Das Haus am Gordon Place - Karina Urbach - E-Book

Das Haus am Gordon Place E-Book

Karina Urbach

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Beschreibung

Ein Mord in Londons teuerster Wohngegend, Spionage im Wien der Nachkriegszeit und ein berühmter Filmdreh als Tarnung

Wien, 1948: Daphne Parson, eine britische MI6-Agentin, arbeitet in einem Abhörtunnel unterhalb der geteilten Stadt. Um unbemerkt in den sowjetischen Sektor Wiens zu gelangen, schließt sie sich einer Filmcrew an. Eine Mission, die tödliche Konsequenzen hat.

London, 2024: Der Historiker Professor Hunt lebt in Daphne Parsons ehemaliger Wohnung am Gordon Place. Als hier ein Mord geschieht, beginnt für Hunt eine verstörende Reise in die Vergangenheit.

Ein verwobenes Spiel auf mehreren Zeitebenen, basierend auf wahren Begebenheiten.

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Seitenzahl: 399

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Buch

Wien, 1948: Daphne Parson, eine britische MI6-Agentin, arbeitet in einem Abhörtunnel unterhalb der geteilten Stadt. Um unbemerkt in den sowjetischen Sektor Wiens zu gelangen, schließt sie sich einer Filmcrew an. Eine Mission, die tödliche Konsequenzen haben wird.

London, 2024: Der Historiker Professor Hunt lebt in Daphne Parsons ehemaliger Wohnung am Gordon Place. Als dort ein Mord geschieht, beginnt für Hunt eine dramatische Reise in Daphne Parsons verborgene Vergangenheit.

Basierend auf wahren Begebenheiten.

Autorin

Karina Urbach ist eine habilitierte Historikerin und Autorin. Sie unterrichtete an deutschen und britischen Universitäten und forschte am Institute for Advanced Study, Princeton. Urbach war an zahlreichen historischen Dokumentationen der BBC und des ZDF beteiligt. Ihre wichtigsten Sachbücher sind Hitlers heimliche Helfer, Queen Victoria und Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten. Es wurde in sieben Sprachen übersetzt und war Grundlage einer preisgekrönten ARTE-Dokumentation. Karina Urbachs Roman über eine authentische Spionagegruppe, Cambridge 5 – Zeit der Verräter, wurde 2018 mit dem Crime Cologne Award ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrer Familie im englischen Cambridge.

Weitere Informationen unter: www.karinaurbach.org.uk

KARINA URBACH

DAS HAUS AM GORDON PLACE

KRIMINALROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: mauritius images/Greg Balfour Evans/Alamy/Alamy Stock Photos

StH · Herstellung: sam

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30381-5V003

www.limes-verlag.de

»… John le Carré würde ich am liebsten vierteilen. Er behauptet, unsere Arbeit sei eine Welt des eiskalten Verrats. Das ist sie eben nicht. Sie beruht auf Vertrauen. Du kannst keinen Agenten führen ohne gegenseitiges Vertrauen.«

MI6-Geheimdienstoffizierin Daphne Park über ihren ehemaligen Kollegen, den Schriftsteller John le Carré

1

John F. Kennedy Airport

New York

27. Februar

Hunt sah neidvoll zu, wie Leute in Rollstühlen an ihm vorbeigeschoben wurden. Seit zwei Stunden stand er in der Einreiseschlange am New Yorker Flughafen. Er war sich sicher, dass die Rollstuhlbenutzer weder altersschwach noch gehbehindert waren. Wahrscheinlich hatte ihnen ein korrupter Arzt Behindertenbescheinigungen ausgestellt, damit sie schneller durch die Visumskontrolle kamen. Wieso hatte er nicht an so etwas gedacht? In seinem Wohnviertel konnte man unter der Hand Ausweise für Behindertenparkplätze kaufen. Sicher gab es so etwas auch für Flughäfen.

Die Warteschlange schob sich jetzt ein paar Zentimeter nach vorn. Es war eine übellaunige Gruppe, jeder starrte phlegmatisch vor sich hin, niemand redete miteinander. Gelegentlich schwankte ein Schlangenmitglied vor Übermüdung, aber bisher war noch niemand kollabiert. Hunt befürchtete, dass es nur eine Frage der Zeit war, bevor jemand auf ihn drauffiel. Vielleicht würde auch er bald umfallen, er fühlte sich alles andere als gut.

An den Absperrungen patrouillierte das amerikanische Flughafenpersonal wie Zoowärter an ihnen vorbei, um Ordnung zu halten. Im Grunde war ihre Anwesenheit überflüssig. Jeder Versuch, sich vorzudrängeln, würde mit Sicherheit vom Rest der Gruppe brutal geahndet werden. Wahrscheinlich, indem man den Drängler lautlos zerquetschte.

Seit einer halben Stunde musste Hunt dringend auf die Toilette, aber er wagte es nicht, seinen Platz aufzugeben. Er ahnte, dass die Schlange ihn nie wieder aufnehmen würde.

Die ganze Reise war bisher eine Kette von Katastrophen gewesen. Es hatte damit angefangen, dass seine Maschine mit zwei Stunden Verspätung aus London abgeflogen war. Dann waren während des Fluges Turbulenzen aufgetreten, die das ganze abscheuliche Airline-Essen in ihm hochgebracht hatten. Und nun stand er um vier Uhr morgens in dieser deprimierenden Wartehalle, anstatt in einem Vier-Sterne-Hotelbett zu liegen und seinen Jetlag auszuschlafen.

Bisher waren nur fünf Einreiseschalter besetzt gewesen, aber auf einmal bewegte sich etwas. Hunt beobachtete, wie ein wuchtiger Einreisebeamter eines der leeren Kontrollhäuschen aufsperrte und eine grüne Lampe einschaltete. Durch die Schlange ging ein Raunen. Hunt konnte sehen, wie das Flughafenpersonal jetzt neue Absperrungen errichtete, jedes Kontrollhäuschen bekam seine eigene kleine Schlange von zehn Leuten. Und dann geschah das Wunder. Zuerst konnte er es kaum glauben. Einer der Zoowärter winkte ihn zum neu eröffneten Kontrollhaus, vorbei an dreißig Wartenden. Hunt spürte, wie die Schlange ihn kollektiv hasste. Ein paar Leute blockierten seinen Weg und jemand rief etwas von wegen »unfair«. Er drückte sich so schnell wie möglich an den Blockierern vorbei und versuchte, an das Kontrollhaus zu gelangen, bevor eine Revolte ausbrach. Wenn jetzt alles gut ginge, würde er in zehn Minuten diese grauenhafte Halle hinter sich lassen können. Im Hotel würde er sich etwas beim Roomservice bestellen, er brauchte dringend ein Glas Wein.

Der Einreisebeamte hatte Hunts Sprint zum Kontrollhaus beobachtet und starrte ihn jetzt misstrauisch an. Er war ein wuchtiger Mann mit einer Halbglatze und ungesunder Gesichtsfarbe, einem dunklen Pink wie bei diesen farbigen Donuts mit Streuseln. Hunts eigene Cholesterinwerte waren stark erhöht, aber er vermutete, dass dieser Mann ihn um ein Vielfaches überbot. Er reichte ihm seinen britischen Pass und die Visumsunterlagen.

»Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger da drauflegen!«

Der Einreisebeamte deutete auf einen kleinen Scanner.

Hunt legte schnell drei Finger auf die Maschine.

»Fehlmeldung!«, schnaufte der Einreisebeamte sofort. Er war offensichtlich in einer üblen Laune. Hunt bemerkte, dass an seinem Unterarm eine keltische Kleeblatt-Tätowierung mit einem Kreuz prangte. Es musste sich um einen irischstämmigen Amerikaner handeln. Das war alles andere als ein gutes Omen. Aus langjähriger Erfahrung wusste Hunt, dass die meisten irischen Amerikaner alle möglichen Vorurteile gegenüber Briten wie ihm pflegten. Sie hatten zu viele Filme über den Nordirlandkonflikt konsumiert, in denen britische Soldaten mit sadistischem Lachen irische Kinder erschossen. Seinem Alter nach hätte Hunt noch einer dieser Soldaten sein können. Genau das schien jetzt auch der Einreisebeamte zu denken. Er starrte auf das Geburtsdatum in Hunts Pass und bellte dann:

»Jetzt noch mal für die ganz Schlauen. Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger DA drauflegen!«

Hunt versuchte es erneut. Das Gerät blinkte wieder rot auf. Auch die Gesichtsfarbe des Beamten chargierte jetzt, sie nahm ein noch tieferes Pink an. Vielleicht dachte er ja, Hunt würde die Maschine absichtlich torpedieren.

