Das Buch Alice - Karina Urbach - E-Book

Das Buch Alice E-Book

Karina Urbach

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Beschreibung

Einst erfolgreiche Kochbuch-Autorin, verliert die Wiener Jüdin Alice Urbach unter den Nationalsozialisten Heimat, Familie und Karriere. Sie flieht nach England, wo sie jüdische Kinder betreut. Später emigriert sie nach New York, gibt Kochkurse in San Francisco und stellt im amerikanischen Fernsehen ihre besten Rezepte vor. In einer Wiener Buchhandlung findet sie nach dem Krieg sogar ihr Buch wieder. Doch wer ist der Mann, dessen Name auf dem Umschlag prangt? Hat es den "Küchenmeister" Rudolf Rösch je gegeben? Recherchen führen Alice' Enkelin Karina Urbach in Wiener, Londoner und Washingtoner Archive, in denen sie längst verloren geglaubte Briefe, Tonband- und Filmdokumente findet. Sie eröffnen ein bislang unbekanntes Kapitel in der Geschichte deutscher NS-Verbrechen.

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Das Buch

Einst erfolgreiche Kochbuch-Autorin, verliert die Wiener Jüdin Alice Urbach unter den Nationalsozialisten Heimat, Familie und Karriere. Sie flieht nach England, wo sie sich als Dienstbotin durchschlägt und später ein Flüchtlingsheim für jüdische Mädchen leitet. Mit Kochunterricht versucht sie ihre Schützlinge von den Kriegswirren abzulenken. Nach dem Krieg geht Alice nach New York, gibt Kochkurse in San Francisco und stellt im amerikanischen Fernsehen ihre besten Rezepte für Mehlspeisen und Tafelspitz vor. In einer Wiener Buchhandlung findet sie sogar ihr Buch wieder. Doch wer ist der Mann, dessen Name auf dem Umschlag prangt? Hat es den »Küchenmeister« Rudolf Rösch je gegeben?

Recherchen führen Alice’ Enkelin, die Historikerin Karina Urbach, in Wiener, Londoner und Washingtoner Archive, in denen sie längst verloren geglaubte Briefe, Tonband- und Filmdokumente findet. Sie eröffnen ein bislang unbekanntes Kapitel in der Geschichte der NS-Verbrechen.

KARINA URBACH

Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten

Propyläen

Die im Buch zitierten Briefe, Berichte und Erinnerungen spiegeln die Sicht der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen. Flüchtigkeitsfehler wurden behutsam korrigiert, die Schreibweisen den heutigen Regeln angepasst.

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ISBN 978-3-8437-2357-2

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch
Titel
Impressum
Widmung
Vorwort: Buch einer Unbekannten
Wiener Oper, 1938
Ein blinder Vater und ein schlechter Kartenspieler
Hungrige Zeiten
Endlich Erfolg!
Shanghai oder der amerikanische Sohn
1937: Besuch der jungen Dame
Es wird gejagt
Bücherdiebe
Ankunft im Schloss
Die Kinder von Windermere
Der glücklose Felix
Ein Amerikaner taucht auf
Cordelias Krieg
Überlebt!
Rückkehr nach Wien
Neuanfänge
Nachklang
Dank
Über die Autorin
Anmerkungen
Archive und Quellen
Literatur
Abbildungsnachweis
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Für Wera und Otto mit einer Umarmung

Vorwort Buch einer Unbekannten

Ich kann nicht kochen. Daher interessierte mich auch nie, dass bei uns zu Hause zwei Kochbücher mit dem Titel So kocht man in Wien! im Regal standen. Text und Farbfotos beider Bücher waren identisch, nur die Autorennamen auf den Umschlägen unterschieden sich. Auf der Ausgabe von 1938 wurde Alice Urbach als Autorin angegeben, auf der von 1939 ein Mann namens Rudolf Rösch.

Alice Urbach war meine Großmutter. Ich sah sie selten, weil sie in Amerika lebte und ich in Deutschland. Sie starb, als ich noch ein Kind war, und meine Erinnerungen an sie sind vage. Ich wusste aus Familienanekdoten, dass sie in den 1930er-Jahren in Wien eine berühmte Kochbuchautorin gewesen war und ihr Leben dank ihrer Kochkünste hatte retten können. Warum und wie das geschehen war, wurde nie genauer erklärt.

