Das große Experiment - Jeffrey Eugenides - E-Book

Das große Experiment E-Book

Jeffrey Eugenides

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Beschreibung

Spätestens seit seinem Weltbestseller "Middlesex" wissen wir, dass Jeffrey Eugenides über Liebe, Ehe und Familie auf geradezu süchtig machende Weise schreiben kann. Die Sammlung von Erzählungen, in Amerika seine erste überhaupt, zeigt ihn nun wieder auf der Höhe seiner Kunst. "Das große Experiment " handelt von Menschen, die in Schwierigkeiten stecken – meist sind es Ehepaare, Paare. Da ist ein Familienvater, der im Garten an der Feuerstelle sitzt und auf sein Haus schaut, das er nach einem Seitensprung nicht mehr betreten darf. Da ist ein junges Mädchen, das von den indischen Eltern an einen Unbekannten verheiratet werden soll; um dem zu entgehen, verführt sie einen Mann, der nicht weiß, dass sie noch minderjährig ist, und wirft ihn dadurch aus der Bahn. Da ist ein Lektor, der viel arbeitet und trotzdem so wenig verdient, dass seine beiden Kinder oft woanders übernachten müssen, weil zu Hause das Geld fürs Heizen fehlt; also beschließt er, sich das dringend Benötigte selbst zu beschaffen, und veruntreut das Vermögen seines Chefs. Da ist die 88-jährige Della, die mit einer Demenz-Diagnose in ein Pflegeheim kommt; ihre langjährige Freundin entführt sie trotz Schneesturm-Warnung in ein abgelegenes Haus. Und schließlich ist da noch die junge Frau, die sich per Bratenspritze ihren Kinderwunsch erfüllen will. Verkappte Romane oder doch eher nicht? Jeffrey Eugenides, der "Epiker" unter den amerikanischen Romanautoren, ist auch ein Meister der kleineren Form – das zeigen diese virtuos komponierten und mit großer Menschenkenntnis erzählten Geschichten.

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Jeffrey Eugenides

Das große Experiment

Erzählungen

Aus dem Englischen von Gregor Hens und anderen

Über dieses Buch

Spätestens seit seinem Weltbestseller «Middlesex» wissen wir, dass Jeffrey Eugenides über Liebe, Ehe und Familie auf geradezu süchtig machende Weise schreiben kann. Die Sammlung von Erzählungen, in Amerika seine erste überhaupt, zeigt ihn nun wieder auf der Höhe seiner Kunst.

 

«Das große Experiment» handelt von Menschen, die in Schwierigkeiten stecken – meist sind es Ehepaare, Paare. Da ist ein Familienvater, der im Garten an der Feuerstelle sitzt und auf sein Haus schaut, das er nach einem Seitensprung nicht mehr betreten darf. Da ist ein junges Mädchen, das von den indischen Eltern an einen Unbekannten verheiratet werden soll; um dem zu entgehen, verführt sie einen Mann, der nicht weiß, dass sie noch minderjährig ist, und wirft ihn dadurch aus der Bahn. Da ist ein Lektor, der viel arbeitet und trotzdem so wenig verdient, dass seine beiden Kinder oft woanders übernachten müssen, weil zu Hause das Geld fürs Heizen fehlt; also beschließt er, sich das dringend Benötigte selbst zu beschaffen, und veruntreut das Vermögen seines Chefs. Da ist die 88-jährige Della, die mit einer Demenz-Diagnose in ein Pflegeheim kommt; ihre langjährige Freundin entführt sie trotz Schneesturm-Warnung in ein abgelegenes Haus. Und schließlich ist da noch die junge Frau, die sich per Bratenspritze ihren Kinderwunsch erfüllen will.

 

Verkappte Romane oder doch eher nicht? Jeffrey Eugenides, der «Epiker» unter den amerikanischen Romanautoren, ist auch ein Meister der kleineren Form – das zeigen diese virtuos komponierten und mit großer Menschenkenntnis erzählten Geschichten.

Vita

Jeffrey Eugenides, geboren 1960 in Detroit/Michigan, bekam 2003 für seinen weltweit gefeierten Roman «Middlesex» den Pulitzer-Preis und den «Welt»-Literaturpreis verliehen. Sein erster Roman «Die Selbstmord-Schwestern» wurde 1999 von Sofia Coppola verfilmt, später gab er die Anthologie «Der Spatz meiner Herrin ist tot. Große Liebesgeschichten der Weltliteratur» heraus. 2011 erschien sein Roman «Die Liebeshandlung», für den er den Prix Fitzgerald und den Madame Figaro Literary Prize erhielt. Er lehrt Creative Writing am Lewis Center for the Arts an der Princeton University in New Jersey.

Zum Andenken an meine Mutter Wanda Eugenides (1926–2017) und meinen Neffen Brenner Eugenides (1985–2012)

Klagende

Als Cathy im Mietwagen zur Anlage hinauffährt und das Schild sieht, muss sie lachen. «Wyndham Falls. Seniorenresidenz mit Stil.»

Nicht gerade, wie Della es beschrieben hat.

Jetzt kommt das Gebäude in den Blick. Der Haupteingang sieht einigermaßen freundlich aus. Groß und gläsern, mit weißen Bänken davor, medizinisch und gepflegt. Aber die Gartenbungalows weiter hinten auf dem Gelände sind klein und schäbig. Stallartig, mit winzigen Veranden. Man ahnt, dass die Menschen, hinter den zugezogenen Vorhängen und verwitterten Türen, einsam sind.

Als sie aus dem Wagen steigt, fühlt sich die Luft um einiges wärmer an als noch am Morgen vor dem Detroiter Flughafen. Der Januarhimmel ist blau und beinahe wolkenlos. Keine Spur von dem Schneesturm, vor dem Clark sie gewarnt hat, weil er sie überreden wollte, zu Hause zu bleiben und sich um ihn zu kümmern. «Warum fliegst du nicht nächste Woche?», sagte er. «Sie läuft doch nicht weg.»

Cathy ist schon auf halbem Weg zum Eingang, als ihr einfällt, dass sie ja ein Geschenk für Della hat, und sie kehrt zum Wagen zurück, um es zu holen. Sie nimmt es aus dem Koffer und freut sich noch einmal, dass sie das mit dem Einpacken so gut hinbekommen hat. Das Geschenkpapier ist von der dicken, faserigen, ungebleichten Art, wie Birkenrinde. (Sie hat in drei Schreibwarenläden gesucht, bis sie etwas fand, das ihr gefiel.) Statt eine kitschige Schleife draufzukleben, hat sie kleine Zweige von ihrem Weihnachtsbaum – der ohnehin bald auf dem Bürgersteig landen wird – abgeschnitten und zu einer Girlande zusammengefügt. Das Geschenk sieht dementsprechend handgemacht und nach Bioware aus, nach einer Opfergabe bei einem Indianerritual, einem Geschenk nicht für einen Menschen, sondern für die Erde selbst.

Was darin ist, ist allerdings wenig originell. Es ist das, was Cathy Della immer schenkt: ein Buch.

Nur ist es diesmal doch etwas mehr. Eine Art Medizin.

 

Seit Della nach Connecticut gezogen ist, beklagt sie sich, dass sie nicht mehr lesen kann. «Ich komme irgendwie nicht rein in die Geschichten», so beschreibt sie es am Telefon. Warum das so ist, sagt sie nicht. Den Grund kennen sie beide.

An einem Nachmittag vergangenen August, bei Cathys alljährlichem Besuch in Contoocook, wo Della zu dieser Zeit noch lebte, erwähnte sie, dass ihre Ärztin sie zu verschiedenen Untersuchungen geschickt habe. Es war kurz nach fünf, die Sonne sank gerade hinter die Kiefern. Um den Farbdünsten zu entkommen, tranken sie ihre Margaritas auf der Veranda.

«Was für Untersuchungen?»