»Ihr Engländer habt wirklich immer die miesesten Tricks drauf!«

Hunt glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Hatte der Mann das wirklich gesagt? Vielleicht war es der Jetlag, vielleicht war es der Umstand, dass er jetzt wirklich sehr dringend auf die Toilette musste, aber die Worte kamen einfach aus ihm heraus:

»Und Ihr irres Land hat keine beschissene Vergangenheit?«

Es klang aggressiver, als er es beabsichtigt hatte. Der Satz zeigte sofortige Wirkung. Der Einreisebeamte drückte auf einen Knopf. Zwei Sicherheitskräfte brachten Hunt in eine Arrestzelle.

2

Arrestzelle

JFK, New York

28. Februar

»Professor Hunt? Mein Name ist Emma Spencer. Ich bin vom britischen Konsulat.«

Emma Spencer war eine attraktive Frau Ende dreißig mit einer überraschend tiefen Stimme. Hunt hatte schon immer eine Schwäche für erotische Stimmen gehabt, aber die Situation war im Moment alles andere als gut. Er würde sich auf keinen Fall lächerlich machen und mit ihr flirten.

»Es sollte nur eine witzige Bemerkung sein. Zugegeben, keine besonders gute. Aber die Amerikaner verstehen keine Ironie. Ich habe irgendetwas über schlechte Vergangenheiten gesagt und dann hat er gleich auf diesen Knopf gedrückt …«

»Wir haben eine Videoaufzeichnung von dem gesamten Vorgang, Professor Hunt.«

»Eine Videoaufzeichnung?«

Hunt hatte keine Ahnung, ob das für oder gegen ihn sprach.

»Sie haben Amerika als ein irres Land bezeichnet, aber Sie wollen es besuchen. Was ist der Grund für Ihre Einreise, Professor Hunt?«

»Habe ich wirklich irre gesagt?«

Emma Spencers Gesicht wurde jetzt strenger. Sie erinnerte ihn an seine Ex-Freundin Jenny. Die Assoziation löste bei ihm gemischte Gefühle aus.

»Ihr Einreisegrund, Professor Hunt?«

»Ich bin Historiker und recherchiere für mein neues Buch. Ich war froh, von London wegzukommen, meine Wohnung wird gerade renoviert.«

Emma Spencer blätterte in ihren Unterlagen:

»Sie wohnen in South Kensington. Am Gordon Place. Eine schöne Gegend.«

Hunt schaute sie irritiert an. Er lebte in einer der teuersten Gegenden Londons und hatte immer das Gefühl, sich dafür rechtfertigen zu müssen: »Ich habe dort eine kleine Wohnung geerbt.«

»Ja, Sie haben sie 2015 von Ihrer Ex-Freundin Jenny Green geerbt.«

Hunt verstand nicht, woher Emma Spencer das wusste. Die Sache mit Jenny und der Erbschaft stand sicherlich nicht in seinen Visumsunterlagen. Er redete äußerst ungern über sein Privatleben. Im Gegensatz zu seinem Berufsleben war es nicht besonders erfolgreich verlaufen. Er war ein geschiedener Mann mit drei erwachsenen Kindern, die er gelegentlich anrief und die selten zurückriefen. Seine erste Freundin, Jenny, die einzige Frau, mit der er wahrscheinlich glücklich geworden wäre, wenn sie sich nicht verkracht hätten, war tot. Seine Ex-Frau hingegen lebte noch, das konnte er an seinen monatlichen Kontoauszügen sehen.

»Von welcher Abteilung sind Sie, Miss Spencer?«

Sie ignorierte die Frage.

»Ihre Wohnung, Professor Hunt. Mich würde interessieren …«

»Nein, nein. Stopp! Ich sitze hier in einer amerikanischen Arrestzelle, und Sie behaupten, Sie kommen vom britischen Konsulat. Aber Sie wollen mit mir über meine Wohnung in London reden? Was ist passiert? Hat es einen Wasserrohrbruch gegeben? Haben meine Nachbarn sich beschwert? Wird so was jetzt umgehend ans britische Konsulat in New York gemeldet?«

Emma Spencer schob ihre Unterlagen zur Seite.

»Gut. Dann reden wir Klartext. Ich bin nicht hier, weil Sie einem amerikanischen Einreisebeamten gesagt haben, dass er in einem irren Land lebt.«

»Ich wollte ja nur erklären, dass die amerikanische Geschichte eben auch dunkle Kapitel …«

»So gerne ich mit Ihnen die dunklen Kapitel der amerikanischen Geschichte aufarbeiten würde, Professor Hunt, wir haben im Moment ein aktuelleres Problem. Ich bin hier, weil Ihr Nachbar Gerald Fraser tot in Ihrer Londoner Wohnung aufgefunden wurde.«

Es brauchte einen Moment, bis Hunt reagieren konnte:

»Sie meinen, Fraser ist in seiner Wohnung tot aufgefunden worden?«

»Nein, Professor Hunt. In Ihrer Wohnung. In Ihrem Wohnzimmer. Erschlagen. Wir ermitteln noch den genauen Zeitpunkt des Mordes.«

»Das muss ein Irrtum sein. Wieso sollte jemand Gerald Fraser das antun? In meiner Wohnung? Das ist völlig verrückt. Ich habe ihm nie den Schlüssel zu meiner Wohnung gegeben, nicht mal zum Blumengießen. Sie ist ja halb leer geräumt für die Renovierungsarbeiten.«

»Darüber würde ich gerne mit Ihnen reden.«

»Bin ich deswegen von diesem Einreisebeamten provoziert worden, damit Sie mit mir reden können?«

»Ja, der amerikanische Kollege hat uns geholfen, Sie diskret aus der Schlange herauszufischen.«

»Das nennen Sie diskret? Da waren ungefähr zweihundert Leute in der Warteschlange hinter mir, die haben das alle mitbekommen! Ich bin ein emeritierter Cambridgeprofessor, ein Fellow der British Academy, und ich werde wie ein Verbrecher abgeführt?«

»Es hat Sie bestimmt niemand erkannt. Da müssen Sie sich keine Sorgen machen.«

Hunt kam zu dem Schluss, dass Emma Spencer zwar eine hocherotische Stimme hatte, aber auf keinen Fall sein Typ war.

»Stehe ich unter Verdacht?«

»Ja.«

Hunt lachte ihr ins Gesicht

»Das ist doch ein Witz! Glauben Sie im Ernst, ich habe Gerald Fraser umgebracht und dann seelenruhig ein Flugzeug nach Amerika bestiegen? Warum hätte ich so etwas Wahnsinniges tun sollen? Ich bin Historiker, kein Killer. Ich weiß nicht mal, was der alte Fraser früher beruflich gemacht hat. Wir haben uns immer nur über das Wetter unterhalten. Der Mann war der größte Langweiler, der mir jemals begegnet ist. Mein Kühlschrank hatte ein aufregenderes Innenleben als Gerald Fraser.«

»Ihr Nachbar Gerald Fraser war wohl ein Bekannter von Daphne Parson. Sie wissen, dass Ihre Wohnung früher Miss Parson gehörte?«

»Ja, aber Parson ist vor Ewigkeiten gestorben! Seitdem hat Jenny dort gelebt und jetzt ich.«

»Sie wissen, wer Daphne Parson war?«

»Irgendwas Wichtiges im britischen Geheimdienst.« Hunt hielt einen Moment inne. »Lassen Sie mich raten, Miss Spencer. Sie sind ebenfalls von dieser Truppe?«

Emma Spencer packte ihre Unterlagen zusammen.

