Das größere Verbrechen - Anne Goldmann - E-Book

Das größere Verbrechen E-Book

Anne Goldmann

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Theres hat sich mit Fleiß, Geduld und Langmut ein gutes Leben zurechtgestrickt: Normalität als Kokon, der Sicherheit spendet. Fast hat sie geglaubt, ihr Leben im Griff zu haben. Doch eines Abends kommt ein Anruf, und das scheinbar wohlgeordnete Arrangement fliegt ihr um die Ohren. Ana ist bloß die Putzhilfe, Theres’ Familienidyll samt Ballast lässt sie kalt wie der Alltag der meisten Mittelständler, für die sie den Dreck wegmacht. Nur zur alten Frau Sudić hat sie ein besonderes Verhältnis. Die hat die Schrecken des Bosnienkriegs erlebt und sich nicht kleinkriegen lassen von Ohnmacht und ausufernder Gewalt … Jede der drei Frauen hütet Geheimnisse. Und eine von ihnen wird schrecklich herausgefordert: Reale und imaginäre Bedrohungen steigern sich zur eskalierenden Achterbahnfahrt – bis jemand zu Tode kommt. Mit der ihr eigenen zärtlichen Präzision geht Anne Goldmann den Verstrickungen nach, die bei so vielen Frauen Souveränität und Handlungsfähigkeit untergraben, und erschafft ein packendes Triptychon weiblicher Ängste und Konflikte. »In ihrer Welt ist niemand sicher. So unaufgeregt wie leise führt Anne Goldmann mit klarer Sprache mittenrein ins Grauen: Die Österreicherin setzt liebevoll in Szene, was mit Tätern, Opfern und deren Angehörigen geschieht. Wie leicht alles aus den Fugen geraten kann, allerorten.« Buchjournal

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 283

Veröffentlichungsjahr: 2018

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Theres hat sich mit Fleiß, Geduld und Langmut ein gutes Leben zurechtgestrickt: Normalität als Kokon, der Sicherheit spendet. Eines Abends kommt ein Anruf, und das scheinbar wohlgeordnete Arrangement fliegt ihr um die Ohren. Denn wie die ältere Frau Sudić hat auch Theres in ihrer Vergangenheit ein finsteres Kapitel, das nun Stück für Stück zutage tritt. Und dann geschieht ein Mord.

»In ihrer Welt ist niemand sicher. So unaufgeregt wie leise führt Anne Goldmann mit klarer Sprache mittenrein ins Grauen: Die Österreicherin setzt liebevoll in Szene, was mit Tätern, Opfern und deren Angehörigen geschieht. Wie leicht alles aus den Fugen geraten kann, allerorten.« Buchjournal

Über die Autorin

Die Wiener Autorin Anne Goldmann, geboren 1961, jobbte als Kellnerin, Küchenhilfe und Zimmermädchen, um sich die Ausbildung zur Sozialarbeiterin zu finanzieren. Einige Jahre arbeitete sie in einer Justizanstalt, derzeit betreut sie Straffällige nach der Haft. Anne Goldmann begann früh zu schreiben, veröffentlichte ein paar Texte, verwarf dann alles und entdeckte erst spät das Schreiben wieder neu. Für die Romane Das Leben ist schmutzig, Triangel und Lichtschacht

Anne Goldmann

Das größere Verbrechen

Roman

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2018

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Printausgabe: © Ariadne Verlag 2018

Lektorat: Else Laudan

Erscheinungsdatum: August 2018

ISBN 978-3-95988-1-227

Vorwort von Else Laudan

Gewalt verbiegt Menschen, und sie bleibt für die Betroffenen lange gegenwärtig. In Zeiten der Selbstoptimierung, wo der Ton härter wird und der soziale Kitt schnell bröckelt, ist wenig Raum für Heilungsprozesse, Versehrtheit macht einsam. Auch die politische Genreliteratur nimmt sich nur selten Zeit, die von traumatischen Erfahrungen hinterlassenen Frakturen aufzuspüren und ihrer Wirkungsweise nachzugehen.

Was, wenn der Boden der Normalität nicht trägt? Zahllose Frauen leben mit der schockierenden, manchmal dissoziierenden Erfahrung, dass ihr Körper de facto nicht ihnen gehört, dass er vielmehr im Konfliktfall eine Geisel ist, die entführt, missbraucht, geschunden werden kann.

Anne Goldmann webt aus diesem Material einen dunklen, packenden, stellenweise fast gruseligen Genre­roman. Empathie ist hier die mikroskopisch genaue Beobachtung von Verstrickung, Verdrängung, Rechtfertigung, die feinfühlige Betrachtung des persönlichen Morasts, in dem ein angeschlagener Mensch immer wieder versinkt. Dieses Sumpfland aus erlebten Schrecken, gefühlter Schuld und imaginierter Gefahr liefert miserables Rüstzeug für die funktionale Dynamik unserer Gesellschaft, in der Wärme, Loyalität, Gemeinschaft eher auf dem Rückzug sind. Anne Goldmann findet eine Erzählsprache, in der das Bedrohliche der eigenen Unzulänglichkeit greifbar wird. Sachte verstärkt sie den Druck, bis schon die Bewältigung des Alltags zum Action-Szenario gerät.

Der mühsame Kampf um die Aneignung der selbst erfahrenen Geschichte ist ein existenzieller Befreiungskampf, der vielleicht nie endet. Diesem Ringen wird in Das größere Verbrechen ein hochspannend erzähltes literarisches Denkmal gesetzt.

2018

Das Fenster steht Tag und Nacht offen. Ich brauche Luft.

