Das Gymnasium im Spiegel seiner Lehrpläne - Peter Bonati - E-Book

Das Gymnasium im Spiegel seiner Lehrpläne E-Book

Peter Bonati

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  • Herausgeber: hep verlag
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Lehrpläne sind ein hervorragendes Instrument zur Steuerung und Evaluation gymnasialer Bildung. Sie stehen im Spannungsfeld von Vergleichbarkeit der Maturitätsanforderungen und Lehrfreiheit, von Studierfähigkeit und Bildungsföderalismus. Der Autor untersucht in vorliegender Studie die Lehrpläne der schweizerischen Gymnasien erstmals in ihrer Gesamtheit. Die Ergebnisse eröffnen eine neue Sicht auf das Gymnasium und seine Aufgaben. Sie zeigen, weshalb Maturitätsanerkennungsreglement und Rahmenlehrplan der Revision bedürfen. Peter Bonati schöpft aus reicher praktischer Erfahrung in der Lehrplanentwicklung auf Sekundarstufe II und Tertiärstufe. Sein Buch ist deshalb auch ein Vademecum der Lehrplanarbeit.

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Seitenzahl: 332

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Peter Bonati

Das Gymnasium im Spiegel seiner Lehrpläne

Untersuchungen, Praxisimpulse, Perspektiven

ISBN Print: 978-3-0355-0679-2ISBN E-Book: 978-3-0355-0763-8

 

Gestaltung Inhalt: Reemers Publishing Services GmbH

Gestaltung Umschlag: Philippe Gertsch

Fotografie: Tamara Janes

 

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 hep verlag ag, Bern

 

www.hep-verlag.ch

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Einleitung

1.1 Was dieses Buch will

1.2 Untersuchungsschwerpunkte

1.3 Untersuchungsziele

1.4 Quellenlage und Untersuchungszeitraum

1.5 Untersuchungsanlage

2 Zur Funktion von Lehrplänen: Dem Gymnasium gerecht werden

2.1 Zum Begriff Lehrplan

2.2 Lehrplankritik und Festhalten am Lehrplan

2.3 Ziele und Aufgaben des Gymnasiums

2.4 Die Funktion gymnasialer Lehrpläne

2.5 Fazit

3 Was ist ein guter Lehrplan? (Impuls für die Praxis 1)

3.1 Das Spannungsfeld der Lehrpläne

3.2 Merkmale guter gymnasialer Lehrpläne

3.3 Fazit

4 Wer hat die Lehrplan-Macht? (Ergebnisse 1)

4.1 Was heisst Lehrplan-Macht?

4.2 Curriculare Regelungstypen

4.3 Ergebnisse nach Kantonen

4.4 Fazit

5 Fachlehrplanmodelle: Des Pudels Kern (Ergebnisse 2)

5.1 Die drei Fachlehrplanmodelle

5.2 Ergebnisse nach Kantonen und Schulen

5.3 Fazit

6 Überfachliche Kompetenzen: Von der Beschwörung zum Programm (Ergebnisse 3)

6.1 Begriff und curriculare Mindestanforderungen

6.2 Untersuchungsanlage

6.3 Ergebnisse zu Typ 1 und Typ 2 nach Schulen

6.4 Ergebnisse zu Typ 3 nach Schulen

6.5 Fazit

6.6 Auswahlliste zu den überfachlichen Kompetenzen

7 Jahresgliederung der Fachlehrpläne: Mehr als nur Formsache (Ergebnisse 4)

7.1 Anything goes?

7.2 Ergebnisse nach Kantonen und Schulen

7.3 Ergebnisse nach Fächern

7.4 Fazit

8 Fachinhalte: Die Dinge beim Namen nennen (Ergebnisse 5)

8.1 Lehrplanqualität gegen Lehrfreiheit?

8.2 Begriffsklärung

8.3 Ergebnisse nach Fächern

8.4 Das Ergänzungsfach: Courant normal oder Sonderstatus?

8.5 Fazit

9 Fachliche Lernziele: Kein Vorzeigestück (Ergebnisse 6)

9.1 Vier Qualitätsmerkmale und ihr gemeinsamer Nenner

9.2 Ergebnisse nach Schulen

9.3 Beispiele zu den Qualitätsmerkmalen

9.4 Fazit

10 Fächerübergreifender Unterricht: Dornröschen wartet (Ergebnisse 7)

10.1 Ein frommer Wunsch?

10.2 Ergebnisse nach Schulen

10.3 Fazit

11 Das Fakultativangebot: Blackbox des Gymnasiums (Ergebnisse 8)

11.1 Schwierige Quellenlage

11.2 Freifächer: Ergebnisse nach Freifachbereichen

11.3 Zweisprachige Matura

11.4 Fazit

12 So entstehen brauchbare Lehrpläne (Impuls für die Praxis 2)

12.1 Grundsätze zur Lehrplanentwicklung

12.2 Zehn Schritte zur Erarbeitung eines Lehrplans

12.3 Fazit

13 Herausforderungen des nächsten Jahrzehnts

13.1 Bilanz der konzeptionellen Überlegungen und der Untersuchungsergebnisse

13.2 Lehrplan 21

13.3 Basale fachliche Kompetenzen

13.4 Rahmenlehrplan 94

13.5 Revision der nationalen Referenzdokumente

13.6 Rettet die Lehrpläne

Literaturverzeichnis

Anhang

1 Liste der in die Untersuchung einbezogenen Maturitätsschulen

2 Übersicht Untersuchungskriterien

3 Beispiele für Fachlehrpläne

4 Statistik zu Kapitel 7.3 in absoluten Zahlen

5 Statistik zu Kapitel 8.3 in absoluten Zahlen

6 Verbenliste zum Formulieren von Lernzielen

7 Das kognitive Niveau fachlicher Lernziele

Vorwort

»Die Tiefe der Dinge ist ihre Oberfläche.» (Günter Eich)[1]

Vorwort

Vor einigen Jahren war der Autor in einem grösseren Projekt als externer Berater mit der Konzeption eines Lehrplans, der inhaltlichen Koordination der Arbeitsgruppen und der Schlussredaktion betraut. Die Projektleitung erteilte ihm in den ersten Sitzungen jeweils das Wort mit dem Satz: «Jetzt spricht Herr Bonati zu den technischen Details des Lehrplans». Nach einiger Zeit verzichtete sie auf diese Formel. Sie hatte erkannt, dass bei Lehrplänen die «strategische Ebene», wie sie zu sagen pflegte, und die «technischen Details» enger zusammenhängen als anfänglich angenommen. Denn die «Oberfläche» eines Lehrplans, Aufbau, Begrifflichkeit, Ziele und Inhalte, verweisen – wie im Motto von Günter Eich – in unmittelbarer Weise auf die «Tiefe der Dinge», die Funktionen des Lehrplans und die ihm zugrunde liegende Vorstellung von Unterricht und Bildung.

 

Ein guter Lehrplan verrät die Tiefe durch eine klare Oberfläche. Das vorliegende Buch beschreibt denn auch, was ein guter Lehrplan ist und wie er entsteht. Als Basis dient ein Lehrplanmodell des Autors, welches von den Fachinhalten und ihrer Konkretheit als zentralen Merkmalen ausgeht. Den Hauptteil bildet aber eine Studie über die Lehrpläne der schweizerischen Gymnasien. Untersucht wurden vier Schwerpunkte: die Federführung bei Lehrplanvorhaben, die Stellung und Funktion der Fachinhalte, die Regelungsdichte und das Fakultativangebot der Gymnasien (Freifächer und zweisprachige Matura). Die Regelungsdichte als umfangreichster Schwerpunkt wurde an fünf Themen ermittelt: Darstellung der überfachlichen Kompetenzen, Jahresgliederung der Fachlehrpläne, Konkretheit der Fachinhalte, Differenziertheit der fachlichen Lernziele, Bestimmungen zum fächerübergreifenden Unterricht. Die Ergebnisse der Untersuchung geben Hinweise auf die gymnasiale Allgemeinbildung, die Studierfähigkeit, die Steuerung des Gymnasiums und dessen Antwort auf die kommenden Herausforderungen.

