DIE FLÜSTERSTIMME - Henry Holt - E-Book

DIE FLÜSTERSTIMME E-Book

Henry Holt

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Beschreibung

Murgatroyd drehte sich wortlos um und kehrte wieder auf die Straße zurück, wo er ziellos weiterschlenderte. Er stieß gegen eilende Passanten, die sich, je nach Laune und Temperament, bei ihm entschuldigten oder über seine Ungeschicklichkeit beschwerten. Aber er war blind und taub gegen alles, was um ihn herum geschah. Nach stundenlangen Irrwanderungen gelangte er schließlich zum Embankment und ließ sich apathisch auf eine Bank fallen.

Es wehte ein schneidender Ostwind, gegen den sich Murgatroyd hinter seinem aufgeschlagenen Mantelkragen verkroch. So zusammengekauert versuchte er, die Gedanken zu ordnen, die ihm in wüstem Wirrwarr durch den Kopf schossen und aus denen nur ein einziger immer wieder mit schärfster Klarheit auftauchte, ein Entschluss, vor dem er noch gestern mit Entsetzen zurückgeschreckt wäre.

 

Der Roman Die Flüsterstimme des britischen Schriftstellers Henry Holt (* 1881; † 1955) erschien erstmals im Jahr 1938; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1958.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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HENRY HOLT

 

 

Die Flüsterstimme

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE FLÜSTERSTIMME 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

 

Murgatroyd drehte sich wortlos um und kehrte wieder auf die Straße zurück, wo er ziellos weiterschlenderte. Er stieß gegen eilende Passanten, die sich, je nach Laune und Temperament, bei ihm entschuldigten oder über seine Ungeschicklichkeit beschwerten. Aber er war blind und taub gegen alles, was um ihn herum geschah. Nach stundenlangen Irrwanderungen gelangte er schließlich zum Embankment und ließ sich apathisch auf eine Bank fallen.

Es wehte ein schneidender Ostwind, gegen den sich Murgatroyd hinter seinem aufgeschlagenen Mantelkragen verkroch. So zusammengekauert versuchte er, die Gedanken zu ordnen, die ihm in wüstem Wirrwarr durch den Kopf schossen und aus denen nur ein einziger immer wieder mit schärfster Klarheit auftauchte, ein Entschluss, vor dem er noch gestern mit Entsetzen zurückgeschreckt wäre.

 

Der Roman Die Flüsterstimme des britischen Schriftstellers Henry Holt (* 1881; † 1955) erschien erstmals im Jahr 1938; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1958.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  DIE FLÜSTERSTIMME

 

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Also, Murgatroyd«, sagte der Gefängnisdirektor, »jetzt winkt auch Ihnen endlich die Freiheit, und wenn mich meine Menschenkenntnis nicht trügt, werden wir Sie auch nicht wieder hier sehen.«

James Murgatroyds Gesicht blieb unbewegt, obwohl er diesen Moment seit drei Jahren herbeigesehnt hatte.

»Ich habe nicht die Absicht zurückzukommen«, antwortete er.

Damals bei der Gerichtsverhandlung hätte er zwar seine Unschuld beteuert, und die Verteidigungstaktik seines Anwalts war geradezu genial zu nennen gewesen, doch hätte, weder das eine noch das andere die Geschworenen überzeugen beziehungsweise das drückende Beweismaterial aus der Welt schaffen können, und so war Murgatroyd wegen Totschlags verurteilt worden.

»Was wollen Sie nun mit Ihrem Leben beginnen?«, fragte der Direktor weiter. »Mit sechsundzwanzig ist man doch noch jung.«

Murgatroyds Blick schweifte über die klare, sonnenbeschienene Winterlandschaft vor dem Fenster.

»Ich werde es genießen«, sagte er.

»Bevor Sie hierherkamen, hatten Sie eine Stellung, jetzt dagegen dürfte es nicht so leicht sein...«

»Darüber mache ich mir keine Kopfschmerzen«, wehrte Murgatroyd ab, immer noch in die Sonne blinzelnd. »Ich besitze dreißigtausend Pfund.«

Der Gefängnisdirektor zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe.

»Dreißigtausend! Ein beachtliches Vermögen! Zur Zeit Ihrer Verhaftung waren Sie doch nur – ich meine, Sie waren Schauspieler, wie aus den Berichten hervorgeht.«

»Ich verdiente sehr anständig«, erwiderte der junge Mann, »und obendrein gewann ich damals beim irischen Lotto. Die Nachricht erreichte mich genau am Tag meiner Verurteilung, daher habe ich bis jetzt keinen Penny von dem Geld angerührt.«

»Wo ist es denn?«

»Auf der Bank. Hilary Blackford, ein Freund von mir, hat sich darum gekümmert.«

»So – und Sie glauben, sich. darauf verlassen zu können?«

»Hundertprozentig. Für Hilary Blackford würde ich jederzeit die Hand ins Feuer legen.«

Auf dem Gesicht des Direktors erschien ein nachdenklicher Ausdruck. Murgatroyd war anscheinend ein. nüchterner, vernünftiger Mensch, aber welche Wirkung eine solche Menge Geld auf einen gerade aus dem Gefängnis Entlassenen ausüben würde, das mochte der Himmel wissen.

»Na, dann wünsche ich Ihnen viel Glück«, meinte er. »Halten Sie die Ohren steif. Ich habe allerdings den Eindruck, dass es Ihnen nicht an dem nötigen Verstand fehlt.«

Er schickte dem jungen Mann einen ernsten, sinnenden Blick nach, denn er wusste aus Erfahrung, dass den meisten, die diesen Ort hinter sich ließen, ein steiler, mühevoller Weg bevorstand, Entweder fielen sie früher oder später in ihre alten Gewohnheiten zurück, oder aber die erlittene Freiheitsstrafe hatte ihr Selbstbewusstsein so zermürbt, dass es ihnen schwer, wenn nicht gar unmöglich erschien, den Kopf jemals wieder hoch zu tragen.

 

Immer noch benommen von dem fremdartigen Gefühl der Freiheit, steuerte Murgatroyd wenig später auf ein großes Bankgebäude in der City Londons zu, und sein Herz begann heftig zu schlagen, als er es betrat und sich einem der Schalter näherte.