»Irgendwann«, sagt Ana, »werden Sie unter einer Schneedecke in Ihrem Lehnstuhl sitzen und ich muss Sie ausgraben.«

Es tut nicht weh, wenn man erfriert, heißt es. Man trinkt eine Flasche Schnaps leer. Es wird warm. Und dann – es dauert nicht lange – ist man weg.

Manchmal flattert mein Herz wie ein verängstigter Vogel. Dann lege ich meine Hände auf die Stelle über der Brust und warte. Meine Beine sind schwer, die Haut ist dünn und trocken wie Seidenpapier. Ich gehe nur noch selten aus dem Haus.

»Es wird Frühling, Ana.« Aber sie ist schon in der Küche, telefoniert und klappert mit dem Geschirr. Ich höre Wasser laufen. Jetzt dreht sie den Hahn zu. Sie reißt ein Streichholz an und stellt die Kanne auf den Herd.

Ana kommt einmal die Woche, immer gegen Mittag. Sie kauft für mich ein und putzt die Wohnung, geht in die Apotheke. Die Schwestern wechseln. Jeden dritten Tag dreht sich kurz nach sieben der Schlüssel im Schloss, stürmt oder schlurft eine herein, fragt, wie es mir geht, kontrolliert die Medikamente, schaut in die Mappe – und dann auf mich. Die meisten beschränken sich so früh am Morgen auf das Nötigste. Zerren mehr oder weniger wortlos den Ärmel meines Nachthemds hoch, um die Manschette anzulegen und den Blutdruck zu messen. Nur die mit den dünnen glatten Haaren, die frisch geschieden ist, redet ohne Punkt und Pause.

Ich warte, bis sie wieder gehen. Ich bin am liebsten allein.

Der Innenhof ist voller Geräusche. Sie verändern sich mit dem Licht. Mit den Jahreszeiten. Bevor die Sonne aufgeht, beginnen die Vögel zu lärmen. Dann schlägt die Haustüre auf der Nebenstiege zu. Die Frau ist immer die Erste, die das Haus verlässt. Stöckelschuhe klacken auf dem Asphalt quer durch den Hof und stoppen bei den Coloniakübeln. Dann rennt sie weiter, und das Gittertor schlägt scheppernd hinter ihr zu. Die ersten Schulkinder kommen zwei Stunden später.

Ana reicht mir den Tee und stellt Butter und Marillenmarmelade vor mich hin. Einen kleinen Teller mit Brot. Es ist weich und flaumig. Der Tee duftet nach Jasmin. Ich wärme meine Hände am Glas. Ana bückt sich. Sie wringt den Mopp aus und beginnt, den Boden feucht zu wischen. Ihr kurzer quergestreifter, schimmernder Rock wippt bei jeder Bewegung mit. Sie hat lange dunkle Haare, die sie einmal glatt, dann wieder lockig trägt. Nachlässig hochsteckt. Zusammenbindet. Oder zu einem Zopf flicht. Sie ist zart und schmal wie ein Kind.

Der Tee ist stark, wie ich ihn mag. Zwei Stück Zucker, besser drei. Meine Hand zittert. Ich stelle das Glas ab und hebe die Beine ein wenig. Es strengt mich an. Meine Kraft ist verbraucht.

Sie hält inne. »Lassen Sie nur!« Der Mopp huscht unter den Polstersessel, um meine Füße herum und an mir vorbei. Die Wohnung ist nicht groß. Zimmer, Küche. Ein Kabinett, in dem die Nacht nicht vergeht. Ana ist rasch fertig. Sie richtet sich auf und stemmt stöhnend die Hände ins Kreuz.

»Du bist müde?«

»Ein bisschen.« Sie lacht und streckt sich. Gähnt verhalten. Ihre Augen unter den schön geschwungenen Brauen werden schmal und glitzern. Wie bei Nava. »Ich werde mich zu Hause kurz hinlegen. Am Abend gehe ich tanzen.«

»Mit wem?«

Manchmal setzt sie sich zu mir, während der Boden trocknet, und erzählt von den Orten, an denen sie unterwegs ist. Von den Nachtgestalten, die sie trifft.

Sie zuckt die Schultern.

»Du gehst nicht allein nach Hause? Du nimmst dir ein Taxi?« Ich kann nicht anders.

Sie lacht. »Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Sudić. Ich passe schon auf mich auf.« Ganz kurz berührt ihre Hand meinen Unterarm.

Ich vergesse zu atmen.

Ich war immer von starken Frauen umgeben. Frauen mit einem gesunden Menschenverstand, was sie jedoch nicht daran hinderte, Männer zu heiraten, die ihnen nicht gut­taten. Mein Großvater war Spieler. Seine Frau, meine Nana, ertrug es mit dem Gleichmut derer, die versuchen, das Beste aus einer Situation zu machen, an der sich im Grunde nichts ändern lässt. Sie nahm seinen Zorn hin, seine Euphorie und seine Niedergeschlagenheit, schuftete bis spät in die Nacht und hielt die Familie zusammen. Wenn man ihr etwas vorwerfen kann, dann das: Sie hat ihre Tochter nicht davon abgehalten, ihren Fehler zu wiederholen.

Als Kind habe ich mir geschworen, mich niemals einem Mann zu beugen. Was später kam, war nicht abzusehen. Was der Krieg aus den Menschen gemacht hat. Auf der einen wie auf der anderen Seite. Ich bin keine Ausnahme. Ich habe versagt.