Als ich viele Jahre nach ihrem Tod Historikerin wurde, kam mir nicht die Idee, etwas über sie zu schreiben. Familienforschung gilt unter meinen Kollegen als schwerer Straftatbestand. Der Grund dafür ist verständlich – der Mangel an emotionaler Distanz zu den beteiligten Personen. Genauso wie kein Chirurg seine Familienangehörigen operieren darf, so sollte kein Historiker an der Verwandtschaft herumlaborieren. Bei zittrigen Händen kann die Situation tödlich ausgehen. Denn welcher Historiker ist schon in der Lage, gnadenlos die dunkleren Seiten seiner Familie offenzulegen?

Und dann gab mir eines Tages meine kluge amerikanische Cousine Katrina (nur ein »t« macht den Unterschied in unser beider Namen) eine Kiste mit alten Briefen und Tonbandkassetten. Katrina ist eine engagierte Ärztin, und sie ist Pragmatikerin. In ihren Augen schien es ganz logisch, dass ich die Geschichte unserer Großmutter recherchieren müsse. Doch wie das häufig der Fall ist, kursierten in der Familie viele Anekdoten und wenige Fakten. Als ich die Briefe zu lesen begann und Alice’ Stimme auf Tonband hörte, bekam ich eine erste Ahnung davon, was ihr widerfahren war. Von diesem Moment an wollte ich nichts anderes als ihre Geschichte erzählen.

Die Recherche führte mich von Wien über London nach New York. Neben dem geografischen erweiterte sich auch der Kreis der Protagonisten. Alice war Teil einer weitverzweigten Familiengeschichte, die in einem Getto begann und sich in Wiener Millionärskreisen fortsetzte. In ihrem Leben spielten namhafte Personen wie die Psychoanalytikerin Anna Freud oder die Physikerin Lise Meitner eine Rolle, aber auch völlig unbekannte Menschen. Dazu gehörten eine amerikanische Geheimdienstagentin namens Cordelia Dodson, ein Münchner Verleger und 24 jüdische Kinder, die Alice während des Zweiten Weltkrieges im englischen Lake District betreute. Wichtig wurde auch die Geschichte von Alice’ eigenen Kindern – ihren Söhnen Otto und Karl. Während Otto in China einige Abenteuer erlebte, glaubte Karl lange Zeit vor den Nationalsozialisten in Wien sicher zu sein.

Dieses Buch ist im Laufe der Recherche auch zu einer Diebstahlanzeige geworden. Alice war eine Sachbuchautorin, der man in den 1930er-Jahren ihr Werk raubte. Was ihr widerfuhr, war Teil eines groß angelegten Betrugs, den einige deutsche Verlage nach dem Krieg fortsetzten und der bis heute nicht untersucht worden ist.

Alice kämpfte bis zuletzt um ihr Buch, hätte es selbst jedoch abgelehnt, als eine weibliche Hiobsfigur beschrieben zu werden. Sie wollte, dass man sich an ihre »Abenteuer und Taten« erinnert. Ihr Sohn Otto versuchte ebenfalls, Rührseligkeit zu vermeiden. Als er sich 1938 bemühte, Karl aus Wien zu retten, schrieb er ihm: »Ich möchte dich bitten, alle Sentimentalitäten … auszuschalten. Es ist absolut unnötig, dankbare Apfelsauce in deine Briefe zu schießen.«1

Dieses Buch wird versuchen, ohne die Apfelsauce auszukommen.

Karina Urbach

Princeton, im Mai 2020

Wiener Oper, 1938

»Rot-Weiß-Rot bis zum Tod!«

Cordelia Dodson, 20031

Am Freitag, den 11. März 1938, kauften Cordelia, Elizabeth und Daniel Dodson Karten für die Wiener Staatsoper. Sie waren schon länger in Wien und kannten sich gut in der Stadt aus. Trotzdem hätte man sie nicht für Einheimische halten können. Die drei Geschwister sahen genau so aus, wie man sich junge Amerikaner aus bester Familie vorstellt: hochgewachsen, sportlich und – auf eine teure Art – leger gekleidet. Cordelia war die Älteste und eindeutig die Anführerin der Gruppe. Die 25-Jährige entschied darüber, was die Geschwister unternahmen, und für diesen Abend hatte sie einen Opernbesuch angesetzt.