»Hier muss ein schöner Batzen Geld für mich liegen«, sagte er zum Kassierer und gab seinen Namen an.

Der Mann auf der anderen Seite streifte ihn mit einem neugierig verstohlenen Blick.

»Wünschen Sie einen Scheck einzulösen?«

Murgatroyds Augen glänzten fieberhaft.

»Ich möchte nur wissen, wieviel es eigentlich ist.«

»Einen Moment bitte«, erwiderte der Kassierer und verschwand. Einige Minuten später kam er zurück.

»Der Herr Geschäftsführer hätte gern mit Ihnen persönlich ein Wort gesprochen, wenn Sie gestatten. Wollen Sie mir bitte folgen?«

In der erzwungenen Haltung, die ihm zur zweiten Natur geworden war, stand Murgatroyd gleich darauf vor einem kühlblickenden Mann mit kahlem Kopf und goldgeränderter Brille.

»Nehmen Sie doch Platz, Mr. Murgatroyd. Es freut mich, dass ich Gelegenheit habe, mich mit Ihnen einmal über Ihr Konto zu unterhalten.«

Gehorsam wie ein Automat sank Murgatroyd auf einen Stuhl und befeuchtete sich die Lippen.

»Es stimmt doch mit dem Geld?«, fragte er. »Ich kann es jederzeit haben – auch gleich?«

»Selbstverständlich, wenn Sie wünschen.«

»Wieviel habe ich denn?«

Der Geschäftsführer orientierte sich durch einen kurzen Blick auf den Zettel, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag.

»Genau vierhundert Pfund«, antwortete er freundlich.

Mehrere Sekunden lang starrte Murgatroyd wie geistesabwesend ins Leere. Die Blässe auf seinem Gesicht wurde noch um einen Schein intensiver, sein Mund öffnete sich, als versuchte er, etwas zu sagen, aber die Zunge gehorchte ihm nicht.

»Da muss ein Irrtum vorliegen«, brachte er schließlich hervor.

Der Bankbeamte rückte sich die Krawatte zurecht.

»Ein Irrtum?«, wiederholte er mit betonter Höflichkeit. »Es ist die Summe, die vor drei Jahren auf Ihr Konto eingezahlt wurde.«

Murgatroyd saß eine Weile da, als müsste er sich erst aus einem bösen Traum befreien.

»Ich... ich hätte nie geglaubt, dass Blackford mir das antun würde«, stotterte er dann ratlos.

»Es tut mir leid, aber ich verstehe Sie nicht ganz.«

Der ehemalige Häftling brach in ein hartes, bitteres Lachen aus. Er fuhr sich mit der Hand über Stirn und Gesicht und sah mit einem Mal auffallend grau und erschöpft aus.

»Ich hebe alles ab, was da ist«, entschied er grimmig.

»Besitzen Sie ein Scheckbuch?«

»Nein. Als das Geld eingezahlt wurde, musste ich meine Unterschrift einsenden. Sie wird sich wahrscheinlich in Ihrer Kartei befinden. Mehr weiß ich nicht.«

Der Geschäftsführer schob ihm ein Formular über den Tisch zu. »Wenn Sie das bitte ausfüllen würden, dann könnten wir sofort alles Weitere veranlassen«, sagte er und schaute der Feder zu, die in etwas ungelenken Zügen über das Papier kratzte. Dann musterte er mit undurchdringlicher Miene den Scheck.

»Ihre Schrift hat sich ein wenig verändert, seit Sie uns damals Ihren Namenszug einsandten, Mr. Murgatroyd«, bemerkte er. »Darf ich Sie, nur um den Sicherheitsvorschriften zu genügen, fragen, ob Sie irgendetwas bei sich haben, womit Sie Ihre Identität beweisen können?«

Der andere sah ihn mit einem stumpfen Blick an, als begriffe er nicht. Dann zog er ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche. »Mein Entlassungsschein«, murmelte er. »Genügt der?«

»Völlig«, erwiderte der Geschäftsführer verbindlich.

Mit einem Ausdruck in den Augen, der nichts Gutes verhieß, stopfte Murgatroyd das Geld in sein Jackett und stolperte fast mechanisch die Stufen des Gebäudes hinunter. An der Kante des Bürgersteiges blieb er stehen und starrte vor sich hin, ohne die Menschenmenge zu gewahren, die sich an ihm vorüberdrängte. Nach einer Weile fing er an zu gehen, hielt aber mehrmals zerstreut inne, als hätte er seinen Weg verloren, bis er am Ende vor ein nüchternes Bürohaus gelangte, an dessen Eingang sich eine Reihe von Messingschildern befand. Er studierte sie eins nach dem anderen, fand jedoch nicht, was er suchte.

Langsam stieg er die Treppe zum zweiten Stockwerk hinauf und ging auf eine Tür zu, an der ein ihm unbekannter Name stand – der Name einer Werbefirma. Zögernd öffnete er sie, trat ein und sah sich einem Jüngling gegenüber, dessen Zähne emsig einen Kaugummi bearbeiteten.

»In diesem Haus wohnte früher mal ein Mr. Blackford«, sagte Murgatroyd mit trockener Kehle. »Können Sie mir wohl sagen, wohin er verzogen ist?«

»Nie von ihm gehört«, antwortete der Büroangestellte gleichgültig.

In diesem Moment kam ein orientalisch aussehender Mann mit schwarzen Knopfaugen ins Zimmer. »Was ist los?«, erkundigte er sich von oben herab.

»Seit wann sind Sie Inhaber dieser Räume?«, forschte Murgatroyd.

»Seit beinah einem Jahr«, war die etwas verblüffte Antwort. »Weshalb?«

»Ich suche einen Bekannten – einen Mr. Blackford, der vor Ihnen hier war.«

Der Levantiner schüttelte den Kopf.