 

Gymnasien tun in der Regel Gutes im Verborgenen und stellen ihr Licht unter den Scheffel. So sind auch ihre Lehrpläne weitgehend unbekannt und – anders als in Volksschule und Berufsbildung – kaum erforscht. Die vorliegende Studie untersucht erstmals die Lehrpläne der schweizerischen Gymnasien in ihrer Gesamtheit und schliesst damit eine Forschungslücke. Im Fokus steht hauptsächlich die Vergleichbarkeit der Maturitätsanforderungen, wohl eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Erhalt des prüfungsfreien Zugangs zu den universitären Hochschulen. Die Ergebnisse zeigen, dass die gymnasialen Lehrpläne von dieser Vergleichbarkeit weit entfernt sind. Die Unterschiede sind nicht nur von Kanton zu Kanton und von Schule zu Schule gross, sondern auch zwischen den einzelnen Fächern. Die Heterogenität hat wesentlich mit dem Bildungsföderalismus und den nationalen Referenzdokumenten zu tun, dem Maturitätsanerkennungsreglement («MAR») 95 und dem Rahmenlehrplan 94. Diese sind in einer Zeit entstanden, als die Position des Gymnasiums selbstverständlich und vergleichbare Anforderungen noch kein Thema waren. Der Autor setzt sich intensiv mit den beiden Schriften auseinander und unterbreitet Vorschläge zu ihrer Revision. Die Lehrpläne sind darüber hinaus ein zuverlässiger Indikator für das Verständnis des Gymnasiums. Je nachdem, wie sie sich präsentieren, spiegeln sie unterschiedliche Vorstellungen von Unterricht und Bildung, aber auch von Schulautonomie und Lehrfreiheit. In den Untersuchungsergebnissen Hinweise auf das Profil des Gymnasiums zu finden, machte den Reiz der Arbeit aus. Deshalb der Titel: «Das Gymnasium im Spiegel seiner Lehrpläne».

 

Der Dank gilt den 144 in unsere Untersuchung einbezogenen Gymnasien. Sie erteilten bereitwillig Auskunft, wenn ihre Internetseiten, die als primäre Quellengrundlage dienten, nicht genug hergaben. Ebenso sei den Amtspersonen, den Schul- und Projektleitungen sowie den zahlreichen Gymnasiallehrkräften und Hochschuldozierenden, mit denen der Autor in Lehrplanprojekten zusammengearbeitet hat, für viele Impulse gedankt, die sich in der Studie niederschlagen.

Kräftige Unterstützung erfuhr der Autor von seinem Expertenteam, Prof. Rudolf Hadorn, Dr. Martin Burkard und Dr. Silvia Bonati-Richner, welche das Projekt aufmerksam begleitet und die Texte kritisch durchgesehen haben, sowie von Lorenzo Bonati und Tamara Janes, die ebenfalls an der Textdurchsicht mitgewirkt haben. ‹Un grand merci› auch an Deta Hadorn-Planta für die französische Übersetzung von Anfragen und ‹molte grazie› an Isabelle Bichsel-Trees für die Übersetzung der italienischen Zitate.

Ein grosses Dankeschön geht schliesslich an M. A. Michael Egger, Projektleiter hep verlag, für sein gründliches und sachkundiges Lektorat, an Nino Satta (Inhalt) und Philippe Gertsch (Umschlag) für die gediegene Gestaltung, ebenso an den Verleger Peter Egger für sein Wohlwollen und die Ermunterung zu dieser Publikation.

 

Burgdorf, August 2017

Peter Bonati

1 Einleitung

1 | Einleitung

Erstmals wurden die Lehrpläne der schweizerischen Gymnasien in ihrer Gesamtheit untersucht. Dabei standen zwei einander ergänzende Leitfragen im Zentrum: Sind die in den Lehrplänen beschriebenen Maturitätsanforderungen vergleichbar und was tragen die Lehrpläne zur Studierfähigkeit sowie zur gymnasialen Bildung bei? Das vorliegende Buch stellt die Untersuchungsergebnisse dar und ergänzt sie um Vorschläge zur Gestaltung von Lehrplänen. Die Publikation wäre ohne die langjährige Beschäftigung des Autors mit Lehrplanprojekten nicht entstanden und verknüpft diese Erfahrung mit den Erkenntnissen der Lehrplantheorie.[2]

1.1 Was dieses Buch will

Der Hauptteil ist den Ergebnissen der empirischen Untersuchung gewidmet, welche vier Schwerpunkte umfasst. Der erste gilt der Federführung bei Lehrplanprojekten, der sogenannten ‹Lehrplan-Macht› (Kapitel 4). Je nachdem, ob sie stärker beim Kanton oder bei der einzelnen Schule liegt, beeinflusst sie die Homogenität der Lehrpläne und damit die Vergleichbarkeit der Maturitätsanforderungen anders. Der zweite Schwerpunkt betrifft Stellung und Funktion der Fachinhalte. Er wird an drei Fachlehrplanmodellen untersucht, die ein unterschiedliches Verständnis von gymnasialer Bildung zeigen (Kapitel 5). Der dritte und gewichtigste Schwerpunkt ist die Regelungsdichte des Lehrplans, die an verschiedenen Merkmalen untersucht wird (Kapitel 6 bis 10), wobei der Fokus auf der Vergleichbarkeit der Maturitätsanforderungen liegt (Kapitel 8, 9, 10). Der vierte Schwerpunkt bezieht sich auf das Fakultativangebot, womit das Gymnasium auf aktuelle Herausforderungen antwortet (Kapitel 11). Untermauert wird der empirische Teil durch Überlegungen zur Funktion der gymnasialen Lehrpläne (Kapitel 2) sowie zum Handlungsbedarf für das Gymnasium und seine Lehrpläne in der nächsten Dekade (Kapitel 13).

Seiner Lehrplanerfahrung verdankt der Autor drei grundsätzliche Einsichten, die in dieses Buch eingeflossen sind:

(1) Lehrpläne sind so gut wie das Lehrplanmodell.

In Lehrplänen spiegelt sich zuerst einmal die Qualität des ihnen zugrunde liegenden Lehrplanmodells. Das Modell des Autors, auf dem dieses Buch basiert, weist drei Merkmale auf. Das erste ist die Aufwertung der Fachinhalte im Lehrplan, d. h. der im Unterricht zu behandelnden Fachgebiete, Themen, Probleme und Fragen. Die Fachinhalte drohen mit der Lernziel- und Kompetenzorientierung zweitrangig und sogar austauschbar zu werden. Demgegenüber stehen sie im vorliegenden Modell an erster Stelle; ihnen sind die fachlichen Lernziele zugeordnet. Dies ist die beste Voraussetzung für eine kohärente Bildung. Das zweite Merkmal ist das weite Spektrum der überfachlichen Kompetenzen, das um Fähigkeiten ergänzt wird wie z. B. ästhetischer Sinn oder Originalität, welche die Interessen- und Kreativitätsbildung begünstigen. Das dritte Merkmal des Modells und für diese Studie zentral sind vergleichbare Lernanforderungen, im Fall des Gymnasiums vergleichbare Maturitätsanforderungen. Diese zu beschreiben, ist eine der wichtigsten Aufgaben des Lehrplans. Erst dadurch entstehen innerhalb einer Schule und unter den Schulen ausreichend homogene Lehrpläne. Das Buch zeigt, welche Qualität der Fachinhalte, der fachlichen Lernziele und anderer Merkmale es für eine solche Vergleichbarkeit braucht. Dieses Lehrplanmodell bewährt sich mittlerweile an zahlreichen Gymnasien und Berufsmaturitätsschulen.

