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Ein Strahl der aufgehenden Sonne fiel an jenem Junimorgen durch das Fenster und streifte über die Kanten des Teppichs. Die Schatten der Rosen, die sich ums Fenster rankten und im lauen Wind schwankten, huschten hin und her.
Langsam schob sich der Sonnenstrahl über den Teppich, traf auf einen Tabaksbeutel, der auf dem Boden lag, und wanderte weiter, bis er auf die Spitze eines Männerschuhs fiel. Dann glitt er über den Fuß, dann über ein Bein, das in seiner Reglosigkeit unheimlich wirkte...
Der Roman Das Halsband des Todes des britischen Schriftstellers Henry Holt (* 1881; † 1955) erschien erstmals im Jahr 1931; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1964.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
HENRY HOLT
Das Halsband des Todes
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DAS HALSBAND DES TODES
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
Ein Strahl der aufgehenden Sonne fiel an jenem Junimorgen durch das Fenster und streifte über die Kanten des Teppichs. Die Schatten der Rosen, die sich ums Fenster rankten und im lauen Wind schwankten, huschten hin und her.
Langsam schob sich der Sonnenstrahl über den Teppich, traf auf einen Tabaksbeutel, der auf dem Boden lag, und wanderte weiter, bis er auf die Spitze eines Männerschuhs fiel. Dann glitt er über den Fuß, dann über ein Bein, das in seiner Reglosigkeit unheimlich wirkte...
Der Roman Das Halsband des Todes des britischen Schriftstellers Henry Holt (* 1881; † 1955) erschien erstmals im Jahr 1931; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1964.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Erstes Kapitel
Ein Strahl der aufgehenden Sonne fiel an jenem Junimorgen durch das Fenster und streifte über die Kanten des Teppichs. Die Schatten der Rosen, die sich ums Fenster rankten und im lauen Wind schwankten, huschten hin und her.
Langsam schob sich der Sonnenstrahl über den Teppich, traf auf einen Tabaksbeutel, der auf dem Boden lag, und wanderte weiter, bis er auf die Spitze eines Männerschuhs fiel. Dann glitt er über den Fuß, dann über ein Bein, das in seiner Reglosigkeit unheimlich wirkte.
Eine Stunde verging, bis der Sonnenstrahl an einem ausgestreckten Arm anlangte, dessen Hand zusammengekrampft war. Dann ließ er einen Gegenstand aufblinken, der aus dem Körper herausragte: ein Messer in der Brust eines toten Mannes!
Die Rosen schwankten noch immer im Wind, als Joe Wiggins, der Gärtner, an seine Arbeit ging. Er zog den Rock aus, hängte ihn an einen Ast des mitten auf dem Rasen stehenden Kirschbaums und steckte sich eine Zigarette an, während er gemächlich um sich blickte.
Prüfend sah er über die Beete, dann pflückte er vorsichtig einige Blätter von einem Strauch. Da fielen ihm die Blattläuse ein, die sich auf den Rosen angesiedelt hätten, und der Auftrag seines Herrn, des Amerikaners Mr. Fairfax, die Sträucher zu bespritzen.
Joe schlenderte zu einem Schuppen, holte die Insektenspritze und begann, leise pfeifend Tod und Verderben über die Blattläuse zu bringen.
Aber die Gedanken des Gärtners waren nicht bei seiner Arbeit. Der Tag hatte mit einer längeren Predigt seiner Frau begonnen, die verschiedene Eigenheiten Joes einer deutlichen und recht unangenehmen Kritik unterzogen hatte. Joe Wiggins richtete sich auf. Manchmal konnte man sich wirklich fragen, ob es ein Junggeselle nicht doch besser hätte! Er dachte noch darüber nach, als sein Blick in das Zimmer fiel.
Da stieß er einen unartikulierten Schrei aus, und die Spritze entfiel seinen Händen.
Was er da sah, konnte doch nicht wahr sein! Er beugte sich vor, stützte sich mit zitternder Hand auf den Fenstersims und starrte in das Zimmer. Einen Augenblick blieb er wie versteinert stehen, dann führ er herum, schoss wie ein Hase über den Rasen, die Auffahrt entlang und auf die Straße.