»Weiß nichts von ihm.« Er ließ sich deutlich seine Ungeduld anmerken. »Die Räume standen einige Zeit leer, als ich sie übernahm.«

Murgatroyd drehte sich wortlos um und kehrte wieder auf die Straße zurück, wo er ziellos weiterschlenderte. Er stieß gegen eilende Passanten, die sich, je nach Laune und Temperament, bei ihm entschuldigten oder über seine Ungeschicklichkeit beschwerten. Aber er war blind und taub gegen alles, was um ihn herum geschah. Nach stundenlangen Irrwanderungen gelangte er schließlich zum Embankment und ließ sich apathisch auf eine Bank fallen.

Es wehte ein schneidender Ostwind, gegen den sich Murgatroyd hinter seinem aufgeschlagenen Mantelkragen verkroch. So zusammengekauert versuchte er, die Gedanken zu ordnen, die ihm in wüstem Wirrwarr durch den Kopf schossen und aus denen nur ein einziger immer wieder mit schärfster Klarheit auftauchte, ein Entschluss, vor dem er noch gestern mit Entsetzen zurückgeschreckt wäre. Er presste die Lippen fester aufeinander und ballte die Fäuste. Jetzt war nicht der Augenblick, sich solchen Ideen hinzugeben. Nur nüchterne Überlegung konnte hier helfen.

Nach einer Weile unterbrach die dünne Stimme einer zitternden Gestalt neben ihm seine Gedankengänge.

»Sie sind wohl auch nicht so reich, dass Sie mir ’ne Tasse Kaffee spendieren können, was?«

Mit Ausnahme eines müden Seitenblicks reagierte Murgatroyd überhaupt nicht auf die Anrede.

»Den ganzen Tag hab’ ich noch nicht Warmes im Bauch und auch kein Dach überm Kopf.«

Murgatroyd blinzelte zerstreut. Das erinnerte ihn daran, er hatte ja auch noch keine Bleibe für die Nacht, ein Problem, das ihm lange Zeit hindurch abgenommen worden war, dafür hatte die Regierung gesorgt. Aber nicht nur das, er musste sich auch noch verschiedene andere Dinge kaufen, bevor er in ein Hotel gehen konnte.

Abermals störte ihn die Stimme des Nachbarn aus seiner Versunkenheit auf.

»Bitte lassen Sie mich in Ruhe«, knurrte Murgatroyd. »Ich muss nachdenken.«

»Ich fresse ’nen Besen, entweder über Moneten oder ’ne Frau«, versetzte der Tippelbruder und hauchte sich in die blaugefrorenen Hände. »Das sind doch die einzigen Sorgen, die’s gibt.«

Die letzten drei Jahre hatten in Murgatroyd alle Überempfindlichkeit gegen die Berührung mit zweifelhaften Elementen getötet. Ein Lachen, das nicht ohne einen Anflug von Bitterkeit war, entschlüpfte ihm. Das Leben spielte wirklich verrückt! Noch heute Morgen, als er das Gefängnis verließ, hatte er sich wie ein Millionär gefühlt, und jetzt, nachdem seine Träume so jäh zerronnen waren, saß er hier am Embankment mit einem zerlumpten Landstreicher als einzigem Gefährten. Immerhin jemand, mit dem man reden konnte, ohne dass einem gleich der Befehl Ruhe dazwischen gebrüllt wurde.

»Schon mal im Knast gewesen, Kumpel?«, erkundigte er sich, mit Leichtigkeit in den Jargon verfallend, der seinem Gefühl nach der Situation angemessen war.

Das Menschenwrack neben ihm auf der Bank schielte ihn argwöhnisch an.

»Du vielleicht?«, kam die Gegenfrage.

»Hm. Heute entlassen.«

Der Vagabund nickte.

»Weiß, wie dir zumute ist«, bemerkte er mitfühlend. »Komisch, nicht? Als ob man nicht richtig da wäre.« Er hing eine Weile seinen Gedanken nach. »Ich könnte ’n Partner wie dich brauchen, einen, der für den nötigen Klamauk sorgt und die Leute in Atem hält, während ich ihre Taschen durchsuche, und du siehst mir aus, als hättest du das Zeug dazu. Na, wie steht’s damit?«

»Sieh mal einer an, das sind Aussichten«, meinte Murgatroyd trocken. »Kaum komme ich raus schon ein Geschäftsantrag! Danke dir vielmals, Kollege, aber ich muss zuerst noch eine andere dringende Sache erledigen.« Er zog eine nagelneue Ein-Pfund-Note hervor. »Hier, das ist für die Tasse Kaffee, die du trinken wolltest.«

Der Tippelbruder betrachtete den Geldschein mit sichtlichem Misstrauen, griff aber trotzdem gierig danach. 

»Blüte?«, fragte er zweifelnd.

»Keine Sorge. Gerade frisch von der Bank.«

»Mensch, du bist aber riesig anständig. Besten Dank, Chef. Dafür wünsche ich dem Polypen, der dich zu fassen versucht, die Pest an den Hals.«

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Der Schnee begann in immer dichteren Flocken zu fallen, und es versprach, ein vorbildliches Weihnachtswetter zu werden, als Murgatroyd einige Stunden später in einer kleinen Kneipe einkehrte, die sich Zum goldenen Kalb nannte. Ohne langes Zögern betrat er die gemütliche Hinterstube, die in diesem Augenblick leer war, und setzte sich vor dem Kamin nieder. Es dauerte nur kurze Zeit, da erschien in geschäftiger Eile der Wirt.

»Hallo, Joe«, rief der Neuankömmling. »Kennen Sie mich noch?« Joe starrte ihn an.

»Nein, so was! Sind Sie nicht Mr. Murgatroyd?«

»Ja, natürlich. Wie geht’s Ihnen so?«

»Prima!«, erwiderte der Gastwirt etwas verlegen und stieß mit dem Fuß einen Klumpen Kohle ins Feuer. »Sie – sind...« Er brach ab.

»Ja, ich bin wieder draußen«, ergänzte Murgatroyd, »aber Schwamm drüber. Was macht denn Blackford jetzt eigentlich?«, fügte er scheinbar gleichgültig hinzu.

