Das Grab von Ivan Lendl - Paul Ferstl - E-Book

Das Grab von Ivan Lendl E-Book

Paul Ferstl

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Beschreibung

Der ehemalige Zivildiener Ivan stirbt bei einem Unfall während eines Wiederaufbauprojekts in Rumänien. Sein Kumpel Pich will herausfinden, wie Ivan in den letzten Jahren gelebt hat. Als Ivans Schwester Ivanka auch nach Rumänien kommt, beginnen die beiden eine gemeinsame Reise durch das Land. Der starke neue Roman von Paul Ferstl, einem der größten österreichischen Erzähltalente. Zivildiener in Rumänien und in der Ukraine, in der ausländischen Provinz abgestellte junge Männer, die fern von daheim für wenig Geld schwer arbeiten. Einer davon ist der 19-jährige Zivildiener Pich. Er baut Hütten im Überschwemmungsgebiet, muss mitanpacken, wo er vor Ort gebraucht wird. Zu essen gibt es Eintopf mit viel Zwiebeln, zu trinken gibt es Bier und viel Schnaps, die Not der Bevölkerung bedingt auch die Lebensumstände der Zivildiener. Dann passiert ein Unfall und Pichs Kollege Ivan, der schon länger in Rumänien weilt, weil er nach dem Zivildienst einfach dortgeblieben ist, kommt dabei zu Tode. Ivans Schwester Ivanka kommt zu dem Begräbnis. Sie will herausfinden, wie der Unfall passiert ist, auch, wie und wo ihr Bruder dort lebte und begibt sich auf die Suche. Begleitet wird sie von Pich. In Rückblenden wird Pichs Beziehung zu Ivan während des gemeinsamen Jahres erzählt. Als im rumänischen Norden ein Zivildienstkollege Selbstmord begeht, steigt der Verdacht auf, dass Ivans Tod kein Unfall gewesen sein könnte. Paul Ferstls Roman über junge Menschen in einem fremden Land, die sich plötzlich einer Verantwortung stellen müssen, der sie kaum gewachsen sind, über sexuelle Gewalt unter Männern in prekären Lebensumständen, und über die Macht und Ohnmacht des Schweigens.

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PAUL FERSTL

DAS GRABVON IVAN LENDL

ROMAN

MILENA

Auslandszivildienst, eigentlich Auslandsdienst als Ersatzdienst für den ordentlichen Zivildienst – seit 1992 bestehende Möglichkeit für den Wehrersatzdienst in Österreich. Seit 1975 kann der Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert werden, der Zivildienst stellt seither die häufigste Form der Ableistung eines Wehrersatzdienstes für Wehrdienstverweigerer dar. Der Dienst im Ausland (Gedenkdienst, Sozialdienst, Friedensdienst) ist eigentlich offiziell kein ordentlicher Zivildienst, sondern ein Ersatzdienst, der aber dazu führt, dass man zu keinem Zivildienst mehr zugewiesen wird.

’Twas in another lifetime, one of toil and blood

When blackness was a virtue the road was full of mud

I came in from the wilderness, a creature void of form

Come in, she said

I’ll give ya shelter from the storm

Bob Dylan, Shelter from the Storm

INHALT

IVANS GRAB

IVAN

ZUHAUSE

KEANU REEVES

WEG

DIE FREUNDE

DAS DORF HASST KEANU REEVES

DIE LANGE NACHT

MAGIC

BAUSTELLE

KEANU REEVES’ GRAB

IVANS GRAB

Sie sagten, die Schwester sei gekommen, also kletterte Pich aus dem Grab. Die vier, die seit dem Morgen geschaufelt hatten, schauten in das Grab hinunter. Auf dem Grund stand knöcheltief braunes Wasser, und sie beschlossen stillschweigend, dass sie fertig waren. Pich hatte noch über den Rand hinausblicken können, es war also keine Rede von den einhundertachtzig Zentimetern, die sie sich zum Ziel gesetzt hatten, sie hatten aber keine Lust mehr. Der Ingenieur holte vier Flaschen Bier aus dem Kübel, in dem sich am Morgen noch Eis befunden hatte.

Zu viert waren sie schnell gewesen. Es musste etwa elf Uhr sein – mittlerweile hatte es weit über dreißig Grad. In einem Meter Tiefe war es langsam feucht geworden, zum Schluss hatten sie auf die Schaufel verzichtet und nur noch mit zwei Kübeln Schlamm geschöpft. »Falls wir einen finden, siehst ihn wenigstens nicht«, hatte Pich zum Sohn des Ingenieurs gesagt. Der war zu hart gewesen, sich sein Unbehagen anmerken zu lassen.

Sie waren sich alle einig gewesen, dass die Sache scheiße war. Also hatten sie nicht viel darüber geredet. Es musste erledigt werden. Vier Mann waren eigentlich zu viel, denn nur einer hatte Platz im Grab. Dafür hatten sie immerhin Tempo machen können. Und alle mussten bleiben: Pich, weil er Ivan kannte. Der Mann aus dem Dorf, weil er als Vertreter geschickt worden war. Der Ingenieur, weil er es für ein Abenteuer hielt. Und der Sohn des Ingenieurs, weil sein Vater es für ein Abenteuer hielt.

Der Ingenieur öffnete die Bierflaschen nacheinander mit einem Feuerzeug und reichte sie weiter. Sie stießen nicht an. »Ist das normal?«, fragte Pich den Mann aus dem Dorf und schaute in das Grab hinunter. Der Sohn des Ingenieurs spuckte seinem Blick nach. Die Spucke klatschte auf die Wasseroberfläche, öffnete ein weiteres blindes Auge im Schaum. Die drei anderen drehten sich zu dem Sohn um. Der sagte: »Sorry« und verschwand beschämt in seiner Flasche.

»Ja, das ist ganz normal.« Der Mann aus dem Dorf bewies Feingefühl und deckte die peinliche Situation zu, indem er Pichs Frage aufgriff. »Ganz normal. Wir haben hier immer viel zu viel Wasser.« Er lachte. Pich reagierte auf den Galgenhumor mit dem anerkennenden Nicken, das hier angemessen war: Vor drei Monaten hatte die Donau das Haus des Mannes abgerissen.

»Meine Großmutter hat dasselbe aus ihrem Dorf erzählt«, sagte der Ingenieur, der, aus dem Grab heraufgestiegen, wieder zurück in seine Redseligkeit fand, »Wasser ab einem Meter Tiefe, jedes Begräbnis ein Ärgernis, sie haben den Toten ein paar Steine mit in den Sarg gegeben, sonst wären sie wie Delphine immer wieder aus dem Grab gesprungen. Das sollten wir uns auch überlegen, so ein paar Steine, bevor das gleich noch peinlich wird …«

»Wo ist die Schwester?«, fragte Pich, der die Frage nach dem Grundwasser bereits bereute. Er hätte es sich eigentlich denken können und hatte es sich wohl auch gedacht, das Wissen aber tief nach unten gestopft. Es half nur nichts. Das Wissen sprang immer hoch, wie ein Delphin aus einem Grab. Er sah sich um, einmal im Kreis über die Grabsteine hinweg bis ans Ende der Welt, wo sich rundum Ebene und Himmel berührten, ein Land ohne Ausweg, flach wie ein Handteller, um den sich jederzeit eine Faust schließen konnte. Im Süden irgendwo die Donau, die sich in den letzten Monaten ein paar neue Arme gegraben und allein im nahen Umkreis zwei, drei Dörfer mitgenommen hatte. Grasgelb und schlammbraun die Ebene, kein Baum gab dem Auge Halt – nur weit links eine Stromleitung. Vor wenigen Tagen noch hatte Pich auf dieser Stromleitung balanciert, die gestürzt, saftlos, aber straff von Böschung zu Böschung eines neuen Donauarms führte, war von den Kabeln in das Wasser drei Meter tiefer gesprungen – ein beliebter Sport zur Abkühlung am frühen Abend, wenn sie den Hüttenbau für den Tag eingestellt hatten. Naherholungsgebiet Donau, am Abend schuppten sie Fische für das Essen, die jemand aus dem Strom gezogen hatte, nun gruben sie ein Grab und legten Ivan in das Wasser zu den anderen Toten.