Wilde Panik jagte Joe Wigging der erst im Laufen innehielt, als er im Dorf auf den Dorfsergeanten Quirk stieß.
»Schnell, schnell!«, rief Joe atemlos. »Ein Mord!«
Der dörfliche Vertreter von Gesetz und Ordnung fuhr zusammen.
»Wo denn? Wer?«
»Oben im Haus Windways - wo ich arbeite.« Mit Mühe brachte Joe die Worte heraus. »Mr. Fairfax - mit eigenen Augen habe ich ihn daliegen sehen! Kommen Sie schnell!«
Als Sergeant Quirk den Garten von Windways betrat, schien er ihm unheimlich ruhig. Wiggins konnte doch so früh am Morgen noch nicht betrunken sein! Vielleicht war es nur ein Missverständnis? Trotzdem schweifte Quirks Blick unruhig über Rasen und Büsche. Dann lief er auf die Haustür zu und stieß sie auf.
Sergeant Quirk sah sich misstrauisch um, als er die Halle betrat.
Sein Blick fiel auf die offenstehende Tür zur Rechten - auf den reglosen Körper des Herrn von Windways. Er stürzte in das Zimmer, kniete neben ihm nieder, stand aber sofort wieder auf.
Ja, das war Mord! Mr. Fairfax war erstochen worden. Der Tod musste schon vor Stunden eingetreten sein.
Stirnrunzelnd ließ der Sergeant seinen Blick im Zimmer umherschweifen. Nicht schwer zu erraten, was die Veranlassung zu dem Verbrechen gewesen war. Hastiges Suchen hatte im ganzen Zimmer ein unglaubliches Durcheinander angerichtet. Die Schubfächer des Schreibtisches und einer Kommode waren herausgerissen worden, ihr Inhalt bedeckte den Boden.
Mr. Fairfax war schon längere Zeit tot, überlegte der Sergeant, und der Mörder sicherlich über alle Berge - aber warum diese unheimliche Stille im ganzen Haus? Wo waren denn die Dienstboten? Quirk lauschte. Falls sie nicht selbst mit dem Mord etwas zu tun hatten und geflüchtet waren - wo steckten sie dann nur?
Der Sergeant ging, vorsichtig über die auf dem Boden verstreuten Gegenstände hinwegtretend, in die Halle.
»Hallo! Ist hier jemand?«
Durch eine gleichfalls offenstehende Tür in der Halle betrat er das Esszimmer. Auch hier war deutlich zu sehen, dass alles in größter Eile durchwühlt worden war.
Er ging wieder in die Halle und öffnete eine dritte Tür.
Überrascht fuhr er zurück. Vor ihm, in der Küche, auf Stühlen festgebunden, saßen zwei Frauen. Der Kopf der jüngeren hing herab, aber die dunklen Augen der älteren richteten sich mit dem Blick eines wütenden Raubvogels auf den Polizeibeamten. Es war klar: Nur das Tuch, das ihr den Mund versschloss, hinderte sie daran, ihre Meinung ungeschminkt zum Ausdruck zu bringen.
Quirk zog ein Messer aus der Tasche, um die beiden Frauen loszuschneiden, zögerte aber, als die Klinge schon den Strick berührte. Irgendetwas an dem Ausdruck dieser dunklen Augen beunruhigte ihn. Wenn mit dieser Fesselung etwas faul war, konnte der Mord vielleicht schnell aufgeklärt werden!
Er untersuchte die Knoten und die Art der Fesselung. Nein, keine der beiden Frauen konnte sich selbst festgebunden haben. Er durchschnitt den Strick, dann befreite er die ältere Frau von dem Knebel.
»Haben Sie den Kerl erwischt?«, waren die ersten Worte, die sie wütend hervorstieß.
Quirk war im Augenblick mit ihrer Gefährtin beschäftigt, die in seinen Armen zusammensackte, als er den Strick löste. Er ließ sie auf den Boden gleiten und bemerkte beruhigt, dass sie regelmäßig atmete.
»Welchen Kerl?«, fragte er.
»Den Schuft, der diese Gemeinheit begangen hat«, fuhr sie ihn an und rieb sich die erstarrten Arme und Beine.
Am Fenster tauchte jetzt der Kopf von Joe Wiggins auf. Der Sergeant ging durch die Küche und stieß die Tür auf.
