Das Grab am Havre - Barbara Homolka - E-Book
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Das Grab am Havre E-Book

Barbara Homolka

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Beschreibung

Für Alle, die Frankreich und die Normandie lieben. Leser.Innen von Krimis und Hunde-Liebhaber »Das Trommelfeuer warf uns zu Boden, nagelte uns fest, toste um uns. (...) Ich hatte unendliche Angst und weinte wie ein kleines Kind. Als die Explosionen verstummten, arbeiteten wir uns weiter Richtung Strand vor. (...) Die Flut lief gerade auf, und sie trieb die bereits Gefallenen in einer blutigen Schaumkrone vor sich her. Im Tod waren wir alle gleich, der Strand war übersät mit den Leichen von deutschen wie amerikanischen Soldaten.« Brigitte, eine Frau Anfang Fünfzig, "flieht" aus ihrem alten Leben in die Normandie, um eine neue Perspektive zu finden. Doch statt der Sinnsuche erwartet sie ein Kriminalfall: Ihr Hund gräbt eine menschliche Hand aus den Dünen. Gehört sie einem deutschen Wehrmachtssoldaten? Zusammen mit dem Altfreak Friedrich und der Schäferin Camille begibt sich Brigitte auf Spurensuche – und selbst in Gefahr. »Die clevere Handlung und die vielen Wendungen halten das Tempo hoch und den Leser auf Trab.« ((Leserstimme auf Netgalley))  »Ein wunderbar lebendig und spannend geschriebener Krimi, der zusätzlich aber auch Geschichtsfans begeistern wird!« ((Leserstimme auf Netgalley))  

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Seitenzahl: 507

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Christiane Geldmacher

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Giessel Design

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Nachbemerkungen

Glossar

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Vorwort

»Das Grab am Havre« spielt 2019, in dem Jahr, als die Normandie das fünfundsiebzigste Jubiläum der Landung der Alliierten feierte, ein Ereignis, das heute landläufig D-Day oder Jour J genannt wird.

Seitdem hat sich die Welt rasend schnell weitergedreht. Die Corona-Krise hat uns in Atem gehalten, Großbritannien die EU verlassen und schließlich der russische Präsident Wladimir Putin die Ukraine völkerrechtswidrig überfallen (da war die letzte Silbe des Romans gerade in den Rechner getippt).

2019, da wähnten wir uns noch in Sicherheit. Aber in Ordnung und normal war unsere Welt schon damals nicht. Die Corona-Krise und der Ukraine-Krieg haben uns deutlich vor Augen geführt, woran unsere Welt krankt. Beides legt die Schwächen unserer wenig resilienten Welt offen, ist ein Verstärker all unserer gesellschaftlichen, sozialen und politischen Defizite.

Alle fünf Jahre wird das Jubiläum des D-Day groß gefeiert, mit Gedenkveranstaltungen und Zeremonien, an denen auch die westlichen Staatschefs teilnehmen. Eine Tradition, die von Ronald Reagan 1984 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges begründet wurde. 2014 gaben sich auch Petro Poroschenko und Wladimir Putin die Ehre, es war die erste Begegnung der Staatschefs Russlands und der Ukraine seit Beginn des Ukraine-Konflikts. Das sogenannte »Normandie-Format« war geboren.

Neben den offiziellen Feiern gibt es seit 2007 das D-Day-Festival, das überwiegend touristischen Charakter hat und eine bunte Mischung aus Kultur, Gedenken, Festen und Ausstellungen bietet.

Tief in der normannischen Bevölkerung ist zudem die Gedenkkultur verankert. Kaum eine Familie, die nicht von der Besatzung und den Kämpfen an der Küste und in der Bocage betroffen war, Angehörige oder Hab und Gut verloren hat.

Der Zweite Weltkrieg ist in der Normandie auch achtzig Jahre später noch gegenwärtig. Viele Orte in der Manche und im Calvados erzählen von den gewaltigen Opfern, die damals von jungen Amerikanern, Briten, Kanadiern, Niederländern, Polen, Belgiern, Norwegern, Franzosen und Neuseeländern gebracht wurden, um Hitlers Krieg und Tyrannei zu beenden. Und ein neues, friedlicheres Europa zu schaffen. Das ist ihr Vermächtnis.

Saint-Germain-sur-Ay, 2. Juli 2022

Kapitel 1

Ich stehe nur mit einem T-Shirt und einem Badetuch bekleidet mit Belmondo auf dem Hundeplatz, barfuß, die Beine unrasiert. Jedes Mal, wenn ich mich zu meinem Hund runterbeuge, flattert das weiße Handtuch auf. Nebenan stellen die Toten Hosen ihre neue CD vor und geben der Presse Interviews zum aktuellen Werk. Ich gehe zu Campino und sage: »Ich finde, ihr klingt sehr bemüht. Dass jemand bemüht klingt, veranlasst die Leute nicht, das Radio im Auto aufzudrehen und lauthals mitzusingen. Die Menschen wollen berührt werden.« Und Campino daraufhin: »Dann schreib das auf. Ich weiß eh nicht, was ich sagen soll, und die Journalisten nicht, was sie schreiben sollen.« Also setze ich mich mit Belmondo auf ein abgewetztes rotes Sofa aus den 1950er-Jahren und kritzle diesen klugen Satz und noch einige weitere zuerst auf eine Art Gebetsfahne, dann auf ein irgendwo gefundenes Stück Papier, während neben mir ein freundlicher Mönch seinen Joghurt mit sehr trockenen Cerealien futtert. Ich hoffe darauf, bald eine Hose zu finden, und …

… erwache. Bin orientierungslos. Vor einer regenblinden Scheibe dämmert eine mir völlig unbekannte Landschaft. Flach, grün. Mein Bett schaukelt. Belmondo bellt. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass ich in meinem VW-Bus liege. Tausend Kilometer gefahren oder besser geflohen bin. Mit Belmondo, dem Border Collie, nach seinem Namensgeber auch zärtlich Bébel genannt. Und Jean, dem Kater. Paul, mein Mann und bindendes Namensstück zwischen Collie und Kater (was waren wir doch mal originell gewesen!), sitzt sicherlich in diesem Moment schon in Deutschland auf dem Polizeirevier und gibt eine Vermisstenanzeige auf. »Frau, Anfang fünfzig, Halbwertszeit deutlich überschritten.«