»Blackford?« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Den habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.«

»Sie wissen doch, wen ich meine?«

»Natürlich. Er kam ja regelmäßig her, bevor...«

»Bevor ich ins Kittchen musste.«

»Richtig. Ein langer, dünner Bursche mit einem flotten, kleinen Schnurrbart. Schrieb doch Bücher, nicht wahr?«

»Ja«, bestätigte Murgatroyd. »Geben Sie mir einen Whiskey-Soda, bitte, und schenken Sie sich selbst auch einen ein. Wie lange ist es her, dass Blackford das letzte Mal hier war?«

»Oh, zwei, drei Jahre mindestens«, antwortete der Wirt. »Er blieb dann ganz weg, kurz nachdem Sie das Malheur hatten war es, glaube ich.«

»Und haben Sie eine Ahnung, wo er stecken könnte?«

»Nein. Bis zum heutigen Tag habe ich nie wieder etwas von ihm gehört. Na, dann Prost, Mr. Murgatroyd. Und wenn ich das sagen darf, ich war immer der Meinung, dass der Richter damals nicht sehr fair an Ihnen gehandelt hat. Ich verfolgte natürlich jedes Wort über Ihren Fall in der Zeitung.«

»Lassen Sie nur, Joe, das war mein Pech. Jetzt liegt es hinter mir.«

»Trotzdem, ich glaube einfach nicht, dass Sie den Mann absichtlich getötet haben.«

»Nein, das wollte ich wahrhaftig nicht. Ich hatte mir nur vorgenommen, ihm eine tüchtige Abreibung zu geben, dass ihm Hören und Sehen vergehen sollte, das konnte ich mir nicht verkneifen. Aber unglücklicherweise ging ich um ein Haar zu weit. Er stürzte und schlug sich den Schädel ein. Und das nannten sie dann Totschlag.«

»Ja, und belastend wirkte, dass Sie vorher gedroht hatten, ihn umzubringen, noch dazu vor Zeugen. Das gab den Ausschlag.« Joe schüttelte traurig den Kopf. »Ich sprach erst kürzlich mit jemandem darüber. Das war wirklich hart, wie sie mit Ihnen umgesprungen sind.«

»Sie wissen wohl auch niemanden, der mir sagen könnte, wo Blackford sich aufhält?«

Wieder schüttelte der Wirt den Kopf.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« Er machte eine Pause und runzelte die Stirn. »Aber halt, da fällt mir ein, dass neulich jemand behauptete, ihn oder seinen Doppelgänger gesehen zu haben. Allerdings ist das ziemlich lange her.«

»Wo?«, fragte Murgatroyd mit mühsam unterdrückter Erregung.

»Moment mal, wer war das doch? Mein Gedächtnis ist manchmal wie ein Sieb. Nächstens vergesse ich noch meinen eigenen Namen. Jetzt weiß ich’s – es war Mr. Sylvester. Er erzählte mir, er hätte an einer Dorftankstelle Benzin nachfüllen lassen, und da wäre Blackford vorbeigegangen, oder wenn nicht Blackford selbst, dann zumindest sein leibliches Ebenbild. Er hätte keinen Hut aufgehabt – er trug ja nie einen, wie Sie sich erinnern werden –, und Mr. Sylvester sagte, er habe ihm noch nachgerufen, aber Blackford, falls er es war, habe nicht die geringste Notiz von ihm genommen.«

»Wo war das?«

»Irgendwo da unten in Surrey, glaube ich. Aber beschwören könnte ich es nicht.«

»Ich würde gern ein Wort mit Mr. Sylvester sprechen«, murmelte Murgatroyd. »Wo kann ich ihn treffen?«

»Das wissen die Götter. Er kommt nur sehr selten zu uns.« Murgatroyd trank sein Glas aus und erhob sich.

»Ich schaue wieder mal herein, Joe«, sagte er, »und vergessen Sie nicht, ich möchte auf alle Fälle mit meinem alten Freund die Verbindung aufnehmen. Wenn Sie also herausfinden können, wo er steckt, bin ich Ihnen sehr dankbar.«

»Okay, Mr. Murgatroyd, ich will dran denken. Er wird sich sicher auch mächtig freuen, Sie wiederzusehen.«

»Bestimmt wird es eine große Überraschung für ihn sein«, meinte Murgatroyd, indem er sich zum Gehen wandte. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, antwortete Joe, »und frohe Weihnachten.«

»Danke schön, Ihnen auch«, rief Murgatroyd zurück.

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

Fast zur selben Zeit, als Murgatroyd das Goldene Kalb in London verließ rumpelte ein uraltes Auto im dichten Schneetreiben über eine Landstraße in Surrey. Der Mann am Steuer war kaum imstande, zehn Meter weit zu sehen.

Dass er sich unter diesen Umständen in ziemlich schlechter Laune befand, konnte man ihm wahrhaftig nicht übelnehmen; denn nach monatelanger Kreuzfahrt in sonnigen Gewässern bot dieses Wetter einem Heimkehrer keinen sehr freundlichen Willkommensgruß. Und um das Maß vollends zum Überlaufen zu bringen, hatte er obendrein seinen eigenen Wagen in irgendeiner kleinen Tankstelle am Weg stehenlassen müssen, weil der Motor plötzlich zu bocken angefangen und schließlich ganz und gar gestreikt hatte. Wahrscheinlich fehlte ihm nichts Ernstliches, außer dass der Vergaser verschmutzt war, aber die düstere Aussicht, in einem gottverlassenen Nest im Schnee steckenzubleiben, hatte seinen Herrn bewogen, ihn lieber bis zum Morgen in der Garage unterzustellen und seine Reise nach London erst am nächsten Tag fortzusetzen. Bis dahin hatte man ihm diese verrostete Klapperkiste als Ersatz geliehen mit der Zusicherung, dass er einige Kilometer weiter in einem Gasthof ein Unterkommen für die Nacht finden würde. 

Er schnaufte gerade um eine Wegbiegung, als das Licht seiner Scheinwerfer auf einen Wagen fiel, der offenbar in den Graben gerutscht war und nicht wieder herauskam. Die Hupe des so kläglich gestrandeten Fahrzeugs stieß ununterbrochen verzweifelte Signale aus.

Der Mann hielt, wickelte sich den Schal fester um den Hals und stieg aus. Während er über die Straße stapfte, sammelte sich eine Schneeschicht auf seinem Hut und seinen Schultern an und glitzerte im Strahl der Taschenlampe, der sich aus dem Fenster des fremden Wagens auf ihn richtete. 

