sie mit der Brust zur Erde, und in der Küh­le des Mor­gens qualm­te der wei­ße Dampf von ih­ren Lei­bern. Da hol­te der Platz­hirsch keu­chend aus zu ei­nem ge­wal­ti­gen Stoß. Der Geg­ner brach zu Bo­den und über­schlug sich. Ein rö­cheln­der Laut, und der Kampf war zu Ende. Tau­melnd er­hob sich der Be­sieg­te und schlich dem Wal­de zu, den Kopf ge­senkt und stumm in sei­nen Schmer­zen. Der Sie­ger, mit stolz er­ho­be­nem Haupt und hei­se­rem Schrei, spreng­te auf das Ru­del zu und trieb von den jun­gen Tie­ren ei­nes ge­gen den Fels, der sich mit­ten im Alm­feld er­hob.

Da schwirr­te die Seh­ne der Arm­brust. Jäh den Sprung ver­hal­tend, wank­te der Hirsch. Er hat­te den Schuß emp­fan­gen. Über sei­ne Glie­der rann das Zit­tern des Ge­schöp­fes, das der Tod be­rühr­te. Dann, als wäre nichts ge­sche­hen, als hät­te sein Le­ben noch die un­ge­bro­che­ne Kraft und alle Lei­den­schaft der letz­ten Stun­de, reck­te er mit dump­fem Röh­ren das Haupt, und wäh­rend das Ru­del in ja­gen­der Flucht dem Wald ent­ge­gen­stürz­te, stand er furcht­los und starr­te in wil­dem Trotz den Jä­ger an, der sich mit jauch­zen­dem Ruf aus den Bü­schen er­hob und über den Fels her­un­ter­sprang. Das Tier schi­en sei­nen Feind zu er­ken­nen und senk­te das Ge­weih zum An­griff. Ein Sprung. Da wank­te der mäch­ti­ge Kör­per und stürz­te zu Bo­den. Keu­chend raff­te der Hirsch sich auf und straff­te ge­walt­sam die Glie­der, die ihm nicht mehr ge­hor­chen woll­ten. Zor­nig stampf­te er mit den Läu­fen, tau­mel­te wie­der, und die schwin­den­den Kräf­te zwin­gend, stürm­te er dem Jä­ger ent­ge­gen. Der hielt den blit­zen­den Fän­ger be­reit, trat beim An­sturm des Tie­res ru­hig einen Schritt zur Sei­te und stieß ihm das schar­fe Ei­sen ins Herz. Rö­chelnd brach der Hirsch zu Bo­den, über­spru­delt vom ro­ten Quell sei­nes Le­bens. Trotz und Dro­hung fun­kel­ten noch in sei­nen bre­chen­den Lich­tern. Ein letz­ter Krampf durch­zuck­te die Glie­der, die sich streck­ten. Und al­les war vor­über. Mit ge­senk­tem Ei­sen, von dem die ro­ten Trop­fen nie­der­fie­len, stand der Jä­ger vor dem ge­fäll­ten Tier, er­regt und ernst, noch ganz un­ter dem Ein­druck der wil­den Schön­heit, mit wel­cher der To­des­kampf die­ses Ge­schöp­fes auf ihn ge­wirkt hat­te, das im frei­en Berg­wald ein Kö­nig ge­we­sen.

»Kommt mei­ne Stun­de -- wer weiß, wie bald --, dann möcht ich ster­ben, wie die­ses Tier ge­stor­ben ist, im Hoch­ge­nuß ei­nes Sie­ges, in al­ler Kraft des Le­bens, noch kämp­fend um den letz­ten Atem­zug, noch im letz­ten Blick den Trotz ge­gen die dunkle Macht, die mich mor­det!«

Er ließ sich auf die Erde nie­der und strei­chelt den star­ren Na­cken des to­ten Ge­schöp­fes.