Schlaftrunken öffne ich die Schiebetür des VW-Busses, um Belmondo ins Freie zu lassen, und sehe mich einer grasenden Schafherde gegenüber. Ein paar der Schafe reiben sich ihre wolligen Rücken an der Karosserie des alten Fahrzeugs. Lämmer suchen blökend nach ihren Müttern. Belmondo, bisher eher eine Schande für seine Rasse und Hüte- und Arbeitsverweigerer, scheint vom Blitz getroffen. Er umkreist die Herde, sammelt Lämmchen ein und treibt sie auf ein Loch im Zaun zu, als hätte er in den letzten sechs Jahren seines Lebens nie etwas anderes getan. Brav galoppiert die Herde auf die Grünfläche zurück, die sich vor dem Bus ergießt. Eine sehr grüne saftige, große Fläche, die erst am Horizont in einige Dünen mündet.

Freudestrahlend kommt mein Collie auf mich zugerannt und stoppt im Vorsitz. Seine Stehohren wippen im Wind. Nur wenig später sehe ich mich einem nicht enden wollenden, sehr französischen Redeschwall ausgesetzt. Gestenreich versucht eine zierliche junge Frau, mir etwas zu erklären. »Magnifique«, so viel verstehe ich. Sie deutet auf Belmondo, der das Grinsen überhaupt nicht mehr aus seinem Border Face bekommt.

Trotz Französisch-Abi, Fortbildungskursen an der Uni und regelmäßigen Aufenthalten in Frankreich braucht mein Gehirn einen Moment, um in den Rhythmus und die Melodie der Sprache zu finden. Die Vokabeln aus den Windungen und verschlungenen Pfaden hervorzukramen. Zunehmend gelingt mir das besser, wird das Bild klarer, formen sich die Worte deutlicher. Nach rund zehn Sätzen füllen sich trotz Kaffeeabstinenz die Lücken. Die Frau heißt Camille Forestier und ist eine der drei Schäferinnen im Havre, wie die große, sehr grüne und saftige Grünfläche vor meinen Augen genannt wird.

In irgendeinem früheren Dasein war sie eine erfolgreiche Designerin und Illustratorin in Paris gewesen, bis ihr Freunde einen Erholungsurlaub in der Normandie geschenkt hatten. Sie verliebte sich in die raue Natur, den eiskalten Wind und den Regen. Und beschloss, den Resetknopf des Lebens zu drücken und Schäferin zu werden. Tauschte die kontemplative Ruhe einer wiederkäuenden Schafherde gegen das hektische Stadtleben. Sie lernte alles, was man über Schafe wissen musste, und fing an, eine alte Landrasse zu züchten.

Nur mit den Hunden, das klappte nicht so recht. Ihre Collies, so Camille, seien übermotiviert. »Das ist, als wollte ich mit dem Ferrari Baguette holen fahren. Ich würde regelmäßig im Schaufenster der Bäckerei landen, weil ich das Gas mit der Bremse verwechsle. Ein Fahrrad oder auch ein 2CV ist zum Brotholen besser geeignet. Und ein ruhiger Hund, ein weiser Hund wäre für meine Schafe angenehmer, die ich nur einmal im Monat vor den Grandes Marées, den Springfluten, retten muss.«

Camille ist begeistert von Belmondo, verteilt Streicheleinheiten an ihn, der ihr ergeben zu Füßen liegt, ebenso den Kater, der ihr fordernd um die Beine streicht. Sie lauscht erstaunt meinen Ausführungen, dass ich Bébel von einer Tierschutz-Organisation habe und er seinerzeit nur abgegeben wurde, weil er das Hüten nicht gelernt hat.

»Ich bin sehr beeindruckt.« Ihre dunklen Augen leuchten. Am liebsten nähme sie Belmondo sofort mit.

»Niemals«, wehre ich ab, »aber ich würde gerne mehr über die Schafe lernen, und Belmondo hilft sicher gerne aus, solange wir hier sind.« Camille nickt erfreut. »Sehr gerne. Ihr könnt dahinten auf meinem Grundstück stehen bleiben«, weist sie mit dem Finger auf einen entfernten Punkt am Horizont, einen grünen Fleck mit windschiefer Scheune. »Alternativ gibt es draußen an der Plage einen Campingplatz. Mit neuem Pool.«

Wir verabreden uns für den nächsten Vormittag. Die Aussicht auf Toiletten und Duschen, einen entspannten Cocktail und Infrastruktur, ja gar ein Stück Zivilisation ist zu verlockend, und so ziehe ich mit Hund und Katz auf den Campingplatz.

Der ist jetzt, im Mai, so gut wie ausgestorben. Vereinzelt ist eine der Parzellen mit einem Wohnwagen oder Wohnmobil belegt. Aus einem der Fahrzeuge dudelt das Radio. »France Gall à France bleu«, schmettert der Moderator in den Äther. Ein Rentnerpaar stippt vor dem WoMo seine buttertriefenden Croissants in den Kaffee. Hunderte von kleinen Châlets, im Moment mit verschlossenen Rollläden und Türen, zeugen davon, dass im Sommer hier die Bären und Urlauber steppen. Auf einem Grundstück steht ein selbst gemaltes Ortsschild »St. Germain – la ST. Tropez Normande« ist da zu lesen. Allerdings, auch hier blättert der Lack etwas ab.

Ich suche mir eine ruhige Parzelle ohne Nachbarn, quäle mich eine halbe Stunde mit dem Vorzelt. Das war vom Händler als »selbstaufbauend« gepriesen worden, und zu einem Teil ist es das auch. Es klappt auf wie ein Regenschirm und reckt seine Kuppel in den normannischen Himmel. Allein bis es wirklich umfassend vertäut und abgespannt neben dem Bus steht, rennen Belmondo und ich einige Male um unseren Palast herum. Dann ist es vollbracht, nur die Schleuse, als Verbindungsstück zwischen Zelt und Bus, fehlt noch, doch fürs Erste soll es reichen. Ich räume meine Habseligkeiten aus dem Fahrzeug. Unglaublich, dass das vor wenigen Monaten ein rostiges Stück Automobilgeschichte war. Ralf, mein Schrauber in geheimer Mission, hat ganze Arbeit geleistet und das alte Schätzchen innen wie außen einem Facelift unterzogen.

