Die Liebeshandlung - Jeffrey Eugenides - E-Book

Die Liebeshandlung E-Book

Jeffrey Eugenides

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Beschreibung

Amerika, Anfang der achtziger Jahre, ein College an der Ostküste. Madeleine Hanna, begeisterte Leserin von Roland Barthes, schreibt eine literaturwissenschaftliche Arbeit über die «Liebeshandlung» viktorianischer Romane. Während sie über den uralten Beweggründen des menschlichen Herzens brütet, bricht das wirkliche Leben in Gestalt zweier junger Männer über sie herein. Leonard Bankhead, charismatischer Einzelgänger mit scheinbar unerschöpflichem Elan, taucht Tabak kauend in einem Semiotik-Seminar auf, und schon bald verstrickt sich Madeleine in eine erotisch und intellektuell aufgeladene Beziehung. Zur selben Zeit lässt sich ihr alter Freund Mitchell Grammaticus wieder blicken, besessen von dem Gedanken, Madeleine sei für ihn bestimmt und er für sie. Wenig später, den Collegeabschluss in der Tasche, werden alle drei gezwungen, vieles in neuem Licht zu sehen. Leonard und Madeleine ziehen in die malerische Dünenlandschaft von Cape Cod; Mitchell, in Gedanken oft bei Madeleine, reist mit einem Rucksack voller Bücher über christliche Mystik bis nach Indien, stellt sich den Fragen nach dem Sinn des Lebens, der Existenz Gottes und dem, was Liebe ist. Gibt es die großen Liebesgeschichten des 19. Jahrhunderts nicht mehr, heute, in Zeiten von sexueller Freiheit, Eheverträgen, Scheidungen? Indem Jeffrey Eugenides eine totgeglaubte Tradition erneuert, meldet er sich als einer der bedeutendsten Autoren der amerikanischen Gegenwartsliteratur zurück.

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Seitenzahl: 761

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Jeffrey Eugenides

Die Liebeshandlung

Roman

Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Zitat

Ein liebender Verrückter

Pilger

Ein glänzender Schachzug

Entschlafen im Herrn

Und manchmal waren sie sehr traurig

Das Junggesellinnen-Überlebensset

Danksagung

Quellenverzeichnis

Für die roomies

Stevie und Moo Moo

Es gibt Leute, die sich nie verliebt

hätten, wenn sie nicht von der Liebe

hätten sprechen hören.

François de La Rochefoucauld

You may ask yourself,

Well, how did I get here?…

And you may tell yourself,

This is not my beautiful house.

And you may tell yourself,

This is not my beautiful wife.

Talking Heads

Ein liebender Verrückter

Zunächst mal, schauen Sie sich all die Bücher an. Da waren ihre Edith-Wharton-Romane, nicht nach Titeln sortiert, sondern nach Erscheinungsjahren; da war die komplette Modern-Library-Ausgabe von Henry James, ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem 21.Geburtstag; da waren die eselsohrigen Taschenbücher, der versammelte Lesestoff aus ihren Collegekursen, jede Menge Dickens, ein bisschen Trollope, dazu eine ordentliche Portion Austen, George Eliot und der gefürchteten Schwestern Brontë. Da waren eine Reihe schwarzweiße New-Directions-Bände, meistens Gedichte von Autoren wie H.D. oder Denise Levertov. Da waren die Romane von Colette, die sie heimlich verschlang. Da war ein Exemplar von Updikes Ehepaare, das ihrer Mutter gehörte, eine Erstausgabe, in der Madeleine, ohne sich erwischen zu lassen, schon in der sechsten Klasse geschnüffelt hatte und die sie jetzt als inhaltlichen Beleg für ihre literaturwissenschaftliche Jahresarbeit über die Liebeshandlung und den marriage plot im viktorianischen Roman benutzte. Da war, um es kurz zu machen, der ganze Bestand dieser mittelgroßen, aber noch tragbaren Bibliothek, die so ziemlich alles enthielt, was Madeleine in ihrer Collegezeit gelesen hatte – eine scheinbar zufällige Sammlung von Titeln, deren Fokus sich langsam verengte, wie bei einem Persönlichkeitstest, einem raffinierten allerdings, der sich nicht durch Vorwegnahme dessen, was hinter den Fragen steckt, austricksen lässt und in dem man sich am Ende so verliert, dass es keine andere Rettung gibt, als einfach die Wahrheit zu sagen. Und dann wartet man auf die Auswertung, hofft auf ein «künstlerisch veranlagt» oder «leidenschaftlich», denkt, man könnte auch mit «empfindsam» leben, fürchtet sich insgeheim vor einem «narzisstisch» oder «hausbacken», bis man schließlich ein Ergebnis präsentiert bekommt, das zweischneidig ist und einem je nach dem Tag, dem Augenblick oder dem Freund, den man gerade hat, wechselnde Gefühle bereitet: «Unheilbar romantisch».

Das also waren die Bücher in dem Zimmer, in dem Madeleine mit einem Kissen über dem Kopf am Morgen ihrer Collegeabschlussfeier lag. Sie hatte jedes einzelne davon gelesen, manche mehrfach, oft Stellen unterstrichen, aber das half ihr jetzt nicht. Madeleine wollte vom Zimmer und allem, was sich darin befand, nichts wissen. Sie hoffte, ins Vergessen zurückzudämmern, das ihr während der letzten drei Stunden ein sicherer Hort gewesen war. Nur einen Grad wacher, und sie wäre gezwungen, sich gewissen unangenehmen Tatsachen zu stellen: etwa der Menge und Mischung des Alkohols, den sie sich in der vergangenen Nacht eingetrichtert hatte, genauso wie der Tatsache, dass sie ins Bett gegangen war, ohne die Kontaktlinsen herauszunehmen. An diese Einzelheiten zu denken würde ihr zwangsläufig die Gründe in Erinnerung rufen, weshalb sie überhaupt so viel getrunken hatte, und das wollte sie auf keinen Fall. Also zog Madeleine ihr Kissen fester über den Kopf, verbannte das frühe Morgenlicht und versuchte, wieder in den Schlaf zu sinken.

Aber es war zwecklos. Denn genau in diesem Augenblick begann am anderen Ende der Wohnung die Türklingel zu schrillen.

Anfang Juni, Providence, Rhode Island – die Sonne, vor fast zwei Stunden aufgegangen, erleuchtete die fahle Bucht und die hohen Schornsteine des E-Werks von Narragansett, schob sich allmählich höher wie die Sonne auf dem Siegel der Brown University, der Zierde aller über dem Campus flatternden Wimpel und Transparente, eine Sonne mit klugem Gesicht, die das Wissen symbolisierte. Aber diese Sonne – die über Providence – erteilte der metaphorischen gerade eine Lektion, hatten doch die Gründer der Universität in ihrem Baptistenpessimismus entschieden, das Licht des Wissens zum Zeichen dafür, dass die Ignoranz noch nicht aus dem Reich der Menschen vertrieben war, mit Wolken zu umhüllen, während sich die wirkliche Sonne soeben durch die Wolkendecke kämpfte, splittrige Lichtstrahlen auf die Erde schickte und den Schwadronen von Eltern, die das gesamte Wochenende hindurch vor Nässe und Kälte gebibbert hatten, neue Hoffnung gab, dass ihnen das für die Jahreszeit ungewöhnliche Wetter bei den Festlichkeiten des Tages keinen Strich durch die Rechnung machen würde. Über dem ganzen College Hill, in den geometrischen Parkanlagen der georgianischen Herrenhäuser und den magnolienduftenden Vorgärten viktorianischer Villen, auf den backsteingepflasterten Gehwegen, die sich wie in einem Charles-Addams-Cartoon oder einer Lovecraft-Geschichte an schwarzen Eisenzäunen entlangzogen, draußen vor den Ateliers der Rhode Island School of Design, wo ein Kunststudent nach einer im Malrausch durchwachten Nacht Patti Smith schmetterte, reflektiert von den blanken Instrumenten (Tuba und Trompete) zweier Mitglieder der Uni-Blaskapelle, die sich zu früh am Treffpunkt eingefunden hatten und schon ganz beunruhigt guckten, wo die anderen wohl alle blieben, in den kleinen Kopfsteinpflasterstraßen, die bergab zum verschmutzten Fluss führten, schien die Sonne auf jeden Messingknauf, jeden Insektenflügel, jeden Grashalm. Und zu dem plötzlich flutenden Licht begann, wie eine Startpistole für die Geschäftigkeit, in Madeleines Wohnung oben im dritten Stock die Türklingel laut und eindringlich zu schrillen.

Der Impuls erreichte sie weniger als ein Geräusch denn als Empfindung, ein Elektroschock, der ihr das Rückgrat hinaufschoss. Mit einer einzigen Bewegung riss Madeleine sich das Kissen vom Kopf und setzte sich auf. Sie wusste, wer da klingelte. Es waren ihre Eltern. Sie hatte eingewilligt, sich um 7.30Uhr mit Alton und Phyllida zum Frühstück zu treffen. Diesen Plan hatten sie schon zwei Monate zuvor, im April, besprochen, und jetzt waren sie da, zur verabredeten Zeit, in ihrer beflissenen und erwartungsvollen Art. Dass Alton und Phyllida aus New Jersey angereist waren, um bei Madeleines Graduierung dabei zu sein, dass es nicht nur der Erfolg ihrer Tochter war, den sie heute hier feiern wollten, sondern auch ihr eigener als Eltern, hatte nichts Schlimmes oder Unerwartetes an sich. Das Problem war, dass Madeleine zum ersten Mal in ihrem Leben nichts damit zu tun haben wollte. Sie war nicht stolz auf sich. War nicht zum Feiern aufgelegt. Sie hatte den Glauben an die Bedeutung des Tages und an alles, wofür die Graduierung stand, verloren.

Sie erwog, nicht an die Tür zu gehen. Aber sie wusste, wenn sie es nicht tat, würde es eine ihrer Mitbewohnerinnen tun, und dann musste sie erklären, wohin und mit wem sie gestern Abend verschwunden war. Also schlüpfte Madeleine aus dem Bett und stand widerstrebend auf.