(2) Lehrpläne sind so gut wie ihre Umsetzung.

Die Lehrplanqualität mag noch so gut im Lehrplanmodell begründet sein, endgültig entsteht sie erst im Prozess der Erarbeitung. Er muss so organisiert sein, dass er ein positives Ergebnis zeitigt. Einzubinden sind vor allem die Erwartungen, die Erfahrungen und das Potenzial der Mitwirkenden, und zu fragen ist stets, wie sich der Lehrplan im Unterricht bewähren wird. Diese Ausrichtung auf die Unterrichtspraxis bedingt eine Detailpflege in der Erarbeitung, die sich in den Untersuchungsschwerpunkten der Publikation spiegelt. Qualität entsteht nicht einfach im Befolgen von Vorgaben, sondern in der Diskussion unter den Mitwirkenden. So wurde in den vom Autor begleiteten Vorhaben oft intensiv um einen Kompromiss zwischen der Verbindlichkeit des Lehrplans und dem Anspruch der Lehrpersonen auf Lehrfreiheit gerungen. Wie gestaltet man Lehrpläne gleichzeitig normativ ausreichend und für die Lehrpersonen akzeptabel? Dieser Zielkonflikt lässt sich am ehesten entschärfen, wenn der Lehrplan das richtige Mass in der Präzision seiner Bestimmungen einhält. Der Autor verwendet dafür den Begriff der mittleren Regelungsdichte (ausführlich beschrieben in Kapitel 3). Zu einem guten Ziel führt am ehesten eine Lehrplanerarbeitung, woran die betroffenen Schulen und Lehrpersonen intensiv mitwirken und die kompetent geleitet ist. Kapitel 12 unterbreitet konkrete Vorschläge zur Gestaltung dieses Prozesses.

(3) Der Lehrplan verdient eine Rehabilitation.

Bisweilen hat es den Anschein, Lehrpläne seien die erratischen Blöcke in der Bildungslandschaft und die Landvermesser wüssten wenig mit ihnen anzufangen. Die Erziehungswissenschaft zieht dem Lehrplan externe Steuerungsinstrumente vor, z. B. Vergleichstests oder Evaluationen, weil sie mehr Wirkung versprechen. Selbst in der umsichtigen Bestandsaufnahme von Franz Eberle und Christel Brüggenbrock zu den Maturitätsschulen («Kantonstabelle 2013» im Literaturverzeichnis) fehlt ein Hinweis auf die Lehrpläne. An deren leichtem Gewicht ist indessen das Gymnasium nicht unschuldig, ist doch der Umgang mit dem Lehrplan zuweilen recht large. Noch vor wenigen Jahren sagte mir eine jüngere Lehrperson, der ich als Experte bei der Maturitätsprüfung zugeteilt war, freimütig, sie wähle die Prüfungsaufgaben nach eigenem Gutdünken und ohne Blick auf den Lehrplan. Zur Verbesserung der Situation trägt denn auch entscheidend bei, wenn die Lehrpläne als verbindliche Grundlage für die Maturitätsprüfungen deklariert werden. Darum ist die vorliegende Studie auch ein Plädoyer für mehr Respekt vor dem Lehrplan als interne Richtlinie am Gymnasium und Steuerungsmittel im Bildungssystem.

Die unsichere Stellung der gymnasialen Lehrpläne in der Schweiz zeigt sich auch an der fehlenden Kontinuität der wissenschaftlichen Diskussion darüber. Die vorliegende Studie hofft diese Forschungslücke schliessen zu können.[3]

Der Beitrag des Buches zu Forschung und Praxis lässt sich wie folgt umschreiben:

(1)In der Untersuchung sind 144 der 149 anerkannten Maturitätsschulen erfasst. Dies entspricht einer Erhebungsquote von über 96 Prozent und sichert der Studie eine hohe Repräsentativität.

(2)Wie es der Titel ausdrückt, beleuchtet das Buch – ausgehend von den Untersuchungsergebnissen – Profil, Aufgaben, Personen und Unterricht des Gymnasiums im Spiegel seiner Lehrpläne.

(3)Das Buch leistet mit reichhaltigem Material und konkreten Vorschlägen einen praxisbezogenen Beitrag zur Erarbeitung, Revision und Evaluation von Lehrplänen.

(4)In jüngster Zeit haben der Lehrplan 21 und das EDK-Projekt zu den basalen fachlichen Kompetenzen die Diskussion über das Gymnasium neu belebt. Beide Impulse haben Folgen sowohl für das MAR 95 und den Rahmenlehrplan 94 als auch für die Lehrpläne der einzelnen Gymnasien und werden im Schlusskapitel gewürdigt.

1.2 Untersuchungsschwerpunkte

Die Untersuchungsschwerpunkte des empirischen Teils muten durchaus ‹alltäglich› an und beziehen sich hauptsächlich auf die inhaltliche und formale Mikrostruktur eines Lehrplans (z. B. Gliederung nach Unterrichtsjahren, Konkretheit der inhaltlichen Angaben). Die Mikrostruktur ist indessen Bedeutungsträgerin für ganz verschiedene Belange. Sie dient nicht nur als Grundlage zur Beurteilung der Lehrplanqualität, sondern auch zum besseren Verständnis der gymnasialen Bildung und der Studierfähigkeit. Zudem erlaubt die Mikrostruktur eines Lehrplans Rückschlüsse auf Aspekte wie staatliche Steuerung, Schulautonomie und Lehrfreiheit. Nachfolgend seien die vier Schwerpunkte kurz vorgestellt:

(1) Lehrplan-Macht (Kapitel 4)

Wieweit beansprucht der Kanton die Federführung bei der Erarbeitung des Lehrplans und wieweit überlässt er sie den einzelnen Gymnasien? Wie wirkt sich die Verteilung dieser Lehrplan-Macht auf die Vergleichbarkeit der Maturitätsanforderungen aus? Welche Einsichten ergeben sich aus der Lehrplan-Macht in die staatliche Steuerung des Bildungswesens und in deren Wechselspiel mit den Autonomieansprüchen der Schulen und Lehrpersonen? Diesen Fragen entspringt der erste Untersuchungsschwerpunkt, die sogenannten ‹curricularen Regelungstypen›. Damit werden drei unterschiedliche Machtverteilungen zwischen Kanton und einzelner Schule bezeichnet.

(2) Bedeutung der Fachinhalte (Kapitel 5)

Welche Aussagekraft haben die Fachinhalte (Fachgebiete, Teilgebiete, Themen) im Lehrplan? Welches Verständnis von gymnasialer Bildung dokumentiert sich in ihrer unterschiedlichen Gewichtung? Diese Fragen haben zum zweiten Schwerpunkt der Untersuchung geführt, den ‹Fachlehrplanmodellen›. Sie zeigen die Unterschiede in der curricularen Position und der Wertigkeit der Fachinhalte.

(3) Regelungsdichte der Fachlehrpläne (Kapitel 6 bis 10)

Wie dicht sind die Lehrplanbestimmungen? Was hat die Textur eines Lehrplans mit der Vergleichbarkeit der Maturitätsanforderungen zu tun? Welche Massnahmen (z. B. inhaltliche Auswahlmöglichkeiten der Lehrperson, Beschränkung der Anzahl Lernziele) sind geeignet, um das Spannungsverhältnis zwischen Lehrplanqualität und Lehrfreiheit zu lindern? Aus diesen Fragen ist der umfangreichste Untersuchungsschwerpunkt hervorgegangen, die Regelungsdichte der Fachlehrpläne. Er umfasst die folgenden fünf Themen:

a)Qualität der Darstellungsweise der überfachlichen Kompetenzen (Kapitel 6),

b)Unterteilung des Fachlehrplankerns nach Unterrichtsjahren (‹Jahresgliederung›) (Kapitel 7),

c)Konkretheit der Fachinhalte (Kapitel 8),

d)Differenziertheit der fachlichen Lernziele (Kapitel 9),

e)Qualität der Bestimmungen zum fächerübergreifenden Unterricht (Kapitel 10).