Es ist sinnlos, darüber nachzudenken, was gewesen wäre, wenn … Wenn der Fluss, in dem wir als Kinder gebadet haben, sich nicht rot gefärbt hätte. Wenn die Wälder meiner Heimat ihre Unschuld hätten bewahren können. Jetzt sind sie Gräber für tausende Tote.

Der Mensch ist so: Er reißt sich zusammen, solange er muss. Aber er ist immer auf seinen Vorteil aus. Er nimmt sich, was er kriegen kann, sobald er die Gelegenheit dazu hat. Im Rudel gibt es kein Halten. Er verroht. Er entdeckt seine Lust am Quälen. Er tötet.

Jeder, das weiß ich heute, jeder ist zu allem fähig.

***

Die meisten Menschen können noch nach Jahren den einen Moment bis ins kleinste Detail beschreiben, in dem ein Zufall, eine Begegnung oder ein schlichter Anruf ihr ganzes Leben mit einem Schlag verändert hat.

Für Theres wird dieser Augenblick für immer mit dem Geruch von Bügelwäsche, dem tröstlichen Geräusch des Regens auf den großen Dachflächenfenstern und der unverwechselbaren Stimme von Billie Holiday verbunden bleiben – All of Me. Gloomy Sunday. Musik, die Thomas depressiv nennt und Nina antiquiert. Musik, die sie liebt.

Sie singt leise mit. Geht im hell erleuchteten Schlafzimmer hin und her, legt einen Stapel T-Shirts in den Schrank. Breitet die Arme aus und faltet Bettwäsche zusammen. Why not take all of me? Can’t you see I’m no good without you? Sie greift nach einem der neuen Geschirrtücher aus Leinen und streicht es glatt. Sie hat große Hände. Dünne, blasse Finger, die sie hässlich findet.

Ich weiß nicht, was du hast. Lackier dir die Nägel. Ein bisschen Farbe … Thomas versteht das nicht. Er findet sie schön. Sagt er. Deine Haare, Theres, deinen Mund.

Immer noch?

Ja, sagt er. Sicher. Klar.

Er weiß, woran sie denkt.

Er hat angerufen: Es wird später werden, ich muss noch zu einem Kunden. Du brauchst mit dem Essen nicht auf mich zu warten. Nina hat sich eine zweite Übernachtung bei den Großeltern ertrotzt. Immer fragt sie zuerst ihren Vater. ­Theres ist sauer, weil er sich nicht mit ihr abgesprochen hat, Thomas redet auf sie ein, Nina schmollt – und setzt sich durch.

Sie greift zum Bügeleisen und presst es energisch auf den knittrigen Stoff. Eine Wolke Dampf steigt auf. Ein Abendtermin. Nicht daran denken!Das ist vorbei.Acht Monate sind eine lange Zeit … Hastig bügelt sie drei, vier Geschirrtücher und legt sie ordentlich Kante auf Kante. Bis vor einem Jahr haben sie fast alles gemeinsam gemacht. Sie ist nicht gern allein. Also eine Kleinigkeit essen, ein bisschen fernsehen und früh schlafen gehen.

Ihr Handy schrillt. Sie zuckt zusammen. Es vibriert, surrt, kreiselt auf der glänzenden Oberfläche der Kommode wie ein dicker Käfer, der mit aller Kraft versucht, wieder auf die Beine zu kommen.

Sie stellt das Bügeleisen hochkant auf, streckt die Hand aus – und greift ins Leere. Der Boden ist glatt. Das Bügelbrett knallt gegen den Schrank. Metall scheppert gegen Metall. Reflexartig langt sie hin und reißt mit einem Schrei den Arm zurück. Das Bügeleisen pfaucht. Tränen schießen ihr in die Augen. Scharf zieht sie die Luft zwischen die Zähne und wedelt wild mit der verletzten Hand. Im Badezimmer dreht sie den Wasserhahn bis zum Anschlag auf. Das Läuten verstummt und setzt kurz darauf wieder ein.

»Rössler.« Vorsichtig bewegt sie ihre Finger. Sie sind taub vom kalten Wasser. Über der verbrannten Stelle kräuselt sich die Haut. Sie räuspert sich. »Rössler, hallo.« Klemmt das Telefon zwischen Schulter und Ohr, tupft vorsichtig Brandsalbe auf die Wunde und schraubt die Tube wieder zu. Eine Haarsträhne löst sich. Mit einer raschen Bewegung streicht sie sie hinters Ohr zurück. Ihr Mund wird schmal. »Hallo? Wer ist da?«

Stille.

Sie schluckt. Vor einer Woche hat das wieder angefangen: Sie meldet sich, horcht, spricht ins Leere.

Thomas, diese Anrufe …

Verwählt wahrscheinlich.

Kann es sein … glaubst du, dass sie …?

Theres, bitte! Mittlerweile ist er nicht mehr schuldbewusst, sondern nur noch genervt: Deine verdammte Eifersucht macht mich krank. Wie lange wirst du mir das noch vorhalten? Hast du noch nie einen Fehler gemacht?

Das ist der Moment, in dem sie unweigerlich den Blick senkt.

Sie hat so viele Fehler gemacht! Von Anfang an. Einen nach dem anderen: Keinen Beruf erlernt, nicht studiert wie ihre Schwester Caro. Dem Falschen vertraut. Sie war kleinmütig, feige, hat versagt. Moralisch. Als Mutter. Als Mensch.

Früher oder später, denkt sie, kriegst du alles zurück.