»Sie werden mit dem nächsten Flugzeug nach London zurückfliegen. Wir treffen uns morgen früh zu einer Tatortbegehung.«

»Zu einer was?«

»Zu einer Rekonstruktion des Mordes an Gerald Fraser in Ihrer Wohnung. Ich kann Ihnen sogar ein Business-class-Ticket für den Rückflug anbieten.«

»Und wenn ich mich weigere und hierbleibe?«

Emma Spencer setzte jetzt das verbindliche Lächeln einer Stewardess auf, die es mit einem besonders schwierigen Passagier zu tun hatte.

»Sie sind hier in einer Arrestzelle, und ich werde dafür sorgen, dass Sie nicht nach Amerika einreisen können. Sie sind des Mordes verdächtig. Wir haben sehr gute Beziehungen zu unseren amerikanischen Kollegen. Wir helfen einander in solchen Fällen gerne.«

»Das ist völlig lächerlich. Ich habe gerade erst diesen Horrorflug hinter mir, ich fliege jetzt nicht wieder zurück.«

Emma Spencer lächelte ihn weiter in Grund und Boden.

»Kennen Sie die Geschichte von dem Mann, der achtzehn Jahre lang auf dem Pariser Flughafen leben musste, weil er nicht einreisen durfte? Wer hat den noch mal in der amerikanischen Verfilmung gespielt?«

»Tom Hanks«, sagte Hunt trocken.

»Richtig! Tom Hanks. Meines Erachtens eine Fehlbesetzung. Ich finde, er war einfach nicht verzweifelt genug in der Rolle.«

3

Wien

Oktober 1948

Der Abstieg in den Tunnel kostete Daphne Parson jedes Mal Überwindung. In den ersten Momenten hatte sie immer das Gefühl, als bekäme sie keine Luft mehr. Instinktiv wollte sie dann umkehren. Sie musste ihren Körper dazu zwingen, diesem Reflex nicht nachzugeben und weiter die Leiter hinabzusteigen. Sie wusste, sobald sie die menschlichen Schatten im Tunnel vorbeihuschen sah, würde sie sich etwas besser fühlen. Sie war da unten nicht allein.

»Alles in Ordnung, Daphne?«

Marjorie Aitken stand am Fuß der Leiter und wartete auf sie. Ihr Anblick hatte etwas Beruhigendes. Niemand strahlte so viel Gelassenheit aus wie Marjorie. Wenn Daphne ihre Kollegin ansah, dachte sie an schöne Dinge aus der Vergangenheit: an Gartenpartys auf dem Land, bei denen die Frauen Blumenkleider trugen und Kinder durch den Park rannten und riefen: »Fang mich, fang mich, ich bin der Gingerbreadman!« So war das Leben vor dem Krieg gewesen, und nichts hatte Daphne und Marjorie auf das Chaos vorbereitet, in dem sie sich seit Jahren befanden.

Daphne bewunderte Marjorie dafür, wie sie dieses Chaos einfach ausblendete. Eine ihrer Methoden war es, stoisch an den alten Ritualen festzuhalten und weiterhin jeden Nachmittag Tee zu servieren. Mit dem Unterschied, dass sie es jetzt nicht mehr in einem Garten in Kent oder Devon tun konnte, sondern stattdessen in einem Tunnel zwanzig Meter unter der Erde.

Über ihnen lagen Wien und das normale Leben, aber im Tunnel herrschte eine andere Realität. Hier unten verlor man schnell das Gefühl für Richtungen und Entfernungen. Man hätte überall auf der Welt sein können.

Der Tunnel befand sich in der britisch besetzten Zone Wiens und galt dadurch als relativ sicher. Trotzdem wusste Daphne, dass sie jederzeit auffliegen konnten. Für die richtige Bezahlung hätte jeder Wiener sie an die Russen verraten. Manchmal kamen deswegen albtraumhafte Bilder in ihr hoch. Sie stellte sich dann vor, wie sie gegen ihren Willen in die Tiefe des Tunnels gesogen wurde. Sie überlebte den Fall, aber als sie sich am Boden liegend umsah, waren Marjorie und die Belegschaft verschwunden. Stattdessen tauchte aus dem Inneren des Tunnels eine Gruppe von sowjetischen Soldaten auf, die ihre Maschinengewehre auf sie richteten.

Natürlich konnte sie niemandem von diesen Angstszenarien erzählen. Sie wusste, Marjorie würde solche Gedanken gar nicht erst in ihren Kopf lassen. Auch heute hatte sie wieder Make-up aufgelegt und ihre schönen braunen Haare in Wellen gelegt. Es war unwahrscheinlich, dass einer der männlichen Mitarbeiter diesen Aufwand im Halbdunkel des Tunnels überhaupt bemerkte, aber das spielte für sie sicher keine Rolle. Marjorie ließ sich einfach nie gehen, selbst hier unten nicht.

Hinter ihr im schlecht beleuchteten Tunnel konnte Daphne einen Teil des Teams erkennen. Fünfzehn Männer und Frauen, die an Tischen entlang der Tunnelwand saßen, vor ihnen große Kästen mit Spulen, die sich unentwegt drehten, über ihnen endlose Kabel, die mit den Kästen verbunden waren. Alle trugen Kopfhörer und wirkten wie immer hoch konzentriert. Auf den ersten Blick hätte man sie für Telefonisten halten können, die bei der Post Anrufe vermittelten. Tatsächlich waren sie britische Nachrichtenoffiziere, die eine lange Ausbildung als Übersetzer durchlaufen hatten. Mit ein paar von ihnen hatten Daphne und Marjorie in Sprachkursen Russisch gepaukt.

»Viel los bei unseren russischen Freunden heute«, sagte Marjorie. »Sie haben wohl in der Inneren Stadt einen schweren Autounfall gehabt.«

»Schlimm?«, fragte Daphne.

»Totalschaden«, sagte Marjorie fröhlich. »Ich konnte dabei neue sowjetische Schimpfwörter lernen. Unser Major Kolobanow hat wirklich keinen guten Tag. Willst du seine Telefonleitung übernehmen?«

Daphne nickte. Es überraschte sie selbst immer noch, was hier unten alles möglich war. Im Tunnel konnten sie fast alle Telefonate der sowjetischen Besatzungsmacht zwischen Wien, Baden und Moskau abhören. Sie lauschten den geheimsten Gesprächen und Plänen ihrer Gegner, so als säßen sie mit ihnen in einem Zimmer.

Der Abhörtunnel war die Idee ihres MI6-Chefs Peter Lunn gewesen. Als enthusiastischer Skifahrer hatte Lunn vor dem Krieg an unzähligen Skiwettbewerben in Österreich teilgenommen. Aber es waren nicht nur die Alpen, die ihn begeisterten. Die Metropole Wien – ihr oberirdischer und ihr sehr, sehr unterirdischer Teil – erregte ebenfalls sein Interesse. Er fand heraus, wie man die Telefonleitungen des Gegners anzapfen konnte, und gab den Bau des Abhörtunnels in Auftrag.

Daphne ging an Marjories Tisch und setzte sich die Kopfhörer auf. Wie immer hörte sie zuerst einmal ein ohrenbetäubendes Rauschen. Sie drehte den Ton herunter und wartete. Manchmal dauerte es eine Weile, bis man ein interessantes Gespräch in die Leitung bekam. Ihre Vorgesetzten interessierten sich vor allem für Truppenbewegungen. Wo waren welche sowjetischen Einheiten stationiert, wer war wohin versetzt worden? Gab es irgendwelche Anzeichen für einen kommunistischen Putschversuch?

Daphne konnte jetzt undeutlich hören, wie der Adjutant von Major Kolobanow auf einem Nebenapparat darüber lamentierte, dass die Butter ausgegangen war. Der Mann schien sich vor allem für Nahrungsmittel zu interessieren. Daphne kannte ihn mittlerweile gut. In zahllosen privaten Gesprächen, die er mit seiner Wiener Geliebten in einer Mischung aus Russisch und Deutsch führte, ging es meistens um die Beschaffung von Essen und Alkohol. Auch seine Frau in Moskau verlangte ständig Paketsendungen aus Österreich. Daphne überlegte sich, ob man ihn anwerben könnte. Die Chancen standen nicht schlecht. Das westliche Leben hatte ihn vollends korrumpiert und die Telefonate mit seiner Ehefrau waren in den letzten Wochen immer frostiger geworden. In Moskau erwartete ihn nicht nur Nahrungsmittelknappheit, sondern auch eine erkaltete Gattin.