Das schien fürs Erste zu gelingen. Ihr Kopf fühlte sich seltsam leicht an, wie ausgehöhlt. Aber in der nächsten Sekunde staute sich das Blut, das ihr wie Sand in einem Stundenglas aus dem Gehirn rann, und der hintere Teil ihres Schädels explodierte vor Schmerz.

Mitten in diesem Feuerwerk, als wäre es dessen schrillende Ursache, klingelte es wieder.

Sie stürzte aus ihrem Zimmer, stolperte barfuß zur Gegensprechanlage am Eingang und schlug auf die Sprechtaste, um den Lärm zu beenden.

«Hallo?»

«Was ist los? Hast du die Klingel nicht gehört?» Es war Altons Stimme, tief und gebieterisch wie immer, obwohl sie nur aus einem winzigen Lautsprecher kam.

«Tut mir leid, ich war unter der Dusche.»

«Was du nicht sagst! Lässt du uns bitte rein?»

Das wollte Madeleine nicht. Sie musste sich erst frischmachen.

«Ich komme runter», sagte sie.

Diesmal ließ sie die Sprechtaste zu spät los und schnitt Altons Antwort ab. Sie drückte noch einmal und sagte: «Daddy?», aber Alton musste gleichzeitig gesprochen haben, denn als sie wieder auf Empfang drückte, hörte sie nur Rauschen.

Madeleine nutzte die Gesprächspause, um ihre Stirn an den Türrahmen zu lehnen. Das Holz fühlte sich angenehm und kühl an. Ihr kam der Gedanke, dass sie ihre Kopfschmerzen vielleicht loswürde, wenn sie das Gesicht gegen das lindernde Holz gepresst ließe, und dass sie, wenn sie die Stirn für den Rest des Tages an den Türrahmen lehnen, die Wohnung aber trotzdem irgendwie verlassen könnte, möglicherweise sogar in der Lage wäre, das Frühstück mit ihren Eltern durchzustehen, bei der Eröffnungsprozession mitzumarschieren, ihr Zeugnis in Empfang zu nehmen und zu graduieren.

Sie hob den Kopf und drückte wieder auf die Sprechtaste.

«Daddy?»

Aber es war Phyllidas Stimme, die sich meldete.

«Maddy? Was ist los? Lass uns rein.»

«Die anderen schlafen noch. Ich komme runter. Hört auf zu klingeln.»

«Wir wollen doch deine Wohnung sehen!»

«Nicht jetzt. Ich komme runter. Und nicht klingeln.»

Sie nahm die Hand von den Tasten und wich zurück, wie gebannt auf die Sprechanlage starrend, als traute sie ihr doch noch ein Geräusch zu. Da es still blieb, ging sie den Flur entlang zum Bad. Auf halber Strecke tauchte eine ihrer Mitbewohnerinnen, Abby, aus ihrem Zimmer auf und versperrte den Weg. Gähnend fuhr Abby sich durchs volle Haar und lächelte wissend, als sie Madeleine bemerkte.

«Na», sagte sie, «wohin bist du denn gestern Abend verschwunden?»

«Meine Eltern sind unten», sagte Madeleine. «Ich muss zum Frühstück.»

«Na los. Erzähl schon.»

«Es gibt nichts zu erzählen. Ich bin spät dran.»

«Und weshalb trägst du dann immer noch dieselben Klamotten?»

Statt zu antworten, blickte Madeleine an sich hinunter. Zehn Stunden zuvor, als sie sich das schwarze Betsey-Johnson-Kleid von Olivia geliehen hatte, war sie begeistert gewesen, wie gut es ihr stand. Aber jetzt fühlte es sich heiß und klebrig an, der dicke Ledergürtel erinnerte an eine Sadomaso-Fessel, und oberhalb des Saums war ein Fleck, den sie lieber nicht identifizieren wollte.

Inzwischen hatte Abby bei Olivia geklopft und trat ein. «Von wegen Maddy und gebrochenes Herz», sagte sie. «Wach auf! Das musst du gesehen haben.»

Der Weg zum Bad war frei. Madeleines Bedürfnis nach einer Dusche war extrem, beinahe medizinisch. Zumindest musste sie sich die Zähne putzen. Aber nun war Olivias Stimme zu hören. Gleich würden sie Madeleine zu zweit ausfragen. Von ihren Eltern war zu erwarten, dass sie jede Sekunde wieder anfingen zu klingeln. Zentimeterweise, so leise wie möglich, bewegte sie sich rückwärts, steckte die Füße in ein Paar Slipper, die noch an der Tür standen, trat, ihr Gleichgewicht suchend, die Hacken herunter und floh ins Treppenhaus.

Der Aufzug wartete am Ende des geblümten Läufers. Wartete, so dämmerte es Madeleine, weil sie das Ding nicht geschlossen hatte, als sie ein paar Stunden zuvor herausgetaumelt war. Jetzt machte sie das Schiebegitter sorgfältig zu, drückte den Knopf zum Erdgeschoss, und mit einem Ruck begann der antike Kasten seine Abfahrt durch die Finsternis des Gebäudes.

Das Haus, in dem Madeleine wohnte, ein neoromanisches Prunkstück, genannt das Narragansett, war ein Jahrhundertwendebau an der abschüssigen Straßenecke von Benefit und Church Street. Zu den Stilelementen, die erhalten geblieben waren – dem Buntglasoberlicht, den bronzenen Wandleuchtern, der marmornen Eingangshalle–, gehörte der Aufzug. Wie ein riesiger Vogelkäfig war er aus gebogenen Metallstreben gefertigt, ein Wunder, dass er überhaupt noch funktionierte, aber er bewegte sich in Zeitlupe, und während er langsam nach unten sank, nutzte Madeleine die Gelegenheit, sich ein wenig herzurichten. Sie kämmte sich das Haar mit beiden Händen. Sie nahm den Zeigefinger, um sich die Schneidezähne zu polieren. Sie rieb sich krümelnde Wimperntusche von den Augen und befeuchtete die Lippen mit der Zunge. Schließlich, als sie an der Balustrade im ersten Stock vorbeikam, warf sie einen prüfenden Blick in den kleinen Spiegel an der Wand dahinter.

Das Beste daran, zweiundzwanzig oder vielmehr Madeleine Hanna zu sein, war die Tatsache, dass drei Wochen Liebesqualen, gefolgt von einer Nacht besinnungsloser Trinkerei, kaum sichtbaren Schaden hinterließen. Bis auf die verquollenen Augen war Madeleine immer noch dieselbe hübsche, dunkelhaarige junge Frau wie sonst. Ihre symmetrischen Gesichtszüge – die gerade Nase, die Katherine Hepburn’sche Wangen- und Kieferpartie – waren wie gestochen, von fast mathematischer Präzision. Nur eine winzige Falte auf der Stirn verriet etwas von der leicht verunsicherten Person, als die Madeleine sich im Innersten fühlte.

Unten sah sie ihre Eltern warten, gefangen in der Schleuse zwischen der Tür zur Eingangshalle und der zur Straße, Alton in einem Seersucker-Jackett, Phyllida im dunkelblauen Kostüm samt passender Handtasche mit Goldschnalle. Eine Sekunde lang verspürte Madeleine den Impuls, den Aufzug zu stoppen und ihre Eltern einfach dort stehen zu lassen, zwischen dem Müll der Collegestadt – den Postern von New-Wave-Bands mit Namen wie Wretched Misery oder Clits, den pornographischen Egon-Schiele-Zeichnungen des Designstudenten aus dem ersten Stock und all den schrillen, handkopierten Flugblättern, deren Subtext die Botschaft enthielt, dass die erbaulichen patriotischen Werte der Generation ihrer Eltern dem Aschehaufen der Geschichte angehörten, ersetzt durch eine nihilistische Postpunk-Sensibilität, die Madeleine selbst nicht verstand, die sie aber, um ihre Eltern zu schockieren, mit Vergnügen als verständlich ausgab–, bevor der Aufzug im Erdgeschoss hielt, sie das Gitter aufschob und die Halle betrat.

Alton war als Erster durch die Tür. «Da ist sie ja!», sagte er begeistert. «Unsere Collegeabsolventin!» In seiner zupackenden Art strömte er ihr entgegen, um sie in die Arme zu nehmen. Madeleine machte sich steif vor lauter Angst, nach Alkohol zu riechen oder, schlimmer noch, nach Sex.

«Ich weiß nicht, weshalb du uns deine Wohnung nicht zeigen wolltest», sagte Phyllida, die als Nächste kam. «Ich hatte mich schon gefreut, Abby und Olivia kennenzulernen. Wir würden sie später auch gern zum Essen einladen.»

«Wir bleiben nicht zum Essen», rief Alton ihr in Erinnerung.

«Vielleicht ja doch. Es hängt ganz davon ab, was Maddy vorhat.»

«Nein, das ist nicht geplant. Der Plan ist, dass wir mit Maddy frühstücken und nach dem Festakt wieder abfahren.»

«Dein Vater und seine Pläne», sagte Phyllida zu Madeleine. «Trägst du das Kleid bei der Zeremonie?»

«Ich weiß nicht», sagte Madeleine.

«Also diese Schulterpolster, mit denen die jungen Frauen alle herumlaufen – ich kann mich nicht daran gewöhnen. Die sehen so männlich aus.»

«Es gehört Olivia.»

«Du wirkst ziemlich mitgenommen, Mad», sagte Alton. «Groß gefeiert gestern Abend?»

«Nicht wirklich.»

«Hast du nichts Eigenes anzuziehen?», fragte Phyllida.

«Nachher habe ich doch meine Robe drüber, Mummy», sagte Madeleine, und um weiteren Nachforschungen vorzubeugen, ging sie an ihren Eltern vorbei durch die Halle. Draußen hatte die Sonne den Kampf gegen die Wolken verloren und war verschwunden. Das Wetter sah nicht viel besser aus als übers Wochenende. Der Campus Dance am Freitagabend war mehr oder weniger ins Wasser gefallen. Bei der zeremoniellen Bakkalaureatsfeier am Sonntag hatte es ununterbrochen genieselt. Und jetzt, am Montag, regnete es zwar nicht mehr, aber die Temperatur war ungemütlich, den Eisheiligen näher als der Sommerzeit.