(4) Das Fakultativangebot (Kapitel 11)

Wie geht das Gymnasium mit den vielfältigen Herausforderungen der Gegenwart um, was bietet es dazu den Lernenden an? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der vierte Untersuchungsschwerpunkt, das Fakultativangebot der Gymnasien, das exemplarisch am Freifachangebot und an der zweisprachigen Matura vorgestellt wird.

1.3 Untersuchungsziele

Aus den genannten Schwerpunkten ergeben sich sechs Untersuchungsziele, die je in einem oder mehreren Kapiteln behandelt werden:

(1) Feststellen der Lehrplan-Macht (Kapitel 4)

Wie bereits angedeutet, bezeichnet dieser Begriff die Instanz, welche die Federführung in der Lehrplanentwicklung hat. An drei unterschiedlichen Lehrplantypen, den curricularen Regelungstypen, wird dargestellt, wieweit der Kanton die Führung selbst beansprucht und wieweit er diese an die einzelnen Gymnasien abgibt. Auf diese Weise lassen sich Erkenntnisse über die Lehrplanqualität, aber auch über die staatliche Steuerung und die Schulautonomie gewinnen.

Hypothese: Je stärker ein Kanton die Erarbeitung der Lehrpläne koordiniert, desto günstiger sind die Voraussetzungen für die Vergleichbarkeit der Maturitätsanforderungen im Besonderen und für die Homogenität der Lehrpläne allgemein.

Indikatoren (Untersuchungskriterien in der Erhebung): Der Lehrplan entspricht einem der drei folgenden curricularen Regelungstypen:

•Kantonaler Lehrplan ohne Schullehrpläne: Die Schule verwendet einen kantonalen Lehrplan und hat keinen eigenständigen Schullehrplan. Auch die Erarbeitung steht unter kantonaler Leitung. Der Kanton beansprucht somit die Lehrplan-Macht ganz für sich.

•Kantonaler Rahmenlehrplan mit variablen Schullehrplänen: Die Schule erarbeitet einen Schullehrplan, der auf einem kantonalen Rahmenlehrplan fusst, welcher einen gewissen Umsetzungsspielraum offenlässt.

•Eigenständiger Schullehrplan: Die Schule verfasst ihren Schullehrplan selbst und lässt ihn vom Kanton anerkennen. Die Erarbeitung ist vollständig an die einzelnen Gymnasien delegiert.

(2) Feststellen der verschiedenen Fachlehrplanmodelle (Kapitel 5)

Den Fachlehrplankern bilden die Fachinhalte und die fachlichen Lernziele. Deren Verhältnis zueinander wird an drei Fachlehrplanmodellen erfasst. Darin spiegeln sich unterschiedliche Vorstellungen von der Allgemeinbildung und der Studierfähigkeit als zentralen Aufgaben des Gymnasiums.

Hypothese: Beziehen sich die Fachinhalte und fachlichen Lernziele unmittelbar aufeinander und sind gleichzeitig präzis, so ist dies für die Lehrplanqualität, für die Kohärenz der Allgemeinbildung und für die Bewertung der Studierfähigkeit von Vorteil.

Indikatoren (Untersuchungskriterien in der Erhebung): Die Fachlehrpläne einer Schule lassen sich einem der drei folgenden Fachlehrplanmodelle zuweisen:

•Zielprimat: Der Fachlehrplankern ist primär nach den fachlichen Lernzielen aufgebaut. Die Fachinhalte sind auf diese bezogen und werden ihnen unmittelbar zugeordnet.

•Inhaltsprimat: Der Fachlehrplankern ist primär nach den Fachinhalten aufgebaut. Die fachlichen Lernziele sind auf diese bezogen und werden ihnen unmittelbar zugeordnet.

•Anderweitige Struktur: Der Fachlehrplankern ist anders aufgebaut als bei Ziel- oder Inhaltsprimat.

(3) Feststellen der Regelungsdichte der Fachlehrpläne (Kapitel 6 bis 10)

In der geringeren oder grösseren Regelungsdichte treten zunächst einmal unterschiedliche Interessen der an der Lehrplanung mitwirkenden Instanzen und Personen zutage. Vor allem wichtig ist die Regelungsdichte aber in Bezug auf die Vergleichbarkeit der Maturitätsanforderungen, die sich in der Qualität der Fachinhalte (Kapitel 8) und der fachlichen Lernziele (Kapitel 9) sowie in der Verbindlichkeit der Bestimmungen zum fächerübergreifenden Unterricht (Kapitel 10) erweist. Weitere Aspekte der Regelungsdichte werden fassbar in der Jahresgliederung des Fachlehrplankerns (Kapitel 7) und in der Darstellungsweise der überfachlichen Kompetenzen (Kapitel 6), d. h. der für ein erfolgreiches Lernen wichtigen allgemeinen Fähigkeiten und persönlichen Ressourcen der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten (z. B. Teamfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Kreativität). Die folgende Tabelle zeigt die Hypothesen und Indikatoren für dieses dritte Untersuchungsziel:

Regelungsdichte der Fachlehrpläne: Hypothesen und Indikatoren

Hypothesen

Indikatoren

(Untersuchungskriterien in der Erhebung)

1. Je stärker die überfachlichen Kompetenzen auf eine für das betreffende Fach relevante Auswahl fokussiert sind, je konkreter sie abgefasst sind und je besser ihre Vermittlung an der Schule organisatorisch verankert ist, desto eher unterstützen sie das Lernen und tragen zur gymnasialen Allgemeinbildung sowie zur Studierfähigkeit bei.

1.Erscheinungsformen überfachlicher Kompetenzen (Kapitel 6)

Als Indikatoren dienen drei unterschiedliche Erscheinungsformen:

•Allgemeine Bildungsziele mit überfachlichen Kompetenzen: Der Fachlehrplan enthält überfachliche Kompetenzen im Rahmen von Allgemeinen Bildungszielen oder in synonymen Rubriken wie «Bildungsziele» oder «Leitideen».

•Spezifische überfachliche Kompetenzen: Die überfachlichen Kompetenzen sind in einem eigenen Fachlehrplanteil in einer für das betreffende Fach relevanten Auswahl aufgeführt.

•Umsetzungsorientierte Schulkonzepte: Die Förderung der überfachlichen Kompetenzen wird durch spezielle Unterrichtsgefässe sowie Verfahren gesichert und mit Lektionen dotiert, wobei auch der Beitrag der einzelnen Fächer geregelt ist.

2. Je konsequenter die Jahresgliederung des Fachlehrplans ist, desto vorteilhafter ist dies für Klassenrepetitionen sowie Schuleintritte während der Gymnasialzeit, für die Kohärenz der Allgemeinbildung und für die Bewertung der Studierfähigkeit.

2.Jahresgliederung der Fachlehrpläne (Kapitel 7)

Die Ergebnisse werden in einer Ratingskala mit drei Abstufungen festgehalten:

•Die Fachlehrpläne sind vollständig nach Unterrichtsjahren unterteilt, sodass eine kohärente Reihenfolge der Fachinhalte entsteht.

•Die Fachlehrpläne sind teilweise nach Unterrichtsjahren unterteilt.

•Die Fachlehrpläne sind nicht nach Unterrichtsjahren unterteilt.