»Hallo, Weihnachtsmann!«, rief eine Mädchenstimme. »Holen Sie mich bitte hier raus, bitte! Ich hab’s eilig.«

»Geben Sie mir mal Ihre Lampe«, erwiderte der Mann und unterzog das eingesunkene Gefährt einer kurzen Prüfung.

»Ja, den werden Sie wohl vorerst hier stehenlassen müssen«, meinte er schließlich.

»Das will ich aber nicht«, protestierte das Mädchen. »Können Sie mir nicht irgendwie helfen? Wo bin ich hier überhaupt?«

»Da fragen Sie mich zu viel. Sind Sie allein?«

»Ja. Haben Sie sich auch verirrt?«

»Mir wurde gesagt, ein Stück weiter in dieser Richtung läge ein Gasthaus, Jedenfalls wäre es ein Dach überm Kopf bei diesem Wetter.«

»Aber ich möchte nach Little Markham«, erwiderte das Mädchen trotzig.

Der Mann wischte sich den Schnee aus den Augen.

»Nie gehört. Dann also – viel Glück.«

»Ja, wollen Sie mir denn nicht helfen?«, entgegnete sie leicht gereizt. »Ich meine, Sie können mich doch nicht hier im Straßengraben verkommen lassen. Außerdem werde ich bei einer Party erwartet.«

»Ich kann Sie nur bis zum Gasthof mitnehmen – wenn wir ihn jemals finden«, antwortete er ohne große Begeisterung. »Aber viel Hoffnung, habe ich nicht.«

»Sie sind mir ein goldiger Weihnachtsmann! Haben Sie ganz vergessen, dass heute Heiligabend ist?«

»Was erwarten Sie von mir? Soll ich vielleicht ein Rudel Rentiere herbeizaubern, um Sie aus dem Graben zu ziehen?«

»Ganz gleich was. Ich versteife mich absolut nicht auf Rentiere, es kann auch etwas anderes sein.«

»Ein paar Elefanten taten auch?«

»Sie sind ein schlaues Kind! Ja, mit einem starken Seil würden sie es sicherlich schaffen.«

»Äußerst entgegenkommend von Ihnen«, bemerkte er. »Jetzt brauche ich mir nur noch zu überlegen, wo wir die Elefanten herkriegen.«

»Aber beeilen Sie sich gefälligst, oder ich erfriere hier zu Eis. Ich sitze schon seit einer halben Stunde in dieser Schneewehe fest.«

»Dann brauchen Sie vor allen Dingen etwas zu trinken«, entschied der Mann. »Ich habe eine Flasche in meinem Koffer – einen Moment.«

»Es geschehen wirklich noch Zeichen und Wunder«, stellte sie fest, als er wieder zurückkam. »Steigen Sie ein, ich habe zwei Tassen aus meinem Picknickkorb ausgegraben.«

Er schenkte ihr etwas ein und nickte ihr zu. »Auf Ihr Wohl!«

»Und ausgerechnet mir muss das passieren, die seit Jahren an Ihrer Existenz zweifelt, Weihnachtsmann!«, rief sie aus. »Puh, war mir kahl Ein Hoch auf den Mann, der den Schnaps erfand!«

Ihr Begleiter spähte durch die Scheibe.

»Ich sehe noch keine Elefanten«, sagte er. »Wenn Sie allerdings die ganze Nacht hierbleiben wollen, werden Sie womöglich...«

»Aber ich wiederhole Ihnen doch dauernd, dass ich nach Little Markham will«, erklärte sie in einem Ton, der deutlich zeigte, dass sie nicht die Absicht hatte, ihre Meinung zu ändern. »Meine Freunde erwarten mich.«

»Schreiben Sie mir eine Postkarte, wenn Sie angekommen sind, ja?«, schlug er vor. »Sie sind aus Amerika, vermute ich. Sehr tragisch.«

»Wieso?«

»Wenn man bedenkt, dass ein Mädchen den ganzen weiten Weg über den Atlantik zurücklegt, um dann hier in einer kalten, stürmischen Nacht im Straßengraben zu enden. Aber fern sei es mir, Ihnen dreinzureden. Oh nein, das tue ich beileibe nicht! Meinetwegen können alle Mädchen im Straßengraben umkommen, wenn sie durchaus darauf bestehen.«

»Sie versetzen mich in Erstaunen, edler Ritter!«

»Womit Sie sich wiederum im Irrtum befinden«, gab er zurück und bot ihr eine Zigarette an. »Ich bin kein edler Ritter. Als ich noch jung war, ja, da hatte ich solche komischen Ideale, aber das geht vorüber wie die Masern. Geben Sie Ihre Tasse her, damit ich Ihnen noch einen Schnaps eingießen kann.«

Das Mädchen warf den Kopf zurück und brach in lautes Lachen aus.

»Was ist so witzig daran?«, fragte er.

»Oh, gar nichts. Prost! Freut mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Weihnachtsmann. Wenn Sie in Ihrem Gasthof angelangt sind, schicken Sie mir bitte einen Wagen, der mich hier herauszieht. Tun Sie das?«

»Aber ich bin in dieser Gegend völlig fremd«, versuchte er ihr klarzumachen. »Ich glaube, ich bin versehentlich von der Hauptstraße abgebogen und in dieser Sackgasse gelandet. Möglicherweise finde ich dieses Wirtshaus niemals, und darüber hinaus wüsste ich auch gar nicht, wohin ich Hilfe schicken sollte. Na, ein Trost, dass ich hinterher alles in der Zeitung lesen werde. Reiche Amerikanerin zu Eiszapfen gefroren tot aufgefunden.«

»Wie kommen Sie darauf, ich müsste reich sein?«, forschte sie.