Während Madeleine vor der Tür auf ihre Eltern wartete, fiel ihr wieder ein, dass sie gar keinen Sex gehabt hatte, jedenfalls nicht richtig. Das war immerhin ein Trost.

«Deine Schwester lässt sich entschuldigen, es tut ihr furchtbar leid», sagte Phyllida, als sie herauskam. «Sie muss heute mit Richard Löwenherz zum Ultraschall.»

Richard Löwenherz war Madeleines neun Wochen alter Neffe. Alle anderen nannten ihn Richard.

«Was hat er denn?», fragte Madeleine.

«Angeblich eine zu kleine Niere. Die Ärzte wollen es im Auge behalten. Wenn du mich fragst, findet man mit diesem ganzen Ultraschall immer nur neue Gründe, sich Sorgen zu machen.»

«Apropos Ultraschall», sagte Alton, «ich brauche einen für mein Knie.»

Phyllida schenkte ihm keine Beachtung. «Wie auch immer, Allie ist todunglücklich, dass sie bei deiner Graduierung nicht dabei sein kann. Und Blake ebenfalls. Aber sie hoffen, dich und deinen neuen beau im Sommer zu sehen, vielleicht besucht ihr sie ja auf dem Weg zum Cape.»

Vor Phyllida musste man sich hüten. So war sie: Erst redete sie scheinheilig über Richard Löwenherz’ zu kleine Niere, und schon fand sie den Dreh, das Gespräch auf Madeleines neuen Freund zu bringen – Leonard (den Phyllida und Alton noch nicht kannten) – und auf Cape Cod (wo Madeleine, wie sie angekündigt hatte, mit ihm zusammenleben wollte). An einem normalen Tag, mit funktionstüchtigem Gehirn, wäre Madeleine in der Lage gewesen, Phyllida einen Schritt voraus zu sein, aber an diesem Morgen brachte sie nichts Besseres zustande, als die Worte an sich vorbeiziehen zu lassen.

Zum Glück wechselte Alton das Thema. «Nun, Maddy, was empfiehlst du, wo sollen wir frühstücken?»

Madeleine drehte sich um und blickte vage die Benefit Street hinunter. «In der Richtung gibt es was.»

Sie begann, den Bürgersteig entlangzuschlurfen. Gehen – sich bewegen – schien jedenfalls eine gute Idee. Sie führte ihre Eltern an einer Reihe malerischer Häuser vorbei, hübsch instandgehaltenen Gebäuden, an denen historische Tafeln angebracht waren, und einem großen Mehrfamilienhaus mit Giebeldach. Providence war eine korrupte Stadt, von Kriminalität geplagt und von der Mafia beherrscht, aber hier, auf dem College Hill, sah man nicht viel davon. Das zweifelhafte Downtown und die sterbenden oder gestorbenen Textilfabriken lagen irgendwo da unten, in düsterer Ferne. Hier wanden sich die schmalen Straßen, oft kopfsteingepflastert, zwischen herrschaftlichen Anwesen den Berg hinauf oder schlängelten sich, eng wie das Himmelstor, um Puritanerfriedhöfe voller Grabsteine– Straßen mit Namen wie Prospect, Benevolent, Hope oder Meeting Street, die alle in ein baumreiches Gelände oben auf der Höhe mündeten: den Campus der Brown University. Allein die physikalische Erhabenheit suggerierte eine intellektuelle.

«Sind sie nicht wunderschön, diese schiefergepflasterten Gehsteige?», sagte Phyllida, im Gänsemarsch hinter Madeleine. «So welche hatten wir früher auch in unserer Straße. Die sehen einfach viel besser aus. Aber dann hat der Gemeinderat sie durch Beton ersetzt.»

«Und uns auch noch die Kosten aufgebrummt», sagte Alton. Er humpelte ein wenig hinterher. Am rechten Bein seiner dunkelgrauen Hose zeichnete sich der Wulst einer Kniestütze ab, die er ständig trug, ob auf dem Tennisplatz oder nicht. Alton war zwölf Jahre in Folge Clubmeister seiner Altersklasse gewesen, eines dieser Urgesteine mit weißem Schweißband um das kahle Haupt, schnippelnder Vorhand und blanker Mordlust in den Augen. Madeleine hatte immer wieder versucht, ihn zu schlagen, ohne Erfolg. Das ärgerte sie umso mehr, als sie inzwischen besser war als er. Aber sobald sie ihm einen Satz abnahm, schüchterte er sie ein, drangsalierte sie mit Gemeinheiten, stritt über die Punkte, und ihr Spiel fiel auseinander. Madeleine fürchtete, das habe etwas Paradigmatisches an sich, ja sie sei dazu bestimmt, sich ihr Leben lang von weniger fähigen Männern unterkriegen zu lassen. Am Ende hatte das Tennisspielen gegen Alton eine so maßlose persönliche Bedeutung für sie erlangt, dass sie sich verkrampfte, sobald sie auch nur den Platz betrat – mit dem vorhersehbaren Ergebnis. Und Alton klopfte sich immer noch auf die Siegerbrust, ganz rosig und hibbelig, als hätte er sie durch schieres Talent besiegt.

An der Ecke Benefit und Waterman gingen sie hinter dem weißen Turm der First Baptist Church über die Straße. In Erwartung der Festlichkeiten waren Lautsprecher auf dem Rasen des Kirchhofs aufgestellt. Ein Mann mit Fliege, dem Aussehen nach ein Studienleiter, zog angespannt an einer Zigarette und inspizierte einen dicken, an den Zaun gebundenen Strauß Luftballons.

Inzwischen hatte Phyllida Madeleine eingeholt und sich bei ihr untergehakt, wegen der Stolperfallen im Schieferbelag, dem die Wurzeln der knorrigen Platanen am Straßenrand von unten zusetzten. Als kleines Mädchen hatte Madeleine ihre Mutter schön gefunden, aber das war lange her. Phyllidas Gesicht war mit den Jahren schwerer geworden, sie bekam Hängebacken wie ein Kamel. Ihre konservative Kleidung – im Stil einer Wohltätigkeitsdame oder einer Botschafterin – kaschierte weitgehend ihre Figur. Ihre Stärke war das Haar: ein kostspieliges Gebilde in Form einer glatten Kuppel, eine Konzertmuschel zur Präsentation der Langzeitvorstellung ihres Gesichts. Denn solange Madeleine sich erinnern konnte, war Phyllida nie um Worte verlegen gewesen, nie verdruckst, wenn es um die Einhaltung der Etikette ging. Im Kreis ihrer Freundinnen machte Madeleine sich gern über die Förmlichkeit ihrer Mutter lustig, aber insgeheim, im Vergleich zum Benehmen anderer Leute, schnitt Phyllida oft besser bei ihr ab.

Und jetzt sah sie Madeleine mit einem Ausdruck an, der diesem Moment genau entsprach: im Fieber von Glanz und Gloria der bevorstehenden Zeremonie, begierig, jedem von Madeleines Professoren, der ihr über den Weg lief, intelligente Fragen zu stellen oder mit den Eltern anderer graduierender Studenten Scherze auszutauschen. Kurz, sie war für jeden und für alles zu haben, im Gleichschritt mit dem gesellschaftlichen und akademischen Gepränge, was Madeleine nun erst recht das Gefühl vermittelte, aus dem Tritt zu sein, für diesen Tag und den Rest ihres Lebens.

Trotzdem trieb es sie vorwärts, über die Waterman Street und die Treppe des Carr House hinauf, wo sie sich Zuflucht und Kaffee erhoffte.

Das Café hatte gerade aufgemacht. Der junge Mann hinter der Theke, einer mit Elvis-Costello-Brille, war noch damit beschäftigt, die Espressomaschine auszuspülen. An einem Tisch an der Wand saß ein Mädchen mit steifen, pinkfarbenen Haaren, das Nelkenzigaretten rauchte und Die unsichtbaren Städte las. Aus der Stereoanlage auf dem Kühlschrank rieselte «Tainted Love».

Phyllida, die ihre Handtasche schützend vor der Brust hielt, war stehen geblieben und musterte die Studentenkunst an den Wänden: sechs Bilder von hautkranken kleinen Hunden, die Halsbänder aus Bleichmittelflaschen trugen.

«Ist das nicht lustig?», sagte sie großzügig.

«La bohème», sagte Alton.

Madeleine platzierte ihre Eltern an einem Tisch am Erkerfenster, so weit wie möglich vom pinkhaarigen Mädchen entfernt, und ging an die Theke. Der Elvis-Costello-Typ ließ sich Zeit, bis er sie bediente. Sie bestellte drei Kaffee – einen großen für sich selbst – und Bagels. Während die Bagels aufgebacken wurden, brachte sie die Getränke an den Tisch.

Alton, der nicht ohne Zeitung frühstücken konnte, hatte sich eine liegen gelassene Village Voice vom Nebentisch genommen und las. Phyllida starrte unverhohlen auf das pinkhaarige Mädchen.

«Glaubst du, das ist bequem?», erkundigte sie sich leise.

Als Madeleine sich umdrehte, sah sie die tausend Sicherheitsnadeln, von denen die zerfetzten schwarzen Jeans des Mädchens zusammengehalten wurden.

«Wie soll ich das wissen, Mummy? Geh doch hin und frag sie selbst.»

«Ich habe Angst, dass sie mich pikst.»

«Diesem Artikel zufolge», sagte Alton, die aufgeschlagene Voice vor sich, «hat es bis zum neunzehnten Jahrhundert keine Homosexualität gegeben. Sie wurde erst erfunden. In Deutschland.»

Der Kaffee war heiß, lebensrettend gut. Ihn zu schlürfen half Madeleine, sich nicht mehr ganz so elend zu fühlen.

Ein paar Minuten später ging sie die Bagels holen. Obwohl sie leicht angebrannt waren, wollte Madeleine nicht auf neue warten und brachte sie an den Tisch. Nachdem Alton seinen mit saurer Miene inspiziert hatte, begann er ihn rabiat mit einem Plastikmesser abzuschaben.

Phyllida fragte: «Was ist mit Leonard, sehen wir ihn heute?»

«Ich bin mir nicht sicher», sagte Madeleine.

«Irgendwas Genaueres, das wir wissen dürften?»

«Nein.»

«Bleibt es dabei, dass ihr beide im Sommer zusammenziehen wollt?»