Marjorie stellte eine Tasse Tee und eine Keksdose neben Daphne. Der Tee schmeckte in der stickigen Luft hier unten nicht besonders gut, trotzdem trank ihn jeder. Es gehörte zum Ritual.

Daphne konnte jetzt ein Klicken in der Leitung hören, Kolobanow nahm seinen Hörer ab. Bisher hatte keiner es geschafft, ihn zu fotografieren, aber Daphne stellte ihn sich als einen großen, bärenhaften Mann vor, der unablässig Zigarren rauchte. Vielleicht war er in Wirklichkeit das völlige Gegenteil davon – ein kleines, spindeliges Männlein, das mit überlauter Stimme versuchte, seine körperlichen Unzulänglichkeiten zu überspielen. Obwohl Daphne nicht wusste, wie er aussah, glaubte sie ihn zu kennen. In all den Telefongesprächen, die sie abgehört hatte, klang er fast immer angespannt. Seine Wortwahl war knapp und direkt, wie man es von einem Soldaten erwartete. Nur wenn er mit seinen Kindern in Moskau telefonierte, wurde seine Stimme etwas weicher. In diesen Momenten mochte sie ihn fast, aber in den letzten Wochen war selbst diese Weichheit verschwunden.

Er rief jetzt von der sowjetischen Kommandantur in Baden aus an und redete mit einem Mann in Wien. Daphne konnte auch die Antworten seines Gesprächspartners hören. Der Mann musste ein Ausländer sein, sein Russisch klang holprig, aber auf merkwürdige Art vertraut. Sie verstand nicht, warum. Wieso kannte sie diese andere Stimme? Sie hatte sie mit Sicherheit noch nie zuvor in der Leitung gehabt. Es war auf keinen Fall jemand von Kolobanows üblichen Gesprächspartnern, deren Stimmen kannte sie in- und auswendig. Sie hatte ihnen sogar schon Spitznamen gegeben: der Schleimer, der Brüller, der Zögerer. Aber wer war dieser Ausländer?

Ihr Körper merkte es, bevor ihr Kopf es realisierte. Schnitte in Wellen. Von den Beinen ausgehend, krochen sie ihren Bauch herauf. Immer mehr davon. Sie kannte diesen Ausländer. Aber das konnte nicht sein, sagte ihr Kopf. Diese Stimme gab es schon lange nicht mehr, diese Stimme war seit vier Jahren tot. War das möglich, dass Stimmen sich so ähnelten? Bestimmt. Es existierten ja auch Doppelgänger. Wenn es Leute gab, die sich ähnlich sahen, gab es sicher auch unzählige Menschen, die sich ähnlich anhörten. Es war also ein Zufall. Sie tastete nach ihrer Teetasse. Und dann kam es: Kolobanows Gesprächspartner stotterte leicht beim Buchstaben »r«. Nur er tat das. Es war eindeutig seine Stimme. Daphne hörte nicht mehr, wie ihre Teetasse auf dem Boden aufschlug. Sie musste nur noch raus hier, raus aus dem Tunnel.

4

Gordon Place

London

29. Februar

Hunt stieg mit seinem Rollkoffer an der U-Bahn-Station South Kensington aus. Seine Wohnung lag am Gordon Place, nicht weit vom Victoria and Albert Museum. Es war Donnerstagvormittag und Touristenhorden zogen an ihm vorbei in Richtung der Museumslandschaft Albertopolis. Hunt bezweifelte, dass Bildungshunger sie antrieb. Seiner Ansicht nach verbrachten diese Leute die meiste Zeit im Museumsshop und kauften scheußliche Souvenirs, mit denen sie dann ihre Wohnungen zupflasterten.

South Kensington und Chelsea gehörten zu den teuersten Gemeinden Londons. Hier lebten Leute wie die Beckhams und Elton John. Hunt hatte neulich irgendwo die Prognose gelesen, dass Kinder, die hier geboren wurden, eine Lebenserwartung von zweiundneunzig Jahren hatten. Ihre reichen Eltern konnten sich die beste Krankenversicherung und die gesündeste Ernährung für sie leisten. Anders sah die Prognose für die Kinder im Norden von Kensington aus. Dort lagen die Sozialbaublocks. Der berühmteste von ihnen, Grenfell Tower, war 2017 abgebrannt und hatte zweiundsiebzig Menschen das Leben gekostet. Hunt hatte jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn er an diesen Tag dachte. Er hatte damals die Rauchwolke gesehen und einfach nur das Fenster zugemacht.

Er überquerte die Ampel und rollte seinen Koffer Richtung Gordon Place. Sein Zuhause war Teil eines architektonischen Juwels. In den 1820er-Jahren hatte man vierzig weiße Stuckhäuser in einem Quadrat um einen Park gebaut und sie nach dem Earl von Gordon benannt.

Am oberen Ende des Quadrats prunkte eine Kirche, St. Paul’s. Sie war das einzige unattraktive Gebäude am Gordon Place. Obwohl er seit Jahren hier lebte, hatte Hunt die Kirche noch nie betreten. Das lag nicht nur an ihrer düsteren Ästhetik, sondern weil sie ihn an seine Internatszeit erinnerte. Jeden Morgen mussten sie damals zum Frühgottesdienst in der eiskalten Schulkapelle antreten, selbst wenn man sich die Seele aus dem Leib hustete. Seitdem hatte er Probleme mit der anglikanischen Kirche.

Hunt würdigte St. Paul’s keines Blickes und ging auf den kleinen Park zu. Er zog seine Chipkarte aus der Tasche und öffnete das Parktor. Nur die Bewohner von Gordon Place hatten Zugang zu dieser privaten Gartenanlage mit ihren hohen, alten Bäumen und den klassischen Holzbänken. Es war eine perfekte gepflegte Oase inmitten der hektischen Stadt. Öffentliche Gartenanlagen in London hatten endlose Müllprobleme, aber im kleinen Privatpark von Gordon Place herrschte Ordnung. Selbst wenn die reichen Teenagerkinder hier ihre Partys feierten und leere Flaschen auf dem Rasen zurückließen, musste man sich keine Sorgen machen. Am nächsten Tag brachten die Gärtner alles wieder in einen perfekten Zustand.

Hunt hatte die Wohnung 2015 von seiner Ex-Freundin Jenny Green geerbt. Zuerst hatte er die Sache für einen Scherz gehalten. Sie waren seit Jahren zerstritten gewesen und er hatte nie etwas von der Existenz dieser Wohnung gewusst. Jenny hatte genau wie er in Cambridge unterrichtet und dort nur ein paar Straßen von ihm entfernt gewohnt. Erst nach ihrem Tod hatte Hunt erfahren, dass sie ein zweites geheimes Leben in London geführt hatte.

Der Weg durch den Park war eine kleine Abkürzung für Hunt. Seine Wohnung lag im letzten Stuckhaus, der Nummer 30. Als er 2015 zum ersten Mal davorstand, erinnerte es ihn sofort an die alte Fernsehserie Das Haus am Eaton Place.Zwar befand sich das reale Eaton Place in einer völlig anderen Gegend Londons, aber die Häuser ähnelten sich vom Stil her. Die großen weißen Säulen vor den schwarzen Eingangstüren sorgten dafür, dass die Gebäude Selbstbewusstsein und Wohlstand ausstrahlten. Wenn man vor der Nr. 30 stand, erwartete man fast, dass der Fernsehbutler Hudson die Tür öffnete und den Gästen Hut und Mantel abnahm. Wahrscheinlich hatte es früher wirklich einen Butler in der Nr. 30 gegeben, aber nach dem Ersten Weltkrieg hatte der Niedergang eingesetzt. In den 1920er-Jahren war das Haus in sieben Wohnungen aufgeteilt worden. South Kensington galt damals als eine heruntergekommene Gegend und erst in den 1980er-Jahren sollte sich das wieder ändern. Mittlerweile kosteten die Wohnungen am Gordon Place zwei bis drei Millionen Pfund.