»Sollen wir an den Strand fahren?«, frage ich die Tiere. Belmondo ist mit einem Satz im Fahrzeug, Jean folgt ihm nur unwesentlich langsamer, immer noch behände wie ein Kätzchen, trotz seiner fünfzehn Jahre.

Durch ein Wohngebiet mit winzigen Häuschen, ja, fast Hüttchen, und einem undurchdringlichen Gewirr an schmalen Straßen folgen wir Schildern, die eine »Plage naturiste« ausweisen und finden uns auf einem kleinen Parkplatz in den Dünen wieder. Eine Kreuzotter flüchtet vor dem Hund ins Gebüsch. Unverzagt machen Kater, Collie und ich uns auf den Weg gen FKK-Strand. Ein paar ältere Männer, nahtlos und beneidenswert braun, dösen in der normannischen Sonne. Hier fiele ich selbst in der Kostümierung meines Traums nicht auf. Angezogen eher schon, deshalb stapfe ich los Richtung Meer, das viele Kilometer weit weg erscheint. Wie eine Fata Morgana glitzert und schimmert es in vierzig Schattierungen von Türkis am Horizont.

Das Laufen am Strand entspannt, die quälende Last der letzten Monate fällt von mir ab. Der Jobverlust, die Perspektivlosigkeit, die Wut und Enttäuschung. Die Trauer. Die Luft riecht salzig, im Hintergrund rauscht sanft die Brandung. Ich entledige mich meiner Schuhe und wate durch einen Priel. Bébel platscht freudig hinterher, Jean macht lieber einen Bogen.

Zurück auf dem Campingplatz hat sich direkt neben unserer Parzelle ein Wohnmobil breitgemacht. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn es ist ein sehr großes und vor allem schönes Reisemobil, mit deutschem Kennzeichen. Auf dem Heck steht »El Condor Pasa«, und ein begabter Grafiker hat einen segelnden Vogel dazu entworfen, der sich über der Schrift in die Höhe zu schrauben scheint. Ein drahtiger älterer Mann sitzt vor dem Mobil in der Sonne, der Pastis steht auf seinem Campertisch. Fröhlich winkt er zu uns herüber. »Du bist menschenscheu«, hat Paul mich in den ersten Jahren unserer Beziehung charakterisiert. Daran hat sich bis heute nur wenig geändert.

Auch nicht an der Tatsache, dass andere Menschen das komplette Gegenteil sind und es ihnen offenbar an entsprechenden Sensoren mangelt. Prompt kommt der Nachbar anmarschiert. »Neucamper? Sieht man gleich! Aber wir Camper helfen einander«, eröffnet er mir. Bébel macht das, was er am besten kann: sich einschleimen. Schiebt den Kopf unter die Hand des Nachbarn. »Ich bin Friedrich«, setzt der Fremde nach. Er ist um die sechzig, das lange graue Haar ist lässig zu einem Zopf geflochten. Ein Hemd, eine Sommerhose und an den Füßen ausgelatschte Schlappen. Eine runde John-Lennon-Brille im Gesicht. Gelbe Finger, ein Raucher.

»Machst du einen Roadtrip, oder lebst du im Van?«

»Ähhh …«

»Das erste Mal in der Normandie? Ich auch!«

»Ähhh …«

»Die Katze reist auch mit?«

»Ist ein Kater.«

Trotz meines Gestammels bleibt er nett. Oder bemüht. Und lädt mich zum Abendessen ein.

Friedrich entpuppt sich als guter Koch und charmanter Gastgeber. Es gibt frischen Fisch, etwas Salat, eine üppige Käseplatte zum Nachtisch. Genug Wein. Zu viel Wein. Calvados, der wieder Löcher in den Magen für den nächsten Gang brennen soll und ebensolche in die graue Masse zwischen den Ohren reißt.

Friedrich bleibt erschreckend extrovertiert.

»Ich bin auf der Suche nach der Liebe meines Lebens«, eröffnet er.

»Damit kann ich nicht dienen«, entgegne ich schnell, um ja keine falschen Hoffnungen aufkommen zu lassen. Rutsche vorsichtshalber ein Stück von ihm ab.

Doch Friedrich sucht eine verflossene Jugendliebe und trägt ein Foto bei sich, schwarz-weiß und verknautscht und ein bisschen unscharf, wie eben Fotos aus dem Analogzeitalter sind. Es zeigt eine junge Frau mit dunklen langen Haaren, auf dem Foto wirkt sie hübsch, wenn auch nicht im konventionellen Sinn. Etwas düster und traurig schaut sie in die Kamera.

»Das ist oder war Susan. Das Bild ist das Einzige, was mir von ihr geblieben ist. Aber es gibt Hinweise darauf, dass sie vielleicht in dieser Ecke der Normandie lebt.« Für kurze Zeit waren sie ein Paar, in den 1980er-Jahren, er der damals noch ruhige Typ, der sich mit Gesteinen, Fossilien und Erdgeschichte auskannte, und die wilde Susan, die ziel- und rastlos durchs Leben hechelte, heute hier und morgen dort. Sie engagierte sich in der Anti-Atom- und Friedensbewegung, baute abenteuerliche Fluggeräte und stürzte sich in jede neue Eskapade. »Sie war ihrer Zeit voraus, heute wäre sie sicherlich eine erfolgreiche Influencerin«, führt Friedrich aus. »Damals aber galt sie einfach als verrückt. Durchgeknallt.«

Als er, der promovierte Geologe, nach Beendigung eines Forschungsauftrags in Marokko ins winterliche Deutschland zurückkehrte, war Susan weg. Spurlos verschwunden. Freunde behaupteten, sie sei bei einem Unfall ums Leben gekommen. Die Familie, zu der sie den Kontakt schon lange abgebrochen hatte, habe sie an einem unbekannten Ort anonym bestatten lassen. So richtig glauben konnte er das nicht.