Gerade hatte Madeleine zum ersten Mal von ihrem Bagel abgebissen. Und da es kompliziert war, die Frage ihrer Mutter zu beantworten – genau genommen wollten Madeleine und Leonard nicht mehr zusammenziehen, weil sie seit drei Wochen getrennt waren, aber Madeleine hatte die Hoffnung auf eine Versöhnung noch nicht aufgegeben, und nachdem sie ihre Eltern nun schon einmal so mühsam an den Gedanken ihres Zusammenlebens mit einem Typen gewöhnt hatte, wollte sie nicht alles wieder aufs Spiel setzen, indem sie zugab, dass der Plan gestorben sei–, war sie heilfroh, auf ihren vollen Mund deuten zu können, wodurch ihr die Antwort erspart blieb.

«Na schön, du bist ja jetzt erwachsen», sagte Phyllida. «Du kannst machen, was du willst. Trotzdem, nur um es klarzustellen: Ich muss sagen, ich finde es nicht gut.»

«Das hast du schon oft genug klargestellt», mischte Alton sich ein.

«Weil es immer noch eine schlechte Idee ist!», rief Phyllida. «Ich meine nicht, ob es sich gehört. Ich spreche von den praktischen Problemen. Wenn du mit Leonard – oder mit welchem jungen Mann auch immer – zusammenziehst und er derjenige ist, der eine Arbeit hat, bist du von vornherein im Nachteil. Was passiert, wenn es mit euch beiden nicht so läuft? Wo bleibst du dann? Dann hast du nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf. Und nichts zu tun.»

Dass ihre Mutter mit ihrer Analyse richtiglag, ja dass die Zwickmühle, vor der Phyllida sie warnte, genau die war, in der sie bereits steckte, entlockte Madeleine kein Zeichen der Zustimmung.

«Du hast deine Arbeit aufgegeben, als wir uns kennenlernten», sagte Alton zu Phyllida.

«Darum weiß ich ja, wovon ich rede.»

«Können wir das Thema wechseln?», sagte Madeleine, die ihren Bissen endlich geschluckt hatte.

«Natürlich, Schätzchen. Nur eins noch, das Letzte, was ich dazu sagen will: Falls du deine Pläne änderst, kannst du jederzeit nach Hause kommen. Dein Vater und ich wären glücklich, dich bei uns zu haben.»

«Ich nicht», sagte Alton. «Ich will sie nicht. Nach Hause zurück, das ist immer eine schlechte Idee. Bleib bloß weg.»

«Keine Angst», sagte Madeleine, «das werde ich.»

«Du hast die Wahl», sagte Phyllida. «Aber falls du nach Hause kommst, steht dir der Anbau zur Verfügung. Da kannst du kommen und gehen, wann du willst.»

Zu Madeleines eigener Überraschung ging ihr dieser Vorschlag einen Augenblick durch den Sinn. Weshalb nicht alles ihren Eltern erzählen, sich auf der Rückbank des Autos zusammenrollen und mit nach Hause nehmen lassen? Sie könnte wieder in ihr altes Zimmer mit dem Schlittenbett und der Madeline-Tapeteziehen. Sie könnte eine alte Jungfer werden wie Emily Dickinson, brillante Gedichte mit lauter Gedankenstrichen schreiben und nie ein Pfund zunehmen.

Phyllida riss sie aus ihrer Träumerei.

«Maddy?», sagte sie. «Ist das nicht dein Freund Mitchell?»

Madeleine wirbelte auf ihrem Stuhl herum. «Wo?»

«Ich glaube, das ist er. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite.»

Tatsächlich, vor der Kirche, kerzengerade im Schneidersitz auf dem frisch gemähten Rasen, saß Madeleines «Freund» Mitchell Grammaticus. Seine Lippen bewegten sich, als führte er Selbstgespräche.

«Willst du ihn nicht fragen, ob er uns Gesellschaft leistet?», sagte Phyllida.

«Jetzt?»

«Warum nicht? Ich würde mich freuen, Mitchell wiederzusehen.»

«Wahrscheinlich wartet er auf seine Eltern», sagte Madeleine.

Phyllida winkte, obwohl Mitchell bei der Entfernung nichts davon mitbekommen konnte.

«Was macht er da, am Boden?», fragte Alton.

Die drei Hannas starrten über die Straße auf Mitchell in seinem halben Lotussitz.

«Also, wenn du nicht hingehst, tue ich es», sagte Phyllida.

«Okay», sagte Madeleine. «Von mir aus. Ich geh ihn fragen.»

Es wurde allmählich wärmer, aber nicht viel. Schwarze Wolken türmten sich in der Ferne, als Madeleine die Treppe des Carr House hinunter und über die Straße zum Kirchhof ging. Im Inneren der Kirche probierte jemand die Lautsprecher aus, wiederholte übereifrig: «Sussex, Essex und Kent. Sussex, Essex und Kent.» Auf einem Transparent über dem Eingangsportal stand «Abschlussjahrgang 1982». Darunter, im Gras, saß Mitchell. Seine Lippen bewegten sich immer noch lautlos, aber als er Madeleine kommen sah, hörten sie unversehens damit auf.

Madeleine hielt ein paar Schritte Abstand.

«Meine Eltern sind da», erklärte sie.

«Heute ist Abschlussfeier», erwiderte Mitchell gleichmütig. «Da sind alle Eltern da.»

«Sie möchten dir guten Tag sagen.»

Mitchell lächelte schwach. «Sie haben sicher keine Ahnung, dass du nicht mehr mit mir sprichst.»

«Nein», sagte Madeleine. «Aber egal, ich tue es ja. Jetzt. Ich spreche mit dir.»

«Weil du musst oder als neue Strategie?»

Madeleine wechselte das Standbein, verzog leidend das Gesicht. «Weißt du. Ich bin fürchterlich verkatert. Ich habe kaum geschlafen. Jetzt sind meine Eltern ungefähr zehn Minuten da, und schon machen sie mich wahnsinnig. Also, wenn du so nett sein würdest, auf einen Sprung rüberzukommen – das wäre toll.»

Mitchell, mit seinen großen, gefühlvollen Augen, blinzelte zweimal. Er trug ein altmodisches Gabardinehemd, eine dunkle Wollhose und ausgebeulte Budapester. Madeleine hatte ihn noch nie in Shorts oder Tennisschuhen gesehen.

«Tut mir leid», sagte er. «Wegen neulich.»

«Schon gut», sagte Madeleine mit abgewandtem Blick. «Macht nichts.»

«Es war einfach mein innerer Schweinehund.»

«Meiner auch.»

Sie schwiegen eine Weile. Madeleine spürte Mitchells Blick und verschränkte die Arme vor der Brust.

Folgendes war passiert: Eines Abends im letzten Dezember war Madeleine, in einer Art Torschlusspanik um ihr Liebesleben, Mitchell auf dem Campus in die Arme gelaufen und hatte ihn mit nach Hause genommen. Aus einem Bedürfnis nach männlicher Aufmerksamkeit hatte sie, ohne es sich richtig einzugestehen, mit ihm geflirtet. Später, in ihrem Zimmer, hatte Mitchell eine Dose tiefenwirksames Wärmegel auf dem Tisch entdeckt und gefragt, wofür das gut sei. Madeleine hatte erklärt, sportliche Menschen bekämen manchmal Muskelschmerzen. Ihr sei klar, dass ihm dieses Phänomen wohl kaum bekannt sein dürfte, da er ja nichts anderes tue, als in der Bibliothek zu hocken, aber er könne es ihr glauben. Daraufhin hatte er sich von hinten an sie herangemacht und ihr einen Klumpen Wärmegel hinters Ohr geschmiert. Madeleine sprang auf, beschimpfte ihn und rieb das klebrige Zeug mit einem T-Shirt ab. Obwohl sie guten Grund hatte, wütend zu sein, war ihr (schon damals) bewusst, dass sie den Zwischenfall nur als Vorwand benutzte, um Mitchell wieder aus dem Zimmer zu bekommen und zu vertuschen, dass sie vorher mit ihm geflirtet hatte. Das Schlimmste an der ganzen Sache war Mitchells betroffenes Gesicht, als würde er jeden Augenblick anfangen zu weinen. Endlos beteuerte er, wie leid es ihm tue, er habe doch nur Spaß gemacht, aber sie forderte ihn auf zu gehen. In den folgenden Tagen hatte sie die Szene immer wieder vor ihrem inneren Auge abrollen lassen und sich zunehmend schlecht dabei gefühlt. Sie war kurz davor, Mitchell anzurufen, um sich zu entschuldigen, als sie einen Brief von ihm erhielt, einen höchst detaillierten, stichhaltig begründeten, psychologisch scharfsinnigen, versteckt feindseligen Vier-Seiten-Brief, in dem er sie eine «Anmach-Zicke» nannte und ihr Verhalten an besagtem Abend als «das erotische Äquivalent von Brot und Spielen, nur ohne Brot» beschrieb. Bei ihrer nächsten Begegnung hatte Madeleine so getan, als wäre er Luft, und seitdem hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen.

Jetzt, auf dem Rasen vor der First Baptist Church, blickte Mitchell zu ihr auf und sagte: «Okay. Gehen wir rüber zu deinen Eltern.»

Phyllida winkte, als sie die Treppe heraufkamen. Mit der turtelnden Stimme, die sie ihrem Liebling unter Madeleines Freunden vorbehielt, rief sie: «Habe ich mir doch gedacht, dass Sie das sind, da drüben im Gras. Sie sahen aus wie ein Swami!»

«Meinen Glückwunsch, Mitchell!», begrüßte Alton ihn mit herzlichem Händedruck. «Was für ein Tag heute. Ein echter Meilenstein. Eine neue Generation kommt ans Ruder.»

Sie baten Mitchell, Platz zu nehmen, und fragten, ob er etwas essen wolle. Madeleine ging frischen Kaffee holen, erleichtert, dass Mitchell da war und ihre Eltern unterhielt. Während sie ihn in seiner Altmännerkleidung von der Theke aus dabei beobachtete, wie er Alton und Phyllida ins Gespräch verwickelte, dachte sie das Gleiche, was sie früher schon so oft gedacht hatte: dass Mitchell genau der Typ des klugen, vernünftigen, Eltern entzückenden jungen Mannes war, in den sie sich verlieben und den sie heiraten sollte. Dass er für sie gerade deshalb, wegen seiner Eignung, niemals der Mann zum Verlieben und zum Heiraten sein würde, war bei allen Störfällen dieses Morgens nur ein weiteres Zeichen dafür, wie hoffnungslos verkorkst sie in Herzensangelegenheiten war.