Hunt zog seinen Koffer gerade die Eingangsstufen hinauf, als die schwarze Haustür von Clarissa Barclay, seiner Nachbarin aus dem ersten Stock, aufgerissen wurde. Sie versuchte, eine große Traube Luftballons mit der Aufschrift HAPPYBIRTHDAYBOYS! unbeschadet durch den Türrahmen zu manövrieren.

»Professor Hunt! Ich dachte Sie machen Amerikaurlaub! Sind Sie wegen dem armen Gerald zurückgekommen?«

Clarissas Sätze hatten immer einen leicht ironischen Unterton. Selbst jetzt, wenn es um einen Todesfall ging, klang sie amüsiert. Hunt nahm an, dass Clarissa eines dieser teuren Mädcheninternate besucht hatte, auf denen man den Schülerinnen beibrachte, nichts im Leben wirklich ernst zu nehmen.

»Ja, ich musste wegen Gerald zurückkommen. Aus irgendeinem verrückten Grund starb er in meiner Wohnung.«

»Rücksichtslos von ihm«, lachte Clarissa, »nein, im Ernst. Es ist furchtbar, furchtbar, furchtbar! All diese Leute in weißen Overalls stapften gestern durchs Haus und stellten Fragen. Meine Jungens waren gar nicht mehr zu beruhigen!«

Clarissa hatte sechsjährige Zwillinge, und Hunt war überzeugt, dass deren Hyperaktivität in erster Linie an einem schweren Zuckerüberschuss lag. Ständig sah er sie Süßigkeiten mampfen.

»Ich bin sicher, es wird sich alles schnell aufklären«, sagte Hunt.

»Glauben Sie? Also, ich habe Simon schon vorgewarnt, wenn sich hier im Haus die Mörder rumtreiben, ziehen wir SOFORT zu ihm nach Hongkong! Er war INPANIK!«

Clarissa lachte so laut, dass sie beinahe ihre Luftballons losgelassen hätte. Hunt konnte sich nur noch dunkel an ihren Ehemann Simon erinnern. Er arbeitete für irgendeine Bank in Hongkong und besuchte die Familie nur alle paar Monate. Verübeln konnte man es ihm nicht. Mit den wilden Zwillingen eine Wohnung zu teilen war in Hunts Augen lebensverkürzend. Trotzdem verstand er Simons Abwesenheiten nicht ganz. Eine attraktive Frau wie Clarissa so lange allein zu lassen erschien ihm als ein strategischer Fehler.

»Wissen Sie, ob diese Overallmänner in meiner Wohnung schon fertig sind, Clarissa?«

»Oh ja, das ging am Ende zack, zack, zack. Jetzt wartet wohl nur noch diese Polizistin auf Sie. Emma irgendwas.«

»Spencer?«

»So was in der Art. Sie hat mich noch nicht befragt, aber ich zittere schon. Von Weitem sieht sie aus wie das head girl in meiner Schule. UNERBITTLICHSTRENG.«

Hunt nickte. Emma Spencer war ein Albtraum.

»Möchten Sie einen der roten Ballons, Professor Hunt? Ihre Wohnung braucht doch jetzt dringend etwas Farbe.«

Hunt winkte ab und rollte seinen Koffer durch die Eingangshalle zum Aufzug. Jedes Mal, wenn er das Haus betrat, überkam ihn ein wohliges Gefühl von Luxus. Die große Eingangshalle erinnerte ein wenig an eine elegante Hotellobby. Sie war mit einem dicken dunkelblauen Teppich ausgelegt, der vom Hausmeister Mr. Carr zweimal am Tag gestaubsaugt wurde. Aber am meisten gefiel Hunt der alte Aufzug. Er war in den 1920er-Jahren eingebaut worden und seine Wartung kostete die Hausbewohner ein Vermögen. Damit sich die Kosten auch rentierten, nahm Hunt den Aufzug öfter. Für seine Kondition wäre es sicher besser gewesen, die Treppen zu steigen, aber nicht einmal sein Arzt hätte nach diesem anstrengenden Reisemarathon von ihm verlangen können, einen schweren Rollkoffer drei Stockwerke hochzuschleppen. Darüber hinaus musste er sich mental auf das Wiedersehen mit Emma Spencer vorbereiten. Es würde mit Sicherheit unangenehm werden.

Als die Aufzugstür im dritten Stock aufging, sah er, dass Emma Spencer gerade den Türrahmen seiner Wohnung vermaß. Hunt spürte, wie Wut in ihm aufstieg, diese Frau schien seine Wohnung so gut wie gehijackt zu haben. Bevor er etwas sagen konnte, lächelte sie ihn an.

»Eben kam ein Anruf. Ihre neue Küche wird heute noch geliefert. Ich habe es ausgemessen, der Kühlschrank wird problemlos durch die Tür passen. Und Ihr Badezimmer ist schon fertig. Der Rest der Möbel kommt morgen zurück.«

Hunt verstand nicht, warum sie auf einmal so freundlich zu ihm war. Es passte nicht zu der Emma Spencer, die er in New York erlebt hatte. Er rollte wortlos seinen Koffer an ihr vorbei in die Wohnung. Es roch anders als sonst. Nach starken Desinfektionsmitteln. Er war kein Mann, der viel Ahnung vom Putzen hatte, aber selbst ihm fiel auf, dass die Wohnung professionell gesäubert worden war.

»Ich beneide Sie um diese Wohnung!«, sagte Emma. Sie schien bester Laune zu sein. Hunt fragte sich, ob so »Tatortbegehungen« durchgeführt wurden. Er warf ihr einen sarkastischen Blick zu.

»Sie beneiden mich um eine Wohnung, in der jemand ermordet wurde? Ich glaube, der Verkaufswert ist damit drastisch gesunken.«

»Machen Sie sich da keine Sorgen. Wir halten das aus der Presse raus. Wir haben dafür eine DSMA-Notice bekommen.«

»Eine was?«, fragte Hunt irritiert.

»Früher hieß das D-Notice. Sie unterbindet die Medienberichterstattung bei Fällen, die nachrichtendienstliche Ermittlungen betreffen.«

»Das ist doch alles völlig verrückt«, murmelte Hunt. Er blickte sich um. Teile des Wohnzimmers waren mit Planen abgedeckt.

»Ich kann hier nicht wohnen.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden Ihnen helfen, hier schnell alles in Ordnung zu bringen. Die neue Küche wird heute Nachmittag eingebaut, wir setzen dafür extra unsere eigenen Handwerker ein.«

»Wieso machen Sie das für mich, Miss Spencer? Ich dachte, ich habe meinen Nachbarn umgebracht?«

Emma Spencer ignorierte seine Frage.

»Die Häuser am Gordon Place erinnern mich ein wenig an Retro-Puppenhäuser. Als Kind hatte ich ein wunderschönes georgianisches Puppenhaus. Im Keller lag die Küche, die Empfangszimmer waren im ersten Stock und im zweiten Stock der Ballsaal.«

Hunt war überrascht, dass eine Frau wie Emma mit Puppenhäusern gespielt hatte. Sie wirkte nicht wie der verträumte, mädchenhafte Typ. Er sah sie eher beim Grashockey ihrer Schulmannschaft im Angriff spielen.

»Ich habe keine Ahnung von Puppenhäusern, aber Clarissa aus dem ersten Stock feiert im ehemaligen Ballsaal immer noch eine Kinderparty nach der anderen.«

Emma lächelte.

»Das dachte ich mir. Wie gut kennen Sie Ihre anderen Nachbarn, Professor Hunt?«

Jetzt klang sie wieder wie die geschäftsmäßige MI6-Frau, die Informationen sammelte. Hunt war entschlossen, so wenig wie möglich preiszugeben.