«Alle möglichen idiotischen Tests», sagte Della und verzog das Gesicht. «Diese Therapeutin zum Beispiel, zu der sie mich geschickt hat – also, die bezeichnet sich als Therapeutin, aber sie sieht nicht älter aus als fünfundzwanzig –, bei der muss ich immer Uhrzeiger auf ein Zifferblatt malen. Als wär ich wieder im Kindergarten. Oder sie zeigt mir irgendwelche Bildchen, die ich mir merken soll. Aber dann fängt sie an, über andere Sachen zu reden. Klar, sie versucht, mich abzulenken. Und später fragt sie mich dann, was auf den Bildern war.»

Cathy betrachtete Dellas Gesicht im von den Mückengittern gedämpften Licht. Mit achtundachtzig ist Della noch immer eine lebhafte, hübsche Frau, ihr weißes Haar ist zu einer schlichten Frisur geschnitten, die Cathy an eine gepuderte Perücke denken lässt. Manchmal führt sie Selbstgespräche, oder sie starrt vor sich hin, aber nicht mehr als andere Menschen, die so viel Zeit allein verbringen.

«Und, wie hast du’s hingekriegt?»

«Nicht gerade bombig.»

Als sie am Tag zuvor aus dem nahen Concord zurückgefahren waren, wo sich der Baumarkt befand, hatte Della wegen des Farbtons, den sie gewählt hatten, hin und her überlegt. War die Farbe hell genug? Vielleicht sollten sie sie doch besser umtauschen. Sie wirke gar nicht so freundlich wie auf dem Musterkärtchen im Geschäft. Oh, was für eine Geldverschwendung! Schließlich sagte Cathy: «Della, du wirst schon wieder so unruhig.»

Mehr brauchte es gar nicht. Dellas Miene entspannte sich, als würde sie mit Feenschimmer berieselt. «Ich weiß», sagte sie. «Du musst es mir immer sagen, wenn das passiert.»

Auf der Veranda nippte Cathy an ihrem Cocktail und sagte: «Ich würde mir deswegen keine Gedanken machen, Della. Jeder wird doch nervös bei solchen Tests.»

Ein paar Tage später kehrte Cathy nach Detroit zurück. Von den Tests hörte sie nichts mehr. Aber im September rief Della an und erzählte, Dr. Sutton habe sich bei ihr zu Hause angekündigt und ihren ältesten Sohn Bennett gebeten dazuzukommen. «Wenn sie will, dass Bennett extra rauffährt», sagte Della, «dann hat sie wohl schlechte Nachrichten.»

Am Tag des Termins – einem Montag – wartete Cathy auf Dellas Anruf. Als er schließlich kam, schien sich Dellas Stimme beinahe zu überschlagen. Cathy nahm an, dass ihr die Ärztin bescheinigt hatte, bei bester Gesundheit zu sein. Aber Della erwähnte das Ergebnis der Untersuchungen überhaupt nicht. Stattdessen sagte sie in einem beinahe wahnhaften Anfall von Glück: «Dr. Sutton konnte gar nicht fassen, wie hübsch das Haus geworden ist! Ich hab ihr erzählt, was für eine Bruchbude das war, als ich hier eingezogen bin, und wie wir beide uns jedes Mal etwas anderes vorgenommen haben, wenn du zu Besuch gekommen bist, und sie konnte es einfach nicht fassen. Sie fand das alles ganz entzückend!»

Vielleicht wollte Della der Diagnose nicht ins Auge sehen, oder sie hatte sie schon wieder vergessen. So oder so machte Cathy sich ernsthaft Sorgen um sie.

Es war dann an Bennett, zum Hörer zu greifen und ihr den genauen Befund mitzuteilen. Er tat es in trockenem, sachlichem Ton. Bennett arbeitet für eine Versicherungsgesellschaft, in Hartford, wo er tagtäglich die Wahrscheinlichkeiten von Erkrankungen und Todesfällen berechnet; das mag der Grund dafür gewesen sein. «Die Ärztin sagt, dass meine Mom nicht mehr Auto fahren darf. Sie darf auch nicht mehr den Herd benutzen. Sie wird ihr ein Medikament verschreiben, das sie stabilisieren soll. Eine Zeitlang. Aber letztendlich läuft es darauf hinaus, dass sie nicht mehr allein leben kann.»

«Ich war gerade erst vor einem Monat bei ihr, da schien es deiner Mom doch gutzugehen», sagte Cathy. «Sie wird nur schnell unruhig.»

Bennett zögerte, dann sagte er: «Ja, na ja. Diese Unruhe, oder Angst, ist ein Teil davon, das gehört dazu.»

 

Was konnte Cathy in ihrer Lage denn tun? Sie lebte nicht nur weit weg, im Mittleren Westen, sie war in Dellas Leben auch eine Art Querschläger oder Eindringling. Cathy und Della hatten sich vor dreißig Jahren kennengelernt. Sie arbeiteten damals beide in der Fachschule für Krankenpflege. Cathy war Anfang dreißig, gerade erst geschieden. Sie war wieder zu ihren Eltern gezogen, damit ihre Mutter auf Mike und John aufpassen konnte, wenn sie im Büro war. Della war Mitte fünfzig, eine Mutter, die am Stadtrand in einer Villa in Seenähe wohnte. Sie ging wieder arbeiten, nicht weil sie dringend Geld brauchte – wie Cathy –, sondern weil sie sich langweilte. Ihre beiden älteren Söhne waren schon ausgezogen, nur Robbie, der jüngste, lebte noch zu Hause.

Normalerweise wären sie sich in der Fachschule überhaupt nicht über den Weg gelaufen. Cathy saß unten in der Buchhaltung, während Della das Büro des Dekans leitete. Aber eines Tages in der Kantine hörte Cathy, wie begeistert Della von den Weight Watchers erzählte, wie einfach es sei, sich an das Diät-Programm zu halten, man brauche überhaupt nicht zu hungern.

Cathy hatte gerade wieder angefangen, mit Männern auszugehen. Anders gesagt, sie hatte einen One-Night-Stand nach dem anderen. Nach ihrer Scheidung hatte sie der verzweifelte Wunsch gepackt, das Versäumte nachzuholen. Sie war leichtsinnig wie eine Teenagerin, schlief mit Männern, die sie kaum kannte – auf den Rücksitzen von Autos, in mit Teppich ausgelegten Lieferwagen, die vor Stadthäusern standen, in denen fromme Christen friedlich schlummerten. Neben der Lust, die ihr diese Männer gelegentlich bereiteten, war Cathy auf eine Art Selbstkorrektur aus, als könnte ihr das Stoßen und Drängen der Männer ein wenig Vernunft einbläuen, genug, um sie davor zu bewahren, noch einmal jemanden wie ihren Exmann zu heiraten.

Als sie einmal nach Mitternacht von einer dieser Begegnungen nach Hause kam, duschte sie, stellte sich vor den Badezimmerspiegel und begutachtete sich mit demselben objektiven Blick, den sie später auch auf die Renovierungsarbeiten von Häusern richten sollte. Was ließ sich noch reparieren? Was musste kaschiert werden? Was musste man einfach hinnehmen?

Sie begann, an den Treffen der Weight Watchers teilzunehmen. Della fuhr sie hin. Klein und vorwitzig, mit gesträhntem Haar, einer glänzenden Rayonbluse und einer großen Brille mit rosafarbener, durchscheinender Fassung, saß sie auf einem Kissen, um über das Lenkrad ihres Cadillacs sehen zu können. Sie trug kitschige Hummel- oder Dackelbroschen und roch, als hätte sie in Parfüm gebadet. Es war irgendeine blumig-verschämte Kaufhausmarke, dazu gedacht, den natürlichen Geruch einer Frau zu überdecken, statt ihn hervorzuheben, wie es die Körperöle taten, mit denen Cathy ihre Pulsstellen betupfte. Della, so stellte sie sich vor, versprühte ihr Parfüm mit einem Zerstäuber und stapfte in der Duftwolke herum.