Als sie an den Tisch zurückkehrte, nahm niemand Notiz von ihr.

«Sagen Sie, Mitchell», fragte Phyllida gerade, «was wollen Sie nach dem Abschluss machen?»

«Dieselbe Frage hat mein Vater mir auch gestellt», erwiderte Mitchell. «Aus irgendeinem Grund glaubt er, dass ein Bachelor in Religionswissenschaft sich nicht vermarkten lässt.»

Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte Madeleine. «Seht ihr? Mitchell hat auch noch keinen Job in Aussicht.»

«Na ja, irgendwie schon», sagte Mitchell.

«Hast du nicht», konterte sie.

«Doch, im Ernst.» Er erklärte, er und sein Mitbewohner, Larry Pleshette, hätten sich ein probates Mittel ausgedacht, um der Rezession die Stirn zu bieten. Als Geisteswissenschaftler, die in Zeiten einer Arbeitslosenrate von 9,5Prozent auf den Arbeitsmarkt geworfen würden, seien sie nach gründlichen Überlegungen zu dem Entschluss gekommen, das Land verlassen und so lange wie möglich wegzubleiben. Am Ende des Sommers, wenn sie genügend Geld zusammengespart hätten, würden sie eine Rucksacktour durch Europa unternehmen, alles abklappern, was es dort zu sehen gab, dann weiterfliegen nach Indien und dort bleiben, bis das Geld ausgegeben sei. Die ganze Reise werde acht oder neun Monate dauern, vielleicht sogar ein ganzes Jahr.

«Du gehst nach Indien?», sagte Madeleine. «Das ist kein Job.»

«Doch», sagte Mitchell. «Professor Hughes nimmt uns als Forschungsassistenten.»

«Hughes? Der Theater-Prof?»

«Ich habe kürzlich eine Reportage über Indien gesehen», sagte Phyllida. «Es war schrecklich deprimierend. Diese Armut!»

«Für mich ist das ein Plus, Mrs.Hanna», sagte Mitchell. «Ich gedeihe im Elend.»

Phyllida, die solche Kalauer unwiderstehlich fand, gab ihre Feierlichkeit auf und wogte vor Vergnügen. «Dann ist es wohl der richtige Ort für Sie!»

«Vielleicht sollte ich auch eine Reise machen», sagte Madeleine drohend.

Niemand reagierte. Stattdessen fragte Alton: «Welche Impfungen braucht man eigentlich für Indien?»

«Cholera und Typhus. Gammaglobulin ist freiwillig.»

Phyllida schüttelte den Kopf. «Ihre Mutter muss ja krank vor Sorge sein.»

«Als ich beim Militär war», sagte Alton, «haben sie uns wer weiß wie viele Sachen gespritzt. Und nicht mal gesagt, wofür das Zeug gut sein sollte.»

«Ich glaube, ich mache das», sagte Madeleine lauter. «Ich fahre nach Paris, statt mir einen Job zu suchen.»

«Mitchell», fuhr Phyllida fort, «bei Ihrem Interesse für Religionswissenschaft ist Indien bestimmt ein Volltreffer. Da gibt es alles. Hindus, Muslime, Sikhs, Zoroastrier, Jains, Buddhisten. Wie Eissorten bei Baskin & Robbins! Ich war immer fasziniert von Religion. Im Gegensatz zu meinem Ehemann, diesem ungläubigen Thomas.»

Alton zwinkerte. «Ich glaube kaum, dass es den ungläubigen Thomas je gegeben hat.»

«Kennen Sie Paul Moore, Bischof Moore, von der Kathedrale Saint John the Divine?», fragte Phyllida, um Mitchells Aufmerksamkeit eifernd. «Er ist ein guter Freund von uns. Vielleicht wäre er interessant für Sie. Wir würden uns freuen, Sie mit ihm bekannt zu machen. Wenn wir in New York sind, höre ich mir jedes Mal die Messe in der Kathedrale an. Waren Sie schon mal dort? Oh. Das muss man erlebt haben. Es ist – wie soll ich es beschreiben? Einfach divin!»

Phyllida legte sich die Hand an die Kehle, so begeistert war sie über ihr Bonmot, während Mitchell beflissen, wenn nicht gar mitgerissen lachte.

«Apropos religiöse Würdenträger», schaltete Alton sich ein. «Das erinnert mich an unsere Begegnung mit dem Dalai Lama. Habe ich Ihnen das schon mal erzählt? Damals, bei der Spendenaktion im Waldorf? Wir standen Spalier. Mindestens dreihundert Leute müssen es gewesen sein. Egal, als wir endlich die Ehre der persönlichen Aufwartung hatten, fragte ich den Dalai Lama: ‹Wie stehen Sie eigentlich zu Dolly Parton? Irgendwie verwandt?›»

«Es war so peinlich!», schrie Phyllida. «Ich bin im Boden versunken vor Peinlichkeit.»

«Daddy», sagte Madeleine, «es wird Zeit.»

«Was?»

«Ihr solltet aufbrechen, wenn ihr einen guten Platz bekommen wollt.»

Alton schaute auf seine Armbanduhr. «Wir haben noch eine ganze Stunde.»

«Es wird richtig voll», betonte Madeleine. «Ihr solltet jetzt los.»

Alton und Phyllida sahen Mitchell fragend an, als könnten sie sich auf seinen Rat verlassen. Madeleine gab ihm unter dem Tisch einen leichten Tritt, und prompt antwortete er: «Es wird bestimmt sehr voll.»

«Wo stellt man sich denn am besten hin?», fragte Alton, immer noch an Mitchell gewandt.

«Bei den Van Wickle Gates. Ganz oben am Ende der College Street. Da kommen wir raus.»

Alton erhob sich vom Tisch. Nachdem er Mitchell die Hand gegeben hatte, beugte er sich vor, um Madeleine auf die Wange zu küssen. «Dich sehen wir später. Miss Bakkalaureat 1982.»

«Meine Glückwünsche, Mitchell», sagte Phyllida. «Ich habe mich sehr gefreut, Sie zu sehen. Und denken Sie daran: Wenn Sie auf Ihrer Grand Tour sind, schicken Sie Ihrer Mutter massenhaft Briefe. Sonst schwebt sie in tausend Ängsten.»

Zu Madeleine sagte sie: «Vielleicht ziehst du dir vor der Prozession doch ein anderes Kleid an. Das da hat einen Fleck, den man sieht.»

Darauf durchquerten Alton und Phyllida in ihrer grellen elterlichen Aktualität, ganz Seersucker und Handtasche, Manschettenknöpfe und Perlen, den beige-braunen Backsteinraum des Carr House und verschwanden durch die Tür.

Wie zum Zeichen ihres Abgangs setzte ein neues Lied ein: Joe Jacksons hoch aufsteigende Stimme über einem Synthesizer-Beat. Der Typ hinter der Theke drehte die Lautstärke auf.

Madeleine legte ihren Kopf auf den Tisch, ihr Haar bedeckte das Gesicht.

«Nie wieder Alkohol», sagte sie.

«Die berühmten letzten Worte.»

«Du kannst dir nicht vorstellen, was mit mir los ist.»

«Wie sollte ich? Du hast ja nicht mit mir gesprochen.»

Ohne ihre Wange vom Tisch zu heben, sagte Madeleine in jämmerlichem Ton: «Ich bin obdachlos. Ich bin fertig mit dem College und ohne Dach über dem Kopf.»

«Klar doch.»

«Wirklich!», beharrte Madeleine. «Erst wollte ich mit Abby und Olivia nach New York. Dann sah es so aus, als würde ich aufs Cape ziehen, also habe ich den beiden gesagt, sie sollten sich eine andere Mitbewohnerin suchen. Und jetzt ziehe ich nicht aufs Cape und weiß nicht mehr, wohin. Meine Mutter will, dass ich nach Hause komme, aber eher würde ich mich umbringen.»

«Ich werde mich für den Sommer wieder zu Hause einquartieren», sagte Mitchell. «In Detroit. Du wärst wenigstens in der Nähe von New York.»

«Von Yale habe ich auch noch keine Rückmeldung, und es ist Juni», fuhr Madeleine fort. «Ich hätte mich schon vor über einem Monat erkundigen müssen! Ich könnte bei der Zulassungsstelle anrufen, aber aus Angst zu erfahren, dass sie mich abgelehnt haben, tue ich es nicht. Solange ich’s nicht weiß, bleibt mir immerhin die Hoffnung.»

Es verging eine Weile, bevor Mitchell wieder etwas von sich gab. «Komm doch mit nach Indien», sagte er dann.

Madeleine öffnete ein Auge und sah durch einen Haarkringel, dass Mitchell es nur halb im Spaß meinte.

«Eigentlich ist es gar nicht wegen Yale», sagte sie, holte tief Luft und gestand: «Leonard und ich haben Schluss gemacht.»

Es war überaus befriedigend, das zu sagen, ihre Traurigkeit zu benennen, und so war Madeleine verblüfft über Mitchells kühle Antwort.

«Warum erzählst du mir das?», sagte er.

Sie hob den Kopf, strich sich das Haar aus dem Gesicht. «Ich weiß nicht. Du wolltest doch wissen, was mit mir ist.»

«Eigentlich nicht. Ich habe nicht mal danach gefragt.»

«Ich dachte, es interessiert dich vielleicht», sagte Madeleine. «Weil du doch mein Freund bist.»

«Ach ja», sagte Mitchell mit einem plötzlich sarkastischen Unterton.«Unsere wunderbare Freundschaft! Unsere ‹Freundschaft› ist aber keine Freundschaft, weil sie nur nach deinen Bedingungen funktioniert. Du bestimmst die Regeln, Madeleine. Wenn du monatelang nicht mit mir sprechen willst, sprechen wir nicht miteinander. Dann willst du mit mir sprechen, weil du mich brauchst, damit ich deine Eltern unterhalte – also reden wir jetzt wieder. Wir sind Freunde, wenn du befreundet sein willst, und wir sind nie mehr als Freunde, weil du das ablehnst. Und ich – ich soll mich danach richten.»