»Dana ist vorhin mit einer Frau gekommen und in das Häuschen da mit Ivan hinein, das wird die Schwester gewesen sein. Heute Früh ist sie in Bukarest gelandet, ein Typ von der Botschaft wollte sie herbringen, das geht sich aus, wenn sie früh gelandet ist«, sagte der Ingenieur, »da fällt mir ein, egal ob Steine oder nicht, die Eisbeutel müssen wir unbedingt wieder heraustun, bevor wir ihn hertragen. Mein Rücken ist nicht –«

»Schaut sie ihn sich an?«, fragte der Sohn.

»Keine Ahnung«, sagte der Ingenieur, »ich hoffe nicht.«

»Identifiziert ist er ja«, sagte Pich.

Die zwei Frauen traten in diesem Moment wieder aus dem Haus. Dana war offiziell in Rock und Bluse. Während des Projekts hatten sie die Männer nur mit an den Oberschenkeln abgerissenen Jeans, Bikinioberteil und T-Shirt gesehen. Wie auf ein Kommando, das von diesem seltsamen Anblick ausging, als hätte eine Glocke den Beginn des Begräbnisses angekündigt, leerten die vier die Bierflaschen und verstauten sie im Kübel. Der Ingenieur fuhr sich mit einer Hand durch die verschwitzten Haare, Pich streifte das nasse Bandana vom Kopf und bückte sich nach seinem Unterhemd.

Ivans Schwester sah wie eine ostdeutsche Rucksacktouristin aus, die eine harte Woche und irgendeine überaus ungute Begegnung hinter sich hatte: zu viel Gewicht auf dem Rücken, feste Schuhe dreckig, kein Geld, Haare konnten eine Wäsche brauchen, wäre gerne anderswo. Kein Geld, das wusste Pich, den Rest konnte er sehen. Er spürte, dass er sich hinter dem Ingenieur verstecken wollte, und zwang sich stehen zu bleiben. Als sie näher kam, war er sich sicher, dass sie als Erstes eines und nur eines sagen würde: »Du hast meinem Bruder die Schuhe gestohlen.« Aber niemand, auch nicht die eigene Schwester, würde die Schuhe erkennen, mit denen er im Matsch auf dem Grund von Ivans Grab gestanden war.

Die Männer stellten sich vor. Der aus dem Dorf verließ die Gruppe sofort nach dem Händedruck, um den Priester zu holen. Seine Eile, und mehr noch sein plötzliches Verschwinden brachte die Herde in Unruhe: Nun waren sie allein, und alle Fremde hier.

»Ivanka«, so hatte sich Ivans Schwester vorgestellt.

Nachdem man entdeckt hatte, dass Ivan von drei Öfen erschlagen worden war – so viele waren zumindest von dem Anhänger gestürzt, den er alleine zu entladen versucht hatte –, nahmen die Dinge zunächst reibungslos ihren Lauf. Sein Tod war selbst für Laien eindeutig festzustellen. Während sie auf Polizei und Arzt warteten, übernahm die Frau von der Botschaft das Kommando.

»Wie ist er nur auf die verrückte Idee gekommen, dass er das alleine machen kann?«, fragte sie in die Runde aus Rumänen, Österreichern und Deutschen, aus denen sich die Belegschaft zusammensetzte. Sie war immer leicht gereizt, als wäre jedes Geschehen eine persönliche Kränkung. Auch in dieser Situation war es nicht anders, und es fühlte sich angesichts einer Leiche ebenso unpassend an wie an Tagen ohne Todesfall. Es war dunkel auf dem eingezäunten Parkplatz hinter der Schule, wo die Fahrzeuge des Projekts und das Material standen. Jemand hatte eine Gaslaterne neben Ivans Körper gestellt, ihr Schein reichte aber nur aus, ihn und gerade noch die Nächststehenden zu beleuchten.

»Er war betrunken«, sagte jemand. Diese Erklärung schien der Projektleiterin einzuleuchten. Das Projekt hatte zwei Wochen lang ohne den Trost einer Wolke unter der Augustsonne stattgefunden. Es war 22 Uhr, und niemand aus der Runde hätte guten Gewissens ein Auto fahren oder anderes schweres Gerät bedienen sollen. Die Gruppe begann an den Rändern auszufransen, während sie sprach. Es war eine traurige Angelegenheit, aber was konnte man tun? Jemand hatte die Verantwortung übernommen, und auf dem Lagerplatz war eben eine letzte Runde Hühnerfleisch und Mici auf den Grill gekommen. Irgendein Held hatte Eis aufgetrieben, und so gab es sogar Bier von einer Temperatur unter zwanzig Grad.

»Es ist tragisch, sinnlos, traurig«, sagte sie und schüttelte den Kopf, »aber immerhin ist klar, was wir tun müssen, bis die Behörden da sind: alle Daten zusammentragen, nach Österreich telefonieren, Angehörige auftreiben, sehen, was mit der Versicherung ist.«

Man nickte. So weit war alles reibungslos. Niemand war bei Ivan gewesen, als er den Spanngurt gelöst hatte. Gefunden hatte ihn ein Mitarbeiter der Botschaft, der vor dem nächtlichen Absperren einen letzten Rundgang gemacht hatte. Dann kam aber heraus, dass niemand Ivans vollen Namen wusste. Pich war zu nahe bei der Leiche stehen geblieben. Der andere Zivildiener, Keanu Reeves, hatte sich davongestohlen, also musste Pich als Auskunftsperson herhalten.

»Was soll das heißen, Sie wissen seinen Namen nicht?«

»Ich weiß ihn ja: Ivan!« Auch Pich war nicht gänzlich nüchtern.

»Stellen Sie sich nicht so deppert an, ich weiß auch, dass er Ivan heißt« – das, dachte Pich, war frech gelogen, aber er sagte es lieber nicht –, »aber wie heißt er noch? Er ist doch ein Zivildienstkollege von Ihnen!«

»Er war mal Zivildiener bei uns – vor sieben Jahren. Er ist als Freiwilliger hier.«

Diese Antwort schien ihr nicht zu gefallen. Die immer kleinere Runde dachte unisono das böse Wort: »Haftung«. Pich bot an, in Ivans Rucksack nachzusehen. Die Leiterin wies ihn an, den Rucksack ungeöffnet herzubringen. Das klang nun dermaßen offiziell, dass sich offen Unbehagen breitmachte. Pich ging in zahlreicher Gesellschaft zurück zum Lagerplatz und betrat die Schule, deren Klassenzimmer als Schlafsäle dienten. Ivans Rucksack lag ordentlich gepackt auf seinem Schlafsack. Pich schüttelte Schlafsack und Isomatte vorsorglich aus. Zurück auf dem Parkplatz packte er den Rucksack vor den Augen von Leiterin, Dana, dem Dorfboss Aurel und dem Abteilungsleiter des österreichischen Konzerns aus, der eine Abordnung von Freiwilligen aus der Bukarester Filiale zu dem Projekt geführt hatte – Gutes tun, Land und Leute kennenlernen. Alle anderen waren gegangen.