Wenn man Cordelias späteren Aussagen glaubt, beschloss sie nach den Ereignissen des 11. März, ihr Leben zu verändern.2 Bis zu diesem Zeitpunkt war es ein äußerst behütetes Leben gewesen. Wie viele amerikanische Collegestudenten ihrer Generation kannte Cordelia nur ein Leben in Sicherheit. Ihr Vater, William Dodson, war Vorsitzender der Handelskammer von Portland, Oregon.3 Er hatte all seinen Kindern eine teure Universitätsausbildung finanziert, aber seine größten Hoffnungen lagen auf Cordelia. Es war kein Zufall, dass er ihr den Vornamen einer Shakespeare-Heldin gegeben hatte. Und wie King Lears Tochter würde auch Cordelia Dodson die Erwartungen ihres Vaters am Ende nicht enttäuschen.

Der Grund, warum Cordelia nach Wien gekommen war, lag bereits ein paar Jahre zurück. Als Schülerin hatte sie sich für die Autoren des Sturm und Drang begeistert und entschieden, deutsche Literatur zu studieren. Es war Zufall gewesen, dass sie sich am amerikanischen Reed College in Portland für Literaturwissenschaften eingeschrieben hatte, und es war auch Zufall gewesen, dass sie dort den österreichischen Austauschstudenten Otto Urbach kennenlernte. Der weitere Verlauf der Geschichte war kein Zufall mehr. Cordelia war auf Ottos Rat nach Wien gereist. Sie hatte seine Mutter Alice und seinen Bruder Karl kennengelernt, und diese Freundschaft würde am Ende das Leben von mehreren Menschen retten.

Von dieser Rettungsaktion und ihrer Rolle darin konnte Cordelia noch nichts ahnen, als sie am 11. März 1938 mit ihren Geschwistern in die Oper ging. Auf dem Spielplan stand Tschaikowskis Eugen Onegin, die Vorstellung begann um 19 Uhr. Eugen Onegin ist keine einfache Oper. Sie handelt von einem russischen Adligen, der die Liebe einer gewissen Tatjana zurückweist und kurz darauf aus völlig banalen Gründen einen Bekannten im Duell erschießt. Interessant an der Figur Onegins ist, dass er keine Empathie zeigen kann. Ein ähnliches Phänomen – ein absolutes Versagen der Empathie – würde bald ganz Wien ergreifen, die Belegschaft der Staatsoper inklusive. Nicht nur der jüdische Dirigent des Abends, Karl Alwin, auch die Darstellerin der Tatjana, Jarmila Nowotna, konnten auf das Mitgefühl ihrer Mitmenschen schon bald nicht mehr hoffen.

Warum Cordelia mit ihren Geschwistern ausgerechnet Eugen Onegin ansah und nicht einen Tag später Wagners Tristan und Isolde, ist nicht mehr zu ermitteln. Vielleicht war Wagner schon ausverkauft, oder sie mochte ihn nicht. Vielleicht hatte sie aber auch keine besondere Ahnung von Opernmusik und tat nur, was Touristen in Wien bis heute tun – sie kaufen die erstbeste Karte und buchen anschließend noch einen Tisch im Restaurant. An Cordelias Opernbesuch war also nichts Ungewöhnliches, aber die Atmosphäre, in der er sich abspielte, war keineswegs alltäglich. Seit Tagen herrschte eine angespannte Stimmung in der Stadt. Bundeskanzler Kurt Schuschnigg hatte am 9. März eine Volksbefragung angekündigt, in der alle Österreicher die Möglichkeit haben sollten, sich für ein »freies und deutsches, unabhängiges und soziales, ein christliches und einiges Österreich« auszusprechen. Doch schon am 10. März setzte Hitler durch, dass die Befragung abgesagt wurde. Nun warteten alle auf den nächsten Schachzug.

Um 19 Uhr 47, als Cordelia und ihre Geschwister noch dem ersten Akt von Onegin folgten, hielt Schuschnigg eine Radioansprache. Er teilte seinen Zuhörern mit, dass er sich entschieden habe, der »Gewalt« zu »weichen« und mit sofortiger Wirkung zurückzutreten. Damit war der Weg frei für die österreichischen Nationalsozialisten. Ein paar Stunden später übernahm Hitlers Vertrauter Arthur Seyß-Inquart die Macht.

Vielleicht erfuhren die Dodsons schon in der Pause nach dem dritten Bild von der Radioansprache. Spätestens aber um 22 Uhr, als sie die Staatsoper verließen, erkannten sie, dass etwas Gefährliches passiert war. Ihr Wiener Freund Karl Urbach stand am Ausgang, um sie abzuholen. Sein Gesichtsausdruck war eindeutig. Der geplante Restaurantbesuch würde ausfallen müssen.