Ein fremder Geruch. Eine leise Ahnung. Ihr Mann strahlt, ist aufgekratzt, dann wieder mürrisch und schlecht gelaunt. Springt sofort in die Dusche. Jedes Mal nach der Arbeit. Sie bemüht sich, alles richtig zu machen. Zeigt Verständnis, übt sich in Geduld. Geht abends wieder laufen. Kauft neue Wäsche und lässt sich die Haare wachsen. Du musst das aussitzen. Das geht vorbei. Ihr Magen krampft, sie kann nichts essen – aber nachts, wenn er sich über sie beugt, sein Atem ihre Wange streift, sie ihn stöhnen hört, ist alles wieder fast wie früher. Da ist nichts. Nichts. Das bildest du dir ein. Sie weiß nicht, warum sie weint.

Dann steht sie zitternd nachts im kalten Flur, den Hörer am Ohr. Und eine Frauenstimme fragt: Thomas? Wo ist er? Ist er da?

Sie ist auf sich selber mindestens so wütend wie auf ihn.

Und jetzt geht das wieder los! Ihr Magen revoltiert. »Was soll das? Wer sind Sie? Sagen Sie endlich, was Sie von mir wollen, oder …«

Oder was? Ich rufe die Polizei?Ich zeige Sie an?

Mach dich nicht lächerlich, Theres! Hitze steigt ihr in die Wangen. »Ich …« – sie zögert – »ich lege jetzt auf!«

Seine Stimme erwischt sie kalt. »Spreche ich mit Theres … haben Sie früher Bürger geheißen?«

Er nennt ihr Geburtsdatum. Und seines. Ein leises Sirren, der Boden schwankt. Sie umklammert ihr plumpes altes Handy und reißt die Augen auf. Ihr Herz klopft wie verrückt. Gleich bleibt es stehen! Die Hand zuckt an den Hals. Sie hechelt. Langsam, Theres, langsam. Ruhig atmen. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich. In die hohle Hand. Hebt und senkt sich. Gleich ist es vorbei. Hebt und senkt sich. Ja. Ja, so ist es gut.

Alles psychisch, hat der Arzt gesagt. Organisch sind Sie gesund.

»Hallo? Sind … Sie noch da?«

Sie glüht. Sie räuspert sich und krächzt ein »Ja«, nickt, nickt, kann nicht mehr aufhören zu nicken. Wie eine Idiotin! Sie beißt auf die Knöchel, aber es hilft nicht. »Ja«, sagt sie mit fremder Stimme. »Ja. Ich heiße Theres …« Ein Zittern steigt ihre Beine hoch, und sie kann nichts dagegen tun.

»Ich bin Jan«, sagt er. Und nach zwei, drei Atemzügen: »Dein Sohn.«

Da ist ein Druck in ihren Ohren wie im Flugzeug bei der Landung. Sie stemmt die Beine in den Boden, schluckt. Ihr Zeigefinger pocht. Die Armbanduhr tickt. Sie hört ihn reden wie durch Watte. Hört den Wind. Den Regen. Ein Auto hupen. Und Billie klagen: Dreaming, I was only ­dreaming.I wake and I find you asleep in the deep of my heart, dear. Wie damals. Ihr ist heiß, ihr ist kalt. Wasser läuft die Fensterscheiben entlang. Sie sieht sich auf dem Bahndamm. In der Dunkelheit. Durchnässt bis auf die Haut. Das Baby im Bauch. Die Lichter des Zugs …

»Ich möchte dich treffen.«

Sie fährt sich mit dem Handrücken über die Wange. Blickt auf die weiße Wand einen Meter vor sich. Auf ihre Hände mit den kurz geschnittenen Nägeln. Den locker sitzenden schmalen Ehering.

Ab jetzt, das weiß sie, wird nichts mehr sein, wie es war.

***

2018

Bis zu jenem Tag im Herbst vor mehr als zwanzig Jahren – einem Dienstag, fast noch sommerlich warm (immer erinnere ich mich an Nebensächlichkeiten wie diese, während das Ganze an den Rändern unscharf wird und sich auflöst) – habe ich mich gefragt, wie einer weiterleben kann, der anderen das Schlimmste angetan hat, das Menschen einander antun können.

Träumen sie davon? Schreien sie manchmal nachts im Schlaf?

Ihre Gesichter sind glattrasiert – sonntags, wenn sie in der Kirche sitzen. Sie lachen, brechen ein Stück Brot ab und kauen. Singen, umarmen die Frau, das Kind. Sie gehen die Straße entlang wie andere auch, bleiben stehen, um mit dem Nachbarn ein paar Worte zu wechseln. Klopfen einander auf die Schultern. Der eine oder andere trinkt und wird sentimental, wenn eine Geige aufschluchzt oder der Akkordeonspieler zwischen den Tischen auf und ab geht, aber auch das ist nichts Neues. So waren sie vorher schon.

Wenn ich sage, dass es bei mir anders war, dass ich das nicht wollte, wird niemand mir glauben.

Ein Mensch ist tot durch meine Schuld. Ich sitze hier und rede mit Ana, als wäre nichts. Ich esse und schlafe und schaue aus dem Fenster wie davor.

***

Theres konnte später nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, warum sie nicht sofort losgefahren war. Aus Feigheit!, wird Thomas sie keine zwei Tage später anschreien. Aus purer Feigheit! Erst, als sie – Wochen später – wieder miteinander sprachen, alles gut geworden war, wie sie glaubte, billigte er ihr freundlichere Beweggründe zu. Da ging Jan schon bei ihnen ein und aus.

An diesem Nachmittag aber, der zunehmend dunkler wurde, während der Wind an den tropfnassen Sträuchern im Vorgarten zerrte, saß er in der gleichen Stadt, so nahe, in seinem Hotelzimmer und wartete.