3. Je konkreter die Fachinhalte sind, desto vorteilhafter ist dies für die Vergleichbarkeit der Maturitätsanforderungen, für die Kohärenz der Allgemeinbildung und für die Bewertung der Studierfähigkeit.

3.Konkretheit der Fachinhalte in den Fachlehrplänen (Kapitel 8)

Die Fachinhalte sind konkret, wenn sie folgende Merkmale aufweisen:

•klar umrissene Fachgebiete; Auswahl und Umfang richten sich nach der jeweiligen Fachsystematik;

•präzise Themen;

•Klammerbeispiele zu den Themen zur Veranschaulichung und als Auswahlmöglichkeiten für die Lehrperson.

 

Die Ergebnisse werden in einer Ratingskala mit drei Abstufungen festgehalten:

•Alle Fachgebiete eines Fachlehrplans sind ausreichend konkret (d. h., sie weisen die obigen Merkmale auf).

•Ein einzelnes Fachgebiet ist zu wenig konkret.

•Mehrere Fachgebiete sind zu wenig konkret.

4. Je differenzierter die fachlichen Lernziele sind, desto vorteilhafter ist dies für die Vergleichbarkeit der Maturitätsanforderungen, für die Kohärenz der Allgemeinbildung und für die Bewertung der Studierfähigkeit.

4.Differenziertheit der fachlichen Lernziele in den Fachlehrplänen (Kapitel 9)

Die fachlichen Lernziele sind differenziert, wenn vier Qualitätsmerkmale gegeben sind:

•Einheit von Fachinhalten und fachlichen Lernzielen;

•präzise Umschreibung der fachlichen Lernziele;

•Ordnung nach aufsteigendem Anforderungsniveau;

•begrenzte Anzahl Lernziele.

 

Die Ergebnisse werden in einer Ratingskala mit vier Abstufungen festgehalten:

•Die fachlichen Lernziele sind ausreichend differenziert (d. h., sie weisen die obigen Merkmale auf).

•Die fachlichen Lernziele sind mehrheitlich differenziert.

•Die fachlichen Lernziele sind mehrheitlich nicht differenziert.

•Die fachlichen Lernziele sind nicht differenziert.

5. Je präziser und verbindlicher die Bestimmungen zum fächerübergreifenden Unterricht sind, desto vorteilhafter ist dies für die Vergleichbarkeit der Maturitätsanforderungen und desto besser für die Qualität dieses Unterrichtsbereichs.

5.Ausreichende Bestimmungen zum fächerübergreifenden Unterricht (Kapitel 10)

Dazu werden zwei Indikatoren verwendet:

•Die Fachlehrpläne der Schule enthalten fächerübergreifende Querverweise mit Nennung der Bezugsfächer und der geeigneten Themen.

•In den Lehrplänen und anderen Schuldokumenten ist ein lektionswirksamer fächerübergreifender Unterricht ausgewiesen.

 

Für die Vergleichbarkeit der Maturitätsanforderungen, die eine Leitfrage der Untersuchung, sind somit vor allem bedeutsam: Kapitel 4 (Lehrplan-Macht), Kapitel 8 (Konkretheit der Fachinhalte), Kapitel 9 (fachliche Lernziele) und Kapitel 10 (fächerübergreifender Unterricht). Die andere Leitfrage, diejenige nach dem Beitrag der Lehrpläne zu Studierfähigkeit und gymnasialer Bildung, wird in allen Kapiteln thematisiert.

(4) Charakterisierung der Lehrplanqualität (Kapitel 3 und 12)

Fragen der Lehrplanqualität werden in zwei praxisbezogenen Kapiteln vertieft, die den Untersuchungsteil einrahmen:

•»Was ist ein guter Lehrplan?»,eine Hilfe zur Strukturierung von Lehrplänen, insbesondere der Fachlehrpläne (Kapitel 3);

•»So entstehen brauchbare Lehrpläne»,ein Vademecum zur Erarbeitung von Lehrplänen (Kapitel 12).

(5) Erkunden des Fakultativangebots der Gymnasien (Kapitel 11)

Wie die Gymnasien mit aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen umgehen und wie sie auf individuelle Interessen ihrer Klientel eingehen, wird am Fakultativangebot untersucht. Im Fokus stehen das Freifachangebot und die zweisprachige Matura. Beide Bereiche schlagen eine Brücke zur Gegenwart und zum modernen Leben.

(6) Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des nächsten Jahrzehnts (Kapitel 13)

Das Schlusskapitel leitet aus den konzeptionellen Überlegungen und den Untersuchungsergebnissen den Handlungsbedarf für das Gymnasium und seine Lehrpläne ab. Im Vordergrund stehen Fragen der gymnasialen Allgemeinbildung, das Profil der Sprachen, die Zukunft der überfachlichen Kompetenzen und des fächerübergreifenden Unterrichts sowie weitere Aspekte. Diskutiert werden zwei aktuelle curriculare Herausforderungen, der Lehrplan 21 für die deutsch- und mehrsprachigen Kantone und das EDK-Projekt «Basale fachliche Kompetenzen». Das Schlusskapitel mündet in Revisionsvorschläge zum Rahmenlehrplan 94 und zum MAR 95.

1.4 Quellenlage und Untersuchungszeitraum

Die Untersuchung erfasst die Lehrpläne von 144 der insgesamt 149 anerkannten öffentlichen und privaten Gymnasien der Schweiz, was einer Erhebungsquote von 96.6 Prozent entspricht.[4] Stichmonat für die Erhebung war der Juni 2015. Somit waren alle untersuchten Lehrpläne zu diesem Zeitpunkt in Kraft.

Als Quellengrundlage dienen die Internetseiten der Schulen bzw. bei kantonalen Lehrplänen oder Rahmenlehrplänen auch die Seiten der vorgesetzten kantonalen Behörden.[5] Untersucht werden die Lehrpläne demnach in der Form, wie sie im Internet erscheinen. Dieses Vorgehen bietet Gewähr für die Authentizität der Lehrpläne, sind sie doch vom Kanton oder vom jeweiligen Gymnasium für das Internet freigegeben worden. Wo das Datum des Inkrafttretens des Lehrplans fehlte, wurde es bei der Schule erfragt.

Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich über die 20 Jahre zwischen der Inkraftsetzung des MAR 95 und dem Stichmonat für die Erhebung im Juni 2015. Die ältesten untersuchten Lehrpläne stammen aus dem Jahr 1996 und sind erste Umsetzungen des mit dem MAR 95 eingeführten Rahmenlehrplans 94. Die jüngeren zeigen ein gewandeltes Unterrichtsverständnis mit neuen Aspekten wie z. B. den überfachlichen Kompetenzen. Am auffälligsten ist die Entwicklung in Informatik und ICT-Anwendung, was bei Inkrafttreten des MAR noch nicht abzusehen war.

1.5 Untersuchungsanlage

Die Sichtung und die Auswertung der 147 Lehrpläne beanspruchten mehrere Arbeitsgänge. Zuerst wurden die Lehrpläne in einem Materialdurchgang nach den Untersuchungskriterien beurteilt und die Ergebnisse anhand einer standardisierten Schätzskala eingestuft, was eine quantitative Auswertung der Beurteilungen erlaubte. Im gleichen Arbeitsgang wurden zu den Untersuchungskriterien signifikante Beispiele und Kommentare notiert. Es folgte ein Redaktionsdurchgang mit dem Ziel, die Ergebnisse aus dem Materialdurchgang zu überprüfen und formal einheitlich aufzubereiten. Im nächsten Arbeitsschritt wurden die Ergebnisse der Ratingskala ausgezählt und zusammengefasst. Ebenso wurden die Ankerbeispiele und Kommentare in Kurzform in diesen Zusammenzug eingetragen und um erste Schlussfolgerungen ergänzt. Verschiedentlich fanden Nachuntersuchungen statt, insbesondere zum Thema des fächerübergreifenden Unterrichts, wozu anfänglich nur erste Notizen vorgelegen hatten. Der vervollständigte Zusammenzug lieferte das Rohmaterial für die Kapitel 4 bis 11, worin die Untersuchungsergebnisse vorgestellt werden.