»He, Sie!«, rief er. »Laufen Sie so schnell wie möglich zur Polizeistation und berichten Sie, was hier passiert ist. Man soll sofort einen Arzt und zwei Wachtmeister herausschicken.«
Joe sauste ab, und der Sergeant wandte sich wieder der Frau zu.
»Zuallererst: Wie heißen Sie?«
»Mrs. Raven - Julia Raven. Ich bin die Haushälterin und Köchin von Mr. Fairfax. Jetzt möchte ich aber erst mal wissen...«
»Ruhig«, unterbrach Quirk sie. »Zuerst möchte ich mal was wissen. Wer ist das Mädchen hier?«
»Clara Simpson.«
»Eine der Hausangestellten?«
»Wir sind überhaupt nur zwei hier. Clara ist das Hausmädchen. - Aber jetzt will ich wissen, was hier eigentlich passiert ist«, erklärte Mrs. Raven.
Sie war eine große Frau von vielleicht fünfzig Jahren, mit scharfen Zügen und grauem Haar. Ihre dünnen, beinahe blutleeren Lippen zitterten.
»Das will ich ja gerade herausfinden«, gab Quirk zurück. »Sie haben soeben einen Mann erwähnt. Wann war der hier?«
»Gestern Abend, aber es kommt mir vor, als. wäre es vor Wochen gewesen...«
»Um wieviel Uhr?«
»Gegen sechs.«
»Schön. Erzählen Sie, was passierte.«
»Clara und ich waren in der Küche«, begann die Haushälterin, »und putzten das Gemüse fürs Abendessen. Die Tür nach draußen stand offen; es war ja ein warmer Abend. Plötzlich sah ich einen Mann in der Küche stehen.«
»Kannten Sie ihn?«
»Woher denn? Ich hatte ihn nie vorher gesehen, und außerdem hatte er seinen Hut tief ins Gesicht gezogen und Kinn und Mund hinter einem bunten Tuch verborgen.«
»Gut. Er kam also in die Küche. Und dann?«
Die Frau schwieg einen Augenblick, als ob sie die Szene noch einmal durchlebte.
»Dann? Er hielt uns einen Revolver unter die Nase und zischte nur: Pst! Sicher hätte er geschossen, wenn wir geschrien hätten. Clara war nahe daran, aber glücklicherweise nahm sie sich noch zusammen.«
»Der Mann war also allein?«
»Glauben Sie vielleicht, dass eine ganze Armee mit Maschinengewehren nötig ist, um zwei wehrlose Frauen zu überwältigen?« war die bissige Antwort.
»Beantworten Sie meine Fragen gefälligst anständig«, sagte Quirk scharf. »Ich bin hier, um meine Pflicht zu tun, und die Sache ist ernster, als Sie denken. Erzählen Sie weiter. Dann fesselte er Sie?«
»Während er den abscheulichen Revolver auf uns gerichtet hielt, stellte er zwei Stühle mit den Lehnen aneinander und zwang uns, uns zu setzen. Dann nahm er einen Strick aus der Tasche und band uns zusammen. Als er fertig war, konnten wir kein Glied mehr rühren. Schließlich knebelte er uns noch. Dann verschloss er die Hintertür von innen und ging in die Halle.«
»Und das ist alles, was Sie wissen?«, fragte Quirk etwas enttäuscht. Wenn die Haushälterin ihm auch nicht sympathischer geworden war - mit dem Mord schien sie nichts zu tun zu haben. »Alles?«, wiederholte sie entrüstet. »Ist das nicht genug?«
»Ich fürchte, nein«, entgegnete Sergeant Quirk. Schritte erklangen in der Halle, und Mrs. Ravens entsetzter Blick fiel auf zwei Polizeibeamte und den Arzt des Dorfes.
»Om Himmels willen, was ist denn eigentlich geschehen?«, rief sie bestürzt.
Quirk sah den fragenden Blick des Arztes und wies mit der Hand auf das Zimmer, in dem sich das Drama abgespielt hatte.
»Da drin, Sir. Ich komme gleich nach.«
Er sah die Haushälterin und das Mädchen an, das sich, noch immer halb ohnmächtig, aufgerichtet hatte.