»Wenn Sie einen solchen Wagen besitzen.«

»Aber er gehört ja gar nicht mir, sondern meinem Chef, der ihn mir übers Wochenende geliehen hat. Ich bin ein schlichtes, berufstätiges Mädchen. Begreifen Sie jetzt, dass ich ihn nicht einfach hier steckenlassen kann? Ich will doch meine Stellung nicht verlieren – wenigstens vorläufig noch nicht.«

»Dann bleiben Ihnen nur die Eiszapfen übrig«, war die Antwort. »Lange, spitze Eiszapfen, an jeder Haarsträhne einer. Für eins von beiden müssen Sie sich entscheiden. Aber kümmern Sie sich nicht weiter um meine unmaßgebliche Meinung.«

»Sagen Sie mal, sind Sie eigentlich ein typischer Engländer?«, fragte sie nach längerem, nachdenklichem Schweigen.

»Ich bin überhaupt kein Engländer, sondern halb Ire und halb Schotte.«

»Und von der Kultur noch vollständig unbeleckt?«, stichelte sie. Er hielt, die Tasse schon fast am Mund, mitten in der Bewegung inne, um diesen Hieb zu verdauen.

»Oho! Wenn Sie es allerdings so formulieren, muss ich mich Ihrem Urteil beugen, aber wahrscheinlich hätten Sie diese spitze Bemerkung unterlassen, wenn ich Ihnen sofort die bewussten Elefanten aus dem Ärmel geschüttelt hätte. Dann wäre ich in Ihren Augen ein toller Bursche gewesen. Aber so sind die Frauen nun mal.«

»Warum so bitter, Weihnachtsmann?«

»Im Gegenteil, ich freue mich so, dass ich kopfstehen und mit den Beinen strampeln könnte.«

»Dann war es also letzten Endes ein Glück, dass sie Sie sitzengelassen hat?«, versetzte das Mädchen prompt. 

»Wer – sie?«

»Woher soll ich das wissen? Aber man muss kein Sherlock Holmes sein, um zu merken, dass Sie kürzlich eine Abfuhr erlitten haben. Na, seien Sie ganz ehrlich – Sie hat Ihnen den Laufpass gegeben, stimmt’s?«

»Nicht ganz. Zumindest nicht richtig ausgedrückt.«

Das Mädchen lachte hellauf.

»Wir sind verwandte Seelen, Weihnachtsmann. Zwei weise, alte Eulen, die sich in der Wildnis begegnen.« Sie hob die Tasse hoch. »Darauf stoßen wir jetzt an. Nie wieder Liebe!«

»Nie wieder Liebe«, wiederholte er feierlich und trank. Dann sah er sie schräg von der Seite an. »Ist das Ihr Ernst? Haben Sie der Liebe abgeschworen, wie man so schön sagt?«

»Endgültig.«

»Hm. Und ist es nicht ein herrliches Gefühl, frei zu sein?«

»Wunderbar!«, bekräftigte das Mädchen. »Diese einmalige Entdeckung machte ich erst vor nicht allzu langer Zeit.«

Sie knipste ihre Taschenlampe wieder an und richtete den Lichtstrahl auf seinen etwas abseitsstehenden Wagen, dessen Schäbigkeit jedoch von den immer dichter fallenden Flocken gnädig verdeckt wurde.

»Was haben Sie eigentlich heute, am Heiligabend, vor?«, fragte sie.

»Ich bin auf der Fahrt nach London.«

»Leben Sie dort?«

»Von Zeit zu Zeit.«

»Ein Zugvogel, was? Woher kommen Sie denn?«

»Ich war auf See«, erklärte er lakonisch. »Landete heute Abend in Southampton.«

»Ach, sieh da, ein oller Seebär! Das muss ein flottes Leben sein, wie man hört. In jedem Hafen eine andere Braut, nicht wahr?«

»Für manche vielleicht, aber nicht für mich, meine Teure«, verwahrte er sich energisch. »Ich habe keinerlei Interesse mehr an Frauen. Das sage ich nicht aus Angabe, sondern es ist meine heilige Überzeugung. Übrigens, war er Engländer?«

»Wer?«

»Weichen Sie nicht aus. Der, von dem Sie jetzt nichts mehr wissen wollen.«

»Ach so, nein. Das war drüben in New Jersey.«

»Und was war da? Es geht mich natürlich nichts an, aber wir müssen uns ja über irgendetwas unterhalten.«

»Mein teurer Gatte verließ mich. Brannte in Boston mit einer Löwenbändigerin durch.«

»Mit einer Löwenbändigerin! Na ja, manche Leute haben einen komischen Geschmack. Sie ließen sich also scheiden?«

»N-nein. Ich konnte es nicht über mich bringen. Wegen der Kinder, wissen Sie.«

»Kinder?«

»Ja. Mein kleiner Willy würde Ihnen bestimmt gefallen.«

Der Mann nahm ihr die Taschenlampe aus der Hand und studierte ihr Gesicht bei Licht.

»Kinder – so ein Unfug! Sie sind ja selbst kaum dem Babyalter entwachsen. Ungefähr neunzehn, schätze ich. Und auch nicht übel anzusehen, sogar hübscher als – aber lassen wir das. Es beweist nur wieder einmal, dass Frauen alle gleich sind. Sofort mussten Sie die Angel nach mir auswerfen, beinah ehe Sie mich überhaupt kannten, nicht wahr?«

»Sie meinten doch, wir müssten uns über irgendetwas unterhalten, und – was sollte ich sagen? Sie stellten eine Frage, und es gibt eben Dinge, von denen man nicht gern spricht.«

»Ja, ich weiß«, erwiderte er sinnend, »darin fühle ich ähnlich wie Sie. Vergessen Sie ihn, und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann lassen Sie auch in Zukunft die Finger von solchen Sahen. Es ist die einzige Methode, um restlos glücklich zu werden.«

»Ihre Ratschläge brauche ich nicht, Klabautermann. Was mir fehlt, ist ein hilfsbereiter Mensch, der mich aus dieser Patsche zieht. Kommen Sie, geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß!«

»Ich habe kein Herz, meine Gnädigste. Das liegt irgendwo tief vergraben und wartet auf den Jüngsten Tag. Also reißen Sie alle Kraft und allen Mut zusammen und springen Sie zu mir in den Wagen. Dann werden wir diese abenteuerliche Fahrt gemeinsam fortsetzen.« Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Täuschen Sie sich nicht«, erwiderte sie mit entschlossener Miene. »Ich bleibe hier, bis ein mutiger Retter naht und ein festes Seil mitbringt. Glauben Sie, dass es heutzutage noch richtige Männer gibt?«

»Freilich. Ich werde einen durch Zeitungsannonce suchen und ihn herschicken, damit er Ihnen aus der Patsche hilft.«

»Fein. Dann also alles Gute, Weihnachtsmann!«

Er stieß die Tür auf und kletterte in den Schnee hinaus.