Morgen erst? Sie hört ihn schlucken.

Aber ich muss doch …

Sie sinkt auf das Sofa und springt gleich wieder auf. Zupft an den Kissen herum, schüttelt sie auf und ordnet sie neu. Durchquert das Wohnzimmer, bleibt stehen, runzelt die Stirn und stellt die Obstschale wieder auf den Tisch.

Wo bist du?

Wie sie zum Fenster rennt und aufatmet: Die Straße ist leer. Kein Auto, keine Passanten. Niemand steht am Zaun.

In der Stadt. Ich hab mir ein Zimmer genommen.

Er nennt ihr die Adresse seines Hotels.

Kommst du?

Wie sie da steht wie betäubt, lange, nachdem er aufgelegt hat. Wie die Scheibe beschlägt von ihrem Atem. Und ­Billie … Billie singt.

Es hatte angefangen wie jede Liebesgeschichte: Ein Mädchen. Ein junger Mann. Herzklopfen, verstohlene Blicke, fahrige Gesten. Sie lebt für die nächste Pause und senkt erschrocken den Kopf, sobald er sich in ihre Richtung dreht. Er steht allein neben der Tür und sieht keinen an. Er ist älter als sie. Sehr schlank. Nagelneue weiße Sportschuhe. Messerscharfer Haarschnitt, hohe Backenknochen. Er sieht anders aus, fremd – und so verloren, wie sie sich fühlt.

Die Geräusche setzen wieder ein: Pausenlärm, Schreien, Lachen. Ein paar von den Jüngeren rennen kreischend herum und schubsen einander, obwohl das streng verboten ist. Die aus den Klassen über ihr stehen im hinteren Teil des Schulhofs in kleinen Gruppen beisammen. Sie rauchen hastig und verbergen ihre Zigaretten in der hohlen Hand.

Er hat seine in der Hosentasche und die Augen auf die gegenüberliegende Mauer gerichtet, wo es nichts zu sehen gibt außer ein paar mickrigen Kletterpflanzen, die ums Überleben kämpfen.

Er wird Ärger kriegen, wenn er sich mit dem Fuß an der frisch gestrichenen Wand abstützt!

Es scheint ihm so gleichgültig zu sein wie die Hitze.

Die Deutschlehrerin aus der Zweiten, die heute Pausenaufsicht hat, ist nirgendwo zu sehen.

Sie zieht ihren Rock übers Knie und streicht ihn glatt. Beißt in ihr belegtes Brot und kaut. Wo der Baumschatten endet, flimmert die Luft. Zwei Mitschülerinnen plumpsen neben sie auf die Bank. Sie rückt ein Stück zur Seite. Als sie wieder hinsieht, ist der Platz an der Wand leer.

Mehr als ein Jahr später – als er nicht mehr da ist, plötzlich wie vom Erdboden verschluckt und alle Versprechen gebrochen – ist der Himmel grau. Die Eltern holen sie aus dem Krankenhaus, wo sie geboren hat, und fahren sie nach Hause: zurück in die mit dunklen Möbeln vollgestellte Villa mit dem unverwechselbaren Geruch nach altem Holz, nach Lavendel und etwas Undefinierbarem, das sie entfernt an Ölkreiden erinnert und ihr noch heute den Magen hebt.

Sie haben auf mich eingeredet, wird sie sich später rechtfertigen. Ich bin aufgestanden, habe mich angezogen und bin mitgegangen. Wo sollte ich denn hin?

Das Neugeborene lassen sie zurück.

Sie wird in einer anderen Schule angemeldet. Tante Frida darf nicht mehr ins Haus. Der Vater gewinnt die Kommunalwahlen. Die Mutter steht neben ihm. Er hat den Arm um sie gelegt. Sie lächelt in die Kamera. Das ist ihr Triumph.

Das Leben ist nicht immer einfach, Kind, sagt sie. Da muss man durch. Mit der Zeit …, sagt sie. Du wirst sehen … Es wird wieder. So ist es immer.

Theres’ Augen weiten sich. Sie öffnet den Mund und schließt ihn wieder. Die rechte Hand liegt auf ihrer Brust. Es ist wie eine Amputation, flüstert sie. Sie beugt den Nacken. Die Haare fallen nach vorne und verdecken ihr Gesicht.

Ein blasser, feuchtkalter Tag lässt sie frösteln, als sie erneut aufs Amt fahren. Sie erinnert sich, dass während der ganzen Fahrt nur der Vater geredet hat. Im Lift hat es nach Essen gestunken. Sie ist aufs Klo gerannt.

Theres!

Die Eltern wechseln einen Blick. Der Vater hebt die ­Brauen, die Mutter schüttelt den Kopf. Im Besprechungszimmer setzt sie sich neben sie. Er bleibt stehen. Die Beamtin hinter dem Schreibtisch ordnet ein ums andere Mal die Papiere. Sie räuspert sich und schluckt.

Diskretion, sagt der Vater. Ein Wort von Ihnen oder einem Ihrer Mitarbeiter – zu wem auch immer – und Sie sind Ihren Job los. Ich kann keinen Skandal brauchen!

Theres heftet ihren Blick auf die herzförmigen Blätter der einzigen Pflanze, die geduckt in einem schiefen Blumenständer hockt. Auf die Sinnsprüche an der Wand.

Unsere Tochter hat genug mitgemacht! Die Mutter legt ihr die Hand auf die Schulter. Die Armreifen klingeln. Sie reckt das Kinn, die Sehnen straff, der Mund so schmal, als müsse sie an sich halten, um nicht zu schreien. Theres wendet den Kopf.