»Es ist ein Wunder, dass Sie beide noch am Leben sind. Mr. Fairfax liegt in seinem Zimmer - ermordet!«
Dann schloss er die Tür hinter sich, aber der seltsame Ausdruck von Mrs. Ravens Augen blieb in seinem Gedächtnis haften.
»Nun, Sir?«, sagte er zu dem Arzt. »Ganz verwünschte Sache! Gestern Abend passiert.«
Der Arzt erhob sich.
»Das möchte ich auch behaupten«, entgegnete er, »Der Tod muss beinahe sofort eingetreten sein. Hier ist eine große Schwellung am Hinterkopf, die aber vermutlich durch den Fall verursacht wurde.«
Quirk nahm den Helm ab und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn.
»Der Mörder ist über alle Berge, und wenn man die Sache richtig betrachtet, sieht sie verdammt verwickelt aus. Ich erstatte erst mal dem Chef Bericht. Sicherlich wird Scotland Yard den Fall übernehmen.«
Zweites Kapitel
Einige Stunden später hatte man den Leichnam von Cyrus Fairfax weggebracht. In dem Mordzimmer saß Mrs. Raven steif wie ein Stock Kriminalinspektor Munro von Scotland Yard gegenüber. Neben ihr saß Clara Simpson.
Munro, ein kräftig gebauter Mann, war einer der jüngeren Beamten des Yards. Prüfend ruhten seine grauen Augen einige Sekunden auf dem Gesicht der älteren Frau, bevor er die Vernehmung begann. Entweder war sie jeder Erregung unfähig.
Oder sie konnte sich erstaunlich gut beherrschen. Man würde ja sehen.
»Mrs. Raven«, begann der Inspektor, »wie lange sind Sie schon bei Mr. Fairfax?«
»Drei Jahre - seit er Windways übernahm. Vom ersten Tag an war ich hier Haushälterin.«
»Dann müssen Sie ihn ja sehr gut gekannt haben und können uns sicherlich behilflich sein. - Der Mann, der Sie beide in der Küche fesselte, war Ihnen völlig fremd?«
»Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, Sir, aber ich glaube nicht, dass ich ihn jemals vorher gesehen habe.«
»Wenn er jetzt hier hereinkäme - glauben Sie, Sie würden ihn wiedererkennen?«
Ihre Lippen zitterten ein wenig, als sie antwortete: »Ich glaube nicht, Sir.«
»Wie groß war er denn?«
»Weder groß noch klein. Ich möchte sagen: mittelgroß.«
Der Inspektor blickte das Mädchen an. Erfahrung hatte ihn gelehrt, Menschen schnell beurteilen zu können. Clara Simpson war für ein auch nur einigermaßen intelligentes Mädchen außerordentlich schweigsam. Man konnte beinahe auf den Gedanken kommen, dass sie etwas zu verbergen suchte.
»Und wie würden Sie den Mann beschreiben, Miss Simpson?«
Bevor sie antwortete, blickte das Mädchen verstohlen zu Mrs. Raven hinüber, deren dunkle Augen aber unentwegt auf dem Gesicht des Inspektors ruhten.
»Genau wie Mrs. Raven«, war Clara Simpsons Antwort.
Inspektor Munro strich sich langsam übers Haar. Er fühlte instinktiv, dass hier etwas nicht stimmte.
»Gut«, meinte er gleichmütig. »Sagen Sie, Mrs. Raven, was hatte denn der Mann für Augen? Die konnten Sie doch sehen?«
»Das kann ich auch nicht sagen«, entgegnete sie mit einem leichten Anflug von Ärger, vielleicht auch Misstrauen, in der Stimme. »Graue oder blaue, glaube ich. Als er hereinkam, stand er mit dem Rücken zum Fenster, und ich konnte nichts Genaues erkennen. Und dann hatte ich ja gar keine Möglichkeit mehr, ihn genauer anzuschauen. Er war schnell genug mit uns beiden fertig.«
»Was können Sie denn sonst noch über ihn sagen?«
»Leider nichts, Sir.«
»Und Sie, Miss Simpson?«
»Ich war viel zu sehr entsetzt, irgendetwas beobachten zu können, Sir. Es war ganz genauso, wie Mrs. Raven sagt.«
Schon wieder diese nichtssagende Redensart. Munro war fest davon überzeugt, dass Clara Simpson für gewöhnlich nicht so einfältig und wortkarg war.