Neben Kleidung und Hygieneprodukten (Rasierzeug, Zahnbürste, Duschgel) kamen nur ein Schweizer Messer, ein Ladegerät, 4.000.000 alte Lei und acht Kondome zum Vorschein, aber kein Pass und auch kein sonstiger Ausweis.

»Der Bursche war ein Optimist«, sagte der Abteilungsleiter.

Nach einer kurzen und heißen Nacht erwachte das Lager in schlechter Stimmung. Zum gewohnten Kater kam der emotionale. Pich wurde schon zwischen Schlafsack, Waschraum und Frühstückstischen auf Ivan angesprochen, da er ihn ja am besten gekannt hatte. Dieser Umstand war schon zu Ivans Lebzeiten Anlass für häufig geäußertes Mitleid gewesen. Nun, da er tot war, schienen sich die Leute aber etwas leichter zu tun, Ivan gute Seiten abzugewinnen. Was dessen Zukunft betraf, gab es bereits Informationen, aber noch keinen genauen Plan.

»Tut mir echt leid, was gestern passiert ist«, sagte ein Tischler auf Weltreise von Leipzig aus zu Pich, kaum dass sich dieser nach schwerem Schlaf verschwitzt im Schlafsack aufgesetzt hatte, »ich hab’s gestern gar nicht wirklich mitbekommen, tut mir leid.« Der Leipziger teilte mit Pich das schwere Los, der kompetenteste Mann auf der Baustelle zu sein. Das verpflichtete.

»Ja«, sagte Pich, »es ist scheiße. Danke.«

»Es ist mein erster Toter auf einer Baustelle«, sagte der Leipziger, »und dann so. Mann.«

»Genau so muss es passieren, oder? Möglichst dämlich. Wenn du nicht mehr Tote haben willst, solltest du sehen, dass du aus dem Land rauskommst.«

Dem Leipziger schien der Rat zu gefallen, denn er bemühte sich sofort ihn umzusetzen. Pich rief sich zu mehr Höflichkeit auf. Sein innerer Anwalt wies aber zu Recht darauf hin, dass Kondolenzen erst nach Aufstehen, Kaffee, Zigarette und Klo angemessen waren.

»Die Polizei hat den Unfall schon als Unfall bestätigt«, sagte der Ingenieur, als Pich aus einer der Kabinen im Schulklo trat, und es war nicht zu sagen, ob er auf eine freie Toilette oder auf Pich gewartet hatte, »und der Arzt den Tod als Tod. Schnell sind sie hier, gründlich sicher auch.«

»Na ja, tot ist er wohl, oder?«

»Ja, ist er. Und es wundert mich auch nicht. Suff und Dummheit haben mehr Leute auf Baustellen umgebracht als sonst irgendwas. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«

Pich wusste, wovon der Ingenieur redete – tagaus, tagein gab er Horrorgeschichten von seinen Baustellen in Guatemala, Nigeria, Sudan und Indonesien zum Besten, wogegen sich dieses kleine Projekt an der Donau natürlich als Witz ausnahm. Am nächsten Ort würde er dann andere Menschen mit Geschichten von dem Himmelfahrtsprojekt langweilen, bei dem dreißig stets wechselnde Leute eine Handvoll Winternotquartiere aufgestellt hatten, ohne einen Hammer von einer Säge unterscheiden zu können. »Die Leiche haben sie bei einem Fleischer eingekühlt, Aurel hat das organisiert. Damit haben es alle eilig gehabt.«

»Zu Recht«, sagte Pich und schaute durch das Fenster zum Himmel hinauf. Heute würden sie vielleicht die vierzig Grad knacken.

Zum Frühstück gab es Filterkaffee aus 5-Liter-Thermoskannen und rumänisches Brot aus Kartoffelmehl. Während empfindliche Westler rundum Marmelade zur Hilfe riefen, schmierte Pich paprikarote Zacusca auf sein Brot. Er war seit fast elf Monaten im Land und wusste Brot wie Belag zu schätzen. Am Frühstückstisch war die Rede von einem Leichentransport nach Bukarest, doch die Umsetzung stockte aus irgendeinem Grund.

Dana holte ihn zur Projektleitung. Sie arbeitete bei der österreichischen Botschaft in Bukarest und war neben Ivan eine der wenigen, die die rumänische, deutsche und englische Sprache beherrschten, also das Pech hatten, alle Leute zu verstehen. Ivan hatte seine sprachlichen Talente stets verheimlicht, um keine offiziellen Pflichten übernehmen zu müssen. Er war lieber bei inoffiziellen Pflichten aufgeblüht. Dana und ihre Kollegin waren rund um die Uhr im Einsatz, achtzehn Stunden am Tag, und zumindest nach außen hin dankbar für diese Chance. Die Projektleiterin stand in der Kommandozentrale aus zwei zusammengestellten Partyzelten, die ein österreichischer Getränkekonzern gesponsert hatte.

»Es war gestern Abend sehr angespannt«, sagte die Projektleiterin als Ersatz für eine Entschuldigung. Es war Pich nicht wirklich wichtig, also zuckte er großzügig mit den Schultern. Dann nippte die Leitung an ihrem Kaffee und ließ schließlich beiläufig fallen, Ivan habe gar nicht Ivan geheißen.

»Öh«, sagte Pich. Sein erster Impuls war zu widersprechen – Ivan hatte sehr wohl Ivan geheißen! Aber er verstand schon, was sie meinte, nämlich dass in Ivans Pass ein anderer Name stehen musste und dass sie Pich für einen Dummkopf hielt.

Sie wartete einen Moment, aber Pich hatte nicht die Absicht ihr zuzustimmen. Dana stand daneben und wusste nicht, ob sie gehen durfte. Sie hatte bestimmt genug anderes zu tun, aber die Situation war nicht aufgelöst worden. Vielleicht hatte sie auch den Eindruck, zwischen Pich und der Leitung übersetzen zu müssen – wie auch immer, die Leitung ließ sie nicht gehen, sondern nutzlos danebenstehen.

»Ja«, sagte die Leitung schließlich, als wäre das Gespräch eine Enttäuschung, »was ich sagen wollte: Es ist egal, es macht nichts, wir kümmern uns um alles. Sie möchte ich bitten, uns allen weiterzuhelfen, indem Sie Ihre Fähigkeiten für den Abschluss des Projekts einsetzen. Es ist der letzte Tag heute, wir wollen hier fertig werden, es ist eine wichtige Sache und deswegen sind wir ja alle hier. So helfen Sie Ihrem Freund am besten. Ich werde mich um alles andere kümmern.«

Pich versprach, auf das Baugelände zurückzukehren und weiterzuarbeiten. Sie dankte ihm, daraufhin dankte er ihr, das ging ganz wie von selbst.

»Und genau, noch was«, sagte sie, er blieb stehen, »Ihr anderer Kollege war heute schon ganz früh bei mir, er hat gesagt, er hat eine Mitfahrgelegenheit bis in die Maramures – die wollte er nicht verpassen. Der Baustellenleiter hat gesagt, ich soll ihn um Gottes willen gehen lassen, nutzlos, wie er ist, also habe ich es erlaubt.«

»Keanu Reeves ist einfach abgehaut?« – Das rutschte ihm heraus, obwohl er es zurückhalten wollte.

Sie sah ihn verblüfft an. Er griff sofort nach dem Lächerlichen und Offensichtlichen: »Er sieht aus wie … also deshalb nennen wir ihn …«

»Ja, er sieht aus wie Keanu Reeves, es ist mir auch aufgefallen«, sagte sie, »wissen Sie in seinem Fall, wie er wirklich heißt?«

Pich drehte sich um und ging.