Als sie beide ein paar Pfunde losgeworden waren, gewöhnten sie sich an, einmal in der Woche auszugehen. Sie tranken Cocktails und aßen ausgiebig, und Della, mit dem Kalorienzähler in der Handtasche, sorgte dafür, dass sie nicht über die Stränge schlugen. So kam es, dass sie die Margaritas für sich entdeckten. «Ach, weißt du, was ganz wenig Kalorien hat?», sagte Della. «Tequila. Bloß fünfundachtzig pro Glas.» Den Zucker im Cocktail versuchten sie zu ignorieren.

Della war nur fünf Jahre jünger als Cathys Mutter. Was Sex und Ehe anging, waren sie auf einer Linie, aber es war leichter, diese altmodischen Edikte aus dem Mund einer Frau zu hören, die keine Besitzansprüche auf Cathys Körper geltend machte. Außerdem zeigte sich, dass ihre Mutter mitnichten die moralische Instanz war, für die Cathy sie immer gehalten hatte, sondern einfach nur eine Frau mit eigenen Ansichten.

Wie sich herausstellte, hatten Cathy und Della eine Menge gemeinsam. Beide arbeiteten gern mit den Händen: Découpage, Korbflechten, Möbelrestaurieren – solche Sachen. Und sie lasen beide viel. Sie liehen einander Bücher aus der Bibliothek und begannen schließlich, jeweils die gleichen Romane auszuleihen, damit sie sie zeitgleich lesen und sich darüber austauschen konnten. Sie hielten sich nicht für Intellektuelle, aber sie konnten gute Literatur von schlechter unterscheiden. Am wichtigsten fanden sie, dass die Geschichten gut waren. An die Handlung erinnerten sie sich eher als an Buchtitel und Autor.

Dellas Haus in Grosse Point mied Cathy. Sie wollte sich den Zottelteppichen und Pastellvorhängen nicht aussetzen, und sie wollte nicht auf Dellas erzkonservativen Ehemann stoßen. Sie lud Della auch nie ins Haus ihrer Eltern ein. Es war besser, wenn sie sich auf neutralem Boden trafen, wo sie niemand daran erinnerte, wie wenig sie eigentlich zusammenpassten.

Eines Abends, zwei Jahre nachdem sie sich kennengelernt hatten, nahm Cathy Della zu einer Party mit, die einige Freundinnen von ihr veranstalteten. Eine war bei einem Vortrag von Krishnamurti gewesen, und alle saßen auf Kissen auf dem Boden und lauschten ihrem Bericht. Ein Joint machte die Runde.

Oha, dachte Cathy, als Della an der Reihe war. Aber zu ihrer Überraschung nahm Della einen tiefen Zug und reichte den Joint weiter.

«Also, jetzt hast du’s aber auf die Spitze getrieben», sagte Della später. «Jetzt rauch ich schon Gras.»

«Tut mir leid», sagte Cathy und lachte. «Hast du denn was gespürt?»

«Nein, zum Glück nicht. Dick würde an die Decke gehen, wenn er wüsste, dass ich Marihuana rauche.»

Aber sie lächelte doch. Froh, ein Geheimnis zu haben.

Sie hatten noch andere Geheimnisse. Ein paar Jahre nach ihrer Hochzeit mit Clark hatte Cathy einmal die Schnauze voll gehabt und war abgehauen. Sie nahm sich ein Motelzimmer an der Eight Mile Road. «Wenn Clark anruft, sag ihm nicht, wo ich bin», bat sie Della. Und Della hielt sich daran. Eine Woche lang brachte sie Cathy jeden Abend etwas zu essen und hörte ihr zu, bis sie ihren Ärger losgeworden war und sich beruhigt hatte. Zumindest so weit, dass sie sich mit ihrem Mann wieder aussöhnte.

 

«Ein Geschenk? Für mich?»

Della, die sich noch immer wie ein kleines Mädchen freuen kann, starrt mit großen Augen auf das Päckchen, das Cathy ihr hinhält. Sie sitzt in einem blauen Sessel am Fenster, der einzigen Sitzgelegenheit in der kleinen, vollgestellten Einzimmerwohnung. Cathy hockt betreten auf der Kante des Schlafsofas. Das Zimmer ist düster, die Jalousien sind heruntergelassen.

«Eine Überraschung», sagt Cathy und ringt sich ein Lächeln ab.

Nach dem, was Bennett erzählt hatte, war sie in dem Glauben gewesen, Wyndham Falls wäre eine Anlage für betreutes Wohnen. Auf der Webseite steht etwas von ‹Notdiensten› und ‹Betreuungsengeln›. Der Broschüre, die Cathy auf dem Weg hierher in der Lobby mitgenommen hat, entnimmt sie allerdings, dass sich Wyndham als ‹Seniorenresidenz 55+› vermarktet. Außer den vielen älteren Bewohnern, die sich an Gehhilfen über die Flure schieben, gibt es jüngere Kriegsveteranen mit Bärten, Westen und Baseballmützen, die auf elektrischen Rollstühlen durch die Gegend flitzen. Pflegepersonal gibt es keins. Es ist billiger als betreutes Wohnen, die Leistungen sind minimal: Essen im Speisesaal, wöchentlich frische Bettwäsche. Das ist alles.

Was Della betrifft, so wirkt sie unverändert, seit Cathy sie im August zum letzten Mal gesehen hat. Sie hat für ihren Gast ein frisches Jeanskleid und ein gelbes Oberteil angezogen, sie hat Lippenstift aufgetragen und sich an den richtigen Stellen maßvoll geschminkt. Die einzige Veränderung ist, dass auch sie jetzt eine Gehhilfe benutzt. Eine Woche nach ihrem Einzug ist sie draußen vor dem Eingang ausgerutscht und mit dem Kopf auf dem Asphalt aufgeschlagen. Weg. Als sie wieder zu sich kam, blickten die blauen Augen eines großen, gut aussehenden Rettungssanitäters auf sie herab. Della sah ihn staunend an und fragte: «Bin ich gestorben und in den Himmel gekommen?»

Im Krankenhaus wurde ein MRT gemacht, um eine Hirnblutung auszuschließen. Dann kam ein junger Arzt herein und untersuchte sie auf andere Verletzungen. «Da liege ich also», erzählte sie Cathy am Telefon. «Ich bin achtundachtzig Jahre alt, und dieser junge Doktor untersucht mich von oben bis unten. Es sieht sich alles an, wirklich alles. Ich hab ihm gesagt: ‹Ich weiß nicht, was sie dafür bekommen, es ist auf jeden Fall nicht genug.›»

Humorige Bemerkungen dieser Art bestätigen etwas, das Cathy schon lange vermutet: dass nämlich Dellas geistige Verwirrung zu einem großen Teil emotionalen Ursprungs ist. Ärzte sind schnell dabei, Diagnosen zu stellen und Pillen zu verschreiben, ohne den Menschen, den sie vor sich haben, wirklich zu sehen.

Della selbst hat ihre Diagnose noch nie benannt. Sie spricht immer nur von «meinem Gebrechen» oder «dieser Sache, die ich habe». Einmal meinte sie: «Ich kann mir den Namen einfach nicht merken. Diese Sache, die man kriegt, wenn man alt ist. Das, was man auf keinen Fall kriegen will. Genau das hab ich.»

Ein anderes Mal sagte sie: «Es ist nicht Alzheimer, sondern eine Stufe drunter.»

Es wundert Cathy nicht, dass Della den Fachausdruck verdrängt hat. Demenz ist wahrlich kein schönes Wort. Es hört sich brutal an, invasiv, als wäre da ein Dämon, der das Gehirn Stück für Stück auslöffelt – und genau das passiert ja auch.

Sie betrachtet Dellas Gehhilfe in der Ecke, eine abstoßend hässliche, magentarote Konstruktion mit schwarzem Kunstledersitz. Unter dem Schlafsofa ragen Kartons hervor. Im Spülbecken der winzigen Kochnische stapelt sich schmutziges Geschirr. Eigentlich nicht dramatisch. Aber beunruhigend ist es doch, weil in Dellas Haus immer alles picobello war.

Cathy ist froh, dass sie das Geschenk mitgebracht hat.

«Willst du es nicht aufmachen?», fragt sie.