»Würde denn eine von Ihnen seine Stimme wiedererkennen?«
»Aber er hat doch gar nicht gesprochen«, entgegnete Mrs. Raven kopfschüttelnd.
Wieder strich sich Munro nachdenklich übers Haar. Es war doch eigenartig, wie wenig die beiden Frauen hier über den Mann zu sagen hatten, der in das Haus eingedrungen war und sie gefesselt hatte! Eigenartig - und doch wieder nicht ganz unmöglich. Der Verbrecher hatte sicher mit größter Sorgfalt seine Identität zu verbergen versucht. Auch war das Licht in der Küche, noch dazu gegen Abend, nicht besonders gut.
»Das genügt für den Augenblick, Miss Simpson«, sagte Munro, hielt aber die ältere Frau, die gleichfalls aufstehen wollte, mit einer Handbewegung zurück. »Ich habe noch einige Fragen an Sie zu stellen, Mrs. Raven.«
Als sich die Tür hinter dem Hausmädchen geschlossen hatte, beugte sich Munro zu Mrs. Raven vor, die mit steinernem Gesichtsausdruck wieder Platz genommen hatte,
»Was hat der Mörder hier im Haus gestohlen?«
Die Haushälterin sah ihn blinzelnd an, aber ihre Antwort kam ohne Zögern. »Das weiß ich nicht.«
Inspektor Munro dachte über die merkwürdige Frau vor ihm nach. Lag es in ihrer Macht, etwas zu enthüllen, das zur Lösung des Rätsels beitragen konnte? Dann musste man sie sehr vorsichtig anfassen. Drohen und Anschreien würde sie gänzlich kalt lassen. Sie schien zu den Menschen zu gehören, die sich lieber auf einem Scheiterhaufen verbrennen lassen würden, als zu reden, wenn es ihnen nicht passte. Aber eine Lügnerin war sie nicht, davon war er überzeugt.
»Aber etwas ist doch gestohlen worden?«, fragte Munro schließlich.
»Wirklich?«
In ihren Augen zuckte ein Blitz von Interesse auf, aber ihr blasses Gesicht blieb unverändert.
»Man muss es doch annehmen. Es ist klar, dass der Mörder in einer bestimmten Absicht hierhergekommen ist. Kein gewöhnlicher Einbrecher hätte alles so sorgfältig durchsucht. Und das Verbrechen an Ihrem Herrn beweist, dass der Mann zu allem entschlossen und gänzlich skrupellos war. Überlegen Sie doch mal, was der Mann gesucht haben könnte.«
»Ich habe überall nachgesehen«, sagte Mrs. Raven bestimmt, »und soweit ich es beurteilen kann, fehlt nichts - gar nichts.«
»Waren denn besonders wertvolle Dinge im Haus?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Wie standen Sie mit Mr. Fairfax? Gut?«
»Ich habe niemals ein böses Wort von ihm gehört.«
»Unterhielten Sie sich manchmal auch über persönliche Angelegenheiten?«
»Ich war doch nur eine Angestellte hier, Sir, und er der Herr. Ab und zu erzählte er mir etwas von seinem Leben in den Vereinigten Staaten, aber im allgemeinen war er nicht sehr gesprächig.«
»Und Sie können sich an nichts in diesen Gesprächen erinnern, das vielleicht Bezug auf diesen Mord haben könnte?«
»Nein, Sir.«
»War Mr. Fairfax reich?«
»Das könnte man wohl nicht sagen; er lebte aber in guten Verhältnissen. Da wird Ihnen der Bruder von Mr. Fairfax bessere Auskunft geben können - Mr. Elmer Fairfax. Er muss bald hier sein. Ich habe an ihn und auch an seinen Anwalt in London, Mr. David Strickland, telegrafiert.«
»Wie lange lebte Ihr Herr schon in England?«
»Er übernahm Haus Windways sofort, als er von Amerika herüberkam. Das war vor drei Jahren, wie ich Ihnen schon sagte.«
»Hatte er eigentlich hier Geschäfte?«
»Ja und nein. Er hatte es nicht nötig, für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten. Mr. Fairfax muss aber doch ein tüchtiger Geschäftsmann gewesen sein. Er war ein großer Kenner und Liebhaber von Antiquitäten und solchen Dingen. Es machte ihm Spaß, hie und da etwas zu kaufen und dann mit einem ganz netten Verdienst wieder zu verkaufen.«
Der Inspektor dachte an das Buch, das man auf dem Fußboden des Mordzimmers gefunden hatte. Der Titel war: Kostbare Steine des Orients. Der Amerikaner war vermutlich beim Lesen von dem Mörder überrascht worden.