Er holte sein Werkzeug aus der Schule und erwischte einen der Dacia-Pick-ups, die zwischen dem Quartier und dem Baugelände hin und her pendelten. Einer der beiden Männer auf der Ladefläche streckte eine Hand aus und half ihm hinauf, dort saßen sie dann zu dritt und ließen sich schweigsam wie die acht Öfen, die sie begleiteten, zur Baustelle bringen. In den letzten zwei Wochen waren dreißig Hütten wie Pilze aus dem Boden geschossen, helle Stiele aus Holz, dunkle Kappen aus Teerpappe. Pich sprang vom Pick-up, ging nahe genug an der Bauleitung vorbei, um gesehen zu werden und Instruktionen zu bekommen, falls er Pech hatte; der Bauleiter streckte aber nur einen Daumen nach oben und ließ sich das aus der Entfernung nicht zu verstehende Wort »Fenster« von den Lippen ablesen. Neben der Bauzentrale – auch hierfür hatte der Getränkekonzern ein Zelt beigesteuert – standen zehn Freiwillige und ein paar Kinder um die Ladestation herum. Das Laden der Akkus war der Flaschenhals, der seit Tagen ihren Output staute. Pich machte sich nicht die Mühe, sich bei den Akkus anzustellen – das machte ein Bub aus dem Lager für ihn, den er in den ersten Tagen rekrutiert hatte –, sondern steuerte gleich die erste der Hütten an, die auf seinem Plan angezeichnet waren. Er machte einen weiten Bogen um El Diablo, den gemeingefährlichen Lageresel (»El Beißo« hatte sich, wenn auch präziser, im Lagerslang nicht als Name durchgesetzt), grüßte links und rechts, bis er, schließlich angekommen, mit wachsender Befriedigung registrierte, dass die beiden Fenster auf der Hütte nicht nur angezeichnet waren, sondern sogar richtig angezeichnet waren.

Sie bauten Hütten aus Holzbrettern, isoliert mit Styropor, drei mal vier Meter im Grundriss, darüber ein flaches Giebeldach mit Teerpappe. Eine Tür, zwei Fenster, ein Ofen – der Winter durfte kommen. Die Betonfundamente waren schon gegossen worden, bevor Pich eingetroffen war. In der ersten Woche hatten der Leipziger und er jeden Tag bis zu drei Bodenplatten gelegt. Das war die einzige Arbeit, für die es wirklich Fachkräfte brauchte. Den Rest stellten wechselnde Freiwillige nach IKEA-Anleitungen auf.

Pich streifte das T-Shirt ab und band sich die Haare mit einem Bandana aus der Stirn. Dann setzte er den daumenbreiten Handbohrer an und mahlte Holzspäne und schließlich weiße Flocken aus der Wand, die sich auf den braungebackenen Boden legten wie Vorboten des Winters, der hier schrecklich sein musste; Wind auf der offenen Ebene, minus zwanzig Grad. Nachdem er fünf Häuser vorbereitet hatte (bei zweien hatte er die Fenster neu einzeichnen müssen), kehrte er zum Ausgangspunkt zurück. Er setzte sich und wartete, bis sein Bub mit dem Akku kam.

Aus den Erhebungen und Erwägungen um Ivan war er außen vor gelassen worden, seine Unkenntnis von Ivans Namen hatte ihn offensichtlich disqualifiziert, und tatsächlich hätte er auch nichts Nützliches beitragen können. Die rumänische Polizei hatte schließlich einen Führerschein in Ivans Portemonnaie gefunden, und Pich hatte immerhin die Projektleitung mit dem Berger vernetzt, seinem Boss in Österreich. Der Berger war recht betroffen gewesen, als ihn die Nachricht von Ivans Tod erreicht hatte, und er hatte versichert, sein Bestes tun zu wollen. Pich kannte das Spektrum von Bergers »Bestem« – es reichte von blanker Verschlimmerung eines jeden Problems bis hin zu leichter Milderung der Umstände, bedeutete im Durchschnitt aber simples Nichtstun. Die gestrigen Versicherungen waren aber unter »glaubhaft« einzustufen. Es wunderte Pich also nicht, dass ihn der Berger wieder anrief, wobei er die Erinnerung an ihr gestriges Gespräch wie eine Fistel spürte, wenn er danach tastete: »Was rufst denn um die Zeit noch an?«

»Berger, der Ivan ist tot.«

»Hör auf!«

»Ja wirklich. Von einem Ofen erschlagen.«

»Von einem Ofen? Hör auf!«

»Der Ofen ist von einem Anhänger gefallen.« (An dieser Stelle war es Pich peinlich bewusst geworden, dass die Projektleiterin und der Abteilungsleiter dem Gespräch lauschten.)

»Ach so.«

»Berger, wie heißt der Ivan?«

»Wie heißt der Ivan? Spinnst?«

In weiterer Folge hatte sich der Berger die Handynummer der Projektleiterin geben lassen und versprochen, gleich wieder ins Büro zu fahren, um Ivans Akten auszuheben und seinen Nachnamen herauszufinden, an den er sich betrüblicherweise auch nicht erinnern konnte.

Nun klingelte Pichs Handy.

»Hallo?«

»Berger.«

»Ja eh. Pich.«

»Was machst?«

»Fenster schneiden.«

»Gut.«

Der Berger schwieg, bis Pich ungeduldig wurde: »Also, was tut sich?«

»Na ja.« Der Berger seufzte. »Also die Leiterin …« Er seufzte wieder. »Das ist nicht einfach.« Der Berger und die Projektleiterin gehörten verschiedenen politischen Parteien an. Es war nicht einfach.

»Ja eh.« Pich bemühte sich hilfreich zu sein.

»Und der Ivan. Es ist ja typisch. Und trotzdem traurig.« Bergers Hassliebe für Ivan schimmerte durch – von Liebe (»Der Ivan! Macht alles.«) bis hin zu Hass (»Der Ivan! Macht alles falsch.«). »Ich hab gestern noch angefangen herumzutelefonieren und heute in der Früh gleich weiter. Der Ivan war in Österreich nicht sozialversichert. Hast du das gewusst?«

»Ich weiß nicht mal, ob du in Österreich sozialversichert bist.«

»Sei nicht frech. Natürlich bin ich in Österreich sozialversichert.«

»Bin ich in Österreich sozialversichert?«

»Du? Natürlich bist du in Österreich sozialversichert. Du bist ja einer von uns. Ein Zivildiener. Ein ganzes sattes Pensionsjahr bekommst du! Sozialversichert … natürlich bist du sozialversichert. Aber der Ivan war keiner von uns, verstehst du, nicht mehr. Also war er nicht mehr bei uns sozialversichert. Er war aber auch bei niemandem sonst in Österreich sozialversichert, verstehst?«

»Ok.«

»Aber pass auf, in Rumänien war er auch nicht sozialversichert, und das ist ein Problem, verstehst?«

»Nein.«

»Das verstehst nicht, na klar. Aber sag, was hat er denn dort gemacht die ganze Zeit?«

»Ich weiß nicht mehr als du.«

»Also nichts weißt, letztlich.« Der Berger lachte bitter. »Na gut. Es ist halt ein Problem. Die Rumänen werden ihn nicht wollen, und wir können ihn nicht wollen. Das Budget haben wir nicht. Und er war keiner von uns. Nicht mehr.«

»Wir müssen ihn doch eh nur begraben?«

»Du bist ein Bub, Pich. Sterben kostet.«

Pich schwieg.