Della sieht das Päckchen in ihren Händen an, als wäre es gerade erst dort aufgetaucht. «Oh, doch, natürlich.» Sie wendet es, betrachtet seine Unterseite, lächelt unsicher. Es ist, als wüsste sie, dass die Situation ein Lächeln erfordert, wäre sich aber nicht sicher, warum.

«Wie schön das Geschenkpapier ist!», sagt sie schließlich. «So besonders. Ich werd aufpassen, dass ich es nicht kaputt mache. Vielleicht kann ich es wiederverwenden.»

«Von mir aus kannst du es aufreißen.»

«Nein, nein», sagt Della. «Ich will das schöne Papier aufbewahren.»

Ihre alten, gefleckten Hände machen sich an dem Geschenkpapier zu schaffen, bis es sich löst. Das Buch fällt ihr in den Schoß.

Sie erkennt es nicht.

Das muss noch nichts heißen. Der Verlag hat eine neue Ausgabe herausgebracht. Der ursprüngliche Umschlag, mit dem Bild der beiden Frauen, die im Schneidersitz in einem Wigwam sitzen, ist einem Farbfoto von schneebedeckten Bergen gewichen. Auch die Schrift wurde aufgepeppt.

Nach einer Sekunde ruft Della: «Oh, ach! Unser Lieblingsroman!»

«Nicht nur das», sagt Cathy und zeigt auf den Umschlag. «Schau mal. ‹Sonderausgabe zum zwanzigjährigen Jubiläum! Zwei Millionen verkaufte Exemplare!› Ist das nicht unglaublich?»

«Na ja, wir wussten doch immer, dass es ein gutes Buch ist.»

«Auf jeden Fall. Man sollte auf uns hören.» Etwas leiser fügt sie hinzu: «Ich hab gedacht, dass es dich vielleicht wieder zum Lesen bringt, Della. Weil du es doch so gut kennst.»

«Klar, verstehe. Damit ich wieder in die Gänge komme sozusagen. Das letzte Buch, das du mir geschickt hast, dieses Raum? Da bin ich jetzt seit zwei Monaten dran, aber ich bin über die ersten zwanzig Seiten noch nicht hinausgekommen.»

«Die Handlung ist ja auch ein bisschen heftig.»

«Da geht’s ja um diese Frau, die in einem Zimmer feststeckt! Das kommt mir ein bisschen zu bekannt vor.»

Cathy lacht. Aber Della meint es doch einigermaßen ernst, und daraus ergibt sich für Cathy eine Gelegenheit. Sie drückt sich von der Kante des Schlafsofas hoch, steht auf und zeigt mit einem Seufzen auf die Wände. «Könnten Bennett und Robbie dir nicht ein netteres Zimmer besorgen?»

«Doch, wahrscheinlich schon», antwortet Della. «Sie behaupten aber, dass sie es nicht können. Robbie muss Unterhalt zahlen, für die Frau und das Kind. Und bei Bennett ist es vermutlich so, dass diese Joanne protestiert, wenn er Geld für mich ausgibt. Sie hat mich nie gemocht.»

Cathy wirft einen Blick ins Bad. Es ist nicht so schlimm, wie sie befürchtet hat, nichts Schmutziges, nichts, was einem peinlich sein müsste. Aber der gummierte Duschvorhang erinnert an eine Irrenanstalt. Daran immerhin ließe sich gleich etwas ändern.

«Ich hab eine Idee.» Cathy sieht Della an. «Hast du deine Familienfotos mitgebracht?»

«Natürlich. Ich hab Bennett gesagt, dass ich ohne meine Fotoalben nirgendwohin gehe. Er hat mich ja schon gezwungen, meine guten Möbel zurückzulassen, damit das Haus schnell verkauft wird. Und weißt du, was? Bisher war noch nicht mal jemand zur Besichtigung da.»

Falls Cathy überhaupt zuhört, zeigt sie es nicht. Sie geht zum Fenster, zerrt an der Kordel und öffnet die Jalousien. «Erst mal müssen wir mehr Licht reinbringen. Ein paar Bilder aufhängen. Damit man sieht, dass du hier zu Hause bist.»

«Das wär schön, ja. Wenn es hier nicht so erbärmlich aussähe, würde ich mich auch eher damit abfinden, dass ich in diesem Heim bin. Es ist ja beinahe, als wäre ich – im Gefängnis.» Della schüttelt den Kopf. «Da draußen gibt’s ein paar Leute, die auch irgendwie kurz vorm Ausrasten sind.»

«Gereizte Stimmung, ja?»

«Und wie», sagt Della und lacht. «Man muss richtig aufpassen, neben wem man beim Mittagessen sitzt.»

 

Als Cathy gegangen ist, schaut Della von ihrem Sessel auf den Parkplatz hinaus. Am Horizont ziehen Wolken auf, es braut sich etwas zusammen. Cathy meinte zwar, das Gewitter werde erst Montag kommen, wenn sie schon weg sei, aber Della hat ein ungutes Gefühl. Sie greift nach der Fernbedienung, zielt auf den Fernseher und drückt eine Taste. Nichts passiert. «Dieser neue Fernseher, den Bennett mir besorgt hat, ist keinen Pfifferling wert», sagt sie, als würde ihr Cathy, oder sonst jemand, noch zuhören. «Ich soll erst den Fernseher anmachen und dann diese andere Box darunter. Aber selbst wenn es mir gelingt, den verdammten Fernseher einzuschalten, finde ich meine Lieblingssendung nicht.»

Sie hat gerade die Fernbedienung weggelegt, als Cathy aus dem Gebäude tritt und zu ihrem Wagen geht. Della folgt ihrem Gang mit ratloser Faszination. Das Wetter war nicht der einzige Grund, weshalb sie Cathy ausreden wollte herzukommen. Della weiß nicht, ob sie diesem Besuch überhaupt gewachsen ist. Seit ihrem Sturz und dem Krankenhausaufenthalt fühlt sie sich nicht gerade blendend. Irgendwie benommen. Mit Cathy herumzulaufen, dieser ganze Wirbel, den sie veranstaltet, könnte ihr schnell zu viel werden.

Allerdings wäre es auch schön, die Wohnung etwas aufzuhübschen. Della betrachtet die trostlose Tapete und stellt sich vor, sie wäre voller geliebter Gesichter von Menschen, die ihr etwas bedeuten.

Und dann folgt ein langgedehnter Moment, in dem überhaupt nichts zu passieren scheint, zumindest nicht im Hier und Jetzt. Es kommt in letzter Zeit immer öfter vor, dass Della von solchen Aussetzern fortgerissen wird. Sie sucht gerade nach ihrem Adressbuch, oder sie macht Kaffee, und plötzlich wird sie in die Gegenwart von Menschen und Dingen zurückgezerrt, an die sie seit Jahren nicht gedacht hat. Diese Erinnerungswellen verstören sie, nicht etwa weil sie unangenehme Dinge zutage fördern (auch wenn das oft der Fall ist), sondern weil sie so viel lebendiger und echter wirken als ihr Alltag, der ihr dagegen blass vorkommt wie eine alte Bluse, die zu oft gewaschen wurde. Etwas, das immer wieder in ihrer Erinnerung auftaucht, ist der Kohlenkeller, in dem sie als Kind schlafen musste. Damals, als sie von Paducah nach Detroit gezogen waren und ihr Vater sie verlassen hatte. Della, ihre Mutter und ihr Bruder wohnten in einer Pension. Ihre Mutter und Glenn bekamen richtige Zimmer oben, aber Della musste im Keller schlafen. Der Raum hatte nicht einmal einen Zugang vom Haus aus, man musste im Garten eine Klappe öffnen, um hineinzuklettern. Die Vermieterin hatte das Zimmer gekalkt, sie hatte ein Bett hineingestellt und einige Kissen aus alten Mehlsäcken daraufgeworfen. Doch Della ließ sich davon nicht täuschen. Die Tür war aus Stahl, und Fenster gab es keine. Es war stockdunkel da unten. Oh, wie ich es gehasst habe, jeden Abend runter in den Kohlenkeller zu gehen! Es war, als würde ich in eine Grabkammer hinabsteigen!