»Was kaufte er denn hauptsächlich?«
»Ach, allerhand. Vor kurzem zeigte er mir zwei kleine Elfenbeinschnitzereien, die er in einem Trödlerladen gefunden hatte. Das Stück kostete ein Pfund. Dann schickte er sie nach London auf eine Auktion, und ich erinnere mich, dass sie ihm zweihundertfünfzig Pfund einbrachten.«
»Er kam also manchmal mit Händlern zusammen?«
»Sicherlich doch.«
»Und kamen auch welche hierher?«
»Nie, soweit mir bekannt ist.«
»Aber Sie wissen es nicht genau?«
»Doch, so ziemlich. Die regelmäßigen Besucher waren mir ja schließlich bekannt.«
»Hatte Mr. Fairfax viele Freunde?«, fragte der Inspektor nach kurzer Überlegung.
»Viele Freunde nicht, aber er war allgemein beliebt.«
»Hatte er häufig Besuch?«
»Ab und zu kamen einige Herren aus der Nähe, mit denen er Golf spielte, zum Poker. Dann kam auch sein Bruder gelegentlich von Chipping Mallett herüber. Letzte Woche war sein Anwalt, Mr. Strickland, aus London zum Golfspielen hier. Übrigens besuchte ihn erst gestern noch ein Herr
»Wer war das?«, fragte Munro mit erwachtem Interesse.
»Mr. Clinton-Ware, ein pensionierter Oberst und sehr guter Freund des Herrn. Er war schon öfter hier.«
»Um welche Zeit kam Oberst Clinton-Ware?«
»Gegen Viertel vor fünf.«
Allem Anschein nach war der Mord gegen sechs Uhr abends begangen worden, obwohl das nicht einwandfrei festgestellt werden konnte. Ebenso wenig lag ein Beweis dafür vor, dass der Mann, der die beiden Frauen gefesselt hatte, auch der Mörder war. Cyrus Fairfax konnte auch Stunden später den Tod gefunden haben, aber das war recht unwahrscheinlich.
»Wie lange hielt sich der Oberst auf?«
»Kaum zwanzig Minuten. Kurz nach fünf Uhr fuhr er in seinem Auto wieder fort.«
»Wohnt Oberst Clinton-Ware in Rollingdene?«
»Nein, in London - in Mayfair, glaube ich.«
»Haben Sie etwas von der Unterhaltung zwischen Ihrem Herrn und dem Oberst hören können?«
»Nein, Sir. Ich erinnere mich wenigstens nicht.«
»Wer öffnete ihm die Tür? Sie oder das Mädchen?«
»Ich, Sir. Clara zog sich gerade um.«
»Freute sich Mr. Fairfax, als der Oberst kam?«
»Ja, Sir; Ich habe Ihnen doch gesagt, sie waren sehr gut befreundet.«
»Und Sie hörten nichts, was auf eine Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden schließen lassen könnte?«
»Nein, Sir. Beide lachten vergnügt, als der Oberst sich verabschiedete.«
»Und das war kurz nach fünf Uhr. - Haben Sie nachher Mr. Fairfax noch gesehen?«, fragte Munro schnell.
»Oh, ja, Sir. Mehr als eine halbe Stunde später saß er lesend im Wohnzimmer, als ich zu ihm kam, um etwas wegen des Essens zu fragen.«
»Mrs. Raven«, sagte Inspektor Munro nach einer kleinen Pause, »ich möchte Sie noch etwas Persönliches fragen. Sie sind Witwe?«
»Ja, ich habe meinen Mann vor Jahren verloren«, entgegnete sie kalt.
»Das tut mir leid. Hier in Rollingdene?«
»Nein.«
Munro fühlte, dass er bei einem Punkt angelangt war, wo er keine Antwort mehr erhalten würde.