»Bis heute ist es eine offene Wunde. Ein Trauma. So einmal im Jahr überkommt es mich, ich gebe ihren Namen in Internetsuchmaschinen ein oder forsche in den sozialen Netzwerken, ob es sie irgendwo gibt. Aber sie ist wie vom Erdboden verschluckt.« Erneut ergießt sich goldgelber Calvados in die Gläser, und Friedrich nimmt einen tiefen Schluck. »Oder besser: Sie war es. Denn kürzlich will sie jemand aus unserer gemeinsamen Zeit gesehen haben. In der Normandie, auf einem Markt.«

Ich verspreche, meine Augen offen zu halten, die mir in Wirklichkeit in diesem Moment bleischwer zufallen. Der Apfelschnaps hat ganze Arbeit geleistet.

Trotz des Calvados und des damit verbundenen Katers stehe ich schon frühmorgens bei Camille am Havre, am Rand des unendlichen Schafparadieses auf ihrem Grundstück mit Scheune und Boot. Das Schiffchen hat, trotz der großen Springfluten, den »Grandes Marées«, schon lange kein Wasser mehr unterm Kiel gesehen. In dem Schuppen verwahrt Camille Nützliches und Gruseliges, das sie beim Hüten der Herde in den Salzwiesen gefunden hat: zahlreiche Schafschädel, eine Sammlung angeschwemmter Feuerzeuge (farblich sortiert), ein Sortiment von Gummihandschuhen (linken) und Gummistiefeln. Unsere heutige Mission: Die Schafe aus dem weitverzweigten Havre zu holen, bevor das Wasser diesen überflutet.

»Im Herbst und im Frühjahr überschwemmen die Grandes Marées den Havre vollständig«, erklärt Camille. »Das ist vor allem für die Lämmer gefährlich, die dann in einem der Priele ertrinken können. Deshalb holen wir die Herde jetzt rein.«

Mit den Hunden machen wir uns auf den Weg, überspringen Gräben und waten durch den Ay, einen ziemlich tiefen Fluss mit starker Strömung. Ab und an pflückt Camille ein Kraut und hält es mir hin. »Salicorne«, erklärt sie, »du kannst damit kochen oder sie in den Salat tun. Die Schafe fressen sie sehr gerne, aber die Kräuter sind auch für Menschen eine Delikatesse.«

»Wow, das ist aber salzig!«

Camille bedeutet Bess, ihrem großen und kräftigen Border, die Schafe einzusammeln. Der Hund prescht los, mein kleiner Belmondo hinterher, die Tiere setzen sich brav in Bewegung. Hin und wieder versucht ein widerspenstiges Mutterschaf, in Richtung der auflaufenden Flut zu entkommen, doch beide Collies sind aufmerksam und treiben sie zur Gruppe zurück. Nur zwanzig Minuten später sind alle Schäfchen im Trockenen.

»Er hat eindeutig Talent, dein Belmondo. Du willst ihn wirklich nicht hergeben?«

Die Herde grast friedlich auf dem Grundstück, die Hunde liegen hechelnd im Schatten, und ich bin ganz schön durchgeschwitzt.

»Ich sehe gar kein Wasser.«

Nur wenige Minuten später rauscht eine Welle auf dem Ay entlang, Möwen jagen vorneweg. Überall im Havre gluckert und gluckst es jetzt, füllen sich Gräben und Wasserlöcher mit sprudelndem Meerwasser. Wo wir vor Kurzem mit den Schafen gelaufen sind, erstreckt sich eine blaugraue Wasserfläche. Nur noch wenige vorwitzige Binsen ragen hervor, ein paar Mäuse und Kaninchen retten sich in letzter Sekunde zu uns auf die Weide.

»Wir haben hier den höchsten Tidenhub in ganz Europa«, erläutert mir Camille, und schweigend sitzen wir eine Weile zwischen den Schafen und dem Wasser, beobachten Reiher, Möwen und Eisvögel beim Flug über die spiegelnde Fläche. Belmondo rückt an mich heran – er scheint zufrieden mit der Wahl unseres neuen Aufenthaltsorts zu sein.

Was Paul wohl gerade macht? Er kommt sicher um vor Sorge, und dennoch gehört es zu meinem Plan, ihn nicht einzuweihen. Für mich selbst herauszufinden, wie es weitergehen soll, nachdem so mitten im Leben eine unerwartete Zäsur alle Lebensentwürfe pulverisiert hat. Paul hätte tausend gut gemeinte Ratschläge gehabt. Hätte natürlich dabei sein wollen und damit mein Vorhaben konterkariert. Ein bisschen nagt das schlechte Gewissen an mir, aber ich schiebe die Gedanken an meine innere Tilly – »Na, etwa fremdgegangen?« – schnell weg.

Rund eine Stunde später hat sich das Wasser weitgehend zurückgezogen, die Straße zu Camilles Grundstück ist wieder frei. Ich hole Baguette und Käse aus dem kleinen Gemischtwarenladen in Saint-Germain-sur-Ay und fahre auf den Campingplatz zurück, setze einen Espresso in der Kanne auf. Mein Nachbar ist unterwegs, wahrscheinlich einen Markt in der Nähe abklappern. Der Kaffee ist stark und warm, das Baguette knusprig. Jean macht es sich auf meinem Schoß bequem. Nach dem Frühstück brechen wir erneut auf Richtung Strand. Diesmal erklimmen die Tiere und ich eine steile und hohe Düne, um einen Überblick zu bekommen. Die Aussicht überwältigt mich. Zu meiner Rechten liegt das Meer, das schon wieder bei den Kanalinseln angekommen zu sein scheint und einen goldgelben Strand hervorgezaubert hat. Vor mir erstreckt sich die Bucht, durch die sich der Ay und die anderen beiden Flüsse des Havres bis zum Ozean schlängeln. Sie sind brav in ihre Betten zurückgekehrt, nichts erinnert mehr daran, dass das Meer heute Morgen mit Macht ins Landesinnere drängte. In der Bucht und am Strand laufen Dutzende Menschen herum, schwer bewaffnet mit Harken, Rechen, Käschern und Eimern. Sie fischen zu Fuß, das hat mir Camille am Vormittag erklärt. In den zahlreichen kleinen Tümpeln und Prielen finden sich bei den Grandes Marées Muscheln, Meeresschnecken, Krebse und sogar Hummer. Eine stattliche Mahlzeit lässt sich so sammeln.