«Tut mir leid», sagte Madeleine, die sich unter Druck gesetzt und überrumpelt fühlte. «Auf die Art mag ich dich eben nicht.»

«Genau!», schrie Mitchell. «Du fühlst dich körperlich nicht von mir angezogen. Okay, in Ordnung. Aber wer sagt dir eigentlich, du hättest mich je geistig angezogen?»

Madeleine reagierte wie von einer Ohrfeige getroffen. Wütend, gekränkt und aufgebracht zugleich.

«Du bist so ein» – sie suchte nach dem schlimmsten Ausdruck–, «so ein Wichser!» Sie hoffte, das Auftrumpfende zu bewahren, aber es stach in ihrer Brust, und zu ihrem Entsetzen brach sie in Tränen aus.

Mitchell wollte ihren Arm berühren, aber sie schüttelte ihn ab. Ruckartig stand sie auf und ging so beherrscht wie möglich, um nicht die Rolle des vor Wut heulenden Mädchens zu spielen, zur Tür hinaus und die Treppe zur Waterman Street hinunter. Mit dem festlichen Kirchhof konfrontiert, wandte sie sich bergab in Richtung Fluss. Sie wollte weg vom Campus. Die Kopfschmerzen waren zurückgekehrt, ihre Schläfen pochten, und als sie zu den Sturmwolken aufblickte, die sich wie weitere böse Verheißungen über Downtown sammelten, fragte sie sich, weshalb eigentlich alle so gemein zu ihr waren.

Madeleines Liebeswirren hatten zu einer Zeit begonnen, als sie Bücher von französischen Theoretikern las, die den Begriff der Liebe dekonstruierten. Semiotik 211 war ein Fortgeschrittenen-Seminar auf hohem Niveau, das von einem Überläufer aus dem Fachbereich für Anglistik gehalten wurde. Michael Zipperstein war zweiunddreißig Jahre zuvor als Vertreter des New Criticism an die Brown gekommen. Er hatte drei Generationen von Studenten die Methoden des close reading, der sprachlich genauen und biographiefernen Textinterpretation, eingebläut, ehe er 1975, während eines Forschungssemesters, sein Damaskuserlebnis hatte, in Paris, wo er bei einem Abendessen Roland Barthes kennenlernte und sich über einem Teller Cassoulet zu dem neuen Glauben bekehren ließ. Jetzt leitete er im Rahmen der neu geschaffenen Abteilung für semiotische Studien zwei Kurse: «Einführung in die semiotische Theorie» als Herbstveranstaltung und, im Frühjahr, «Semiotik 211». Hygienisch kahl geschoren, mit einem schnauzerlosen weißen Seemannsbart, trug Zipperstein vorzugsweise bretonische Fischerpullover und Breitcordhosen. Er begrub die Studenten unter seinen Lektürelisten: Neben den großen Semiotik-Stars– Derrida, Eco, Barthes – verpasste er den Teilnehmern von Semiotik 211 ein ganzes Elsternnest an Zusatzliteratur, das alles Mögliche enthielt, von Balzacs Sarrasine über verschiedene Nummern der Zeitschrift Semiotext(e) bis hin zu kopierten Auszügen aus Werken von E.M.Cioran, Robert Walser, Claude Lévi-Strauss, Peter Handke und Carl van Vechten. Voraussetzung für die Aufnahme ins Seminar war ein Einzelgespräch mit Zipperstein, in dessen Verlauf er seichte persönliche Fragen stellte, etwa nach dem Lieblingsessen oder der liebsten Hunderasse, und die Antworten mit rätselhaften Warhol’schen Bemerkungen kommentierte. Diese esoterische Sondierung, zusammen mit Zippersteins guruhafter Glatze und dem Rauschebart, gab seinen Studenten das Gefühl, eine spirituelle Prüfung bestanden zu haben und nun – zumindest jeden Donnerstagnachmittag für zwei Stunden – einer LitKrit-Elite auf dem Campus anzugehören.

Genau das wollte Madeleine. Sie hatte sich aus den reinsten und dämlichsten Gründen für Englisch als Hauptfach entschieden: weil sie leidenschaftlich gerne las. Das Univerzeichnis mit den Kursangeboten zu britischer und amerikanischer Literatur war für Madeleine, was der Modekatalog von Bergdorf für ihre Mitbewohnerinnen war. Über eine Ankündigung wie «ENG 274: Lylys Euphues» geriet sie in dieselbe Begeisterung wie Abby über ein Paar Cowboystiefel von Fiorucci. «ENG 450A: Hawthorne und James» erfüllte Madeleine mit einer prickelnden Erwartung sündiger Stunden im Bett, nicht unähnlich dem, was Olivia sich erhoffte, wenn sie mit Lycrahemd und Lederjacke in die Disco ging. Schon als Mädchen, in ihrem Elternhaus in Prettybrook, war Madeleine in die Bibliothek mit den für ihre Arme unerreichbar hoch hinaufwachsenden Regalen gewandert – mit Neuerwerbungen wie Love Story oder Myra Breckinridge, die etwas leicht Verbotenes verströmten, aber auch ehrwürdigen, ledergebundenen Ausgaben von Fielding, Thackeray und Dickens–, und die gebieterische Präsenz all dieser potenziell lesbaren Wörter hatte sie in ihren Bann gezogen. Eine ganze Stunde lang konnte sie ihren Blick über Buchrücken schweifen lassen. Ihre Katalogisierung der Familienbestände taugte, was die Übersicht betraf, mindestens so viel wie die Dewey-Dezimalklassifikation. Madeleine wusste auf Anhieb, wo alles war. In den Regalen am Kamin standen Altons Lieblingsbücher, Biographien amerikanischer Präsidenten und britischer Premiers, die Memoiren kriegslüsterner Außenminister, Romane übers Segeln oder Spionage von William F.Buckley dem Jüngeren. Phyllidas Bücher füllten die linke Seite der Gestelle vor dem Eingang zum Wohnzimmer, Romane und Essaysammlungen, die in der New York Review of Books besprochen worden waren, genauso wie Bildbände über Englische Gärten oder Chinoiserien. Auch heute noch, bei Aufenthalten in einem Bed and Breakfast oder einer Pension am Meer, kam Madeleine nicht am Hilferuf eines Regals voller verwaister Bücher vorbei. Sie strich mit den Fingern über die salzzerfressenen Umschläge. Sie fieselte von der Meeresluft zusammenpappende Seiten auseinander. Mit Taschenbuch-Thrillern oder -Krimis hatte sie kein Mitleid. Es waren die gottverlassenen Leinenbände, die schutzlosen, mit Vielfachringen abgestellter Kaffeetassen besudelten Dial-Press-Ausgaben von 1931, die Madeleine ins Herz stachen. Mochten ihre Freundinnen sie an den Strand rufen, die Clambake-Party schon im Gange sein – Madeleine setzte sich aufs Bett und las eine Weile, damit das traurige alte Buch nicht mehr ganz so traurig war. Auf diese Weise hatte sie Longfellows Hiawatha gelesen. Auch James Fenimore Cooper. Und H.M.Pulham, Esquire von John P.Marquand.

Trotzdem beunruhigte sie manchmal, was diese muffigen alten Bücher ihr antaten. Einige auf dem College hatten Englisch als Hauptfach gewählt, um sich auf ein Jurastudium vorzubereiten. Andere strebten eine Journalistenlaufbahn an. Der Klügste in den Spezialkursen ihres Honors-Programms, Adam Vogel, ein Professorenkind, wollte promovieren und selbst Professor werden. Blieb ein großes Kontingent an Leuten, die Englisch aus Verlegenheit studierten. Weil ihre linke Gehirnhälfte nicht für Naturwissenschaften taugte, weil Geschichte zu trocken, Philosophie zu schwierig, Geologie zu erdöllastig und Mathematik zu mathematisch war – weil sie sich weder musikalisch noch künstlerisch, noch finanziell zu irgendetwas motiviert fühlten oder sie, mindestens genauso schlau, Universitätsabschlüsse ansteuerten, indem sie das Gleiche taten, was sie schon in der Grundschule getan hatten: Geschichten lesen. Englisch war das Fach, das alle studierten, die nicht wussten, was sie studieren sollten.

Im dritten Studienjahr hatte Madeleine einen Honors-Kurs belegt, der unter dem Titel «Der marriage plot: Ausgewählte Romane von Austen, Eliot und James» angekündigt war. Geleitet wurde er von K.McCall Saunders. Saunders war ein neunundsiebzigjähriger Neu-Engländer. Er hatte ein langes Pferdegesicht und ein feuchtes Lachen, das sein prächtiges saniertes Gebiss entblößte. Seine pädagogische Methode war die, laut vorzulesen, was er vor zwanzig oder dreißig Jahren an Vorlesungen verfasst hatte. Madeleine blieb in dem Seminar, weil Professor Saunders ihr leidtat und die Leseliste so gut war. Nach Saunders’ Ansicht hatte der Roman mit dem marriage plot seinen Höhepunkt erreicht und sich von dessen Verschwinden nie wieder erholt. In jenen Zeiten, als der Erfolg im Leben von der Heirat, die Heirat aber wiederum vom Geld abhing, stand den Romanciers ein Stoff zur Verfügung, über den sie schreiben konnten. Die großen Heldenlieder besangen den Krieg, der Roman besang die Ehe. Die Gleichberechtigung, gut für die Frauen, war schlecht für den Roman. Und die Praxis der Scheidungen hatte ihm den Rest gegeben. Wäre es nicht vollkommen egal gewesen, wen Emma heiratet, wenn sie sich später hätte scheiden lassen können? Was wäre aus Isabel Archers Leben mit Gilbert Osmond geworden, wenn es einen Ehevertrag gegeben hätte? Aus Saunders’ Sicht hatte das Heiraten seine Bedeutung verloren, und damit auch der Roman. Wo fand man den marriage plot mit seiner verstrickten Liebeshandlung heutzutage noch? Nirgends. Man musste historische Romane lesen. Oder nicht westliche Romane über traditionelle Gesellschaften. Afghanische Romane, indische Romane. Man musste buchstäblich in der Zeit zurückgehen.