Die Untersuchungsmethode ist ein kombiniertes quantitativ-qualitatives Verfahren, bestehend aus einer vorwiegend quantitativen Datenerhebung sowie aus einer qualitativen Analyse und Interpretation der Daten.

Anhang 2 zeigt alle Untersuchungskriterien inklusive Schätzskala in einer Übersicht.

2 Zur Funktion von Lehrplänen: Dem Gymnasium gerecht werden

2 | Zur Funktion von Lehrplänen: Dem Gymnasium gerecht werden

Gerade in kontroversen Diskussionen geht leicht vergessen, was Lehrpläne eigentlich bezwecken. Deshalb ist es notwendig, in diesem Kapitel den theoretischen Rahmen zu skizzieren, worin sich das vorliegende Buch bewegt. Ziel ist es,

•einen Lehrplanbegriff zu definieren, der dem Gymnasium angemessen ist (2.1),

•sich mit der aktuellen Lehrplankritik auseinanderzusetzen (2.2),

•die Ziele und Aufgaben des Gymnasiums zu reflektieren und dabei besonders auf die Allgemeinbildung und die Studierfähigkeit einzugehen (2.3),

•vor diesem Hintergrund die Funktion gymnasialer Lehrpläne zu klären (2.4),

•das Wesentliche zu resümieren (2.5).

2.1 Zum Begriff Lehrplan

Der Lehrplan ist in seinem Ursprung tatsächlich ein Lehrplan und beschreibt die zu unterrichtenden Lehrbereiche. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts wandelt er sich zum Bildungsplan. Es geht nicht mehr allein um die Inhalte und ihre Lehre, sondern um die Ziele und Inhalte «mit Blick auf den Heranwachsenden» (Peterssen 1994, S. 660) und damit ebenso um das Lernen. Gleichwohl hält sich in der Schweiz der Begriff «Lehrplan». Folgt man den Arbeiten von Rudolf Künzli (Künzli 2006 und Künzli et al. 2013), so hat der Lehrplan hauptsächlich fünf Funktionen. Der Lehrplan

(1)definiert vergleichbare Leistungsanforderungen,

(2)positioniert die Schulform – in diesem Fall das Gymnasium – im Bildungssystem,

(3)bestimmt den Handlungsrahmen der Unterrichtenden,

(4)orientiert Lernende, Erziehungsberechtigte und Öffentlichkeit und

(5)kann als Grundlage für den Leistungsauftrag an die Schule dienen.

Im AllgemeinenTeil eines Lehrplans werden in der Regel der Anlass zu seiner Entstehung oder Revision und die Rechtsgrundlagen festgehalten, ebenso der Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule sowie die pädagogisch-didaktischen Leitideen der Schule. Die Fachlehrpläne umschreiben die Fachinhalte, die zu erreichenden fachlichen Lernziele und nach heutiger Praxis auch die zu fördernden überfachlichen Kompetenzen. Bei einem disziplinär organisierten Unterricht wie am Gymnasium machen die Fachlehrpläne den Hauptteil des Lehrplans aus. Weitere Unterrichtsbereiche (z. B. fächerübergreifender Unterricht, Projektunterricht) und -belange (z. B. Unterrichtsgestaltung, Leistungsbeurteilung) können innerhalb oder ausserhalb des Lehrplans geregelt sein.

Mit Künzli (2006, S. 66–68) unterscheidet der Autor auch die folgenden Lehrplanebenen: Rahmenlehrpläne haben national, interkantonal oder kantonal Weisungs- und Koordinationsfunktion für die Schulform (z. B. der Lehrplan 21 für die Volksschule in den deutsch- und mehrsprachigen Kantonen) oder für einen Teilbereich derselben (z. B. der schweizerische Rahmenlehrplan für den allgemeinbildenden Unterricht in der Berufsbildung). Den nachfolgenden Stufen (Kanton, Schule) wird üblicherweise ein Umsetzungsspielraum gewährt. Aus dem Rahmenlehrplan werden in der Regel Schullehrpläne abgeleitet. Sie sind stärker pädagogisch ausgerichtet und berücksichtigen in unterschiedlichem Mass die Besonderheiten der einzelnen Schule.

2.2 Lehrplankritik und Festhalten am Lehrplan

Der Nutzen von Lehrplänen wird kontrovers beurteilt. Während die Erziehungswissenschaft deren Funktion und Wirksamkeit mit Hinweis auf die internationale Forschung infrage stellt und den Lehrplan deswegen auch als Steuerungsmittel im Bildungssystem für überholt hält, bleiben ihm Behörden und Schulen weitgehend treu. Ein Meinungsaustausch zwischen Wissenschaft und Praxis findet nur beschränkt statt, doch teilen gerade Gymnasiallehrkräfte nicht selten die Kritik, weil sie sich durch den Lehrplan zu sehr eingeengt fühlen. Die Absicht des Autors ist es, zur Verständigung zwischen den ‹Lagern› beizutragen und zu zeigen, dass Lehrpläne zu mehr taugen als nur zur Bedrohung der Lehrfreiheit.

2.2.1 Kritik und Entgegnung

Skeptisch ist die Erziehungswissenschaft vor allem wegen der mit Lehrplänen verbundenen Kanon-Schwierigkeiten, wegen ihrer schwachen Wirkung und der angeblich schwindenden Bedeutung als Steuerungsinstrument.

Kanon-Probleme: Seit den 1970er-Jahren ist eine Abkehr von der seit der Antike lebendigen und vom Neuhumanismus geprägten Idee eines Bildungskanons zu beobachten. Bildungsinhalte, so die These etwa bei Künzli (2006 und 2013) sowie Oelkers (2006), liessen sich nicht mehr normativ festlegen, weil eine Einigung in einer pluralistischen Gesellschaft und wegen des Wissenszuwachses unmöglich geworden sei. Zudem hätten in der Didaktik das Lernen und die Lernziele zu Lasten des Lehrens und der Inhalte an Bedeutung zugelegt, wofür traditionelle Lehrpläne nicht mehr genügten. Als Alternative böten sich Lehrpläne mit Bildungsstandards an, worin die Unterrichtsinhalte zwar noch in weitgefassten Kompetenzbereichen (z. B. Hörverständnis, Lesefertigkeit, Sprechen, Schreiben) erscheinen, grundsätzlich aber austauschbar sind. – Antwort: «Kanon» meint eine bewusste Auswahl und Abfolge der Inhalte innerhalb eines Faches. Eine solche Ordnung ist gerechtfertigt, weil Bildung primär in der Auseinandersetzung mit Inhalten erworben wird. Zudem verlangt die Fächerstruktur des gymnasialen Unterrichts sachlogisch, dass im Lehrplan auch die Fachinhalte festgelegt werden. Der Kanon muss jedoch so offen formuliert sein, dass die Lehrpersonen ihn akzeptieren können. Wie besonders Kapitel 3 ausführt, lässt sich dies mit einer mittleren Regelungsdichte erreichen. Sie hält ein «Gleichgewicht zwischen der Verbindlichkeit qualitativer Anforderungen und dem Anspruch auf Freiräume» (3.2.6), indem die Fachinhalte nicht starr vorgegeben, sondern der Lehrperson Optionen angeboten werden.