»Sie sind aus London?«
»Ja.«
»Wo haben Sie dort gewohnt?«, fragte der Inspektor scheinbar gleichgültig.
Diese Frage war ihr offensichtlich nicht ganz angenehm. Wie Munro schon vorher angenommen hatte, schien ihr eine Lüge nicht leichtzufallen.
»Ich wohnte in der Meynell Road in Balham, bevor ich hierherkam.«
Der Inspektor nickte, dann fragte er: »Ist Ihnen etwas über die Bestimmungen von Mr. Fairfax’ Testament bekannt?«
»Vor sechs Wochen erzählte mir der Herr, dass er mir eine kleine Summe hinterlassen würde, wenn ich bei seinem Tod noch in seinen Diensten wäre. Einen bestimmten Betrag hat er nicht erwähnt, und das ist alles, was ich darüber weiß.«
»Es ist ja auch nebensächlich«, sagte Munro, stand auf und ging langsam zum Fenster. Man hätte glauben können, dass seine ganze Aufmerksamkeit der Schönheit des friedlichen Gartens gälte. Aber schon im nächsten Augenblick wandte er sich wieder der Frau zu.
»Wie Sie mir sagten, hat Mr. Fairfax nie etwas erwähnt, das irgendwelche Beziehung zu dem Verbrechen haben könnte. Ich möchte meine Frage jetzt etwas anders stellen. Hatten Sie die Empfindung, dass Mr. Fairfax glaubte, in Lebensgefahr zu sein?«
»In Lebensgefahr?« Sie schien über die Bedeutung dieser Frage nachzudenken. »Nein, Sir, das könnte ich nicht sagen, obgleich ich zugeben muss, dass mir Mr. Fairfax in den beiden letzten Tagen etwas unruhig erschien.«
»Inwiefern?«
Der Inspektor nahm wieder ihr gegenüber Platz. Das war die erste wirklich interessante Mitteilung, die ihm Mrs. Raven machte.
»Sehen Sie, solange ich hier bin, war es immer meine Aufgabe, nachzusehen, dass die Türen nachts verschlossen waren. Er kümmerte sich nie darum, und in so einem kleinen Nest wie Rollingdene gibt es ja auch keine Einbrecher. Wenn Gäste hier waren, sagte er mir für gewöhnlich, dass er die Haustür abschließen würde. Es ist aber auch öfter vorgekommen, dass er es vergaß. Die Tür war dann die ganze Nacht nicht zugesperrt. Aber in der letzten Woche, genauer gesagt, seit Freitag, war er anders geworden. Der Herr war am Freitag in London gewesen, und es fiel mir auf, dass er am Abend eine Runde um das Haus machte und auch alle Fensterriegel nachsah.«
Endlich! Munros geduldiges Fragen schien doch Erfolg zu haben. Möglicherweise konnte das Verhalten des Amerikaners eine Lösung des Rätsels bringen.