Die Frau schiebt ihr das Papier über den Tisch. Der Kugelschreiber klickt.

Sie greift zum Stift. Stiert auf das Blatt.

Alle warten.

Aufstehen und sagen: Ich will mein Kind zurück. Ich will es selber aufziehen.

Wie denn? Wo willst du hin? Und wovon leben? Es kennt dich nicht. Es streckt einer anderen Frau die Arme entgegen und lächelt sie an, wenn sie sich über sein Bettchen beugt.

Theres! Der Vater.

Die Mutter zieht abrupt ihre Hand zurück.

Ein halbes Jahr. Es bekommt gerade den ersten Zahn.

Theres!

Dann ist es vorbei. Der Sessel schrammt über den Boden, als sie aufsteht. Sie geht grußlos aus dem Raum, den langen Gang entlang, die breiten, glatten Stufen hinunter, die Schritte der Eltern immer hinter sich, reißt die Eingangstüre auf und lässt sie ins Schloss fallen, ohne auf sie zu achten. Der Wind schlägt ihr ins Gesicht. Auf dem Gehsteig liegt brauner Matsch, Eisregen prasselt auf sie nieder.

Der Wagen steht drei Straßen weiter. Der Vater kratzt fluchend die Windschutzscheibe frei, die Mutter knöpft sich den Mantel auf und beugt sich zur Seite nach dem Sicherheitsgurt. Ihr schweres Parfum – Bergamotte, Honig und Holz – steigt auf und vermischt sich mit dem Ledergeruch der Sitze.

Ein Regionalsender erfüllt Hörerwünsche. Der Vater zündet sich eine Zigarette an und schimpft über das Wetter, die Mutter schweigt, den Blick auf die nasse Fahrbahn gerichtet. Die Härchen ihres schwarzen Pelzkragens zittern unter dem Luftstrom der Heizung.

Theres hatte die ganze Zeit gefroren. Ihre Nagelhaut malträtiert, bis sie blutete. Sie hatte die grauen Bäume am Straßenrand gezählt und gewünscht, sie wäre tot.

***

2018

Es gibt ein Davor. Es gibt ein Danach. Man rappelt sich auf und geht weiter, einfach weil man noch am Leben ist. Weil man atmet und Hunger hat, weil nach allem der Schlaf kommt und lügt, dass es irgendwann vorbei sein wird. Dass es genügt zu tun, was man immer getan hat, dass die Schuld … dass die Zeit … vielleicht …

Aber die Zeit ändert nichts.

Ich habe alles verloren.

Ich bin immer noch dort.

***

Das Zimmer sieht aus wie immer. Nur das Tagebuch fehlt. Das Bett ist frisch bezogen, kühles, festes, steifes Leinen. Sie greift unter die Matratze. Wenigstens die Fotos sind noch da. Sie nimmt sie an sich. Ihre Brüste sind riesig – heiß und hart und von blauen Adern durchzogen. Zwischen ihren Beinen klafft eine Wunde. Sie rollt sich zusammen und zieht sich die Decke über den Kopf.

Die Mutter bringt ihr Hühnersuppe wie einer Kranken. Sie dreht sich weg. Ihr ekelt. Sie rührt nichts an.

Caro steht in der Tür. In einem geblümten rosa Kleidchen. Ihre weiße Strumpfhose wirft Falten über den Knien. Sie hat den Daumen im Mund wie ein Baby. Theres starrt sie an, bis sie erschrocken davonläuft.

Sie liegt in einem Kokon aus Watte. Nichts kommt an sie heran. Die Tage fließen ineinander. Am Morgen, am Abend schiebt sie sich die Tabletten in die Wange, greift zum Glas und trinkt.

Mach den Mund auf.

Sie öffnet die Lippen.

Die Mutter nickt.

Das wird wieder, Kind. Schlaf ein bisschen. Mit der Zeit … mit der Zeit … mit der Zeit …

Sie taumelt aufs Klo und betätigt die Spülung.

Du bist meine Frau. Meine Familie. Mein Alles. Wir gehören zusammen. Volim te. Egal, was kommt: Ich lass dich nicht allein. Vertrau mir.

Sie presst ihre Hände gegen die Ohren, aber es hört nicht auf: Wie dumm du bist! Als er hatte, was er wollte … Immer wieder dieser Satz.

Aber das stimmt nicht: Ihr lügt! Ihr lügt!

Sie geht auf ihre Mutter los, die erschrocken die Arme hochreißt. Dann ist der Vater da. Sie wird zurückgezerrt. Ohrfeigen linksrechts: Es reicht! Jetzt reiß dich zusammen! Du bist ja total hysterisch!

Er packt sie grob und schleift sie in ihr Zimmer. Er schnauft und schwitzt vor Anstrengung. Sie spürt die ­Schläge nicht.

Caro steht im Flur, den Daumen im Mund, und schaut ihnen nach.

Theres tastete nach dem Lichtschalter und kniff die Augen zusammen. Eine nackte Glühbirne tauchte den Raum in grelles Licht: Regale und ordentlich gestapelte Umzugskisten drängten sich aneinander. Der hintere Teil des Dachbodens war noch im Rohzustand, die Dachsparren sichtbar. Hier lagerten all die Dinge aus der alten Wohnung, für die sie im neuen Haus keinen Platz gefunden hatte.

Sie öffnete das Dachfenster. Das Regengeräusch wurde lauter, frische Luft strömte herein. Die Kopfschmerzen verstärkten sich, sie massierte sich die Schläfen. Fröstelnd legte sie die Arme um sich.