Aber ich habe mich nie beklagt. Ich habe einfach getan, was von mir verlangt wurde.

Dellas kleines Haus in Contoocook ist das einzige, das ihr jemals ganz allein gehört hat. Natürlich ist so ein Haus in ihrem Alter ein Problem. Wie sollte sie es im Winter den Hügel hinaufschaffen? Wie sollte sie jemanden finden, der den Schnee vom Dach schaufelte, bevor es einstürzte und sie unter sich begrub? Vielleicht hatten Dr. Sutton, Bennett und Robbie recht. Vielleicht ist sie hier besser aufgehoben.

Als sie wieder aus dem Fenster sieht, ist Cathys Auto weg, und sie nimmt das Buch in die Hand, das Cathy ihr mitgebracht hat. Der bläuliche Gebirgszug auf dem Umschlag verwirrt sie noch immer. Aber der Titel ist unverändert: Zwei alte Frauen: Eine Legende von Verrat und Tapferkeit. Sie schlägt das Buch auf und blättert darin, hin und wieder hält sie inne, um eine Zeichnung zu bewundern.

Dann blättert sie zurück zur ersten Seite. Sie richtet ihren Blick auf die Wörter und folgt ihnen über die Zeilen hinweg. Ein Satz. Zwei Sätze. Schließlich ein ganzer Abschnitt. Seit sie das Buch zum letzten Mal gelesen hat, hat sie gerade so viel vergessen, dass ihr die Geschichte einerseits vertraut und andererseits wie neu vorkommt. Einladend. Aber es ist in erster Linie das Lesen selbst, das ihr Erleichterung verschafft, die Selbstvergessenheit, das Eintauchen in das Leben anderer.

 

Wie so viele der Bücher, die Della über die Jahre gelesen hat, war auch Zwei alte Frauen eine Empfehlung von Cathy. Als sie nicht mehr an der Fachschule für Krankenpflege beschäftigt war, arbeitete Cathy in einer Buchhandlung. Sie hatte inzwischen wieder geheiratet und war mit Clark in ein altes Bauernhaus gezogen, dessen Renovierung die folgenden zehn Jahre in Anspruch nehmen sollte.

Della merkte sich Cathys Arbeitsplan und schaute immer wieder während ihrer Schichten vorbei, vor allem donnerstagabends, wenn nur wenige Kunden kamen und Cathy Zeit für ein Schwätzchen hatte.

Das war der Grund, warum Della einen Donnerstag wählte, um Cathy zu erzählen, was vorgefallen war.

«Dann schieß mal los, ich höre zu», sagte Cathy. Sie schob einen Wagen durch den Laden und sortierte Bücher ein, Della saß in einem Sessel in der Lyrikecke. Cathy hatte angeboten, einen Tee zu machen, aber Della hatte gesagt: «Ein Bier wär mir lieber.» Cathy fand eine Flasche im Bürokühlschrank, die von einer Signierstunde übrig geblieben war. Es war ein Abend im April, nach sieben Uhr, niemand sonst war im Laden.

Als Erstes erzählte Della, wie seltsam sich ihr Mann in der letzten Zeit verhalten habe. Sie wusste nicht, was mit ihm los war. «Vor ein paar Wochen zum Beispiel ist Dick mitten in der Nacht aufgestanden. Plötzlich höre ich, wie er den Wagen zurücksetzt und aus der Einfahrt fährt. ‹Vielleicht war’s das›, hab ich gedacht. ‹Vielleicht hat er genug, und ich seh ihn nie wieder.›»

«Aber er ist doch zurückgekommen», sagte Cathy und schob ein Buch ins Regal.

«Ja. Etwa eine Stunde später. Ich bin runtergegangen, und da war er. Er kniete auf dem Teppich. Vor ihm ausgebreitet lagen all diese Straßenkarten.»

Als Della ihren Mann fragte, was zum Teufel er da mache, antwortete Dick, er suche nach Anlageobjekten in Florida. Nach Häusern und Grundstücken in Strandnähe, in unterbewerteten Regionen, die man von den Metropolen aus mit Direktflügen erreichen könne. «‹Wir haben doch genug Geld›, hab ich ihm gesagt. ‹Setz dich einfach zur Ruhe, wir kommen zurecht. Warum willst du jetzt noch so ein Risiko eingehen?› Und weißt du, was er geantwortet hat? ‹Zur Ruhe setzen? Ich weiß gar nicht, was das sein soll.›»

Cathy verschwand in der Abteilung für Selbsthilfebücher. Della war zu sehr in ihre Erzählung vertieft, um aufzustehen und ihr zu folgen. Sie ließ den Kopf hängen und starrte auf den Boden. Ihr Ton war voller Unverständnis und Empörung über die Vorstellungen, denen Männer nachhingen, besonders wenn sie älter wurden. Sie waren wie Anfälle von Wahnsinn, nur dass die Ehemänner sie für Geistesblitze hielten. «Ich hab da ’ne Idee!», rief Dick immer, egal, was sie gerade taten. Sie aßen zu Abend oder gingen ins Kino, und er hatte eine Eingebung, blieb plötzlich stehen und erklärte: «Hey, mir ist da eben ein Gedanke gekommen.» Dann rührte er sich nicht von der Stelle, legte einen Finger ans Kinn, überschlug Kosten und schmiedete Pläne.

Bei seiner neuesten Idee ging es um eine Ferienanlage in der Nähe der Everglades. Auf dem Polaroid-Foto, das er Della zeigte, wirkte das von Eichen umstandene Gebäude wie ein bezauberndes, wenn auch verfallenes Jagdhaus. Anders war diesmal nur, dass Dick seine Idee schon in die Tat umgesetzt hatte. Ohne es mit Della zu besprechen, hatte er für das Haus ein Darlehen aufgenommen, und er hatte einen guten Teil ihrer Rentenfonds verkauft, um das Eigenkapital aufzubringen.

«Wir sind jetzt die stolzen Besitzer unserer eigenen Ferienanlage in den Florida Everglades!», erklärte er.

So weh es Della tat, Cathy davon zu erzählen – es bereitete ihr doch auch ein gewisses Vergnügen. Sie hielt die Bierflasche mit beiden Händen. Es war still in der Buchhandlung, der Himmel draußen war dunkel, die anderen Geschäfte im Viertel hatten alle schon geschlossen. Es war, als würde der Laden ihnen gehören.

«Jetzt haben wir also diesen verdammten Schuppen am Hals», sagte Della. «Dick will Ferienwohnungen daraus machen. Dazu muss er allerdings nach Florida ziehen, meint er. Und wie üblich will er mich mitschleppen.»

Cathy tauchte wieder mit ihrem Bücherwagen auf. Della hatte eine mitleidige Miene erwartet, aber Cathy presste nur die Lippen zusammen.

«Du ziehst also weg?», fragte sie kühl.

«Ich habe keine Wahl. Er zwingt mich dazu.»

«Niemand zwingt dich.»

Etwas Besserwisserisches lag in diesem Satz, ein Ton, den sich Cathy erst vor kurzem zugelegt hatte. Als hätte sie sich durch die gesamte Selbsthilfeabteilung gelesen und wäre nun Psychologin und Eheberaterin in einem.

«Was soll das heißen, niemand zwingt mich? Dick zwingt mich.»

«Und was ist mit deiner Stelle?»

«Ich muss wohl kündigen. Eigentlich will ich das nicht, ich arbeite gern, aber –»

«Aber du fügst dich mal wieder.»

Della empfand diese Bemerkung nicht nur als hart, sondern auch als ungerecht. Was erwartete Cathy denn von ihr? Sollte sie sich nach vierzig Ehejahren scheiden lassen? Sollte sie sich eine eigene Wohnung suchen und mit irgendwelchen fremden Männern ausgehen, so wie Cathy es damals getan hatte, als sie sich kennenlernten?

«Wenn du kündigen und nach Florida ziehen willst, dann tu das», sagte Cathy. «Aber ich habe eine Stelle. Und wenn du nichts dagegen hast: Ich muss hier noch einiges erledigen, bevor ich schließe.»