Zur Linken mache ich den Marktflecken Saint-Germain-sur-Ay aus. Der Kirchturm ist weithin sichtbar, auch das kleine Wachhäuschen, der Corps de Garde, der einst zum Schutz des Hafens diente und jetzt eine Kapelle ist, wie Camille mir heute Morgen erläutert hat. Nur eines stört die Idylle: Direkt auf dem Gipfel der Düne befindet sich eine Bunkerruine. Wahrscheinlich die Reste des Atlantikwalls. Ein hässliches, rundes Betonteil.

Auf der Mauer hat es sich der Kater gemütlich gemacht und rekelt sich entspannt in der Frühlingssonne. Belmondos Interesse hingegen gilt den Kaninchen. Er steckt mit Kopf und Vorderpfoten in einem Bau. Ab und zu fliegen die Grasbüschel.

Leider hat mein Hund die unangenehme Angewohnheit, alles zu fressen. Wie ein Welpe, der die Welt durch Ich-nehms-ins-Maul erkundet, wandert so wirklich alles, was nur im Entferntesten nach Essbarem aussieht, im Magen des Border Collies. Kaninchenkot, Bambibömbchen, Katzenscheiße, Hundekot, Taschentücher, Grillkohle, Socken, Weinkorken, Liebesbriefe, Rechnungen, Steuerbescheide, Insekten, Restmüll, Plastikverpackungen, Hundespielzeug. Alles landet in Belmondos Verdauungssystem, das sich zum Glück immer als strapazier- und leidensfähig erweist. Auch jetzt scheint Bébel wieder etwas gefunden zu haben, was er unwiderstehlich findet. Ein Steinchen. Oder einen Kaninchenknochen? Einen Knochen, aber nicht von einem Kaninchen? Ganz bestimmt nicht von einem Kaninchen! Was Belmondo stolz in seinem Maul präsentiert, sind die Überreste einer menschlichen Hand.

»Bah!«, schreie ich meinen Hund an, der erschrocken seine Beute fallen lässt. Ich bücke mich und sammle die Hand auf. Die Leiche scheint schon sehr lange in dem Loch gelegen zu haben, die Hand ist vollständig skelettiert. Etwas muss diesem Menschen wichtig gewesen sein, denn die Hand oder besser das, was davon übrig ist, ist zu einer Faust geballt. Seit Jahren hält sie einen kleinen Zettel fest umklammert. Vorsichtig fummle ich das vergilbte Stück Papier hervor. Es ist trocken und dünn. Auf den ersten Blick ist nichts zu erkennen, mit dem zweiten werde ich einer verblassten Schrift gewahr. Eine Kombination aus Zahlen und Buchstaben. »30 UXV 626010 5478292«. Sonst nichts. Kein Name, kein Ort, kein Hinweis. Nur: 30 UXV 626010 5478292.

Während ich über dem Fetzen mit der Inschrift grüble, macht Belmondo sich wieder über die Knochen her, von denen jetzt so gut wie nichts mehr übrig ist außer ein bisschen Fingerfood. Ich ziehe die Reste aus meines Hundes Maul und packe sie schnell in die Bauchtasche zu Leckerli und Kotbeuteln. Wie erkläre ich so etwas auf der Gendarmerie? Mein Hund hat eine Leiche gefressen, und das ist alles, was von ihr übrig ist? Ich stopfte den Zettel zu den Fingern und beschließe, Camille um Hilfe zu bitten. Ein Schwarm Brandgänse zieht über unsere Köpfe hinweg und lässt sich in einer benachbarten Düne häuslich nieder, ein winziges Kaninchen hoppelt den schmalen Dünenpfad entlang. Der Kater liegt ausgestreckt in der Sonne, und mein Hund hat einen Menschen gefressen. Oder zumindest einen Teil davon. Mit etwas Glück kann ich morgen früh die Knochen aus dem Kot sammeln. Ich wähle Camilles Nummer: »Ich habe ein Problem und brauche Hilfe«, gestehe ich und schildere meinen Fund, »ich bekomme das allein nicht geregelt.«

»Wir treffen uns auf der Gendarmerie in Lessay«, hilft die Schäferin mir aus der Patsche.

Die Gendarmerie in Lessay ist fünf Kilometer entfernt, ein schmuckloser Bau an einem Kreisverkehr, ein Supermarkt, eine Tankstelle, ein Pizzaautomat und ein Restaurant schmiegen sich in der Nachbarschaft an den Round Point. Lieutenant Matthieu Desquiret, ein Mittvierziger mit glänzender Glatze, unverkennbarem Bauchansatz und einer runden Brille, empfängt uns in seinem Büro, das in kräftigem Apricot gestrichen ist. Zwei flimmernde Monitore zieren einen dunklen Schreibtisch. Darüber hängt in einem Glasrahmen ein Gedicht, handgeschrieben. Auf einem weiteren Sekretär türmen sich in einem Eck die Akten. Auf der anderen Seite ist eine Schreibtischlampe mit einem grellgrünen Lampenschirm platziert. An der Wand hängt eine Karte des Einsatzgebiets, das bis in die Unterpräfektur in Coutances reicht. Irgendwo im Hintergrund quäkt aus einem Gerät der Polizeifunk. Ständig klingelt das Telefon.

Der grüne Linoleumboden wurde von Generationen eifriger französischer Putzfrauen gehegt und gepflegt, wie das Sediment aus unterschiedlichen Bohnerwachsschichten bezeugt. So mancher Delinquent ist in den letzten vierzig Jahren nervös in einem der kunstlederbezogenen Clubsessel hin- und hergerutscht und hat seine Finger in die Armlehnen gekrallt. Diese haben links und rechts am Rücken Löcher und gelber Schaumstoff quillt hervor.