Morgen werde ich ihn sehen.Und dann …

Wie oft hatte sie heimlich an Kinokassen, in Eissalons, ihre kleine Tochter an der Hand, die fröhlich vor sich hin plapperte, nach einem anderen Kind Ausschau gehalten, von dem sie nichts wusste als seinen Geburtstag. In Wien mit ihrer Familie in der Straßenbahn, im Zug nach Salzburg, nach Graz, ein paar Jahre später.

Schülerhorden drängen sich ins Abteil. Wie sie sich gegenseitig stoßen, rempeln, sich auf die Sitze werfen, in ihren Rucksäcken wühlen.

Ob er ihm ähnlich sieht? Ein stiller großer Bub mit hohen Backenknochen und dunklen Haaren?

Thomas beugt sich zu ihr. Er lacht. Bist du müde? Er weiß von nichts.

Ich muss es ihm sagen! Heute noch.

Ihr war übel vor Angst.

Sie wusste nicht, wie lange sie schon da stand. Ein paar Minuten, eine Viertelstunde? Ihre Finger waren blass. Sie zog die Schultern hoch und rieb die Hände aneinander. Der Dachboden war empfindlich abgekühlt. Rasch schloss sie das Fenster.

Sie musste den Kopf einziehen, als sie sich über die große Truhe beugte. Unter alten Kissen und Decken fand sie einen kleinen Karton, der mit einem ausgeblichenen ­blauen Band verschnürt war. Sie setzte sich auf eine Umzugskiste und hielt die wenigen Fotos, die sie damals vor ihrer Mutter hatte retten können, ins Licht: zwei strahlende junge Gesichter, Wange an Wange. Automatenbilder, ein Passfoto von Edin, zwei Schnappschüsse und ein paar verblasste Polaroids, auf denen sie beide erschrocken in die Kamera blickten.

In ihrer Erinnerung war er ein Mann. Sie sah zwei halbe Kinder, kaum älter als Nina, die sich aneinander festhielten. Auf allen Fotos trugen sie den gleichen Anhänger – sie an einem Silberkettchen, er an einem Lederband. Wir gehören zusammen. Für immer. Sie fand ihre Hälfte der scharfkantigen Münze zwischen den alten Briefen an ihren Sohn. Die Entwürfe – atemlos hingeschrieben in ihrer akkuraten Schulmädchenschrift – klangen überhitzt und reichlich dramatisch. Sie war so jung gewesen! So folgsam, fügsam – abgesehen von dem einen Mal. Ihre Kehle brannte. Ihre Finger umklammerten den Anhänger. Sie drückte zu. Die Spitze bohrte sich tief in ihre Handfläche. Es half noch immer. Sie verstärkte den Druck, bis ihre Hand krampfte. Erst dann ließ sie los.

***

2018

Wenn ich Ana ansehe, wie sie am offenen Fenster steht, in einem leichten Sommerkleid, obwohl es morgens noch kühl ist, und raucht – ein bisschen zu hastig, ohne richtig zu inhalieren –, zieht sich mein Herz zusammen. Sie klopft die Zigarette aus der Packung wie ein alter Raucher und reißt ein Streichholz an.

»Stört es Sie, wenn ich …?«

Ich schüttle den Kopf. Sie hat schon Gewohnheiten. Immer wenn sie eine neue Packung öffnet, dreht sie die erste Zigarette um und steckt sie, das Ende mit dem Tabak nach oben, in die Packung zurück. Das habe ich noch nie zuvor gesehen. »Wozu ist das gut?«

»Die rauche ich als letzte. Bringt Glück.«

»Wenn es so einfach wäre!«

Sie lacht und streift die Asche ab. Ich sehe ihr zu, wie sie den Kopf in den Nacken legt und genießerisch den Rauch einsaugt. An der Wand lehnt eine große Mappe. Auf dem Boden steht ihr roter Rucksack, den dünnen Pullover hat sie achtlos darüber geworfen – ein frisches, leuchtendes Grün. Sie greift nach einem kleinen Teller und zieht ihn zu sich. Die Sonne blitzt durch die Blätter und setzt Glanzlichter in ihr Haar. Ich sehe ihren Brustansatz, die zarte helle Haut. Sie ist so jung. So arglos.

»Nava.«

Sie wendet den Kopf und sieht mich an.

***

Theres schreckte auf, als das Gartentor scheppernd ins Schloss fiel. Scheinwerfer glitten über die Zimmerdecke, verharrten kurz. Erloschen. Das Garagentor summte und rastete mit einem klickenden Geräusch wieder ein. Halb eins! Mit einem Schlag war sie hellwach.

Er kam auf Zehenspitzen die Treppe herauf, umging die knarrende Stufe, blieb vor Ninas Tür, vor dem Schlafzimmer stehen. Sie sah ihn vor sich, wie er sich durch die kurzen gegelten Haare fuhr und im Dunkeln lauschte. Ihre Hand tastete nach der Nachttischlampe, zögerte, blieb liegen.

Ich hab ein Kind zur Adoption freigegeben …

Seine Schritte entfernten sich.

Bitte, sag nichts. Hör mir einfach zu. Ich war nicht viel älter als Nina …… mein Vater …… Sie hörte die Badezimmertür, hörte ihn im Bad herumrumoren, sich die Zähne putzen, den Rasierapparat surren, die Dusche laufen. Ich hab ein Kind …

Die Klinke bewegte sich.

Sie knipste die Lampe an. »Du kommst spät.« Ihre Zähne schlugen aufeinander.