»Ihr Schicksal geht mich ja nichts an«, meinte er leichthin, »aber mir fällt gerade ein, dass ich dadurch selbst in Unannehmlichkeiten geraten könnte.«

»In Unannehmlichkeiten?«

»Ja, vielleicht sogar in sehr große. Wenn ich Sie hier im Stich lasse, wird man mich am Ende dafür verantwortlich machen. Wer weiß, wie die Öffentlichkeit sich dazu stellt? Möglicherweise bezeichnet sie es als Kindesmord, und als Verbrecher angeklagt zu werden, habe ich nicht die geringste Lust. Am allerwenigsten jetzt, wo ich zum ersten Mal seit zwei Jahren mein Leben richtig genießen will.«

»Waren Sie so lange verlobt?«, fragte sie. 

»Unsere Verlobung dauerte genau vierundzwanzig Stunden«, antwortete er, »und damit ist dieses Thema nun endgültig für mich erschöpft. Kommen Sie jetzt?«

»Nein, ich komme nicht.« Ihr Ton ließ keinen Zweifel übrig.

»Kleiner Dickschädel, was?«, brummte der Mann, indem er kurzerhand ihr kleines Köfferchen ergriff und damit rasch zu seinem Wagen ging.

»Bringen Sie das sofort zurück!«, rief das Mädchen zornig hinter ihm her. »Darauf steht Gefängnis. Das ist ganz gemeiner Raub!«

Er hatte das Gepäckstück schon auf den Rücksitz seines vorsintflutlichen Vehikels geworfen und kehrte wieder um.

»Werden Sie nicht hysterisch«, ermahnte er sie. »Wenn man mich einsperren sollte, dann meinethalben wegen Raub oder Entführung, aber auf keinen Fall, weil ich zuließ, dass sich ein kratzbürstiges, verschrobenes Frauenzimmer hier zu Tode friert.«

Er packte sie mit sicherem Griff trotz ihres Sträubens, watete mit der wild Strampelnden durch den Schnee und verfrachtete sie in den anderen Wagen. 

»Sie – was fällt Ihnen ein!«, fauchte sie wütend.

»Ich versichere Ihnen, ich tue es nicht zu meinem Vergnügen. Vielleicht würde einem von den richtigen Männern, von denen Sie so schwärmen, etwas Besseres einfallen, aber ich bin eben nicht schlau. In den Finger haben Sie mich auch gebissen! Dafür kann ich Sie belangen. Warten Sie nur, wenn Sie erst wegen Kannibalismus auf der Anklagebank sitzen. Das würde Ihnen gut zu Gesicht stehen? Wer, glauben Sie, wird ausgerechnet, bei solchem Wetter in stockfinsterer Nacht mit Ihrem kostbaren Straßenkreuzer auf und davon fahren? Himmel, ist das ein traulicher Heiligabend! Weshalb sind Sie bloß nicht zu Hause geblieben?«

Das altersschwache Auto, dessen Motor nun obendrein noch ausgekühlt war, spuckte und knatterte, als er es in Gang brachte, setzte sich aber schließlich doch in Bewegung.

»Und wir soll ich Ihrer Meinung nach jemals meinen Wagen wiederfinden?«, fragte das Mädchen immer noch erbost.

»Das ist mir egal. Außerdem habe ich jetzt einen Bärenhunger. Hoppla!«, brummte er, als die Räder plötzlich zu rutschen begannen, aber glücklicherweise kämpfte sich das armselige Gefährt tapfer weiter. »Ist Ihnen kalt? Dann trinken Sie lieber noch einen Schluck – die Flasche liegt hinter Ihnen auf dem Sitz.«

Eine Weile kam keine Antwort.

Das Mädchen rührte sich nicht.

»Wohin soll diese Straße eigentlich führen?«, fragte sie endlich in unschuldigstem Ton. »Sieht mir aus, als hätten wir vollends die Richtung verloren, und mein Kreuz ist schon ganz lahm von dem Gerüttel in Ihrer Knochenmühle. Ich wünschte, Sie hätten mich in Frieden sterben lassen.«

»Das nächste Mal tue ich es bestimmt«, versicherte er knurrig. »Aber geben Sie jetzt endlich Frieden, sonst garantiere ich für nichts. Ich wage jetzt nur nicht anzuhalten, aus Angst, ich könnte Sie mit meinen eigenen Händen erwürgen.«

»Hurra!«, schrie sie plötzlich. »Ich sehe Licht, Klabautermann. Ruder nach Steuerbord!«

Das Fahrzeug holperte an den Straßenrand und blieb ächzend vor einem einsamen Gasthaus stehen.

Der Mann stieg mit dem Mädchen aus und führte es durch den Torbogen ins Haus. Vor dem einladenden Feuer im Kamin in der Eingangshalle kam ihnen der Wirt entgegen.

»Kein schönes Wetter, um unterwegs zu sein«, sagte er händereibend. »Die Straßen sollen vollständig zugeschneit sein.«

»Können Sie uns beherbergen?«

»Jawohl, Sir. Ich habe ein großes Doppelzimmer...«

»Einen Augenblick, bitte. Die Dame gehört nicht zu mir. Sie hätte sich nur im Schnee festgefahren, und ich nahm sie mit. Können wir etwas zu essen bekommen?«

»In ein paar Minuten, Sir.« Er wandte sich an das Mädchen. »Darf ich Ihnen fröhliche Weihnachten wünschen, Miss?«

»Dankeschön«, erwiderte sie mit süßem Lächeln, »das ist nett von Ihnen. Bisher hat niemand daran gedacht. Mein edler Retter benahm sich zwar bewundernswert, aber seine eigenen Sorgen machen ihm zu sehr zu schaffen.«

»Sorgen?«, wiederholte der Wirt fragend.