Mangelnde Wirksamkeit: Sich auf die amerikanische Curriculumforschung stützend, meint Jürgen Oelkers, Lehrpläne in der traditionellen Form liefen ihrer ursprünglichen Funktion als verbindliche Weisung zuwider, weil sie zu detailliert seien und deshalb von den Lehrpersonen unterlaufen würden. Diese unterrichteten vielmehr nach ihren fachbezogenen und individuellen «Kanonüberzeugungen» (2006, S. 253) und nach ihrer «persönlichen Literatur des Schulwissens» (ebd., S. 254). Damit ist die Sammlung von Lehrbüchern, Folien, Unterrichtsmaterialien und Internet-Einträgen gemeint, worüber eine Lehrperson verfügt. Das entscheidende Steuerungsmittel sei ohnehin weniger der Lehrplan selbst als die Stundentafel, welche die Macht der einzelnen Fächer über die Zeit regle (ebd., S. 243–244). Oelkers schlägt als Alternative offene Rahmenlehrpläne mit ausführlichen, zeitlich befristeten Schulprogrammen vor. Letztere verlangten eine Einigung lediglich innerhalb der Schule, weshalb sie von den Lehrpersonen eher befolgt würden. Sie liessen sich auch leichter revidieren. – Antwort: Ohne Zweifel sind persönliche Unterrichtsmaterialien für die Lehrperson von Belang. In einem öffentlichen Schulsystem können sie jedoch den Lehrplan nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Die Frage ist vielmehr, ob der Lehrplan von der Lehrperson eingehalten wird. Deren Loyalität ist unerlässlich, damit Lehrpläne Wirkung erzielen können. Es genügt deshalb nicht, einfach festzustellen: «Lehrkräfte unterrichten, wovon sie überzeugt sind» (ebd., S. 255), sondern Lehrpersonen müssen den Nutzen des Lehrplans einsehen und ihn aus dieser Einsicht akzeptieren. Die Stundentafel ist zweifellos das einschneidendere Steuerungsmittel als der Lehrplan und neben dem Fächerkanon seine wichtigste Rahmenbedingung. Dies zeigt sich dramatisch bei Kürzungen der Stundentafel. Aber sie ersetzt den Lehrplan nicht und erfüllt keine seiner Funktionen. Oelkers’ Idee, den Rahmenlehrplan in Schulprogrammen umzusetzen, welche festlegen, «was in welcher Zeit wie erreicht werden soll» (ebd., S. 261), deckt sich zwar mit der für die vorliegende Publikation zentralen Forderung nach konkreten Fachlehrplänen. Problematisch sind jedoch zu offene Rahmenlehrpläne, weil sie keine vergleichbaren Maturitätsanforderungen generieren.

Schwindende Bedeutung als Steuerungsinstrument: Künzli (2006) und Künzli et al. (2013) teilen mit Blick auf die Lehrplanforschung der 1990er-Jahre Oelkers’ Skepsis. Künzli erwähnt als Mittel der «traditionellen Steuerung» neben Grundausbildung, Schulbüchern, Vorschriften, Inspektion, Kontrolle und Mittelallokation besonders auch die Lehrpläne. Diese würden wegen ihrer geringen Wirkung zunehmend von «systemischen Steuerungsfunktionen» wie zentralen Prüfungen, Weiterbildung, Bildungsmonitoring, Assessment und anderen Evaluationsformen abgelöst. Dies im Zug eines in den letzten 25 Jahren erfolgten «Paradigmawechsels in der Steuerung von Schule und Unterricht». Deshalb sei auch die Lehrplanarbeit weitgehend eine innerschulische Aufgabe geworden (alle Zitate bei Künzli 2006, S. 73–74). Zu diesem Schluss gelangt ja auch Oelkers. Dies lässt sich durchaus anders sehen, wie sogleich auszuführen ist.

2.2.2 Festhalten am Lehrplan

Vom genannten Bedeutungsverlust ist in der Schweiz wenig zu spüren. Ein Indiz dafür ist die rege Diskussion über Lehrpläne auf allen Stufen, man denke nur an den Lehrplan 21.

Dass Lehrpläne als Steuerungsmittel auf Gymnasialstufe intakt sind, belegen die vielen Lehrplanrevisionen zwischen 2006 und 2015, im zweiten Jahrzehnt des Untersuchungszeitraums. Sie haben in nicht weniger als 18 Kantonen stattgefunden, zusätzlich am interkantonalen Gymnasium Freiburg/ Waadt. Die folgende Statistik zeigt die Kantone mit Revisionen (Spalte 2), das Jahr des Inkrafttretens der Revision (Spalte 3) und die Anzahl beteiligter Gymnasien (Spalte 4):

Revisionen gymnasialer Lehrpläne in der Schweiz 2006 bis 2015

 

Kanton

Jahr des Inkrafttretens der Lehrplanrevision

Anzahl beteiligter Gymnasien

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

1

AG

 

 

 

 

 

 

 

X

 

 

7

2

AI

 

 

 

 

 

X

 

 

 

 

1

3

AR

 

 

 

 

 

 

X

 

 

 

1

4

BE

X

X

X

 

 

 

 

 

 

 

15

5

BS

 

 

 

 

 

 

 

X

 

 

5

6

FR

 

 

 

X

 

 

 

 

 

 

4

7

GL

 

 

 

 

 

X

 

 

 

 

1

8

GR

 

 

 

 

 

X

 

X

 

 

4

9

LU

X

X

 

 

 

 

X

 

X

 

7

10

NW

 

 

 

 

 

 

 

X

 

 

1

11

OW

 

 

 

 

 

 

X

X

 

 

3

12

SG

X

 

 

 

 

 

 

 

 

 

8

13

SO

 

 

 

 

 

 

 

 

X

 

2

14

SZ

 

 

 

X

X

 

 

 

 

X

3

15

TG

 

 

X

 

 

 

 

 

 

 

1

16

VD

 

 

 

 

 

 

 

 

X

 

1

17

ZG

 

 

 

 

X

 

 

 

 

X

2

18

ZH

 

X

X

 

 

X

X

 

 

X

9

19

FR/ VD[6]

 

 

 

 

X

 

 

 

 

 

1

 

Die Ergebnisse der Statistik lassen sich wie folgt zusammenfassen:

•Die Revisionsdichte ist bemerkenswert, sind doch in 74 der insgesamt 144 untersuchten Gymnasien die Lehrpläne seit 2006 revidiert worden. Das sind gut die Hälfte der Schulen.

•Die Revisionen betreffen eine grosse Mehrheit der Kantone, jedoch nur eine knappe Mehrheit der Schulen. Ein Grund dafür liegt darin, dass die Lehrpläne in den drei gewichtigen lateinischen Kantonen Genf, Waadt (mit einer Ausnahme) und Tessin mit gesamthaft 26 Gymnasien nicht revidiert worden sind. Ebenso war dies im Kanton Zürich in nur neun von 23 Gymnasien der Fall.

•Die Initiative zur Revision kommt vereinzelt von politischer Seite wie im Kanton Bern, wo der Grosse Rat vor einigen Jahren die Vereinheitlichung der gymnasialen Lehrpläne beschlossen hat (Mittelschulgesetz vom 27.03.2007),[7] mehrheitlich jedoch von den kantonalen Bildungsbehörden wie in Aargau, Solothurn und Basel-Stadt. Verschiedentlich gibt auch eine einzelne Schule selbst den Anstoss.

•Soweit dem Autor bekannt, liegt das Hauptmotiv für die Revision im Wunsch nach grösserer Homogenität. Man strebt unter den Schulen vergleichbare qualitative Vorgaben für den Unterricht an, ein zentrales Postulat auch des vorliegenden Buches. Weitere Gründe sind das Bedürfnis nach einem tragfähigeren Lehrplanmodell sowie Anpassungen an Änderungen auf der Sekundarstufe I.

Die Dichte der Revisionen beweist, dass der Gymnasialbereich grundsätzlich auf den Lehrplan als Steuerungsinstrument setzt.