»Na egal. Ich ruf jetzt einmal alle Auslandsversicherungen an, die ich kenne. Wir haben ja eine für ihn abgeschlossen damals. Glaubst, dass er die weiterbezahlt hat?«

»Nein.«

»Glaub ich auch nicht. Aber glauben heißt nicht wissen. Ich ruf mal an.«

»Vielleicht war er beim Alpenverein«, sagte Pich.

»Das ist eine gute Idee. Jeder ist beim Alpenverein. Bist du beim Alpenverein?«

»Ja.«

»Eben. Die müssen ihn heimholen. Ofensturz ist Sportunfall. Vielleicht, na egal. Im Zweifelsfall muss es die Familie richten. Ich hab mich an seinen Vater erinnert, den hab ich gerade aufgetrieben. Mal schauen, was da geht. Eine Lösung gibt es immer, oder? Was machst jetzt?«

»Weiter Fenster schneiden.«

»Gut.« Der Berger legte auf.

Pich steckte das Handy ein. Ivans Eltern waren tot. Das war zumindest das, was Ivan gesagt hatte.

Sein Bub kam zur Hütte, mit einem Akku, zwei Flaschen Mineralwasser aus der Bauzentrale und einer Hose und einem T-Shirt, beides frisch gewaschen. Pich nahm Akku, Wäsche und eine Flasche entgegen, die zweite würde nach bestehender Abmachung stillschweigend wieder verschwinden. Die Mutter des Buben trug zur Aufbauarbeit bei, indem sie jeden Tag eine Hose und ein T-Shirt wusch. Pich hatte sich zu sehr geschämt, seine Unterwäsche und Socken zu einem Teil des Arrangements zu machen. Diese wusch er lieber selbst. Das Resultat war, dass er seit Tagen weder Socken noch Unterwäsche trug. Ivan hatte ihm zwar gezeigt, wie man auf der Durchreise für die dringlichste Sauberkeit sorgte – indem man während der Dusche Unterwäsche und Socken in der Duschtasse durchwalkte, besser als nichts –, aber er war in den letzten Tagen zu bockig dafür gewesen. Er gab dem Buben drei Müsliriegel, die ein österreichischer Konzern gespendet hatte, setzte den Akku in die Stichsäge ein, und begann zu sägen.

Der Bub spie einen Schwall rumänischer Sprache aus. Auch ohne den Lärm hätte Pich Schwierigkeiten gehabt, Details zu verstehen. Er war seit elf Monaten in Rumänien und hatte pro Monat im Schnitt zehn Wörter gelernt. Hauptsächlich ignorierte Pich den Buben freundlich, während der sich durch Handreichungen mitverantwortlich am Bau der Hütte für den Winter fühlen durfte. Von Zeit zu Zeit musste sich Pich aber ausschweifende Reden anhören – also setzte er die Säge ab. Der Bub wiederholte seine Rede, weidete sich an Pichs Unverständnis, mimte dann einen vom Himmel fallenden Amboss, unter dem er zu Boden stürzte (Pich wusste nicht, ob rumänische Kinder den Kojoten und den Roadrunner kannten), sprang wieder auf und schüttelte traurig den Kopf. Als Antwort schüttelte Pich ebenfalls traurig den Kopf, hob dann kurz die Handflächen zum Himmel (»Was soll man machen?«), schüttelte die Hand des Zehnjährigen und begann wieder zu sägen. Der Bub war immer sehr neugierig auf Ivan gewesen, vor allem nachdem Pich ihm gestenreich zu verstehen gegeben hatte, dass Ivan keine Kinder mochte.

»Du bist gut organisiert«, sagte der Ingenieur, der mit seinem Sohn eine Rolle Teerpappe an der Hütte vorbeischleppte, »gefällt mir.«

»Ist nur Eitelkeit«, sagte Pich, »es ist scheißegal, ob von dreißig Leuten einer gut organisiert ist.«

»Hoch die Internationale«, sagte der Ingenieur und grinste, dann deutete er auf die nur halb eingeschnittenen Fensterseiten. »Wirst du den Rest nicht mit der Hand fertig schneiden, während der Akku wieder lädt?«

»Geh Teerpappe nageln, Alter, und genieß es, solange du kannst.« Pich musste lachen und ruinierte damit seine harte Fassade. Er war geschmeichelt, dass es dem Ingenieur aufgefallen war. Er schnitt die Fenster an fünf Hütten mit der Maschine vor und sägte sie von Hand fertig, während der Akku wieder lud. Dann setzte er die Fenster ein, die der Bub zu jeder Hütte getragen hatte.

Während des Mittagessens rief der Berger wieder an.

»Hallo?«

»Berger.«

»Ja eh. Pich.«

»Was machst?«

»Mittagessen.«

»Was gibt’s?«

»Kartoffeleintopf mit Fisch.«

»Gut?«

»Ich wünscht’, es wär kein Fisch drin.«

Der Berger lachte. Dann sagte er: »Der Unmensch war nicht einmal beim Alpenverein.«

»Ivan?«

»Ivan. Nicht einmal beim Alpenverein. Da fragst dich schon.«

Pich schwieg.

»Die Familie hilft uns auch nicht. Der Vater ist im Pflegeheim und an der Kante zur Demenz, längst besachwaltet. Also Sackgasse. Als Nächstes ruf ich die Schwester an.«

»Die Schwester?«

»Du, das ist kein Wunder, wenn einer eine Schwester hat.«

Der Berger legte auf.

Pich schaffte es gerade noch bis zur Toilette, wo er unbeobachtet und ohne Sauerei in die Muschel kotzen konnte. Dann fuhr er zurück zur Baustelle und begann die Dächer für die Ofenrohre vorzubereiten; bis zum Abend würden alle Hütten mit Öfen bestückt sein, morgen würden sie dann tatsächlich fertig werden. »Gute Qualität«, merkte der Bauleiter zufrieden an, »auch die Heruntergefallenen sind funktionstüchtig, da hat es nichts.« Pich arbeitete die Dächer ab und wusste zu schätzen, dass es immer das Gleiche war, immer wieder die gleichen Handgriffe, immer wieder der gleiche kleine Ärger. Er stand auf einem der Dächer und suchte die Donau, dort draußen war sie in einem Strich zu erahnen, immer noch zu nah. Es wurde ruhiger auf der Baustelle, die Leute wanderten zur Schule ab. Am Rand des neuen Dorfes brachte der Ingenieur seinem Sohn das Autofahren bei, der Bub fuhr rückwärts Achter in den Staub, der Dacia-Pick-up war kaum zu sehen.