»Ich bin der Ansicht, dass man seine Nachbarn grundsätzlich meiden sollte. Nur mit Clarissa Barclay rede ich manchmal. Sie ist amüsant.«

»Ja, sie hat sich mit meinen Kollegen lange über Gerald Fraser unterhalten. Auch die anderen Nachbarn wollten informiert werden. Lediglich der Mann im Dachgeschoss hat keine einzige Frage gestellt.«

»Sie meinen Dorian Gray?«

»Mir wurde gesagt, sein Name ist David Gray.«

»Ja, eigentlich David. Aber im Haus nennen ihn alle nach Oscar Wildes Romanfigur Dorian Gray. Er war wohl mal schön und wild und jetzt lebt er schwer ramponiert im Dachgeschoss und leckt seine Sünden.«

»Witzig«, sagte Emma, ohne zu lächeln.

»Haben Sie schon irgendeine Vorstellung davon, was Gerald Fraser in meiner Wohnung wollte?«

Emma zögerte. Es war offensichtlich, dass es ihr schwerfiel, Informationen preiszugeben. Sie war es gewohnt, die Fragen zu stellen.

»Wir glauben, dass Gerald Fraser etwas gesucht hat. Etwas, was wir übersehen haben.«

»Übersehen? Wie meinen Sie das?«

»Nach dem Tod von Daphne Parson. Wenn einer unserer MI6-Mitarbeiter stirbt, schicken wir die weeders rein.«

Hunt ging diese Insidersprache langsam auf die Nerven. Zuerst DSMA-Notice und jetzt das.

»Was meinen Sie mit weeders?Ist das ganz wörtlich als Unkrautvernichter zu verstehen?«

»Tatortreiniger klingt vielleicht passender. Es sind Experten, die auf ihre Art säubern. Sie nehmen alle privaten Unterlagen unserer verstorbenen Kollegen mit, damit sie nicht in falsche Hände geraten. Das ist auch nach dem Tod von Daphne Parson alles ganz korrekt abgelaufen. Die Wohnung war sauber.«

»Beruhigend zu wissen«, sagte Hunt sarkastisch.

»Natürlich brechen wir keine Fußböden auf oder suchen nach versteckten Hohlräumen.«

Hunt begann zu verstehen.

»Sie meinen, Daphne Parson hatte etwas in meiner Wohnung … versteckt?«

Emma ging zum Wohnzimmerfenster.

»Sie zog 1950 hier ein. Das Badezimmer und die Küche wurden seitdem mehrmals modernisiert, aber das Wohnzimmer wurde nie renoviert. Man hat es immer wieder neu gestrichen und Dinge repariert, aber mehr nicht.«

Emma deutete auf das große Loch unterhalb der Fensterbank. Es war ausgerechnet Hunts Lieblingsfenster, von hier aus schaute er jeden Morgen auf den Park und trank seine erste Tasse Kaffee.

»Dieser aufgebrochene Hohlraum hier unter dem Fenster war mit Material zugemauert worden«, sagte Emma, »das seit Mitte der Fünfzigerjahre nicht mehr verwendet wird. Und in den Fünfzigern lebte Daphne Parson in der Wohnung.«

»Haben meine Handwerker dieses Loch geschlagen?«

»Nein. Die ganze Sache wurde relativ amateurhaft aufgebrochen. Vielleicht von Gerald Fraser. Er lag direkt davor.«

»Wieso sollte er so etwas tun?«

»Eine andere Möglichkeit wäre, dass er ein Geräusch hörte, in Ihre Wohnung ging und jemanden dabei überraschte. Der Vorschlaghammer, der zum Aufbrechen benutzt wurde, ist verschwunden.«

»Und Sie meinen, in diesem Hohlraum war etwas versteckt? Was? Dokumente?«

»Was auch immer es war, wir wollen es haben«, sagte Emma. Sie zog einen Schlüsselbund aus ihrer Manteltasche. »Kommen Sie, ich nehme Sie mit auf eine Zeitreise, Professor Hunt. Es ist einfach nur über den Gang.«

Hunt zögerte.

»Wieso erzählen Sie mir das alles? Bedeutet das, ich stehe nicht mehr auf Ihrer Verdachtsliste?«

»Seit heute Morgen nicht mehr. Wir kennen jetzt den Todeszeitpunkt. Als Gerald Fraser hier ermordet wurde, saßen Sie im Flugzeug nach New York. Sie scheiden also aus. Aber Ihre Rückkehr war nicht völlig umsonst. Ich brauche einen Historiker.«

Hunt konnte es nicht fassen.

»Verstehe ich das richtig? Ich bin zu Unrecht in einer amerikanischen Arrestzelle festgehalten worden, habe deswegen mein teures New Yorker Hotelzimmer verloren und innerhalb von achtundvierzig Stunden zweimal den Atlantik überqueren müssen. Und Sie können mich brauchen?«

Emma Spencer blickte ihn ungerührt an.

»Sie können versuchen, uns deswegen einen Anwalt auf den Hals zu hetzen, aber glauben Sie mir, er würde nicht weit kommen. Außerdem biete ich Ihnen etwas viel Besseres als einen Forschungsaufenthalt in Amerika. Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas in Gerald Frasers Wohnung.«

Hunt war so wütend, dass ihm ausnahmsweise die Worte fehlten. Natürlich wollte er wissen, warum Gerald Fraser umgebracht worden war, aber die Art, wie diese Frau mit ihm redete, war eine Unverschämtheit. Er drehte ihr den Rücken zu und sah hinunter auf den Park. Wieso hatte Daphne genau an dieser Stelle unter dem Wohnzimmerfenster etwas versteckt? Weil es der schönste Platz in der Wohnung war?

Er blickte auf die kahlen Bäume. Daphne musste hundertmal an diesem Fenster gestanden haben und später stand dann seine Ex-Freundin Jenny hier und erlebte die wechselnden Jahreszeiten des Parks. Er hatte nie begriffen, warum die zwei Frauen sich so nahestanden. Daphne hätte Jennys Mutter, vielleicht sogar schon ihre Großmutter sein können. Soweit er sich erinnern konnte, hatte Jenny sich nie für ihre eigene hausbackene Mutter interessiert. Vielleicht hatte sie in Daphne die aufregendere Mutter gesucht? Aber was für eine Art von Mutter war Daphne gewesen, als sie ein achtzehnjähriges Mädchen wie Jenny für den MI6 rekrutiert hatte? Keine liebende Mutter hätte das ihrer Tochter angetan. Es war eine Art von Kindesmissbrauch, ein so junges Mädchen in die Geheimdienstwelt einzuführen. Und trotzdem blieb Jenny ihrer »Rekruteurin« Daphne treu. In gewisser Weise wurde sie sogar eine zweite Daphne. Sie arbeitete ihr Leben lang für den MI6 und erbte am Ende Daphnes Wohnung. Es war wie ein Stabwechsel beim Marathonlauf. Aber die letzte Übergabe ergab keinen Sinn. Wieso hatte Jenny kurz vor ihrem Tod den Stab ausgerechnet an ihn weitergereicht? Warum hatte sie ihm diese teure Wohnung vermacht? Sie waren vor so langer Zeit ein Liebespaar gewesen, ganz am Anfang ihres Erwachsenenlebens, aber dann war es zu so vielen Missverständnissen gekommen, so vielen falschen Entscheidungen, und erst am Ende, als Jenny im Krankenhaus gelegen hatte und entsetzlich vom Krebs zerfressen gewesen war, da hatten sie sich versöhnt. Er wünschte, er hätte früher von Jennys anderem Leben erfahren und verstanden, warum sie es tat. Warum sie nie aus dieser Geheimdienstwelt ausgestiegen war. Warum sie Daphne Parson so ergeben blieb.

Er glaubte nicht an spirituelle Erfahrungen, er hatte noch nie in seinem Leben eine gehabt, aber als er jetzt am Fenster stand und auf den Park blickte, fühlte er plötzlich, dass es einen Grund geben musste, warum er diese Wohnung geerbt hatte. Dass Jenny ihm damit eine Aufgabe gestellt hatte. Er hatte keine Ahnung, was die Aufgabe war und ob er sie lösen konnte.