»Ach, das verstehen Sie nicht. Ich glaube, dem Herrn würde ein kräftiger Cocktail guttun, und zur Feier des Tages werde ich ihm dabei Gesellschaft leisten.«

 

 

 

Viertes Kapitel

 

 

Der Wind heulte unheimlich um die alten Mauern, und schwere Schneewehen prasselten gegen die Fenster, als die beiden Reisenden, inzwischen aufgetaut und gestärkt, sich miteinander vor dem lodernden Kaminfeuer niederließen.

Das Mädchen sog tief den Rauch seiner Zigarette ein und studierte von neuem eingehend seinen Begleiter. Es war nicht ganz einfach, sich ein Bild von ihm zu machen. Sein Gesicht war noch von See und Sonne gebräunt, und hier, im behaglichen Hafen geborgen, zeigte er von Zeit zu Zeit beinah menschliche Züge. Zweimal gelang es ihm sogar, seine Zugeknöpftheit so weit aufzulockern, dass er sich zu einem Lächeln herbeiließ. Das heißt, eigentlich lächelten nur seine Augen, die grau waren und seltsam faszinierend wirkten, wenn man es überhaupt der Mühe wert hielt, sie näher zu betrachten. Es ertappte sich dabei, dass es immer wieder seinen Mund anschaute. Der richtigen Frau würde es zweifellos gelingen, diesen Mann nach ihrem Gefallen zu formen, jedenfalls war er noch nicht zu alt dazu. Etwa sechsundzwanzig, schätzte es.

Sie hob ihr Glas.

»Auf Ihr Wohl, Weihnachtsmann. Bilden Sie sich nur nicht ein, dass ich mich geschlagen gebe, aber Sie hatten mit Ihrem Entschluss recht, es war tatsächlich der beste Ausweg. Tut mir leid, dass Sie solches Pech in der Liebe hatten. »Sie sind kein schlechter Bursche. Warum ziehen Sie sich nicht ins Kloster zurück? Mit Ihrem Aussehen würden Sie dort am sichersten sein. Ja, ganz im Ernst. Wenn Sie zufällig einem Mädchen begegnen sollten, das an Männern wie Ihnen Geschmack findet möchte ich wetten, dass die Schwierigkeiten nicht lange auf sich warten lassen.«

»Wieso? Was ist an mir auszusetzen?«, fragte er stirnrunzelnd.

»Ach, das könnte ich Ihnen nicht so rasch erklären – wenn es mir überhaupt gelänge. Was bringt einen Mann wie Sie auf die Idee, zur See zu fahren? Sie sind gar nicht der Typ dazu.«

»Ich liebe das Meer.«

»Schön, darüber lässt sich nicht streiten.«

»Manche rennen eben geradewegs in ihr Unglück. Aber Sie haben doch offenbar eine gute Erziehung genossen. Warum fangen Sie nicht etwas Einträglicheres an?«

»Was denn, zum Beispiel?«

»Das ist Ihre Sache. Wissen Sie, Geld kann oftmals sehr nützlich sein, und Seeleute haben doch meistens leere Taschen.«

»Ich komme ganz gut aus, und bankrott bin ich auch noch nicht.«

»Ist das Ihre Kaffeemühle da draußen, die Sie in so kläglichem Zustand durch die Gegend strapazieren?«

»Nein, ehrlich gesagt, sie ist nur ausgeliehen.«

»Dachte ich mir. Komisch, wir fahren beide geborgte Wagen. Ich war bisher auch noch nie in der Lage, mir einen eigenen zu leisten.«

»Und deshalb fangen Sie dann nicht etwas Gewinnbringenderes an?«

»Was, wenn ich fragen darf?«

»Na, vielleicht beim Film. Sie würden womöglich einen durchschlagenden Erfolg haben!«

»Das höre ich nicht zum ersten Mal. Nein, Klabautermann. Ich hab’s mal versucht, aber ein ruhiges, einfaches Leben ist mir lieber, und ich will nicht mehr sein, als ich bin eine einfache kleine Sekretärin, angestellt bei einem vorbildlichen – nein, reden wir nicht davon. Ich bin jedenfalls froh, regelmäßig mein Gehalt von ihm zu bekommen, denn hungern macht zwar schlank, ist aber nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung. Sind Sie eigentlich jemals in Ihrem Leben richtig hungrig gewesen, Klabautermann?«

»Öfter als mir lieb war.«

»Also mein Fall ist es nicht. Herrje, war mir kalt dort in dem Wagen, bevor Sie kamen! Und ich würde jetzt noch am selben Fleck sitzen, wenn Sie mich nicht wie ein Höhlenmensch kurzerhand aufgeladen und weggeschleppt hätten. Missverstehen Sie mich nicht, aber ich bin Ihnen wirklich dankbar.« Sie machte eine Pause und sah ihn mit schräggeneigtem Kopf an. »Ich habe eine Idee. Wie lange werden Sie sich in London aufhalten?«

»Das weiß ich noch nicht genau.«

»Schon wieder auf dem Sprung, in See zu stechen?«

»Nein.«

»Besitzen Sie einen Smoking?«

»Ich glaube, ich könnte mir einen verschaffen. Weshalb?«

»Hütten Sie nicht Lust, Silvester in netter Gesellschaft zu verleben? Was haben Sie an dem Abend vor?«

»Vorläufig nichts Besonderes.«

»Würde es Ihnen Spaß machen?«

»Wer gibt denn die Gesellschaft?«

»Mein Chef. Aber stoßen Sie sich nicht daran, er hat mir erlaubt, jemanden mitzubringen, und nach Ihrem lobenswert aufopfernden Verhalten heute Abend ist eine Einladung auf anderer Leute Kosten das mindeste, womit ich mich revanchieren kann. Die Party findet in Oak Lodge bei Banfield in Surrey statt. Natürlich will ich Sie in keiner Weise drängen, edler Ritter, aber falls Sie nichts Besseres für Silvester in Aussicht haben – es bleibt Ihnen überlassen. Allerdings wird nichts Aufregendes geboten, höchstens dass die Sektpfropfen am laufenden Band laufen. Trotzdem heule ich mir nicht die Augen aus, wenn Sie mir einen Korb geben.«

Der Mann überlegte einen Moment.