»Hallo?«

»Pich, hör zu.«

»Berger?«

»Ja eh. Hör zu, Pich, ich hab mit der Schwester geredet. Das ist eine ganz traurige Sache alles. Geld hat die keines, egal. Hat halt keiner Geld. Aber sag, was machen s’ mit dem Ivan, hast du was gehört?«

»Gar nichts. Ich steh auf dem Dach und mach Ofen.«

»Gut.« Der Berger schien nachzudenken. »Hör zu, Pich, das ist alles eine dumme Geschichte. Der Ivan hat kein Geld, niemand hat ein Geld, und niemand wird ihn beerben, verstehst?«

»Na wenn er eh kein Geld hat.«

»Nein, verstehst nicht, niemand wird ihn beerben, weil niemand die Verantwortung haben will. Niemand will haften. Nimmst das Erbe, dann zahlst, wenn einer auftaucht und sagt, der gute Ivan, der schuldet mir XY und zwanzig Monate Alimente. Willst du den Ivan beerben?«

»Lieber nicht.«

»Eben. Und weißt, was das heißt, wenn niemand erbt, wenn niemand eine Leiche will? Armenbegräbnis, das heißt das. Und weißt, was ein Armenbegräbnis in Rumänien heißt?«

»Nein.«

»Gut, ich auch nicht, aber wird schon schrecklich sein, oder? Es taugt mir nicht. Wir können den Ivan nicht irgendwo verschwinden lassen, das geht doch nicht, oder? Oder was sagst du?«

»Nein – nein, das geht nicht.«

»Eben. Also pass auf – du gehst zum Bürgermeister da oder wen sie grad haben, du weißt eh, wer das Sagen hat, oder?«

»Ja.«

»Eben. Da gehst hin und sagst, wir wollen den Ivan begraben. Einen Sarg wird er schon auftreiben, und ein Grab wird er schon hergeben. Ist ja Platz dort, oder? Ich ruf deine Leiterin an, die soll das möglich machen, wenn’s ein Geld braucht. Wird schon gehen. Über den Grabstein reden wir dann nächstes Jahr, falls die Donau nicht wiederkommt. Könnts ihr bis übermorgen warten? Wo ist denn der Ivan überhaupt?«

»Im Kühlhaus beim Fleischhacker.«

»Das ist gescheit. Ihr habt ja vierzig Grad. Pass auf, die AUA hat einen Flug übermorgen in der Früh nach Bukarest. Dann schicken wir euch die Schwester, passt? Wenn sie will. Das Geld treib ich schon auf. Zurück kommt sie dann mit einem Transport oder wie auch immer. Ich verlass mich auf dich, ja? Also, auf geht’s.«

Pich kletterte vom Dach. In der Schule schlug er in seinem Taschenwörterbuch nach, was Sarg und Grab auf Rumänisch hießen. Wir möchten einen Sarg und ein Grab für Ivan, bitte. Das schaffte er. Wir können bezahlen, wenn es nicht zu teuer ist. Das schaffte er sowieso. Ich kann mit dem Sarg und dem Grab helfen. Das würde schon gehen. Er brauchte nur eine Viertelstunde, um Aurel zu finden, sagte: Wir möchten einen Sarg und ein Grab für Ivan, bitte. Wir können bezahlen, wenn es nicht zu teuer ist. Ich kann mit dem Sarg und dem Grab helfen. Aurel lachte, sagte: Wird schon, oder etwas in der Art, schlug Pich auf die Schulter, sagte, sie sollten zur Leiterin gehen. Pich war unglücklich, er fühlte sich wie ein Idiot, als hätte er um etwas gebeten, das ohnehin selbstverständlich war. Er warnte den Berger vor, dass sie unterwegs waren – als sie bei der Leiterin eintrafen, telefonierte die mit ihm. Dann konferierte sie via Dana mit Aurel, während Pich danebenstand.

»Ich muss morgen weg«, sagte die Leiterin dann zu Pich, »morgen Sarg, übermorgen Begräbnis. Können Sie bleiben?«

Pich sagte Ja, er würde morgen helfen, die Baustelle abzuschließen und den Sarg zu machen, übermorgen Grab ausheben, das habe er schon gemacht, er wisse, wie das ging, kein Problem. Vielen Dank.

Sie lächelte, sagte: »Ich habe zwei Söhne, wissen Sie das?«

Pich hatte keine Ahnung, woher er das wissen sollte, nickte aber trotzdem.

»Einer ist so alt wie der Ivan, einer ist so alt wie Sie. Nur dass Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass das schon wird. Also, wir machen das schon.«

Pich trat einen Schritt zurück, er war überfordert. Sie schien aber an einer Stelle zu stehen, von der man gar nicht abrücken konnte. Aurel sagte etwas, Dana übersetzte – wir helfen zusammen, keine Frage. Pich hörte auf sich zu wehren und beschloss, der Leiterin für heute zu glauben, was auch immer das bedeuten sollte. Dana telefonierte mit der Polizei.

Das Abendessen war etwas festlich gehalten, es war immerhin Bauschluss, mehr oder weniger, es waren wieder Griller in Betrieb und Aurel hatte Tuica unter das Volk gebracht (»Woraus ist der Schnaps?« – »Aus allem, was wächst.«). Die Leiterin hielt eine Rede und dankte rundum. Das Leben, sagte sie, stellt dir ein Bein, die Donau reißt dein Dorf ab, ein Ofen fällt auf dich und du stirbst. Dann stehst du auf und räumst alles wieder auf. Ist so. In Österreich werde nun Geld aufgetrieben, um Ivans Schwester herzufliegen. Ivans Kollege – sie deutete auf Pich – werde Ivan begraben. Sie ließ einen Karton durchgehen – wer zu den Kosten beitragen wollte, hatte nun Gelegenheit dazu. Pich warf einen 500.000-Lei-Schein in den Karton, den er sofort schmerzlich vermisste, sobald er ihn aus der Hand gegeben hatte. Die Leiterin zählte vor versammelter Runde, ohne die Summe zu nennen, kündigte an, den Restbetrag mit Benzingutscheinen abzudecken, man klatschte. Der Abteilungsleiter des österreichischen Konzerns und seine Mannschaft tranken den Schnaps aus, dann bestiegen sie unter viel Gewinke einen Bus und fuhren zurück nach Bukarest, sie hatten genug Gutes getan. Der Ingenieur und sein Sohn setzten sich zu Pich auf die Bierbank.

»Wir bleiben da und helfen dir«, sagte der Ingenieur und öffnete Bierflaschen für sie drei, »ich hab noch Urlaub, der Bub hasst Bukarest – zu Recht –, und bevor er zurück zu seiner Mama und ihrem Typen fliegt, kann er genauso gut noch ein Grab schaufeln. Stärkt den Charakter. Hat mir auch nicht geschadet.« Pich nahm das Bier an und dankte für die Unterstützung – es war ein Scheißdreck, ein Grab allein auszuheben, also hätte er auch die Hilfe eines einbeinigen blinden Papageien dankbar akzeptiert, aber Vater und Sohn hatten offensichtlich so viel Schnaps getrunken, dass der Ingenieur selbst der Aushebung eines Massengrabs entgegengefiebert hätte, und der Sohn hätte zumindest den Raum für die Gelassenheit gefunden, das Ausheben eines Massengrabs als fehlgeleitete väterliche Urlaubsplanung zu akzeptieren.

Also gruben sie und beeilten sich fertig zu werden, bis die Schwester eintraf. Ein flexibler Priester hatte sich bereit erklärt, für Mittag zur Verfügung zu stehen. Sie hatten nicht begriffen, ob sie einen Priester haben mussten, um das Begräbnis durchführen zu dürfen, oder ob man dachte, dass sie einen Priester haben wollten. Ivan war vieles gewesen, ein rumänisch-orthodoxes Bekenntnis konnte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Pich dachte mit Wehmut an seine 500.000 Lei, die ursprünglich sicher nicht für das Mittagessen eines Priesters gedacht gewesen waren.

»Andererseits, was weiß man«, sagte der Ingenieur, »er war sieben Jahre lang da, da kann man sich schon etwas einfangen.«

»Ivan?« Pich war skeptisch.