Er beugte sich zu ihr herab. »Pscht … schlaf weiter.«

Sie roch sein Duschgel, den Minzegeruch der Zahnpasta. Der Schweiß brach ihr aus allen Poren. Sie setzte sich auf und zog die Beine an den Körper. Du darfst mich nicht verurteilen … Er öffnete den Kleiderschrank. Ihr Blick glitt über seinen Rücken, den schmalen Hintern. Die Narbe über dem rechten Schulterblatt, die ihm ein anderes Kind mit einem Spaten verpasst hatte, als er elf war.

Nachgerannt. Und voll erwischt.

Er sprach nicht gern über diese Zeit.

»Thomas, ich muss dir etwas sagen. Ich habe einen …«

Er zog sich ein T-Shirt über den Kopf. »Morgen, Theres.« Er stöhnte. »Ich bin total erledigt. Der Architekt weiß alles besser und will schon wieder irgendwelche Änderungen. Wir haben …« Der Rest ging in Gemurmel unter. Er löschte das Licht, seine nackten Füße tappten über das Parkett. Die Matratze bewegte sich unter seinem Gewicht und federte nach, als er sich ausstreckte, umdrehte und nach der Decke griff.

Theres rückte näher. »Ich habe heute einen Anruf bekommen.«

Er seufzte resigniert. »Theres, bitte!« Die Matratze wippte. »Ich dachte, wir hätten das geklärt. Ich halte das für eine Schnapsidee. Nach wie vor. Dafür gibt es Profis. Kriminelle betreuen! Warum? Wozu? Du arbeitest. Und machst diesen Besuchsdienst. Das reicht doch!« Er sprach zu ihr wie zu einem bockigen Kind. »Nina braucht dich. Was, wenn dir einer was antut?«

»Sie haben abgesagt.« Sie hätte sich ohrfeigen können.

»Gut«, knurrte er.

»Thomas.«

»Schlaf jetzt. Wir reden morgen.« Sein Mund streifte ihre Wange. »Gute Nacht.« Mit einem Ruck zog er sich die Decke über die Schultern. Sie lag fröstelnd im Freien. Nach zwei, drei Minuten begann er leise zu schnarchen.

Mit einem Schlag fühlte sich alles nach Abschied an: sein breiter Rücken, der flüchtige Kuss, die Schlafgeräusche. Sie schluckte. Sie hatte es vermasselt!

Ihn wecken?

Unmöglich!

Morgen früh …

Wenn er gegen sechs, halb sieben in die Küche kommt, ist er in Gedanken schon in der Werkstatt. Er blättert im Stehen die Zeitung durch, trinkt hastig seinen Kaffee und greift nach der Lunchbox, die sie für ihn vorbereitet hat. Kurz ­darauf schießt sein Wagen aus der Garage, und Theres schaltet das Radio ein.

Nur am Sonntagmorgen schaut keiner von ihnen auf die Uhr. Theres wird wach vom Duft frisch gebackener Semmeln. Die Kaffeemaschine blubbert, wenn sie, noch im Nachthemd, die Stufen herunterkommt und sich die Augen reibt. Im Sommer steht die Terrassentüre offen, ein leichter Wind spielt mit der Gardine. Da hat er bereits seine fünfzig Kilometer heruntergespult, das Rad verstaut und kommt mit vom Duschen feuchten Haaren aus der Küche.

Nina findet kaum je vor zehn, halb elf aus den Federn: Ein zerzaustes, mattes Wesen in Shorts und einem von ihren oder Thomas’ T-Shirts, das ihr viel zu groß ist, schmiert sich ein Brot, wischt über ihr Smartphone, tippt im Höllentempo Nachrichten an ihre Freundinnen, unempfänglich für alles um sich herum.

Ihr Mann drehte sich auf den Rücken, sein Schnarchen wurde lauter.

»Thomas?«

Er reagierte nicht.

Im Bad brannte die kleine Lampe über dem Spiegel. Ihre Zahnbürsten standen nebeneinander in der Halterung. Wie lange noch?Er wird gehen. Es ist vorbei. Sie bückte sich nach seinem feuchten Badetuch und hängte es auf den Heizkörper. Schraubte zwei Tuben zu und spülte Zahnpastareste weg, lange dunkle Haare und helle Bartstoppeln. An Ninas Bademantel war die Schlaufe abgerissen, auf dem Kragen verschmiertes Make-up. Theres drückte ihr Gesicht in den flauschigen Stoff.

Wie gut sie gerochen hatte als Baby, wenn sie sie behutsam aus dem warmen Wasser der kleinen Plastikwanne gehoben und in ein vorgewärmtes weiches Tuch gehüllt hatte. Wenn sie an ihrer Brust gelegen und getrunken, sie angesehen hatte mit ihren großen blauen Augen, die später dunkel wurden und nun manchmal funkelten vor Empörung. Wie schön sie ist, unsere Tochter. Glatte, makellose Haut, Sommersprossen über der schmalen Nase, die sie hasst. Der volle Mund, das weit gezogene Lippenherz.

Thomas sagt … Ihre Schultern zuckten. Thomas sagt: Sie sieht aus wie du.

Als Theres gegen sieben das Haus verließ, schlief Thomas noch. Mit raschen Schritten durchquerte sie den kleinen Vorgarten. Amseln liefen über den Rasen. Die Welt war frisch gewaschen, die Sonne leckte die letzten Pfützen von den Steinplatten. Es roch nach warmem Brot und fetter Erde.

Am Gartentor blieb sie stehen und warf einen Blick zurück auf ihr Haus, das sich unter den alten Apfelbaum an der Grenze zum Nachbargrundstück schmiegte und zu schlafen schien.