Das Thema der Hausarbeit, die Madeleine zum Abschluss des Seminars schrieb, lautete: «Der Fragemodus: Heiratsanträge und die (streng begrenzte) Sphäre der Weiblichkeit». Saunders war von ihrer Leistung so beeindruckt, dass er sie bat, ihn aufzusuchen. In seinem großelterlich riechenden Büro unterbreitete er Madeleine den Vorschlag, ihren Text zu einer Jahresarbeit im Honors-Programm auszubauen, wobei er sich zugleich bereit erklärte, sie zu betreuen. Madeleine lächelte höflich. Die Epochen, die sie interessierten – vom Regency bis zur Viktorianischen Ära–, waren Saunders’ Spezialgebiet. Er war goldig und gebildet, und aus den fehlenden Anmeldungen für seine Sprechzeiten ging klar hervor, dass ihn sonst niemand als Betreuer wollte, und so hatte Madeleine gesagt, ja, sie wolle diese Arbeit gern bei ihm schreiben.

Als Motto wählte sie eine Zeile aus Trollopes Die Türme von Barchester: «Es gibt kein Glück in der Liebe, außer am Ende eines englischen Romans.» Sie hatte vor, mit Jane Austen zu beginnen. Nach einer kurzen Erörterung von Stolz und Vorurteil, Überredung sowie Vernunft und Gefühl, im Wesentlichen allesamt Komödien, die mit einer Hochzeit enden, wollte sie zum viktorianischen Roman übergehen, wo die Dinge komplizierter und beträchtlich düsterer wurden. Middlemarch und Bildnis einer Dame enden nicht mit Hochzeiten. Sie beginnen mit der herkömmlichen Liebeshandlung des marriage plot – den Freiern, den Heiratsanträgen, den Missverständnissen–, gehen aber nach der Hochzeit weiter. Diese Romane folgen ihren sprühenden, intelligenten Heldinnen, Dorothea Brooke und Isabel Archer, in ihr enttäuschendes Eheleben, und hier erreichte der marriage plot seinen höchsten künstlerischen Ausdruck.

Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts war es mit dem marriage plot vorbei. Madeleine wollte die Arbeit mit einer Darstellung seines Niedergangs beenden. In Schwester Carrie ließ Dreiser seine Heldin Carrie erst ein sittenwidriges Leben mit dem verheirateten Drouet führen, dann eine ungültige Ehe mit Hurstwood schließen und am Ende ausreißen, um Schauspielerin zu werden – und das war erst 1900! Als Schlusspointe dachte Madeleine an einen Hinweis auf den Frauentausch bei Updike. Darin bestand der letzte Überrest des marriage plot: den Partnerwechsel «Frauentausch» statt «Männertausch» zu nennen. Als wären Frauen immer noch ein Besitzstück, das sich herumreichen ließe.

Professor Saunders meinte, Madeleine solle auch die historische Seite einbeziehen. Gehorsam hatte sie sich mit dem Aufkommen der Industrialisierung und der Kernfamilie, der Entstehung des Mittelstands und den Rechtsgrundlagen des Matrimonial Causes Act von 1857 beschäftigt. Aber es dauerte nicht lange, bis die Arbeit sie zu langweilen begann. Zweifel an der Originalität ihrer Ideen nagten an ihr. Sie hatte das Gefühl, Saunders’ Thesen aus dem marriage plot-Seminar wiederzukäuen. Ihre Besprechungen mit dem alten Professor waren entmutigend, darauf beschränkt, dass Saunders in den Seiten blätterte, die sie ihm gegeben hatte, und auf seine diversen, rot an den Rand geschriebenen Bemerkungen verwies.

Dann, eines Sonntagmorgens vor den Winterferien, saß Abbys Freund Whitney am Küchentisch und las etwas mit dem Titel Grammatologie. Als Madeleine fragte, worüber das Buch sei, gab Whitney ihr zu verstehen, die Vorstellung, ein Buch sei «über» etwas, sei genau das, wogegen dieses Buch sei, und wenn es doch «über» irgendetwas sei, dann über die Notwendigkeit, sich von dieser Vorstellung zu verabschieden. Madeleine sagte, sie mache sich erst mal einen Kaffee. Worauf Whitney sie bat, ihm auch einen zu machen.

Das College war nicht wie die wirkliche Welt. In der wirklichen Welt ließ man Namen wegen ihrer Berühmtheit fallen. Auf dem College ließ man Namen als Geheimtipp fallen – je obskurer, desto besser. So hörte Madeleine in den Wochen nach dem Wortwechsel mit Whitney andere Leute «Derrida» sagen. Sie hörte sie «Lyotard» und «Foucault», «Deleuze» und «Baudrillard» sagen. Dass die meisten dieser Leute solche waren, von denen sie instinktiv nicht viel hielt – Sprösslinge der oberen Mittelschicht, die Doc Martens und Anarchistensymbole trugen–, ließ Madeleine am Wert dieser Schwärmereien zweifeln. Aber bald bemerkte sie, dass auch David Koppel, der klug und dichterisch begabt war, Derrida las. Und Pookie Ames, die Gutachten für die Redaktion der Paris Review schrieb und die Madeleine mochte, besuchte einen Kurs bei Professor Zipperstein. Madeleine hatte immer eine Schwäche für grandiose Professoren gehabt, Persönlichkeiten wie Sears Jayne, die sich vor den Studenten ins Zeug legten, mit würgender Stimme Hart Crane oder Anne Sexton rezitierten. Whitney tat so, als wäre Professor Jayne ein Witz. Madeleine war anderer Meinung. Aber nach drei Jahren eines soliden Literaturstudiums hatte sie noch immer keine handfeste kritische Methodologie parat, die sie auf das hätte anwenden können, was sie las. Stattdessen redete sie verschwommen, unsystematisch über Bücher. Es war ihr peinlich zu hören, was die anderen im Seminarraum sagten. Und was sie selbst sagte. Ich finde, dass. Es ist interessant, wie Proust. Ich mag den Stil, den Faulkner.

Und als Olivia, die groß und schlank war und eine lange Aristokratennase wie ein Saluki hatte, eines Tages mit der Grammatologie unter dem Arm hereinkam, wusste Madeleine, dass aus dem Geheimtipp Mainstream geworden war.

«Wie ist dieses Buch eigentlich?»

«Hast du es nicht gelesen?»

«Würde ich sonst fragen?»

Olivia schniefte. «Sind wir etwa ein bisschen zickig heute?»

«Tut mir leid.»

«War doch nur Spaß. Es ist spitzenmäßig. Derrida ist mein absoluter Gott!»

Beinahe über Nacht wurde es lächerlich, Cheever oder Updike zu lesen, Schriftsteller, die über das Vorstadtmilieu schrieben, in dem Madeleine und die meisten ihrer Freunde aufgewachsen waren. Besser, man las de Sade, der über die anale Defloration von Jungfrauen im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts geschrieben hatte. Der Grund, warum de Sade vorzuziehen war, bestand darin, dass seine schockierenden Sexszenen nicht von Sex, sondern von Politik handelten. Sie waren deshalb anti-imperialistisch, anti-bürgerlich, anti-patriarchalisch – gegen alles, wogegen eine aufgeweckte junge Feministin sein musste. Das ganze dritte Collegejahr hindurch hatte Madeleine mustergültig Kurse wie «Viktorianische Fantasy-Literatur: Von Phantastus bis zu den Wasserkindern» belegt, doch im vierten und letzten Jahr konnte sie den Kontrast zwischen den versauerten, augenzuckenden Teilnehmern ihres Beowulf-Seminars und den Hipstern, die hinten im Gang Maurice Blanchot lasen, nicht mehr ignorieren. In den geldversessenen achtziger Jahren ließ das Collegeleben eine gewisse Radikalität vermissen. Semiotik war das Erste, was irgendwie nach Revolution schmeckte. Es zog eine Grenze; es schuf eine geistige Elite; es war feinsinnig und europäisch; es befasste sich mit provokanten Themen wie Folter, Sadismus oder Hermaphroditismus – mit Sex und Macht. Madeleine war in der Highschool immer beliebt gewesen. Das jahrelange Beliebtsein hatte ihr die Fähigkeit vermittelt, reflexartig zu unterscheiden, was cool und was uncool war, sogar innerhalb von Subgruppen wie dem Fachbereich für Anglistik, wo der Begriff des Coolen gar nicht angekommen schien.

Wenn das Restaurationsdrama einen runterzog, wenn man sich von der Plackerei mit Wordsworth-Gedichten wie ein grauer Bücherwurm fühlte, gab es eine andere Option. Man konnte K.McCall Saunders und dem alten New Criticism entfliehen. Man konnte sich ins neue Reich von Derrida und Eco absetzen. Man konnte sich für Semiotik 211 einschreiben und herausfinden, was es war, worüber die anderen alle redeten.

Semiotik 211 war auf zehn Teilnehmer beschränkt. Von den zehn hatten acht bereits die Einführung in die semiotische Theorie besucht. Das war bei der ersten Veranstaltung rein optisch zu erkennen. Um den Seminartisch lümmelten sich, als Madeleine aus dem Winterwetter hereinkam, acht Gestalten in schwarzen T-Shirts und zerrissenen schwarzen Jeans. Manche hatten die Kragen oder Ärmel ihrer T-Shirts abgeschnitten. Das Gesicht von einem war fast gruselig – wie das eines Babys, dem ein Backenbart gewachsen war–, und Madeleine brauchte eine ganze Minute, bis sie merkte, woran das lag: Er hatte sich die Augenbrauen abrasiert. Alle im Raum sahen so gespenstisch aus, dass Madeleines natürliche Gesundheit geradezu suspekt wirkte, wie eine Ja-Stimme für Reagan. Daher war sie erleichtert, als ein kräftiger Kerl mit Daunenjacke und Polarstiefeln auftauchte und sich auf den leeren Platz neben ihr setzte. Er hatte einen Plastikbecher Kaffee mitgebracht.

Zipperstein bat die Studenten, sich vorzustellen und zu erklären, weshalb sie das Seminar gewählt hatten.