»Nicht gerade viel«, bemerkt der Polizist, als Camille ihre wortreichen Erklärungen beendet hat. »Wirklich nicht gerade viel«, deutet er auf die paar Knochen, die von Belmondos Attacke übrig geblieben sind. »Wir werden unsere Vermisstenkartei durchgehen, einen DNA-Abgleich in Paris durchführen, soweit das möglich ist, und ich schicke jetzt gleich einige Männer raus, um zu schauen, ob wir noch mehr finden. Unter Umständen lassen sich weitere menschliche Überreste sicherstellen, die wir der Rechtsmedizin übergeben können. Zeigen Sie mir auf der Karte, wo genau Ihr Hund die Knochen ausgegraben hat?« Ich markiere die Stelle mit einem Stift. »Da ist ein alter Bunker, direkt daneben, es lässt sich kaum verfehlen.«

Der Gendarm nimmt Personalien und Aussage auf, schnell flitzen die Finger über die Tastatur, die laut ist wie eine Maschinenpistole. Unterschreiben muss ich digital auf dem Grafiktablet, dann drückt er mir den Ausdruck in die Hand. Es hat etwas Surreales, meinen Namen in dem Formular zu lesen. NOM: Mendel, PRÉNOM: Brigitte, DATE NAISSANCE: 07/07/1967.

»Was könnte das für ein Code sein?«, hakt Camille nach.

»Das werden wir bald rausfinden.« Lieutenant Desquiret wippt auf seinem Drehstuhl. »Wir haben bei der Gendarmerie für solche Fälle eine Spezialeinheit. Bitte bleiben Sie in der Nähe, bis wir über den Fall Klarheit haben.«

Ich seufze innerlich, denn eigentlich will ich nie lange an einem Ort verweilen, lieber jeden Tag ein bisschen weiterfahren, beweglich sein, nicht ortbar, sichtbar werden. »Ja, sehr gerne. Ich wohne auf dem Campingplatz in Saint-Germain.«

Camille lädt mich ein, bei ihr zu Hause auf den Schreck hin einen Tee zu trinken, zubereitet aus den Kräutern der Salzwiesen. Kurz darauf sitze ich in der Küche ihres normannischen Langhauses. Dicke Mauern und kleine Fenster, dunkel gestrichene Deckenbalken versetzen mich in ein früheres Jahrhundert. Eine Katze liegt zusammengerollt in frisch versponnener Schafwolle, und der Tee schmeckt nach Sonne und Meer, ein bisschen salzig, wie eben die Luft auf Camilles Schafweide. Mit ihm lässt sich vortrefflich der Geschmack des Todes von der Seele waschen. Wieso muss ausgerechnet mein Hund eine Leiche ausgraben?

Kapitel 2

»Was mag das nur für ein merkwürdiger Code sein?« Camille greift zu der Kopie des verblassten Zettelchens, die Lieutenant Desquiret netterweise für uns gemacht hat. »30 UXV 626010 5478292. Ganz ehrlich: das habe ich noch nie so gesehen, hier in der Gegend. Sieht ja aus wie ein Geheimcode oder irgendwelche Koordinaten, aber ein modernes Navigationsgerät kann damit sicher nichts anfangen.«

»Friedrich könnte uns helfen. Mein Parzellennachbar. Der ist Geologe oder so etwas und kennt sich ja vielleicht auch mit Karten aus.«

Wir haben Glück, Friedrichs fliegender Condor steht wieder auf seinem Platz. Auf dem Rolltisch liegt die Beute des vormittäglichen Marktbesuchs. Frisches Brot, kleine Törtchen, eine Flasche Calvados, ein paar neue Geschirrtücher. Friedrich selbst ist in ein Buch vertieft, die Zigarette im Mundwinkel. Doch Bébels Fund begeistert ihn auf der Stelle. »Was für eine Geschichte, dann zeig mal her, deinen Zettel mit dem Geheimcode zum Piratenschatz.« Er mustert den Zettel eingehend. »Das sind UTM-Koordinaten, wie sie beim Militär gebräuchlich sind. Erstaunlich! Denn die Schrift lässt vermuten, dass sie ganz schön alt sind. Schaut euch an, wie die Buchstaben gemalt sind, so schweifig und bauchig, und die Ziffern ganz akkurat geformt. Das sieht aus wie deutsche Sütterlinschrift. Das V ist eher ein Y. Man weiß, dass die Wehrmacht 1942 oder 1943 eine Form des UTM-Systems entwickelt hat. Erst vor einigen Jahren hat man im Bundes-Militärarchiv alte Wehrmachtskarten gefunden, die mit dieser Projektion erstellt wurden. Ich glaube, sie waren sogar aus der Normandie.«

»Das heißt, unsere Leiche ist ein Wehrmachtssoldat?«

»Wahrscheinlich, ziemlich sicher sogar. Aber die Polizei wird bestimmt weitere Hinweise finden, etwa Uniformreste oder Waffen. Wenn der Zettel die Zeit überstanden hat, dann auch mehr.«

»Es werden hier immer wieder noch Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden«, stimmt Camille zu. »Längst nicht alle wurden nach der Befreiung geborgen, dazu war das Chaos der Schlacht zu groß. Manche kommen beim Pflügen des Feldes wieder ans Tageslicht. Andere werden vom Meer dort freigespült, wo die Küstenerosion die Dünen frisst. Oder werden bei Straßenbauarbeiten oder in einem neuen Baugebiet entdeckt.«

»Was passiert mit ihnen?«

»Erst neulich hat ein Kind bei Gatteville an der Ostküste beim Spielen am Strand einen Soldaten ausgegraben. Stand groß in der Ouest-France. Der wurde an das nationale Institut für kriminalistische Forschung in Paris überführt. Ihre Untersuchungen dauern eine gewisse Zeit, und ich weiß nicht, was aus dem Skelett bei Gatteville geworden ist. Allerdings, wenn das Alter ungefähr stimmt und der Tote nicht identifiziert werden kann, dann wird davon ausgegangen, dass es ein deutscher Soldat war. Die Überreste werden in diesem Fall in La Cambe, dem größten deutschen Soldatenfriedhof in der Normandie, beigesetzt. Meist bekommt er einen Grabstein mit ›Unbekannter deutscher Soldat‹.«

»Also nichts wirklich Besonderes.« Ich bin enttäuscht. Kein Krimi mit französischen CSI-Einheiten, die jeden Quadratzentimeter der Düne von Saint-Germain-sur-Ay umgraben und unter das Mikroskop legen, um einem lange gesuchten Massenmörder auf die Spur die zu kommen. Nur eine traurige Geschichte des letzten Kriegs.