Cordelias Vorliebe für die Literatur des Sturm und Drang war bis zu diesem Zeitpunkt rein theoretischer Natur gewesen. Sie interessierte sich für Emotionen und hatte auf dem College ein Seminar in Psychologie belegt. Was sie in den nächsten Tagen in Wien erleben sollte, war jedoch eine Explosion von Emotionen, die jeden Psychologiekurs gesprengt hätte.

Am Morgen des 12. März 1938 überschritten die ersten deutschen Truppen die Grenze zu Österreich, am Sonntag, den 13. März, erreichten sie Wien. Die Stadt, durch die Karl seine amerikanischen Gäste wochenlang voller Stolz geführt hatte, verwandelte sich in ein nationalsozialistisches Flaggenmeer. Es war eine Orgie aus Jubel und Hass. Cordelia konnte beides beobachten – sowohl ekstatische Siegesgewissheit wie absolute Verzweiflung. Was sie dabei überraschte, war das enorme Tempo der Verwandlung: »Alles geschah so schnell, die Bürgerrechte, der Schutz durch die Polizei, alles, was man bisher für selbstverständlich gehalten hatte, verschwand sofort. … Ich lernte die Nazis zu hassen, sie waren so arrogant und so gnadenlos.« Ohne Alice’ und Karls Namen zu erwähnen, sagte sie über die Szenen auf den Straßen: »Die Verfolgung der Juden war unmenschlich.«4 Cordelia traf eine Entscheidung, die ihr ganzes weiteres Leben bestimmen würde. Sie wollte etwas für ihre neuen jüdischen Freunde tun. Sie wusste zwar noch nicht, was sie unternehmen konnte, aber sie war bereit, gefährliche Wege zu gehen.

Aus der naiven Collegestudentin wurde im Zweiten Weltkrieg eine nervenstarke Mitarbeiterin des Office of Strategic Services (OSS), dem elitärsten der amerikanischen Nachrichtendienste. Und das lag auch an ihrer Begegnung mit einer kleinen rundlichen Frau namens Alice Urbach.

Ein blinder Vater und ein schlechter Kartenspieler

»Schau ich mir die Juden an, Hab ich wenig Freude dran. Fallen mir die anderen ein, Bin ich froh, ein Jud zu sein.«

Albert Einstein1

Es war eine lange, schmale Gasse. Die Häuser klebten eng aneinander, jeder Zentimeter Wohnraum musste genutzt werden. Im Parterre lagen die Läden, vollgestopft mit Stoffen, einen Stock höher die Wohnräume, vollgestopft mit Menschen. Es lebten ungefähr 5000 Leute hier, auch wenn es offiziell sehr viel weniger waren. Nicht jeder wollte gemeldet sein, manche kamen illegal bei Freunden und Verwandten unter. In dieser Judengasse, im Pressburger Getto, 60 Kilometer östlich von Wien, begann Alice’ Geschichte. Hier wuchs ihr Großvater Salomon Mayer (1798–1883) auf. Laut einer Familienanekdote stand er als Siebenjähriger mit seinen Eltern am Fenster der kleinen Wohnung und beobachtete, wie Weltgeschichte geschrieben wurde. Seine Mutter soll nach draußen gedeutet und zu ihm gesagt haben: »Schau auf diesen kleinen Mann da unten auf seinem weißen Pferd. Alle Welt zittert vor ihm. Sein Name ist Napoleon.«2

Wie so oft bei Familienanekdoten ist auch diese nicht sehr zuverlässig. Der Friede von Pressburg, dem heutigen Bratislava, wurde zwar im Dezember 1805 nahe der Judengasse geschlossen, aber bei den Unterzeichnern handelte es sich um Napoleons Außenminister Talleyrand und Johann Joseph Fürst von Liechtenstein, der die Habsburger vertrat. Napoleon selbst kam erst vier Jahre später nach Pressburg. Vielleicht hatte man sich also einfach in der Jahreszahl geirrt, und Salomon war bereits elf Jahre alt, als er den französischen Kaiser sah. Die Farbe des Pferdes ist allerdings ebenfalls nicht ganz exakt – Napoleons Schlachtpferd war ein hellgrauer Araber namens Marengo. Natürlich könnte es sein, dass Salomons Mutter annahm, das Pferd wäre einfach nur etwas schmutzig von der letzten Schlacht und im Original bestimmt weiß.3 Fantasie zu entwickeln war im Getto wichtig, um das Grau des Alltags zu verdrängen. Ein weißes Pferd klang auf jeden Fall sehr viel romantischer als ein graues.