»Was sagte denn Mr. Fairfax?«
»Als ich ihn fragte, ob irgendetwas nicht in Ordnung wäre, entgegnete er, es sei ihm gerade aufgefallen, wie leicht man doch bei ihm einbrechen könnte. Als ich ihm sagte, dass Diebe ja doch hereinkommen würden, wenn sie sich das erst mal vorgenommen hätten, gab er mir recht. Aber am selben Abend - am Freitag -, bevor er zu Bett ging, sah er selbst nach, ob alles abgeschlossen war. Ich dachte dann nicht mehr darüber nach, aber am Samstag machte er es genauso, und er sagte noch, dass er an der Haustür einen neuen Riegel anbringen lassen wollte.«
»Was Sie da sagen, Mrs. Raven, ist sehr wichtig. Es beweist, dass Ihr Herr sich nicht ganz sicher fühlte. Wissen Sie, warum er am letzten Freitag nach London fuhr?«
»Nein, Sir.« Die Frau schien etwas von ihrer Zurückhaltung aufgegeben zu haben. »Er fuhr nach dem Frühstück weg, wollte zum Lunch in London bleiben und gegen sechs wieder hier sein.«
»Haben Sie bemerkt, dass er irgendetwas aus London mitgebracht hat? Ein Päckchen vielleicht?«
»Eine Kiste Zigarren; das weiß ich.«
»Schön, aber Sie haben doch sicher begriffen, worauf es mir ankommt. Wegen einer Kiste Zigarren ist Cyrus Fairfax bestimmt nicht erstochen -worden. Sie erklären, dass sich keine besonders wertvollen Gegenstände im Haus befanden, aber nach dem Mord wurden die Zimmer von Mr. Fairfax durchsucht, der Inhalt aller Kommoden und Schränke durchwühlt. Ein goldenes Zigarettenetui auf dem Tisch blieb unberührt, gleichfalls verschiedene Gegenstände, die jeder gewöhnliche Einbrecher mitgenommen hätte. Das beweist, dass der Mörder einen bestimmten Gegenstand suchte, und flach allem, was Sie mir erzählt haben, bin ich überzeugt, dass es etwas gewesen ist, das Mr. Fairfax am Freitag aus London mitbrachte.«
»Es sieht so aus, als ob Sie recht hätten, Sir; aber, so leid es mir tut, ich kann Ihnen da gar nicht helfen.«
»Wo bewahrte Mr. Fairfax Wertsachen, Dokumente, Geld und so weiter, auf?«
»Er war eigentlich recht nachlässig damit, zu nachlässig. Ich erinnere mich, dass einmal ein Bündel Geldscheine tagelang m einem offenen Schubfach des Schreibtisches lag. Ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass das Geld da nicht sicher sei, aber es hat ihn nicht weiter bekümmert.«
»Sehen Sie sich das bitte an«, bat nun Munro.
Mrs. Ravens Hände zuckten nervös, als sie auf das Messer blickte, mit dem Cyrus Fairfax erstochen worden war.
»Haben Sie es je vorher gesehen?«
Die Frau schüttelte den Kopf. Ihr Blick fiel durch das Fenster auf einen Mann, der eilig auf die Haustür zuschritt.
»Entschuldigen Sie mich, Sir. Da kommt der Bruder des Herrn: Mr. Elmer Fairfax.«
Drittes Kapitel
Drei wundervolle Monate lagen vor Nicholas Wyllarde, als er auf dem Victoria-Bahnhof ankam. Und innerhalb dieser drei Monate würde er das reizendste Mädchen der Welt zum Altar führen.
Wyllarde war sechsundzwanzig Jahre alt, tat seit einem Jahr als Polizeiinspektor Dienst in Hongkong und kam nun auf Urlaub nach England. Er hatte die scharf geschnittenen Züge und die breiten Schultern eines Seemanns. Jede Bewegung seines athletischen Körpers sprach von einer unbändigen Lebenskraft.
»Wann geht der nächste Zug nach Chipping Mallett?«, fragte er seinen Gepäckträger.
Der Mann blickte prüfend auf die Bahnhofsuhr.
»Sie werden ihn wahrscheinlich gerade noch auf Bahnsteig acht abfahren sehen, Sir.«
Als der Zug dann mit Nicholas und seinem Gepäck aus dem Bahnhof hinausrollte, stand der Gepäckträger etwas benommen mit seinem Trinkgeld in der Hand da; er hatte das Empfinden, mit Mühe und Not einem Sturm entronnen zu sein.
In Chipping Mallett verstaute Nicholas Wyllarde sein Gepäck in ein Taxi und fuhr zum Haus Grey Towers am äußersten Ende der kleinen Stadt. Bevor er seine Heimat im Westen Englands aufsuchte, wollte er eine Woche im Haus seiner Verlobten verbringen.
Bei dem Geräusch des vorfahrenden Wagens erschien ein Diener in der Tür.
»Hallo, Benson!«, rief Wyllarde vergnügt. »Wie...?« Er brach plötzlich ab. Das Gesicht des Dieners war ernst und kummervoll. »Es tut mir leid, Sir, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass wir hier viel - viele Sorgen gehabt haben.«
Die angstvolle Frage, die sich auf Wyllardes Lippen drängte, unterblieb, denn er sah seine Verlobte Jill in der Tür stehen. Hastig sprang er die wenigen Stufen hinauf.
»Jill...!« Ängstlich forschte er in ihren Zügen. »Was ist denn geschehen?«