»Ja, ist ja egal. Sei froh, dass jemand ein Programm macht.« Der Ingenieur nickte weise: »Rituale braucht es. Wir können ihn ja nicht hineinrollen, kurz klatschen, und dann wieder zuschaufeln. Irgendwas muss gemacht werden, stell dir vor, es gäbe keinen Priester. Magst noch ein Gedicht schreiben und eine Rede halten? Und göttlicher Beistand, mein Gott, schaden wird es nicht, und wer weiß, vielleicht kann es der Ivan ja brauchen.«

Was Ivan sicherlich nicht mehr brauchte, waren seine Schuhe. Dieser Gedanke verfestigte sich in Pichs Kopf, während der Boden unter seinen Füßen immer flüssiger wurde. Er selber hatte nur ein Paar mit, was er schon im normalen Baustellenalltag bitter bereut hatte. Nun musste er sich darauf einstellen, seine Schuhe mit grabtiefem Friedhofsschlamm so nachhaltig einzusauen, dass sie danach nicht mehr zu gebrauchen wären, und der Mensch brauchte Schuhe – der lebendige Mensch, wohlgemerkt. Ivan hatte wie Pich Schuhgröße 42 und immer mit der Durchschnittlichkeit seiner Körpermaße geprahlt: »Alles ist für mich gemacht. Die Welt ist meine Einheitsgröße! Schuhgröße 42, Anzuggröße 48 oder 50, Jeans 32/32.« Ivan kleidete sich nur secondhand ein und konnte aufgrund seiner Durchschnittlichkeit auf eine große Auswahl zurückgreifen. Und obwohl das alles stimmte, musste man nicht zu sehr auf dem Umstand herumreiten, dass Ivan keinen Anzug besaß – zumindest hatte Pich ihn nie in einem gesehen. Er war auch nie mit allzu großem Geschmack an seine zahlreichen Wahlmöglichkeiten herangegangen, und von der Körperform für 32/32-Jeans war er mittlerweile gute fünf Kilo entfernt. Sein morgendlicher Weg in die Jeans konnte nur mit dem Stopfen eines Paars Würste verglichen werden, was den Betrachter je nach Charakterlage entweder für das Frühstück inspirierte oder zum Vegetarismus bekehrte.

Pich stärkte sich mit diesen Gemeinheiten für die Rücksichtslosigkeit, einem Toten die Schuhe abzunehmen. Es war weniger die materielle Bereicherung, die ihn beschäftigte – die war Notwehr. Er hatte aber Scheu, die Totenruhe zu stören. Doch als es offensichtlich wurde, dass das Graben zu einer durch und durch nassen Angelegenheit werden würde, brachte er es hinter sich. Er hatte sich davor gefürchtet, Ivan zu sehen, doch dieser war gut versteckt unter Müllsäcken voller Eis. Er überlegte kurz, welche Schuhe besser waren, Ivans Nike oder seine Adidas, dann beschloss er aber, dass er fremde Schuhe nur kurz tragen wollte, und stieg in Ivans Schuhen zurück in das Grab. Er war sicher, dass den anderen der Wechsel auffallen musste, aber niemand sagte etwas, und das war auch nur richtig so, denn der Ingenieur und sein Sohn hatten jeweils mehrere Paare Schuhe mit, die Bonzen. Der rumänische Dorfbewohner war ohnehin in sehr hohen Gummistiefeln zur Arbeit erschienen.

Ebenso war er sich sicher, dass Ivanka sofort seine Schuhe ansprechen würde, sie verschwendete aber keinen Blick darauf. Der Ingenieur hatte sich zum Moderator des Treffens aufgeschwungen, während der Dorfbewohner zum Priester lief, hatte sich vorgestellt, seinen Sohn vorgestellt, die Umstände beklagt, sich nach dem Flug erkundigt, Ivan gelobt, den er nur kurz kennengelernt hatte. Ivanka sah an ihm vorbei und nur Pich an, der zunächst versuchte auszuweichen und schließlich ihren Blick aufnahm, weil es kein Ausweichen gab, dann schnitt sie mit einem Schritt durch das Gerede des Ingenieurs, den sie heute zum ersten und zum letzten Mal in ihrem Leben sehen sollte, und sagte zu Pich, obwohl sie sich nur eine Minute zuvor vorgestellt hatten: »Du bist der Pich, ja?«

»Ja.«

»Hallo.«

»Hallo.« Er sagte nicht, dass sie die Ivanka war.

»Danke, dass du das hier machst. Ich frag dich jetzt gleich, damit ich nicht die ganze Zeit darüber nachdenken muss und nicht weiß, was in einer Stunde sein soll. Der Ivan hat in Hermannstadt eine Wohnung gehabt, sagt der Berger, und die Dana hat mir einen Schlüssel gegeben, den der Ivan bei sich gehabt hat. Das muss der von seiner Wohnung sein. Ich will mir die Wohnung ansehen. Weißt du, wo er gewohnt hat?«

»Ja.«

»Nimmst du mich nachher mit nach Hermannstadt? Du musst dort ohnehin hin, oder?«

»Ja klar. Ich nehm dich mit. Kein Problem.«

»Danke auch dafür. Dann mache ich mir jetzt nur noch Sorgen über Dinge, die ich nicht planen kann.« Sie lächelte, er nickte eine Bestätigung, sie trat einen Schritt zurück, sie hatte ihre dringlichen Geschäfte erledigt, er fand es gut so. Der Ingenieur nahm seine Moderatorenrolle nicht mehr auf. Man schwieg. Also war es Pich, der nach einer Weile fragte: »Sollen wir den Sarg fertig machen?«

Die Runde nickte ein kaum merkliches Schulterzucken, das »Ja, mach« bedeutete. Pich wandte sich zum Gehen, der Ingenieur gab sich einen Ruck, wies seinen Sohn an zu bleiben (der sich ohnehin nicht gerührt hatte) und folgte Pich.

»Sehr businesslike, die Dame, oder?«, sagte der Ingenieur.

»Es ist kein gutes Business«, sagte Pich.

»Schon wahr.«

Sie betraten das Friedhofshäuschen, der Sarg war auf zwei Sägeblöcken aufgestellt. Pich wechselte die Schuhe und holte eine Scheibtruhe. »Lass uns businesslike sein«, sagte er. Der Ingenieur und er sahen einander an, dann öffneten sie den Sarg und holten hastig die Müllsäcke mit Eis aus dem Sarg und warfen sie in die Scheibtruhe. Als sie fertig waren, blieben sie doch stehen und schauten, statt den Sarg hastig zuzumachen, wie sie es eigentlich zuvor stillschweigend vereinbart hatten.

»Ach geh«, sagte der Ingenieur, »ach geh.«

»Es tut mir leid, Ivan«, sagte Pich.

Dann schlossen sie den Sarg und verriegelten ihn, damit es beim Transport zu keinem Malheur kommen konnte.

»Da liegen die Gurte«, sagte Pich.

»Dann ist ja alles da.«

Sie gingen wieder zu den anderen, die schweigend vor dem Grab standen. Pich räumte um das Grab herum ein wenig auf, verstaute den Kübel mit den leeren Bierflaschen hinter dem Erdhügel, verräumte die Werkzeuge bis auf zwei Schaufeln. Er machte extra langsam, aber es war allzu bald nichts mehr zu tun. Die Sonne stieg in den Mittag. In der Ebene fühlte sich das immer so an, als hätte sich die Sonne auf dich gesetzt, und auf dir würde sie bleiben, bis du erstickt warst. Endlich kam eine kleine Gruppe auf sie zu, vorne der Priester, schwarz und groß, daneben Aurel, ein paar andere Leute aus dem Lager, Pichs Bub und seine Mama waren auch dabei.