Der ohne Augenbrauen machte als Erster den Mund auf. «Hm, na ja. Ich finde es schwierig, mich vorzustellen, weil die Idee von gesellschaftlicher Vorstellung so problematisch ist. Ich meine, wenn ich sage, mein Name ist Thurston Meems, aufgewachsen in Stamford, Connecticut, wisst ihr dann, wer ich bin? Okay. Ich heiße Thurston und komme aus Stamford, Connecticut. Ich mache diesen Kurs, weil ich vorigen Sommer die Grammatologie gelesen habe und es mich umgehauen hat.» Als Madeleines Sitznachbar an der Reihe war, sagte er mit ruhiger Stimme, er studiere zwei Hauptfächer (Biologie und Philosophie) und habe noch nie einen Semiotikkurs besucht, seine Eltern hätten ihn Leonard genannt, es habe sich immer als ganz praktisch erwiesen, einen Namen zu haben, vor allem, wenn man zum Essen gerufen werde, und wenn irgendjemand ihn mit Leonard anreden wolle, werde er antworten.

Mehr gab Leonard nicht von sich. Den Rest der Zeit saß er zurückgelehnt auf seinem Stuhl und streckte die langen Beine aus. Als er den Kaffee ausgetrunken hatte, kramte er in seinem rechten Polarstiefel und zog, zu Madeleines Erstaunen, eine Dose Kautabak hervor. Mit zwei braungefleckten Fingern schob er sich ein Knäuel Tabak in die Backe. Während der nächsten zwei Stunden spuckte er, ungefähr jede Minute, diskret, aber hörbar in den Becher.

Zipperstein verordnete ihnen im Wochentakt ein beängstigendes theoretisches Werk und dazu ein literarisches seiner Wahl. Die Kombinationen waren exzentrisch, wenn nicht das Ergebnis reiner Willkür. (Was hatte beispielsweise de Saussures Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft mit Pynchons Die Versteigerung von Nr.49 zu tun?) Zipperstein selbst bemühte sich weniger, die Veranstaltung zu leiten, als sie, verborgen hinter dem Einwegspiegel seiner undurchsichtigen Persönlichkeit, zu beobachten. Er sagte kaum ein Wort. Hin und wieder stellte er Fragen, um die Diskussion anzuheizen, und trat oft ans Fenster und starrte in Richtung Narragansett Bay, als dächte er an seine Holzschaluppe auf dem Trockendock.

Drei Wochen nach Kursbeginn, an einem Februartag mit Schneegestöber unter grauem Himmel, lasen sie Zippersteins eigenes Buch, Zeichen-Machen, und dazu ein literarisches von Peter Handke.

Es war immer peinlich, wenn Professoren ihre eigenen Bücher zur Diskussion stellten. Sogar Madeleine, die sich mit der Lektüre all der Texte schwertat, konnte erkennen, dass Zippersteins Beitrag zur Semiotik ein zweitrangiger Abklatsch war.

Alle schienen etwas verdruckst, solange über Zeichen-Machen geredet wurde, und atmeten auf, als sie nach der Pause zum literarischen Teil übergingen.

«Nun?», fragte Zipperstein und blinzelte hinter seiner runden Drahtbrille. «Was machen Sie jetzt aus dem Handke?»

Nach einem kurzen Schweigen ergriff Thurston das Wort: «Der Handke ist total abgedreht und deprimierend», sagte er. «Großartig, finde ich.»

Thurston mit seinem kurzen, gegelten Haar sah aus, als hätte er den Schalk im Nacken. Die augenbrauenlose Blässe verlieh seinem Gesicht einen Ausdruck von Superintelligenz, einem schwebenden, Geist gewordenen Gehirn.

«Etwas ausführlicher vielleicht?», sagte Zipperstein.

«Also, na ja, wissen Sie, Herr Professor, da geht’s um eine Sache, die mir am Herzen liegt – sich umbringen.» Die anderen Studenten kicherten, während Thurston sich aufwärmte, um dann erst richtig loszulegen. «Angeblich ist es autobiographisch, dieses Buch. Aber ich würde – mit Barthes – behaupten, dass der Akt des Schreibens an sich eine Fiktionalisierung ist, auch wenn tatsächliche Ereignisse behandelt werden.»

Bart. So sprach man es also aus. Madeleine machte sich eine Notiz, dankbar, dass ihr die Peinlichkeit erspart blieb.

Unterdessen fuhr Thurston fort: «Da begeht Handkes Mutter also Selbstmord, und Handke setzt sich hin, um darüber zu schreiben. Er will so objektiv wie möglich sein, vollkommen – erbarmungslos!» Thurston verkniff sich ein Lächeln. Am liebsten wäre er selbst jemand gewesen, der die Größe besaß, mit hochliterarischer Erbarmungslosigkeit auf den Selbstmord seiner Mutter zu reagieren, und sein weiches, junges Gesicht leuchtete vor Entzücken. «Selbstmord ist ein Tropus», verkündete er. «Vor allem in der deutschen Literatur. Da wäre Goethe mit seinem Werther. Da wäre Kleist. Hey, eben fällt mir etwas ein.» Er reckte einen Finger in die Luft: «The Sorrows of Young Werther.» Er hielt den Handke-Titel hoch: «A Sorrow Beyond Dreams. Meine These ist, dass Handke sich von der Last dieser großen Tradition erdrückt fühlte und dass dieses Buch sein Befreiungsschlag war.»

«Wie meinen Sie das, ‹Befreiung›?», fragte Zipperstein.

«Von dem ganzen teutonischen Sturm-und-Drang-Selbstmord-Scheiß.»

Der wirbelnde Schnee draußen vor den Fenstern sah halb nach Seifenflocken, halb nach Flockenasche aus, nicht richtig sauber und nicht richtig schmutzig.

«Die Werther-Anspielung scheint mir zwar gelungen», sagte Zipperstein. «Aber sie ist wohl eher das Werk des Übersetzers als das von Handke. Auf Deutsch heißt das Buch Wunschloses Unglück.»

Thurston lächelte, entweder vor Freude, weil er Zippersteins volle Aufmerksamkeit bekam, oder weil er fand, das Deutsche höre sich komisch an.

«Dahinter verbirgt sich ein Wortspiel mit einer deutschen Redewendung: wunschlos glücklich sein – das bedeutet, man ist so glücklich, dass man keine Wünsche mehr hat. Nur dass Handke hier eine hübsche Sinnverkehrung macht. Es ist ein ernster und seltsam schöner Titel.»

«Dann bedeutet er also, man ist so unglücklich, dass man keine Wünsche mehr hat», sagte Madeleine.

Zipperstein sah sie zum ersten Mal an.

«Gewissermaßen. Aber wie gesagt, bei der Übersetzung geht etwas verloren. Welchen Eindruck hatten Sie?»

«Von dem Buch?», fragte Madeleine und wurde sich im selben Moment bewusst, wie dämlich das klang. Sie verstummte, das Blut pochte in ihren Ohren.

Man errötete in englischen Romanen aus dem neunzehnten Jahrhundert, aber nicht in zeitgenössischen aus Österreich.

Bevor das Schweigen unangenehm wurde, kam Leonard ihr zu Hilfe. «Ich möchte etwas dazu sagen», warf er ein. «Wenn ich über den Selbstmord meiner Mutter schreiben wollte, würde ich mir bestimmt keinen Kopf darüber machen, wie das experimentell hinzukriegen ist.» Er beugte sich vor, beide Ellbogen auf dem Tisch. «Ich meine, hat sich denn niemand von Handkes sogenannter Erbarmungslosigkeit abgestoßen gefühlt? Hat niemand dieses Buch als etwas kalt empfunden?»

«Besser kalt als sentimental», sagte Thurston.

«Findest du? Warum?»

«Weil wir sentimentale Berichte von Söhnen und Töchtern über geliebte verstorbene Eltern schon oft genug gelesen haben. Tausendfach haben wir die gelesen. So was hat keine Kraft mehr.»

«Ich mache hier mal ein kleines Gedankenexperiment», sagte Leonard. «Nehmen wir an, meine Mutter hätte sich umgebracht. Und nehmen wir an, ich schriebe ein Buch darüber. Warum würde ich so etwas tun?» Er schloss die Augen und kippte den Kopf nach hinten. «Erstens würde ich es tun, um mit meinem Kummer klarzukommen. Zweitens vielleicht, um ein Bild von meiner Mutter zu entwerfen. Damit sie in meiner Erinnerung lebendig bleibt.»

«Und du glaubst, deine Reaktion wäre universell», sagte Thurston. «Weil du auf eine bestimmte Weise mit dem Tod eines Elternteils umgehst, müsste Handke es genauso machen.»

«Ich sage nur, dass es kein literarischer Tropus ist, wenn deine Mutter sich umbringt.»

Madeleines Herzschlag hatte sich wieder beruhigt. Sie hörte der Diskussion interessiert zu.

Thurston nickte, aber nicht unbedingt zustimmend. «Ja, okay», sagte er. «Handkes wirkliche Mutter hat sich umgebracht. Sie ist in einer wirklichen Welt gestorben, und Handke hat wirklichen Kummer oder was auch immer empfunden. Aber darum geht es nicht in diesem Buch. In Büchern geht es nicht ums wirkliche Leben. Bücher sind Bücher über andere Bücher.» Er hob seinen Mund wie ein Blasinstrument und stieß helle Töne aus. «Meine These ist, dass Handke hier, literarisch gesehen, das Problem zu lösen versucht, wie man über etwas schreiben soll – auch über etwas Wirkliches und Schmerzliches, Selbstmord beispielsweise–, wenn die Berge, die darüber schon geschrieben worden sind, einen jeder Originalität des Ausdrucks berauben.»

Was Thurston sagte, erschien Madeleine einleuchtend und schrecklich falsch zugleich. Vielleicht hatte er recht, aber das durfte nicht sein.

«Unterhaltungsliteratur oder Wie reitet man einen toten Gaul?», schlug Zipperstein witzelnd als Titel einer Arbeit vor.

Ein Anfall von Heiterkeit befiel die Runde. Als Madeleine sich umschaute, starrte Leonard sie an. Am Ende des Seminars sammelte er seine Bücher ein und ging.