Emma Spencer schien mittlerweile gemerkt zu haben, dass sie mit ihrer forschen Art zu weit gegangen war. Sie sagte jetzt: »Ihre Hilfe wäre mir wichtig, Professor Hunt.«

Die Worte schienen ihr schwerzufallen. Hunt fragte sich, unter welchem Erfolgsdruck Frauen im Geheimdienst standen. Er hatte irgendwo gelesen, dass mittlerweile viele von ihnen in Führungspositionen saßen. Aber wahrscheinlich gab es immer noch eine große Anzahl von männlichen Kollegen, die glaubten, diesen Job sehr viel besser erledigen zu können. Es wäre schade, wenn sie recht behielten. Emma war zwar eine anstrengende Frau, aber wenn er ehrlich mit sich war, interessierte ihn keine andere Sorte. Er hatte eine Schwäche für komplizierte Frauen.

Er drehte sich um und schaute Miss Spencer an.

Er konnte das alles nicht in Worte fassen – sein schlechtes Gewissen, wenn er an Jenny dachte, seine negativen Gefühle gegenüber Daphne Parson und sein großes Misstrauen gegenüber Geheimdiensten. Am Ende nickte er einfach nur und ging mit Emma Spencer zur Wohnungstür. Gemeinsam überquerten sie den Gang zu Frasers Wohnung. Es waren nur ein paar Schritte, aber Hunt hatte dabei ein ungutes Gefühl. Obwohl er fast zehn Jahre lang Wand an Wand mit Fraser gelebt hatte, war er noch nie im Apartment seines Nachbarn gewesen. Als Emma Spencer jetzt die Wohnungstür mit einem großen Schlüsselbund aufschloss, kam es ihm vor, als begingen sie Hausfriedensbruch.

Emma tastete nach dem Lichtschalter, und Hunt verstand innerhalb von Sekunden, was sie mit dem Satz »Ich nehme Sie mit auf eine Zeitreise« gemeint hatte. Die hell erleuchtete Wohnung katapultierte ihn um Jahrzehnte zurück.

Gerald Fraser schien in einer Zeitkapsel gelebt zu haben, die sich Ende der 1950er fest geschlossen hatte. Die gesamte Inneneinrichtung war eine einzige Symphonie aus Nachkriegskitsch: Eine blassrosa Blumentapete zog sich vom Flur bis ins Wohnzimmer. Dort standen dicht gedrängt abgeschabte Fünfzigerjahre-Möbel: eine Rockabilly-Kommode, auf der sich alte Quality-Street-Dosen stapelten, Walnussschränke und natürlich der unvermeidliche Nierentisch. Die Möbel erinnerten Hunt an den Mief und die Spießigkeit seiner Kindheit. Aber selbst wenn er ein Fan jener Zeit gewesen wäre, diese Exemplare waren so schäbig, dass sie kein Antiquitätenhändler in Kommission genommen hätte. Das einzig Neue in der heruntergekommenen Wohnung schien ein zwanzig Jahre alter Fernseher zu sein. Hunt wusste nicht, was er daraus schließen sollte. War Gerald Fraser ein sentimentaler alter Mann gewesen oder hatte er sich nicht einmal mehr einen neuen Fernsehapparat leisten können? Bisher hatte Hunt keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, wovon Gerald Fraser eigentlich lebte. Er hatte angenommen, dass er ein pensionierter Beamter war, der die Wohnung vor langer Zeit gekauft hatte. Vielleicht in den 1980er-Jahren, als die Gegend noch relativ preiswert gewesen war und sich kein Millionär dafür interessiert hatte. Ihm fiel jetzt ein, dass Fraser nie besonders teuer angezogen gewesen war, aber das bedeutete für einen Mann seiner Generation nicht viel. Hunt kannte einige wohlhabende Männer in ihren Siebzigern und Achtzigern, die jahrelang alte Jacketts auftrugen und ihren Ehefrauen verbaten, löchrige Pullover wegzuwerfen. Teure Kleidung empfanden sie als neureich. War Fraser so ein Mann gewesen? Fürs Essen schien er gerne Geld ausgegeben zu haben. Hunt erinnerte sich, wie er ihn mehrmals im Lift angetroffen hatte, beladen mit Tüten von der Gourmetabteilung bei Marks & Spencer. Wenn er diese schäbige Wohnung sah, kamen ihm jedoch Zweifel. Vielleicht hatte Fraser nur alte M&S-Einkaufstüten benutzt und stattdessen im Billigladen Tesco eingekauft? Es wäre durchaus möglich. Die gesamten Lebenshaltungskosten waren in den letzten Jahren so drastisch gestiegen, dass vielleicht auch Fraser nicht mehr mit seiner Pension ausgekommen war. Besonders teuer war vor allem die Gemeindesteuer von South Kensington geworden. Hunt zahlte dafür zehntausend Pfund im Jahr. Und als Bewohner vom Gordon Place mussten sie zusätzlich auch noch das Gehalt des Hausmeisters und die Kosten für die Gärtner anteilig übernehmen. Das konnte man sich nur mit einer sehr guten Pension leisten.

»Wissen Sie, wann Gerald Fraser in diese Wohnung eingezogen ist?«, fragte Hunt.

Emma blätterte durch ein altes Fotoalbum: »1950. Als Siebenjähriger. Am Dekor hatte er auch nach dem Tod seiner Eltern nichts mehr geändert.«

»Er kannte also Daphne Parson?«, fragte Hunt.

»Ja. Wir fanden dieses Album in seinem Schlafzimmer. Es beginnt nach dem Krieg und endet irgendwann in den Fünfzigerjahren. Leider sind keine der Fotos beschriftet. Ein paar Dinge sind jedoch eindeutig: Hier zum Beispiel, das ist der Stephansdom in Wien, und davor steht Daphne Parson mit ein paar anderen Leuten. Der Dom hat 1945 gebrannt und auf dem Bild ist der Chor noch nicht wiederaufgebaut. Das Foto muss also vor 1952 aufgenommen worden sein.«

»Das ist Daphne?« Hunt konnte es nicht glauben. Er kannte nur Bilder der alten, pummeligen Daphne. Aber auf diesem Foto sah ihm eine selbstbewusste, schlanke Frau mit wunderschönen schwarzen Haaren direkt ins Gesicht.

»War sie damals schon beim MI6?«

»Ja«, sagte Emma.

»Was hat sie in Wien gemacht?«

»Alles, was so anfiel. In den Nachkriegsjahren mussten unsere Mitarbeiter Geheimdienst- und Polizeiaufgaben erledigen. Laut ihrer Personalakte hat Daphne damals Nazis verhört, Schwarzmarktgeschäfte untersucht und 1948 war sie in einem Abhörtunnel eingesetzt.«

»Sie hat im Wiener Abhörtunnel gearbeitet?« Hunderte Fragen schossen Hunt durch den Kopf. »Darüber ist bis heute fast nichts bekannt. Kann ich mir das Album ausleihen?«

Emma gab es ihm.

»Natürlich. Wir haben alles gescannt. Der Fall interessiert Sie also?«

Hunt sah sie an. Sie wussten beide, dass es eine rhetorische Frage war.

5

Hotel Sacher

Wien

Oktober 1948

»Wie lange sind wir verheiratet?«, fragte Daphne Parson.

Alex March lag voll bekleidet auf dem Hotelzimmerbett des Hotel Sacher und rauchte eine Zigarette.

»Was?«

Daphne versuchte es noch einmal: »Wie – lange – sind – wir – verheiratet? Zwei, drei oder fünf Jahre? Haben wir noch im Krieg geheiratet oder jetzt erst?«

»Ist das wichtig?«, fragte Alex.

Sie kannten sich erst seit einer halben Stunde. Daphne verstand nicht, wieso ihr Vorgesetzter auf die Idee gekommen war, dass Alex March und sie das »perfekte Ehepaar« abgeben könnten. Schon rein äußerlich stimmte das nicht. Alex sah aus wie ein Straßenköter, allerdings ein Straßenköter von der attraktiven Sorte: zerzauste schwarze Haare, unrasiert und mit verhangenen Augen, als hätte er zu viele Nächte durchgemacht. Seine Uniform schien schon lange nicht mehr gereinigt worden zu sein. Der Kragen hatte einen schwarzen Rand und am rechten Ärmel fehlte ein Knopf.