»Der Zettel ist bestimmt außergewöhnlich«, tröstet Camille mich, »auch in Lessay konnten sie ja nichts damit anfangen.«

Friedrich kramt derweil im Wohnmobil und kommt mit einem Laptop wieder zum Vorschein. »Zum Glück gibt es das Internet. Heute können wir die Koordinaten einfach in ein Umrechnungstool eingeben und schauen, wo wir damit rauskommen.«

Er fährt den Rechner hoch und gibt die Zahlen auf einer Website ein. Vor unseren Augen erscheint ein blauer Marker, irgendwo auf einem Feld.

»Das ist nicht weit von hier, in Foucarville«, schaltet sich Camille ein. »Lasst uns hinfahren und schauen, was da ist. Ob da überhaupt etwas ist. Die Schafe stehen ja noch auf der Trockenweide, die sind gut versorgt für heute. Wir nehmen meinen Jeep. Nur der Kater sollte vielleicht nicht mit auf die Laderampe, nicht, dass er verloren geht.« Jean hat sich ohnehin in den Bus verzogen und widmet sich seinem Schönheitsschlaf. Wir schließen alles ab und machen uns auf den Weg. Friedrich macht es sich mit Belmondo auf der Pritsche bequem, ich klettere zu Camille ins Führerhaus.

Es sind rund vierzig Kilometer vom Campingplatz bis zu dem blauen Marker auf der Karte, quer durch das Landschaftsschutzgebiet »Marais du Cotentin et du Bessin«, wie Camille mir unterwegs erläutert. »Früher war das ein richtiges Sumpfgebiet, zwischen hier und Carentan, und alles, was nördlich davon liegt, also der Cotentin, war eine echte Halbinsel. Nur an zwei Stellen bist du überhaupt trockenen Fußes auf die andere Seite gekommen. In Carentan, das auch Sumpfhauptstadt genannt wurde, und bei uns, in den Lessayer Heiden. Die Wikinger konnten, als sie diesen Landstrich erobert haben, noch von der Westküste zur Ostküste durchfahren. Heute hat man den Sumpf entwässert und trockengelegt. So nutzen die Landwirte die Flächen als Weiden und zum Teil für den Getreideanbau. Im Winter aber, wenn es viel regnet, wird das alles wieder zum Sumpf. Oder besser noch: zu einer Seenlandschaft, ganze Landstriche stehen unter Wasser. Wir nennen das wenn die Sümpfe weiß werden, denn alles ist in ein helles Grau getaucht, die Landschaft, der Himmel. Es ist total faszinierend, mindestens so sehr wie die Grandes Marées von heute früh.«

Wir fahren durch Sainte-Mère-Église. Am Straßenrand sind einige Willys Jeeps abgestellt, US-Soldaten lungern lässig im Städtchen umher, friedlich vereint mit ein paar jungen Burschen in Wehrmachtsuniform. Am Kirchturm hängt ein verunglückter Fallschirmspringer, der von Zivilisten mit Fotoapparat und Smartphone ins Visier genommen wird.

»Ja, so ist das hier«, lacht Camille, »der Erinnerungstourismus spielt eine enorme Rolle an diesem Küstenabschnitt. Du befindest dich an der Landungsküste Utah-Beach, hier startete mit dem D-Day am 6. Juni 1944 die Befreiung Europas vom Hitlerfaschismus. Sainte-Mère—Église gehört zu den ersten Städten überhaupt, die von den Amerikanern befreit wurden. Das wird bis heute gefeiert, mit Schwerpunkt Anfang Juni. Dann kommst du hier gar nicht mehr durch. Dieses Jahr wird es besonders voll, denn da steht auch noch ein Jubiläum an: fünfundsiebzig Jahre D-Day. Auch die Regierungschefs aller alliierter Staaten werden dann in der Normandie zu Gast sein, inklusive Präsident Trump. Vorausgesetzt, es regnet nicht, vor den Feierlichkeiten zum Kriegsende des Ersten Weltkrieges letztes Jahr hat er sich wegen des schlechten Wetters gedrückt.« Sie gluckst. »Angeblich schüttet es in der Normandie ja immer.«

»Ich weiß nur sehr wenig von diesem D-Day, dieser Teil der Geschichte ist irgendwie an mir vorbeigegangen«, gestehe ich, als Camille erneut wegen eines Trupps amerikanischer Soldaten in voller Kampfmontur bremst. Sie stehen auf der Hauptstraße und schießen Selfies.

»Oh, wirklich nicht? Am D-Day landeten hier an der gesamten Küste von Cherbourg bis Caen Amerikaner, Briten, Franzosen, Kanadier, Polen, Neuseeländer und Norweger. Diese Militäroperation wurde Operation Overlord genannt und eröffnete eine zweite Front im Krieg gegen das Dritte Reich. In den ersten Tagen nach dem D-Day brachte eine gigantische Armada viele Hunderttausend junge Männer über den Ärmelkanal an diesen Küstenabschnitt. Nicht nur die Landung selbst war unglaublich verlustreich, auch die Kämpfe in der Bocage, die bis in den August hinein andauerten, forderten viele Opfer. Aufseiten der Alliierten, der Deutschen und auch der Zivilbevölkerung. Den Film »Der Soldat James Ryan« hast du gesehen?«

»Aber ja, im Kino.« Hinter mir hatte eine Clique Jugendlicher Popcorn gegessen und Coke getrunken, geflüstert und gelacht, während endlose Gräberreihen und ein fürchterliches Gemetzel auf der Leinwand zu sehen waren.