»Das ist schön, dass jemand kommt«, sagte der Ingenieur, den Arm um die Schultern seines Sohnes gelegt. Er weinte. Pich dachte daran, dass der Ingenieur in Guatemala, Nigeria, Sudan und Indonesien Situationen erlebt haben mochte, in denen er befürchten musste, für immer dort zu bleiben. Wer wäre dann an seinem Grab gestanden? Aber nein – der Ingenieur war sozialversichert, und seine Auslandsversicherungen hatte er sicherlich auch weiterbezahlt. Sie hätten ihn erster Klasse on the rocks nach Österreich geflogen. Pich spürte seine Gemeinheit auf der trockenen Zunge. Er hätte auch gerne geweint. Ivanka und Dana standen ohne Regung am Grab. Aurel stellte den Priester vor, der allen die Hand gab. Dann warteten sie. Aurel stellte irgendwann eine Frage an Dana, die sagte zu Pich: »Ihr solltet den Sarg holen.«

Sie stemmten den Sarg zu viert; der Ingenieur fluchte. Pich sah den hundert Metern Weg mit sinkendem Mut entgegen. Die Erleichterung war groß, als Aurel mit einem weiteren Mann nachkam. Zu sechst würde es gehen. Sie stellten den Sarg auf zwei Querhölzer, die Pich zuvor über das Grab gelegt hatte.

Der Priester räusperte sich und sprach dann viele Wörter. In manche Pausen fielen die rumänischen Anwesenden mit Sätzen ein, die zum Ritual gehören mussten. Die vier Leute aus Österreich blieben unwissend stumm. Irgendwann wurde aus dem Hinterhalt ein Lied angestimmt. Einen Hitzetod später sagte Dana: »Ihr könnt den Sarg jetzt hinunterlassen.«

Sie legten die Gurte unter (»Nein, nicht so«, unterbrach Pich, »einmal rundherum den Gurt! Sonst ist er nicht fixiert.«) und zogen zu viert an, ein weiterer Mann bückte sich hilfreich und holte die Querhölzer unter dem Sarg hervor. Sie sahen zum Priester, und als dieser nickte, ließen sie Ivan so langsam in sein Grab hinunter, dass es nicht einmal klatschte, als der Sarg im Wasser aufkam.

Noch mehr Wörter. Dann entspannte sich die rumänische Gruppe; der offizielle Teil war vorbei. Aurel sprach zur Runde, Dana übersetzte: Ein kleiner Totenschmaus sei bei der Schule vorbereitet worden, alle seien eingeladen, gemeinsam Abschied zu nehmen. Diese Überraschung sorgte dafür, dass sich der Friedhof schnell leerte. Pich schickte Dana vor zur Schule: »Und nimm unseren Freund gleich mit. Wir haben nur zwei Schaufeln.« Er bedankte sich bei dem Mann, der ihnen graben geholfen hatte, und beglückwünschte ihn zu seinen Gummistiefeln. Der Mann nickte und verschwand mit Dana. Pich begann mit dem Sohn des Ingenieurs das Grab zuzuschaufeln. Es waren die letzten fünf Prozent des Weges, auf die man nie Lust hatte. Pich wurde ungeduldig und war immerhin zufrieden, dass Zuschaufeln eine hirnlose Sache war: Man durfte ohne Konsequenzen pfuschen. Das war eine große Sache für einen Menschen, der in seiner Ausbildung erbarmungslos auf Genauigkeit gedrillt worden war. Es beruhigte die Nerven, nur Zerstörung war noch besser. Als er sich für einen Moment aufrichtete, um Luft zu schöpfen, nahm ihm Ivanka die Schaufel ab und arbeitete statt ihm. Er sah ihr zu und beschloss, dass sie schon einmal eine Schaufel in der Hand gehabt haben musste. Als der Ingenieurssohn nicht mehr weiterkonnte, übernahm wieder Pich. Der Ingenieur murmelte einen Dank, Pich sagte herzlos: »Ich habe deinen Rücken auf jedem Meter knacken gehört.«

Sie setzten ein schmuckloses kleines Holzkreuz an das Kopfende.

»Grabstein kommt erst in einem Jahr«, sagte Pich zu Ivanka, »wenn sich der Boden gesetzt hat. Der Berger hat gesagt, er lässt sich was einfallen, wenn es dir recht ist.«

Sie nickte.

Der Sohn des Ingenieurs blieb vor dem Friedhofstor stehen: »Die Tür hat nur außen eine Klinke!«

»Das ist die Zombiesicherung«, sagte Pich, »greif halt durch das Gitter durch.«

»Wir werden dich gar am Leben lassen«, sagte der Ingenieur, nachdem sein Sohn erfolgreich das Tor geöffnet hatte.

Der Totenschmaus war bescheiden, Brot und Zacusca, Zwiebeln, Bier in großen PET-Flaschen und Schnaps. In Anbetracht der Umstände hätte Pich aber nicht gerührter sein können. Er erinnerte sich an einen Staatsbesuch einer österreichischen Ministerin, der Empfang hatte in der Akademie vor Politikern und Geschäftsleuten stattgefunden, bei freiem Buffet, die Tische bogen sich; in der Betonhalle nebenan wurde das »Volk« mit Krautwickeln gespeist, die Ministerin schaute kurz vorbei und kostete sogar. Pich war ganz klar gewesen, welches Event er bevorzugte, und er hatte sich trotzig nicht beim Buffet bedient. Sein Kollege Dr. Richard war ganz konsterniert gewesen – »Was haben die Leute davon, wenn du dich kasteist? Glaubst, das tut der Ministerin was, wenn du nicht mit ihr isst?« Dr. Richard hatte ihn an diesem Abend angefressen heimgefahren, aber ihm beim Aussteigen einen Sack Roastbeefbrötchen aufgenötigt.

»Ich habe recht gehabt und nicht er«, dachte Pich, während er sich Zwiebeln in den Mund stopfte, »Brötchen vom Buffet verteilen … Und wo ist er jetzt? Dienst aus, zurück in Österreich, kann herumdoktern, muss nie wieder Krautwickel sehen, aber ich muss den Ivan unter die Erde bringen.« Er hatte die Brötchen aber gegessen.

»Das ist kein Totenschmaus, die feiern, dass die Großkopferten weg sind«, sagte der Ingenieur, als habe er Pichs Gedanken gelesen. Es war hier nicht alles reibungslos gelaufen, Pich wusste es nur zu gut. Das Projekt hatte die Hütten gebaut, und nur nach seinem Plan, effizienzhalber, hatte keine Abweichungen zugelassen, sie hatten es den Leuten hier schwer gemacht, sich zu beteiligen, und sich dann vielfach beschwert, dass sich die Leute nicht genug beteiligten.

»Es ist nie ganz einfach, wenn die Leute zum Spaß helfen«, sagte der Ingenieur, den der Friedhof unangenehm einfühlsam gemacht hatte.

»Haben die Leute nur zum Spaß geholfen?«

»Die Projektleitung nicht. Die war karrierehalber da. Ich aber schon! Und es war ein Spaß.« Der Ingenieur lachte. »Du, Pich, es war mir eine Freude. Der Schnaps ist verlockend, aber wir müssen weiterziehen. Das Ziel haben wir auf alle Fälle erreicht, wir haben was zu erzählen. War es deine schrecklichste Überschwemmungshilfe?«

Pich überlegte: »Im Frühjahr habe ich an der moldawischen Grenze einen Schafstall mit zwanzig ersoffenen Schafen ausgeräumt.«

»Pfuiii«, sagte der Ingenieur langgedehnt, »na gut, na gut.«

»Wir hatten aber einen großen Trost.«

»Nämlich?«

»Es war nicht Sommer.«

Der Ingenieur lachte, dann umarmte er Pich. »Mach’s gut, Pich. Es hat mich gefreut, du bist echt ok. Meine Karte hast du. Meld dich, wennst einen Job brauchst.« Der Sohn gab Pich die Hand: »Wir müssen zischen.«

Und weg waren sie.