 

Sie hatten sich bis dahin noch nie gestritten. Wenn Della in den folgenden Wochen überlegte, ob sie Cathy anrufen sollte, stellte sie jedes Mal fest, dass sie noch zu wütend war. Was nahm sich Cathy eigentlich heraus, ihr zu sagen, wie sie ihre Ehe zu führen hatte? Sie und Clark lagen sich doch ständig in den Haaren.

Einen Monat später, als Della gerade die letzten Umzugskartons packte, tauchte Cathy bei ihr auf.

«Bist du mir böse?», sagte Cathy, als Della die Tür öffnete.

«Na ja, du glaubst schon manchmal, du hättest die Weisheit mit Löffeln gefressen.»

Das war vielleicht etwas zu deutlich, denn Cathy fing an zu weinen. Sie krümmte sich und jammerte mit herzerweichender Stimme: «Du wirst mir fehlen, Della!»

Tränen rannen ihr übers Gesicht. Sie breitete die Arme aus, als wollte sie Della an sich ziehen. Die erste dieser Reaktionen billigte Della nicht, und bei der zweiten zögerte sie. «Lass das», sagte sie, «sonst muss ich auch noch heulen.»

Cathys Geplärr wurde nur noch schlimmer.

«Wir können doch telefonieren, Cathy», sagte Della besorgt. «Und Briefe schreiben und uns gegenseitig besuchen. Du kannst bei uns in der ‹Ferienanlage› wohnen. Wahrscheinlich wimmelt es da von Schlangen und Krokodilen, aber du bist natürlich jederzeit willkommen.»

Cathy lachte nicht. Unter Tränen sagte sie: «Dick wird es nicht wollen, dass ich dich besuche. Er hasst mich.»

«Das stimmt nicht.»

«Na gut, ich hasse ihn! Er behandelt dich wie Dreck, Della. Tut mir leid, aber so ist es. Und jetzt verlangt er, dass du deine Stelle aufgibst und nach Florida ziehst? Um da was genau zu machen?»

«Das reicht jetzt», sagte Della.

«Okay! Okay! Ich bin halt frustriert.»

Trotzdem beruhigte sich Cathy langsam. «Ich hab dir was mitgebracht», sagte sie schließlich. Sie öffnete ihre Handtasche. «Das war vor ein paar Tagen in der Lieferung. Von einem kleinen Verlag in Alaska. Wir haben es nicht bestellt, aber ich habe angefangen, es zu lesen, und konnte es nicht mehr weglegen. Ich will nichts verraten, aber, na ja – es passt einfach haargenau! Du wirst sehen, was ich meine, wenn du es liest.» Sie sah Della eindringlich an. «Manche Bücher, die einem in die Hand fallen, sind wie Zeichen, Della. Es ist wirklich merkwürdig.»

Della wusste nie, wie sie damit umgehen sollte, wenn Cathy ihr gegenüber so esoterisch wurde. Manchmal behauptete sie, der Mond würde ihre Stimmung beeinflussen, oder sie schrieb Zufällen besondere Bedeutung zu. An diesem Tag dankte Della Cathy für das Buch, und es gelang ihr, nicht zu weinen, als sie sich schließlich zum Abschied umarmten.

Auf dem Buchumschlag war eine Zeichnung. Zwei Indianerinnen saßen in einem Wigwam. Auch für solche Dinge interessierte sich Cathy neuerdings, Geschichten über amerikanische Ureinwohner oder Sklavenaufstände in Haiti, über Geister oder magische Begebenheiten. Einiges davon mochte Della, anderes weniger.

Sie legte das Buch zu diversem Kleinkram in einem Umzugskarton, der noch nicht zugeklebt war.

Und was geschah dann damit? Sie schickte den Karton zusammen mit allen anderen nach Florida. Wie sich herausstellte, war in der Zweizimmerwohnung im Jagdhaus jedoch nicht genügend Platz für ihre ganzen Sachen, also musste einiges davon in ein Depot. Ein Jahr später ging die Ferienanlage pleite. Della hatte keine Wahl, sie folgte Dick nach Miami und dann nach Daytona und schließlich nach Hilton Head, wo er versuchte, andere Geschäftsideen umzusetzen. Erst als er gestorben war und Della im Insolvenzverfahren steckte, war sie gezwungen, das Depot aufzulösen und die Möbel zu verkaufen. Sie sortierte die Umzugskisten, die sie beinahe ein Jahrzehnt zuvor nach Florida geschickt hatte, und als sie den Karton mit dem Kleinkram aufschnitt, fiel ihr Zwei alte Frauen entgegen.

 

Das Buch beruht auf einer alten athabaskischen Legende, die die Autorin, Velma Wallis, als Kind gehört hat. Die Legende, die «Mütter an ihre Töchter weitergeben», erzählt die Geschichte der beiden alten Frauen Ch’idzigyaak und Sa’, die in einer Hungersnot von ihrem Stamm zurückgelassen werden.

Und das bedeutet: zum Sterben zurückgelassen werden. Wie es der Brauch war.

Nur sterben die beiden alten Frauen nicht. Im Wald kommen sie miteinander ins Gespräch. Wussten sie nicht früher, wie man jagt und Fische fängt und im Wald auf Nahrungssuche geht? Könnten sie das nicht wieder tun? Sie tun genau das. Sie lernen wieder neu, was sie als jüngere Frauen schon konnten, sie jagen und gehen eisfischen, und einmal verstecken sie sich vor Kannibalen, die ihr Revier durchqueren. Solche Sachen halt.

Eine Illustration in dem Buch zeigte die beiden Frauen, wie sie in Kapuzenanoraks und Robbenfellstiefeln durch die alaskische Tundra ziehen. Sie schleppen Schlitten, und die Frau vorn geht etwas weniger gebeugt als die andere. Unter dem Bild stand: Unsere Stämme sind fortgezogen, um Nahrung zu suchen, in dem fernen Land jenseits der Berge, von dem uns die Ahnen erzählt haben. Uns aber hält man für zu schwach, um ihnen zu folgen, weil wir am Stock gehen und langsam sind.

Einige Passagen stachen besonders hervor, etwa die, in der Ch’idzigyaak sagte:

«Ich weiß, du bist sicher, dass wir überleben werden. Du bist die Jüngere.» Sie konnte nicht umhin, über diese Bemerkung bitter zu lächeln, denn erst gestern hatte man ihnen zu verstehen gegeben, dass sie zu alt waren, um bei den Jüngeren zu leben.

«Genau wie wir zwei», sagte Della, als sie endlich das Buch gelesen hatte und mit Cathy telefonierte. «Die eine ist jünger als die andere, aber sie sind beide in derselben misslichen Lage.»

Am Anfang war es nur als Witz gemeint. Es war lustig, ihre eigenen Lebensumstände – in einem Vorort von Detroit beziehungsweise auf dem Land in New Hampshire – mit dem Überlebenskampf der beiden alten Inuitfrauen zu vergleichen. Doch an den Parallelen war auch etwas dran. Della zog nach Contoocook, um näher bei Robbie zu sein, aber zwei Jahre später ging Robbie nach New York und ließ sie hilflos im Wald zurück. Cathys Buchhandlung wurde aufgelöst. Sie begann, Pies zu verkaufen, die sie in ihrer Küche zu Hause backte. Clark war nun in Rente und verbrachte den ganzen Tag vor dem Fernseher, hingerissen von hübschen, drallen Wettermoderatorinnen, die in eng anliegenden, knallbunten Kleidern vor der Wetterkarte ihre Kurven darboten, als wollten sie sich an die Gewitterfronten schmiegen. Alle vier Söhne von Cathy waren aus Detroit fortgezogen. Sie wohnten in weiter Ferne, jenseits der Berge.

Eine Zeichnung in dem Buch mochten Della und Cathy besonders. Sie zeigte, wie Ch’idzigyaak ein Kriegsbeil warf, während Sa’ ihr dabei zusah. Die Bildunterschrift lautete: Wenn wir ein Eichhörnchen sehen, können wir es vielleicht mit unserem Beil töten, wie damals, als wir jung waren.