Ob Salomon nun Napoleon und sein Pferd 1809 wirklich gesehen hat oder nicht – der entscheidende Grund, warum die Szene einen so hohen Stellenwert für ihn und die anderen Pressburger Juden hatte, wird in der Anekdote nicht erwähnt. Man musste es nicht erklären, weil es damals jeder wusste: Napoleon verkörperte die Französische Revolution, und Frankreich war für viele Juden zum Sehnsuchtsland geworden. Seit 1791 war es dort der jüdischen Bevölkerung erlaubt, freie Franzosen zu werden, die sich – zumindest theoretisch – nur noch durch ihre Religion vom Rest der Bevölkerung unterschieden. In den Augen der Pressburger Juden trug Napoleon diese Idee mit sich durch ganz Europa. Deswegen platzierten sich die Mayers in ihrer Familienerinnerung am Fenster, wo sie sahen, was sie sehen wollten. Jahreszahl und Pferd spielten letztlich keine Rolle, relevant war allein die Hoffnung auf eine angstfreie Zukunft. Es war eine Art Gründungsmythos für die Mayers, und Alice’ Bruder Felix spielte später sogar mit dem Gedanken, eine Familiengeschichte mit dem Titel »Von Napoleon zu Hitler« zu schreiben. Er stellte dafür eine kleine Statistik auf, die zu dem Ergebnis kam, dass es in seiner Verwandtschaft überraschend wenig Scheidungen und Krebserkrankungen, dafür aber zwei Selbstmorde gegeben hatte. Kein Mayer war – laut Felix’ Statistik – jemals kriminell geworden,4 allerdings fielen zahlreiche Familienmitglieder einem Jahrhundertverbrechen zum Opfer. Am Ende konnte Felix sich nicht dazu durchringen, dieses Verbrechen zu beschreiben. Aus seinem Buchprojekt wurde nichts.

Die Familiengeschichte begann also mit Salomon Mayer am Fenster. Salomon war für seine Abkömmlinge auch deshalb von großer Bedeutung, weil er im Leben immer die richtigen Entscheidungen traf. Dazu gehörte es, eine kluge Frau zu heiraten, mit der man etwas Großes aufbauen konnte. Antonia (Tony) Frankl (1806–1895) war eine solche Frau, und sie wurde Teil der Familienlegende.5 Im Pressburger Getto gab es damals 30 Textilgroßhändler, und dank Tonys gutem Geschmack gehörten die Mayers zu den erfolgreichsten.6 Tony arbeitete nicht nur ausgesprochen hart, sie gebar nebenher auch noch 16 Kinder, von denen nur neun überlebten. Das war für die damalige Zeit nicht ungewöhnlich. Kinder wurden ständig geboren und starben mit zuverlässiger Regelmäßigkeit. Es gab unendlich viele Krankheiten, an denen Kleinkinder sterben konnten – Keuchhusten, Typhus, Durchfall, Scharlach, Zahnfieber, Masern, Fleckfieber. Die Kindersterblichkeitsrate scheint im Getto allerdings überdurchschnittlich hoch gewesen zu sein. Alice’ Vater Sigmund machte für den frühen Tod seiner Geschwister die großen hygienischen Missstände verantwortlich. In seinen Lebenserinnerungen beschrieb er die primitiven Wohnverhältnisse im Getto:

Hölzerne, wacklige, vollständig finstere Treppen führten zu den Wohnungen, deren rückwärtige, an den Berg stoßende Hälften nicht anders als feucht und dunkel sein konnten. Die Kanalisierung war elend, der Luftzutritt durch den winzigen Hofraum vollständig ungenügend, die Atmosphäre war schwer und dumpf. Kein einziges Haus besaß einen Brunnen. Die ganze Bevölkerung musste aus den zwei Gemeindebrunnen ein schlechtes, kaum genießbares Wasser schöpfen.7