Im Kontrast zu den kantonalen Aktivitäten setzt das Mutterdokument, der Rahmenlehrplan 94, Patina an. Er ist seit nunmehr 23 Jahren – mit Ausnahme einer Revision in Informatik und ICT-Anwendung sowie kleinerer Anpassungen – unverändert in Kraft und in vielem überholt. Dies ist hinsichtlich der Steuerung des Bildungswesens und der Rechtssicherheit unbefriedigend (eingehender thematisiert wird dies in Kapitel 4 und 13).

2.3 Ziele und Aufgaben des Gymnasiums

Gymnasiale Lehrpläne müssen nicht nur funktionellen Anforderungen genügen, sondern in erster Linie den Zielen, den Aufgaben und der Kultur des Gymnasiums. Dessen Bildungsziel ist in MAR 95, Art. 5, wie folgt umschrieben: «Die Schülerinnen und Schüler gelangen zu jener persönlichen Reife, die Voraussetzung für ein Hochschulstudium ist und die sie auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft vorbereitet». Eberle & Brüggenbrock leiten aus dem Artikel ein doppeltes Ziel des Gymnasiums ab, die «allgemeine Studierfähigkeit» und die «vertiefte Gesellschaftsreife». Die allgemeine Studierfähigkeit wird definiert als «die Gesamtheit aller unabdingbaren Kompetenzen (Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften) zur erfolgreichen Bewältigung eines universitären Hochschulstudiums, Kompetenzen also, die dazu befähigen, ein Studium erfolgreich zu beginnen, durchzuführen und abzuschliessen» (2013, S. 96). Vertiefte Gesellschaftsreife andererseits zeige sich in einer bewussten Lebensgestaltung sowie in der Übernahme anspruchsvoller Aufgaben in «privatrechtlichen, politischen und beruflichen sozialen Netzen» (ebd., S. 111) wie z. B. in Verein, öffentlicher Verwaltung, Unternehmen. Auf der Ebene des Unterrichts und des Lehrplans verschmelzen die beiden Ziele zu einer «Zielharmonie» (ebd., S. 99). Der Weg, der zu Studierfähigkeit und Gesellschaftsreife führt, wird im Folgenden als breitgefächerte höhere Allgemeinbildung bezeichnet.

2.3.1 Breitgefächerte höhere Allgemeinbildung

Das moderne Gymnasium entsteht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Kind der «neuhumanistischen Bildungskonzeption» (Criblez 2014, S. 19) im Kontext der preussischen Schulreform. Daran orientiert sich auch die Erneuerung in der Schweiz. Im Mittelpunkt stehen zu Beginn die alten Sprachen. Die Beschäftigung mit ihnen ermögliche eine «zweckfreie Bildung», die auf «die Formung der ästhetisch und ethisch hervorragenden Persönlichkeit» ziele (Criblez 2014, S. 23). Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die altklassische Bildung allmählich um neue Richtungen ergänzt, bis sich zur Mitte des 20. Jahrhunderts fünf Maturitätstypen ausgebildet haben.[8] Die fachliche Breite nimmt auf diesem Weg zu und entwickelt sich zum zentralen Merkmal der gymnasialen Allgemeinbildung, auch nach Ablösung der Maturitätstypen durch die Einheitsmatura mit dem MAR 95. Neben dem Fachunterricht haben Neuerungen wie Maturaarbeit, fächerübergreifender Unterricht und Projektunterricht nur einen geringen Anteil an der Stundentafel. Eine breitgefächerte Allgemeinbildung bedeutet demnach ein Wissen und Können mit den Zielen der allgemeinen Studierfähigkeit und der vertieften Gesellschaftsreife, das vorzugsweise in einer grossen Anzahl von Fächern erworben wird.

Was ist nun höhere Allgemeinbildung? Um eine erste Vorstellung zu geben: Sie ist ein in Bildungsinhalten und -zielen besonders anspruchsvolles Wissen und Können, das nicht nur kognitive, sondern auch affektive und soziale Fähigkeiten verlangt (vgl. Eberle & Brüggenbrock 2013, S. 96, mit Bezugnahme auf Dubs 1993, S. 14). Um dies zu erreichen, ist sowohl ein Unterricht mit Ambitionen, breitem Horizont und didaktischem Repertoire notwendig als auch ein Lernen mit Überlegung, soliden Fachgrundlagen und wachsender Selbstständigkeit. Daraus resultieren sechs Merkmale der höheren Allgemeinbildung:

(1) Fachliche Vertiefung auf hohem Stand

Dieser Begriff meint ein Niveau des Fachunterrichts, das den Anforderungen der universitären Hochschulen genügt und das in anspruchsvollen Fachinhalten sowie fachlichen Lernzielen des Lehrplans seine Entsprechung findet. Verlangt sind besonders kognitive Fähigkeiten wie Transfer, Synthese, Reflexion und kritisches Urteil, weil erst damit dieser Anspruch erfüllt wird. Wichtig sind in diesem Zusammenhang die Schwerpunktfächer. Sie sind dank der grösseren Stundendotation zur fachlichen Vertiefung prädestiniert und fördern anstelle der früheren Maturitätstypen das Interesse für bestimmte Studienrichtungen, ohne die Wahlfreiheit einzuengen (dazu Notter & Arnold 2006, S. 5; Oelkers 2008, S. 173; Eberle & Brüggenbrock 2013). Auch für den fächerübergreifenden Unterricht ist solides fachliches Wissen und Können notwendig. Kapitel 8 über die Fachinhalte und Kapitel 9 über die fachlichen Lernziele zeigen, was fachliche Vertiefung im Lehrplan konkret bedeutet, und geben dazu zahlreiche Beispiele. Zwischen der fachlichen Vertiefung und der breitgefächerten Allgemeinbildung gibt es keinen Widerspruch, das eine geschieht im Rahmen des anderen.

(2) Komplexes kreatives Lernen

Bernd Hackl unterscheidet in Anlehnung an die neuhumanistische Pädagogik und an Klaus Holzkamp (1995) ein «einfacheres» von einem «komplexeren» Lernen (2014, S. 67). Typisch für letzteres seien die Auseinandersetzung mit Neuem, die Bereitschaft, sich auf ein Problem einzulassen, und generell ein «kreativer, flexibler, krisenfreudiger Habitus» (ebd., S. 68). Hackls Ansatz lässt sich folglich unter dem Begriff des komplexen kreativen Lernens resümieren. Genau darauf kommt es im Gymnasium an. Der Lehrplan soll deshalb Inhalte und Ziele setzen, welche ein solches Lernen ermöglichen.

(3) Historische Orientierung

Der Neuhumanismus sah als Ziel des Gymnasiums die Persönlichkeitsbildung im Vertrautwerden mit den alten Sprachen und der Antike. Dieser geschichtliche Horizont hat sich heute zur globalen Dimension erweitert. Auch so bleibt es eine vorrangige Aufgabe des Gymnasiums, bedeutsame geschichtliche Inhalte, Themen, Errungenschaften, Untaten, Gesetze, Epochen, künstlerische Äusserungen, Mythen und Philosophien – um nur einige Bereiche zu nennen – in ihren lokalen und globalen Erscheinungsformen zu vermitteln und vor dem Vergessenwerden zu bewahren. Im Umgang mit solchen Zeugnissen lernen die Schülerinnen und Schüler, auf die Vorgeschichte gegenwärtiger Phänomene zu achten und sich letzteren nicht einfach auszuliefern. Was historisch und kulturell Bedeutung hat, ist jedoch nicht mehr vorgegeben, sondern erfordert in allen Fächern eine Kanondiskussion, die daher Teil der Lehrplanentwicklung sein muss.

(4) Gegenwarts- und Lebensweltbezug