Das wurde ihr Motto. Wenn eine von ihnen bedrückt war oder ein Problem hatte, mit dem sie nicht fertigwurde, dann rief die andere an und sagte: «Zeit fürs Kriegsbeil.»

Und gemeint war: Mach was. Lass den Kopf nicht hängen.

Das war eine weitere Eigenschaft, die sie mit den Inuitfrauen gemein hatten. Der Stamm hatte Ch’idzigyaak und Sa’ nicht nur deshalb zurückgelassen, weil sie alt waren, sondern auch, weil sie so viel klagten. Ständig plagten sie irgendwelche Schmerzen und Beschwerden.

Ehemänner waren bekanntlich oft der Meinung, dass ihre Frauen zu häufig klagten. Aber auch das war ja eine Klage: eine Möglichkeit, die Männer nutzten, um ihren Frauen den Mund zu verbieten. Trotzdem wussten Della und Cathy, dass sie für ihr Unglück teilweise selbst verantwortlich waren. Sie ließen Dinge schwelen, wurden melancholisch, schmollten. Selbst wenn ihre Männer fragten, was sie bedrücke, rückten sie nicht damit heraus. Es war angenehmer, sich als Opfer zu betrachten. Sie hätten sich aufgeben müssen, um sich zu befreien.

Warum fühlte es sich so gut an zu klagen? Warum war es, als würde man erfrischt und mit prickelnder Haut aus dem Wellnessbereich kommen, wenn man mit seiner Leidensgenossin das Jammertal durchschritten hatte?

In all den Jahren hat es lange Phasen gegeben, in denen Della und Cathy nicht an Zwei alte Frauen gedacht haben. Doch dann liest die eine das Buch wieder, ist wie früher begeistert und bringt die andere dazu, es ebenfalls noch einmal zu lesen. Das Buch gehört nicht in dieselbe Kategorie wie die Detektivgeschichten und Krimis, die sie normalerweise lesen. Es ist eher eine Anleitung zum Leben. Das Buch beflügelt sie. Sie dulden es nicht, wenn es von ihren arroganten Söhnen schlechtgemacht wird. Aber jetzt müssen sie es nicht mehr verteidigen. Zwei Millionen verkaufte Exemplare! Jubiläumsausgabe! Beweis genug, dass sie mit ihrem Urteil richtiglagen.

 

Als Cathy am nächsten Morgen in Wyndham Falls ankommt, liegt Schnee in der Luft. Die Temperatur ist gefallen, und da ist diese Stille, kein Windhauch, kein Vogel weit und breit.

Früher, in ihrer Kindheit in Michigan, liebte sie diese trügerische Stille. Sie verhieß Unterrichtsausfall, schulfreie Tage bei ihrer Mutter, Schneefestungen im Vorgarten. Selbst jetzt, mit Mitte sechzig, bekommt sie noch Herzklopfen, wenn große Schneestürme nahen. Nur dass ihre Erwartung heute im Kern ein geheimer Wunsch ist, eine Sehnsucht beinahe, nach Selbstauslöschung, zumindest nach einer Klärung. Manchmal, wenn sie über den Klimawandel nachdenkt, über einen Weltuntergang in Flut und Verheerung, sagt sie sich: «Ach je, bringen wir’s einfach hinter uns. Wir haben es nicht anders verdient. Machen wir reinen Tisch für einen Neuanfang.»

Della ist angezogen und bereit zum Aufbruch. Cathy macht ihr ein Kompliment, kann sich aber diese eine Bemerkung nicht verkneifen: «Della, du musst deiner Friseurin sagen, dass sie die Spülung weglassen soll. Deine Haare sind zu fein. Mit der Spülung fällt deine Frisur in sich zusammen.»

«Versuch du mal, der Frau irgendetwas zu sagen», entgegnet Della, die sich mit der Gehhilfe über den Flur schiebt. «Die hört überhaupt nicht zu.»

«Dann sag Bennett, er soll dich zu einem richtigen Friseur fahren.»

«Träum weiter.»

Sie darf nicht vergessen, Bennett eine Mail zu schreiben, denkt Cathy, als sie das Gebäude verlassen. Wahrscheinlich ist ihm nicht klar, wie gut einer Frau solche Kleinigkeiten – ein Friseurbesuch zum Beispiel – tun können.

Della kommt nur langsam voran. Sie muss die Gehhilfe über den Bürgersteig lenken und dann den Bordstein hinunter auf die Fahrbahn, die zum Parkplatz führt. Am Auto hilft Cathy ihr beim Einsteigen. Sie nimmt die Gehhilfe, um sie im Kofferraum zu verstauen. Es dauert eine Weile, bis sie verstanden hat, wie der Klappmechanismus funktioniert.

Kurz darauf sind sie unterwegs. Della sitzt vorgebeugt da, hält die Straße aufmerksam im Blick und gibt Cathy Anweisungen.

«Du kennst dich ja schon ganz gut aus», sagt Cathy anerkennend.

«Ja», meint Della. «Vielleicht liegt’s an den Pillen.»

Cathy würde die Bilderrahmen lieber in einem besseren Geschäft kaufen, bei Pottery Barn oder Crate & Barrel, aber Della lotst sie zu einem Secondhandshop in einer unscheinbaren Ladenzeile in der Nähe. Auf dem Parkplatz vollzieht sie die gleichen Handgriffe in umgekehrter Reihenfolge, sie klappt die Gehhilfe auseinander und bringt sie zur Beifahrertür, damit Della sich hochziehen und hinstellen kann. Wenn sie erst mal geht, kommt sie recht flott voran.

Sobald sie im Laden sind, ist es wieder wie früher. Mit Adleraugen durchstreifen sie den neonbeleuchteten, auf Hochglanz polierten Verkaufsraum, als wären sie auf einer Schnitzeljagd. Als sie eine Glaswarenabteilung entdecken, sagt Della: «Ach, ich brauche ein paar schöne neue Gläser.» Worauf sie ihr eigentliches Ziel zunächst einmal aus den Augen verlieren.

Die Bilderrahmen sind ganz hinten im Laden. Auf halber Strecke endet der Linoleumboden und geht in einfachen Estrich über. «Hier muss ich vorsichtig sein», sagt Della. «Es hoppelt ein bisschen.»

Cathy hält sie am Arm und führt sie hin. «Bleib einfach da stehen, Della», sagt sie. «Ich sehe mal nach.»

Wie so oft in Secondhandläden besteht die Schwierigkeit darin, etwas zu finden, das zusammenpasst.

Nichts ist sortiert. Cathy sieht die Rahmen durch, die allesamt unterschiedlich groß und völlig verschiedenartig sind. Schließlich entdeckt sie doch zwei schlichte schwarze Holzrahmen, die zusammenpassen. Gerade zieht sie sie hervor, als sie hinter sich etwas hört. Keinen Schrei, das nicht. Nur ein lautes Schnappen. Sie dreht sich um und sieht Dellas überraschten Ausdruck. Sie hat die Hand ausgestreckt, um etwas aus dem Regal zu nehmen – was, kann Cathy nicht erkennen. Dabei rutscht die andere an der Gehhilfe ab.

Vor vielen Jahren, als Della und Dick noch das Segelboot hatten, ist Della einmal beinahe ertrunken. Das Boot lag an einem Steg. Beim Versuch, an Bord zu klettern, rutschte Della aus und sank in das trübe grüne Wasser des Yachthafens. «Ich habe nie schwimmen gelernt, weißt du», erklärte sie Cathy später. «Aber Angst hatte ich trotzdem nicht. Es war eigentlich ziemlich friedlich da unten. Irgendwie habe ich es dann geschafft, mich wieder an die Oberfläche zu kämpfen. Dick hat nach dem Hafenjungen gerufen, der ist schließlich gekommen und hat mich festgehalten.»

Dellas Gesichtsausdruck entspricht etwa dem, was sich in Cathys Vorstellung damals unter Wasser abgespielt hat. Ein wenig erstaunt. Gelassen. Als hätten Kräfte jenseits ihrer Kontrolle das Kommando übernommen. Widerstand zwecklos.