Daphne versuchte es jetzt mit dem geduldigen Lehrerinnenton.

»Es ist wichtig, wie lange wir verheiratet sind. Ein Paar, das erst zwei Jahre verheiratet ist, benimmt sich anders als ein fünfjähriges.«

»Na gut, dann eben fünf Jahre.«

»Das ist schwerer«, sagte Daphne.

»Warum?«

»Es ist leichter, ein verliebtes Paar zu spielen, als ein Paar, das nach fünf Jahren bereits völlig genervt voneinander ist.«

Alex grinste.

»Ich bin sicher, wir schaffen das.« Er deutete mit seiner Zigarette auf ihre Haare: »Ihre Hochsteckfrisur ist eine gute Idee. Passt perfekt für die Rolle. Sie sehen damit aus wie eine brave Hausfrau, bieder und langweilig. Aber ich kann mithalten. Ich hab den richtigen Anzug für meine Ehemannrolle dabei. Hatte nur noch keine Zeit, mich umzuziehen.«

Daphne versuchte, nicht zu zeigen, wie sehr die Worte bieder und langweilig sie ärgerten.

»Wann sind Sie angekommen?«

»Heute Morgen. Wien sieht schlimmer aus, als ich erwartet hatte. Nur dieses Hotel ist nicht schlecht. Das Sacher, wirklich erste Wahl.« Er tastete nach einem Aschenbecher auf dem Nachttisch.

»Im Badezimmer funktioniert nur der Kaltwasserhahn«, sagte Daphne. »Und falls Sie sich Hoffnungen auf gutes Essen machen, der Starkoch vom Sacher arbeitet hier nicht mehr. Es wird nur das übliche Kantinenessen für unsere Streitkräfte serviert. Abgesehen davon ist es ein ausgezeichnetes Hotel. Jede Besatzungsmacht hat ein Grand Hotel bekommen. Wir das Sacher, die Amerikaner das Bristol und die Russen das Imperial.«

»Und die Franzosen sitzen im Hotel Metropol?«, fragte Alex.

Daphne war überrascht von der Frage.

»Sie kennen das Metropol von früher?«

»Gott sei Dank nur von außen. War doch der Folterkeller der Gestapo.« Alex drückte langsam seine Zigarette aus. Er schien sie fast in den Aschenbecher hineinzubohren.

»Das Metropol steht nicht mehr. Es hat dort kurz vor Kriegsende gebrannt«, sagte Daphne.

»Wirklich?« Alex sah sie überrascht an.

»Die Ursache wurde nie ganz geklärt. Wahrscheinlich wollte die Gestapo ihr Material noch schnell vernichten.«

»Also keine Akten mehr übrig?«, fragte Alex.

»Angeblich. Vielleicht hat sie aber auch jemand verschwinden lassen und sie tauchen eines Tages wieder auf dem Schwarzmarkt auf. Käufer gäbe es mit Sicherheit.«

Alex schien das Interesse an dem Thema verloren zu haben.

»Was ist politisch hier los? Wird Österreich demnächst von den Russen überrannt?«

»Bisher hatten wir es immer besser als die Berliner«, sagte Daphne. »Es war relativ einfach, von den westlichen Zonen in die sowjetische Zone Wiens zu kommen. Es gibt nur Hinweisschilder. Aber seitdem sich die Kommunisten in Prag an die Macht geputscht haben, Ungarn eine kommunistische Regierung hat und die Sowjets Berlin blockieren, wird stärker kontrolliert. Mit anderen Worten: Ja, wir sind hier alle nervös.«

»Und warum verschwenden wir dann unsere Zeit damit, als nettes deutsches Ehepaar in eine Wohnung in der Guglgasse einzuziehen?«, fragte Alex. »Schon der Name – Guglgasse. Das liebe ich so an meinen Landsleuten. Selbst unsere Straßennamen klingen wie eine Nachspeise.«

»Ich kann Ihnen versichern, nichts an dieser Geschichte ist niedlich.«

Alex grinste Daphne an.

»Erklär’s mir genauer, Schatzerl.«

»Schatzerl?«

Er lachte: »Haben nicht alle guten Ehefrauen einen Kosenamen? Wäre Ihnen Mausi oder Spatzi lieber? Nein, ich hab’s! Kaiserin! Passt perfekt.«

»Das können Sie vergessen, Alex.«

»Ach, kommen Sie. Ich weiß nicht, ob das so gut ankommt, wenn ich Sie vor den Hausbewohnern in der Guglgasse mit Colonel anrede. Das könnte man ganz falsch verstehen.«

»Das ist nicht mein Rang.«

»Nicht? Okay, er wird einen Hauch darunter liegen. Erklär’s mir einfach, Schatzerl.«

Daphne stand auf.

»Auf jeden Fall ist er höher als Ihrer, Alex, und deswegen kommandiere ich Sie jetzt zu einem Friseurbesuch ab. Deutscher Kurzhaarschnitt und Rasur.«

»Das ist nicht Ihr Ernst!«

Daphne gab ihm einen Zettel.

»Der Salon Elisabeth ist der beste in dieser Stadt. Fragen Sie nach Lisl.«

6

Britische Besatzungszone, Major Blannings Büro

Wien

Oktober 1948

Alex March ahnte, was ihn in Major Blannings Büro erwarten würde. 1944 war Blanning eine Zeit lang sein Vorgesetzter in der Armee gewesen und hatte Alex regelmäßig mit Wien-Anekdoten gelangweilt. Der Major hielt sich für einen Kenner Österreichs, weil er dort vor dem Krieg seine Sommerurlaube verbracht hatte. Seitdem schwelgte er in klebrigen Poesiealbum-Erinnerungen an hübsche Wiener Mädel und reichhaltige Nachtische. Selbst der österreichische Jubel für die Nationalsozialisten 1938 hatte Blannings Österreich-Liebe nicht geschmälert. In seinen Augen hatte es sich bei dem »Anschluss«-Jubel nur um eine vorübergehende amour fou gehandelt, die jeder Mensch einmal durchmachte. »Schwamm drüber«, wie er gerne sagte.

Alex vermutete, dass Blanning 1945 auf einer sofortigen Versetzung nach Wien bestanden hatte, um endlich in seiner Traumstadt leben zu können. Doch mittlerweile schien eine völlige Wandlung mit dem Major vorgegangen zu sein. Als Alex das Büro betrat, brach Blanning in eine Tirade aus.

»Ihre Heimatstadt ist ein einziges Sodom und Gomorra geworden, March«, bellte er. »Schieberbanden, Kidnappings und dreizehnjährige Prostituierte. Unsere Leute fangen sich hier Geschlechtskrankheiten ein, für die es noch nicht mal einen Namen gibt. Wir haben deswegen schon wieder zwei Leute nach Hause schicken müssen. Versprechen Sie mir, sauber zu bleiben, Alex, auch wenn’s schwerfällt!«

»Ist es so schlimm, Sir?«

»Schlimmer. Die einzige Genugtuung ist, dass die Amerikaner noch mehr Fälle haben. Die GIs bekommen für ihre Luxuswaren einfach mehr Frauen, die könnten jede Nacht eine andere haben. Gestern erzählte mein amerikanischer Kollege von seinem besten Fall, einem GI namens Harry. Er musste diesem Harry die Nachricht überbringen, dass seine Kriegsbraut in Texas nicht nur mit ihm, sondern noch mit ein paar anderen Soldaten verheiratet war. Insgesamt mit drei GIs. Allen war die Ehezulage vom Sold abgezogen worden. Der betrogene Harry konnte sich über diesen Verrat gar nicht mehr beruhigen. Was ihn aber besonders aufregte, war, dass er das Geld so viel lieber für seine Wiener Freundinnen ausgegeben hätte.«

Alex grinste.

»Die amerikanische Bürokratie scheint noch chaotischer zu sein als unsere.«