»Die Stimmung auf dem amerikanischen Soldatenfriedhof in Colleville hat Steven Spielberg gut eingefangen.« Camille tritt erneut in die Eisen, da einige Passanten schnell die Straßenseite wechseln. »Um zu verstehen, welchen Stellenwert der D-Day in der Erinnerungskultur der Alliierten, aber auch der Franzosen hat, empfehle ich jedem den Besuch. Der Ort macht sehr demütig vor dem Geschehen.«

Wir folgen schmalen Sträßchen, die links und rechts von riesigen Hecken gesäumt sind. Und von Straßengräben. Camille rauscht unvermittelt weiter, den Kurven zum Trotz. Dann stehen wir vor einem Gatter. »Hier gehts nicht weiter«, stellt unsere tollkühne Pilotin fest, »aber dahinten muss es sein.«

Wir sehen nichts. Außer ein paar jungen Maispflänzchen. Die wachsen dafür auf mehreren Hektar. So weit das Auge reicht, Mais. Die nächste Enttäuschung. Friedrich sortiert auf der Pritsche seine Knochen, stöhnt leise. »Es muss hier aber mal etwas gewesen sein.« Belmondo hebt die Schnauze und wittert, ob sich wohl etwas zum Fressen findet. Auch er scheint enttäuscht.

»Lasst uns in den Ort fahren«, schlägt Camille vor, »irgendjemand muss ja wissen, ob hier zum Beispiel eine bedeutende Schlacht war.«

Foucarville ist keine Stadt, noch nicht einmal ein Dorf, sondern eine Straßenkreuzung. Ein paar zufällig hingeworfene Steinhäuser, eine Kirche. Ein großes Gebäude, auf dessen Hof eine französische Flagge weht und das sich als Rathaus entpuppt. Wir hören eine energische weibliche Stimme »Bonne journée!« sagen und treten ein.

Eine zierliche, alterslose Frau versinkt hinter einem stattlichen Schreibtisch, ein Schild weist sie als Stéphanie Lagalle und die Bürgermeisterin von Foucarville aus. Camille trägt unser Anliegen vor.

»Ja, wir sind dabei, die Geschichte richtig aufzubereiten. Denn ehrlich: Als das da endlich verschwunden war, waren die meisten Anwohner froh und wollten nicht mehr an den Krieg und die Nachkriegszeit erinnert werden. Hier in Foucarville, dahinten auf dem Acker, war ab Juni 1944 ein großes Kriegsgefangenenlager für die deutschen Soldaten, der sogenannte Continental Central n°19. Zunächst sollten hier nur zwanzigtausend Mann untergebracht werden, schließlich waren es über sechzigtausend, die hier durchgeschleust wurden, auch Generäle und Admiräle waren darunter. Es entstand eine kleine Stadt, die alles hatte, elektrische Beleuchtung, Straßen, eine eigene Eisenbahn, Geschäfte, eine Bäckerei, eine Pumpstation für frisches Quellwasser, eine Kirche und sogar ein Krankenhaus. Die Amerikaner hatten für ihre Gefangenen an einen Friseur und an ein Kino gedacht. Es gab ein Theater für die Deutschen und eines für die amerikanischen Soldaten. Die US-Truppen sorgten gut für ihre Häftlinge, denen es sicher besser ging als der Bevölkerung auf dem Cotentin. So waren die Deutschen immer noch präsent, obwohl die Besatzung längst beendet war. Dazu kam ein riesiges Heer an alliierten Soldaten. Wir waren zwar befreit worden, haben aber einen hohen Preis und Blutzoll dafür bezahlt. Das Lager erinnerte daran, bis es abgebaut wurde.«

»Was haben all diese Menschen in dem Lager gemacht?«, will Friedrich wissen.

»Ein Teil der Gefangenen arbeitete auf dem Feld, sie bauten das Gemüse an, das im Lager benötigt wurde. Ein anderer Teil wurde als Minenräumkommando eingesetzt, um die von den Nazis verminten Strände zu säubern. Zwei Jahre war das Lager in Betrieb, dann wurden die Gefangenen entweder entlassen oder in die USA, nach England oder Kanada gebracht. Alle Anlagen wurden in den Folgejahren zurückgebaut, es ist nichts mehr davon übrig. Eine kleine Stele befindet sich links an der Straße, wenn Sie nach Ravenoville fahren. Anfang Juni kommt eine Handvoll ehemaliger Insassen zur Gedenkveranstaltung. Wie gesagt, wir wollen die Geschichte noch aufarbeiten. Wo haben Sie den Soldaten gefunden?«

»Wir wissen nicht, ob es wirklich ein Soldat ist.« Camille hat aufmerksam zugehört. »Könnte es sein, dass er versucht hat zu fliehen? Und etwas Wichtiges im Lager zurückgelassen hat?«

Stéphanie Lagalle schüttelt den Kopf. »Darüber ist nichts bekannt. Aber allgemein heißt es, dass es den Deutschen sehr gut ging, und keiner versucht hat, die Flucht zu ergreifen. Allerdings sind einige von ihnen beim Minenräumen ums Leben gekommen. Gar nicht wenige. Sie wurden auf dem Friedhof in Orglandes beigesetzt, das ist nicht weit von hier. Vielleicht gehörte Ihr Mann dazu, und es hat ihn niemand geborgen? Eines ist aber sicher: Wenn er dort im Lager etwas versteckt hat, so ist es bestimmt nicht mehr da.«

Wir bedanken uns artig, besuchen die Stele am Ortseingang. Auch hier, außer dem bescheidenen Gedenken, nur Mais und Wiesen.

»Mysteriös bleibt es aber«, fasst Friedrich am Abend auf dem Campingplatz das Erlebte zusammen. Camille ist nach Hause gefahren, und wir rekapitulieren den Tag, den Calvados vor uns auf dem Tisch stehend.

»Hat deine Suche heute früh eigentlich etwas ergeben?«

Friedrich schüttelt nur den Kopf. »Nein, ich habe niemanden gesehen, der Susan auch nur im Entferntesten ähnlich ist. Wahrscheinlich bin ich ganz umsonst in die Normandie gereist.«

»Eine solche Ungewissheit ist schrecklich. Genauso wird es den Angehörigen unseres Unbekannten gehen. Sie haben nie wieder etwas von ihm gehört, und fünfundsiebzig Jahre fehlte von ihm jede Spur. Meinst du, es gibt da noch jemanden in seiner Familie, der ihn vermisst? Am Ende sucht, so wie du Susan suchst?«

Ende der Leseprobe