Diesmal allerdings schützt sie das Erstaunen nicht. Della stürzt seitlich ins Metallregal. Die scharfe Kante schürft ihr mit einem Ratschen, das an eine Aufschnittmaschine erinnert, die Haut vom Arm. Dann knallt sie mit der Schläfe gegen das Regal. Cathy schreit. Glas zerschellt.

 

Sie behalten Della über Nacht im Krankenhaus. Ein MRT wird gemacht, um Blutungen im Hirn auszuschließen, man röntgt ihre Hüfte, und die Schürfung am Arm wird mit einem feuchten Verband bandagiert, der erst nach einer Woche abgenommen werden darf. Dann wird man sehen, ob die Haut heilt oder nicht. In Dellas Alter stehen die Chancen bei fünfzig Prozent.

All das erklärt ihnen Dr. Mehta, eine junge Frau mit einer derart glamourösen Ausstrahlung, dass sie eine Rolle in einer Ärzteserie übernehmen könnte. Um ihren schlanken Hals winden sich zwei Perlenketten. Das graue Strickkleid fällt locker über ihre üppigen Kurven. Ihr einziger Makel sind die dürren Waden, die sie allerdings mit dem gewagten Rautenmuster ihrer Strümpfe und hochhackigen, perfekt auf das Kleid abgestimmten grauen Pumps tarnt. Dr. Mehta repräsentiert etwas, auf das Cathy nicht wirklich vorbereitet ist: eine jüngere Generation von Frauen, die ihre eigene nicht nur in beruflicher Hinsicht überflügelt hat, sondern auch auf dem seinerzeit rückschrittlichen Gebiet der Selbstverschönerung. Dr. Mehta trägt zudem einen Verlobungsring mit einem recht großen Diamanten. Heiratet vermutlich einen anderen Arzt und führt ihr Spitzengehalt mit seinem zusammen.

«Und wenn die Haut nicht heilt?», fragt Cathy.

«Dann muss sie den Verband weiter tragen.»

«Für immer?»

«Warten wir ab, wie es nächste Woche aussieht», sagt Dr. Mehta.

Das alles hat Stunden gedauert. Es ist sieben Uhr am Abend. Zu der Wunde am Arm hat sich ein Veilchen gesellt.

Um halb neun wird entschieden, Della über Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus zu behalten.

«Sie meinen, ich darf nicht nach Hause?», fragt Della Dr. Mehta. Sie klingt verzweifelt.

«Noch nicht. Wir müssen Sie ein wenig im Auge behalten.»

Cathy beschließt, bei Della im Zimmer zu übernachten. Das limettengrüne Sofa lässt sich zu einem Bett ausklappen. Die Krankenschwester verspricht, Laken und Decke zu bringen.

 

Cathy sitzt in der Cafeteria und beruhigt sich gerade mit Schokoladenpudding, als Dellas Söhne auftauchen.

Vor Jahren ließ sich Cathy von ihrem Sohn Mike einmal dazu überreden, einen Science-Fiction anzuschauen. Er handelte von Auftragskillern, die aus der Zukunft zur Erde zurückkehren. Der Film bestand zum großen Teil aus groteskem, blutigem Tumult, aber Mike, der damals studierte, behauptete, dass die akrobatischen Kampfszenen von tiefgründiger philosophischer Bedeutung durchdrungen seien. Cartesianisch war das Wort, das er benutzte.

Cathy verstand nicht, was er meinte. Trotzdem fällt ihr dieser Film ein, als Bennett und Robbie hereinkommen. Ihre bleichen, ernsten Gesichter und dunklen Anzüge lassen sie unauffällig und verdächtig zugleich aussehen, wie Agenten einer Weltverschwörung.

Die es allein auf Cathy abgesehen haben.

«Das war alles meine Schuld», sagt sie, sobald sie an ihren Tisch getreten sind. «Ich hab nicht aufgepasst.»

«Mach dir keine Vorwürfe», sagt Bennett.

Es scheint Warmherzigkeit auszudrücken, bis er hinzufügt: «Sie ist alt. Sie stürzt halt hin und wieder. Das gehört einfach dazu.»

«Das kommt von der Ataxie», sagt Robbie.

Cathy will gar nicht wissen, was Ataxie bedeutet. Eine weitere Diagnose. «Bis zu dem Moment, wo sie gestürzt ist, ging’s ihr gut», sagt sie. «Wir hatten Spaß zusammen. Dann habe ich mich für eine Sekunde weggedreht, und – wumm.»

«Mehr braucht es nicht», sagt Bennett. «Da kann man nichts machen.»

«Dieses Medikament, das sie nimmt, das Aricept?», sagt Robbie. «Das ist eigentlich nur eine palliative Maßnahme. Die Wirkung, wenn es überhaupt eine hat, lässt nach ein, zwei Jahren nach.»

«Eure Mutter ist achtundachtzig. Vielleicht reichen ja zwei Jahre.»

Was das bedeutet, hängt eine Weile in der Luft, bis Bennett sagt: «Nur dass sie immer wieder stürzt. Und im Krankenhaus landet.»

«Wir müssen sie woanders unterbringen», sagt Robbie mit lauterer, leicht gepresster Stimme. «In Wyndham ist sie nicht ausreichend versorgt. Sie braucht mehr Betreuung.»

Robbie und Bennett sind nicht wie Cathys Kinder. Sie sind älter und weniger gut aussehend. Sie spürt keine Verbindung zu ihnen, keine mütterliche Wärme oder Liebe. Und doch erinnern sie sie an ihre eigenen Söhne, in einer Weise, über die sie lieber nicht nachdenken möchte.

Weder der eine noch der andere hat Della angeboten, bei ihm einzuziehen. Robbie ist zu viel unterwegs, sagt er. Bennetts Haus hat zu viele Treppen. Aber es ist nicht ihr Egoismus, der Cathy am meisten stört. Es ist die Haltung, mit der sie jetzt vor ihr stehen. Sie sind durchdrungen – aufgebläht – von Vernunftdenken. Sie möchten das Problem schnell und endgültig lösen, mit minimalem Aufwand. Indem sie ihre Emotionen aus der Gleichung herausgestrichen haben, haben sie sich selbst davon überzeugt, dass sie bedacht handeln. Obwohl ihr Wunsch, die Situation zu klären, ausschließlich auf Emotionen beruht – vor allem auf Angst, aber auch auf Schuldgefühlen und Verärgerung.

Und wer, aus ihrer Sicht, ist Cathy? Die langjährige Freundin ihrer Mutter. Die in der Buchhandlung gearbeitet hat. Mit der ihre Mutter bekifft gewesen ist.

Cathy sieht sich um, die Cafeteria füllt sich mit Krankenhauspersonal, das zum Abendessen hereinkommt. Sie ist erschöpft.

«Okay», sagt sie. «Aber sagt es ihr nicht gleich. Warten wir noch ein bisschen.»

 

Die Geräte klicken und surren die ganze Nacht. In regelmäßigen Abständen piepst ein Monitor und weckt Cathy auf. Jedes Mal taucht eine Krankenschwester auf – immer eine andere – und drückt auf einen Knopf, um das Warnsignal auszuschalten. Es hat offenbar nichts zu bedeuten.

Im Zimmer ist es eiskalt. Die Lüftung bläst direkt auf sie herab. Die Decke, die man ihr gegeben hat, ist dünn wie Küchenkrepp.

Eine Freundin von Cathy in Detroit, eine Frau, die seit dreißig Jahren regelmäßig zur Therapie geht, hat ihr neulich einen Ratschlag erteilt, den sie von ihrem Therapeuten bekommen hat. Mach dir über die Schrecken, die dich nachts heimsuchen, keine Gedanken. Die Psyche ist in der Nacht an ihrem Tiefpunkt, und sie ist wehrlos. Die Trostlosigkeit, in der du versinkst, wirkt auf dich wie Wahrheit, ist aber nicht die Wahrheit. Sie ist nur eine geistige Erschöpfung, die als Erkenntnis daherkommt.