Der wach­sen­de Mor­gen leuch­te­te. Wie bren­nen­des Blut lag es aus­ge­gos­sen über die be­schnei­ten Zin­nen der Ber­ge und über das stei­le Fels­ge­wänd. Der kla­re Him­mel flim­mer­te vom Licht, und ein glei­ßen­des Strah­len­bün­del fiel durch eine Schar­te der Ber­ge über das Alm­feld her, auf dem es still ge­wor­den. Der glit­zern­de Reif be­gann zu schmel­zen, und der wel­ke Ra­sen fing zu damp­fen an. Mit gol­dig um­glänz­ten Wip­feln stand der Wald, ir­gend­wo in den Bü­schen flö­te­te eine Ring­dros­sel, die ihre Som­mer­hei­mat noch nicht ver­las­sen hat­te, und die feuch­te Erde duf­te­te, als ob es kei­men woll­te in ih­rem Schoß. Nicht ein Mor­gen im Herbs­te schi­en das zu sein, viel­mehr ein Mor­gen, wie ihn der Früh­ling bringt, der süße Mai. Dr­un­ten im Tal der zie­hen­de Ne­bel. Er war an­zu­se­hen wie ein Meer mit sil­ber­nem Ge­wo­ge, aus dem die sonn­be­glänz­ten Ber­ge auf­stie­gen gleich schim­mern­den In­seln. Hier und dort be­gan­nen die zie­hen­den Schlei­er sich zu klüf­ten und lie­ßen ein Stück des Ta­les ge­wah­ren mit win­zi­gen Hüt­ten und ge­teil­ten Fel­dern. Da klang es her­auf aus der Tie­fe, vom berg­wärts­zie­hen­den Son­nen­wind ge­tra­gen, wie ein un­ge­dul­di­ger Ruf: das Ge­läut der Glo­cken.

Den stren­gen Mund um­spielt von ei­nem Lä­cheln, er­hob sich der Jä­ger und blick­te ins Tal hin­un­ter. »Ich kom­me. Soll mir ge­sche­hen, was mag! Das war ein Mor­gen, so schön und frei, daß ich ger­ne für ihn bü­ßen will ein lan­ges Jahr.« Er wand­te sich, schlug mit dem Fän­ger von den Krüp­pel­föh­ren einen Hau­fen Zwei­ge ab und be­deck­te mit ih­nen den ge­fäll­ten Hirsch. Dann stieg er durch den Berg­wald hin­un­ter. Noch war er nicht lan­ge un­ter den Bäu­men ge­gan­gen, da sah er zwi­schen den wel­ken Ahorn­blät­tern, die wie Blut­flo­cken an den Äs­ten hin­gen, ein Ge­weih aus den wir­ren Bü­schen ra­gen. Dort ruh­te ein Hirsch. Der Schritt des Jä­gers stör­te den Schlä­fer nicht auf. Es war der Be­sieg­te, der nach dem Kampf das Alm­feld ver­las­sen hat­te, nun ver­en­det, im Tod noch blu­tend aus sei­nen Wun­den. Mit ei­ner Re­gung des Er­bar­mens blick­te der Jä­ger auf das er­lo­sche­ne Ge­schöpf. »Un­ter­lie­gen oder Sie­ger wer­den, der Schwa­che sein oder der Star­ke, hin­ter al­lem bleibt der glei­che Rest, das kal­te Rät­sel, das kei­ner löst. Wozu dann die Kraft? Wozu das Le­ben? Nur um die Erde zu dün­gen für ein Kraut, das nach uns wächst?« Er wand­te sich ab, und wäh­rend er hin­un­ter­stieg durch den Wald, ach­te­te er nicht mehr des leuch­ten­den Mor­gens. Oft stand er lan­ge wie ei­ner, der den Weg ver­lo­ren hat und nicht mehr weiß, wo­hin. Aus sei­nem Brü­ten weck­te ihn ein Gruß. Der alte Hil­pot war es. »Ich hab ge­dacht, Herr, ich müßt dich su­chen.«