Aber es gab noch andere Gründe, warum Sigmund das Getto hasste. Seiner festen Überzeugung nach hatten er und seine Geschwister nie gelacht. Er konnte sich auch an kein einziges spielendes Kind in der Judengasse erinnern. Hier existierte nur ein Gefühl – Angst. Wer im Getto leben musste, war eingeschlossen, im wahrsten Sinne des Wortes. Jeden Abend wurde die »Gasse von der städtischen Polizei durch schwere eiserne Gitter abgesperrt«.8 Offiziell schützten die Gitter die Christen vor den »gefährlichen« Juden. In Wahrheit ging es darum, Gewalttaten gegen die Juden zu verhindern. Und mit dieser Gewalt war jederzeit zu rechnen. Tagsüber kamen die Pressburger zwar in die jüdischen Geschäfte, um billig einzukaufen, aber die Stimmung konnte schnell umschlagen. Wer am Morgen bei Juden Seide, Kurzwaren, Leinen, Pinsel, Knöpfe und Kämme eingekauft hatte, der ärgerte sich vielleicht schon abends über den Preis. Sigmund erinnerte sich an einen katholischen Kaufmann namens Philipp Scherz, mit dem die Familie zusammenarbeiten musste und der zu sagen pflegte: »Jud und Schwein sind nicht zu schätzen, bis sie tot sein.«9

Man lebte nicht nur in Angst vor feindseligen Kunden und Geschäftspartnern, sondern auch vor dem Vermieter, der einen jederzeit auf die Straße setzen konnte. Selbst wenn man genug Geld gespart hatte, durfte man als Jude kein eigenes Haus in der Judengasse kaufen. Es war nur auf Umwegen möglich – indem man einen christlichen Strohmann ein Haus erwerben ließ und mit ihm einen Nießnutz- oder Erbpachtvertrag abschloss.10

Die Angst der Erwachsenen, jederzeit alles verlieren zu können, übertrug sich auch auf die Kinder. Sie wurden von ihren christlichen Altersgenossen regelmäßig verprügelt und durften sich nicht darüber beschweren, geschweige denn wehren. Aber nicht nur die Außenwelt galt als bedrohlich, auch im Inneren tobten die Auseinandersetzungen. Die jüdischen Schullehrer ließen ihre Aggressionen an den Kindern aus und prügelten das Wissen in sie hinein. Natürlich unterschieden sie sich damit nur marginal von nichtjüdischen Lehrern, aber die Gewissheit, weder in der Schule noch auf der Straße vor Prügeln sicher zu sein, machte das Leben zur Tortur. Das permanente Gefühl, allem und jedem ausgeliefert zu sein, ließ die Gettobewohner im schlimmsten Fall resignieren, im besten Fall sarkastisch werden. Diese Verhaltensweisen waren für Sigmund der Schlüssel, um die Werke großer jüdischer Autoren zu verstehen: »Nur wer mit diesen Gefangenen der Judengasse mitgelebt und mitgelitten, versteht den grimmigen Hohn Ludwig Börnes, den Zynismus Heines, begreift, warum … Ferdinand Lasalle und Karl Marx gerade Juden waren.«11

Man konnte das Getto zwar verlassen, aber das Getto verließ einen nie. In seinen Erinnerungen beschreibt Sigmund die Judengasse in so drastischer Weise, dass man fast vergisst, wie früh er ihr entkommen konnte. Er war elf Jahre alt, als das Pressburger Getto 1842 geöffnet wurde und die Mayers in ein besseres Haus umzogen. Die Überlebenschancen von Sigmund und seinen nachgeborenen Geschwistern erhöhten sich damit. Sie entkamen den schlechten hygienischen Zuständen und wuchsen gesünder auf.12

Als Sigmund Mayer 1917 sein Buch Die Wiener Juden publizierte, war er der festen Überzeugung, eine längst überwundene Tristesse zu beschreiben: »Nur sehr wenige der jetzt noch Lebenden werden ein echtes … Ghetto gekannt haben.«13 Für ihn war es völlig offensichtlich, dass diese Monstrosität niemals wiederkehren würde. Dass 1942 drei seiner Kinder aus ihrer bürgerlichen Realität in ein Getto zurückgestoßen wurden, musste er nicht mehr miterleben. Seine Tochter Alice entkam diesem Schicksal, und das lag ironischerweise auch daran, dass man sie in der Familie immer übersehen hatte.

Alice bewunderte und fürchtete ihren Vater. Für beides hatte sie gute Gründe: »Mein Vater war eine imposante Persönlichkeit. Er war relativ klein, was ihn ein Leben lang ärgerte, aber er kompensierte seine körperlichen Mängel mit einem scharfen Geist. Von seiner Mutter … hatte er den brillanten Verstand, starken Willen, Humor und das Gefühl absoluter Überlegenheit geerbt.«14

Sigmunds Traum war es, Anwalt zu werden, und er studierte in Prag und Wien Jura. Eine Infektion ließ ihn jedoch teilweise erblinden, und da niemand einen Juristen beschäftigt hätte, der nur eingeschränkt sehen konnte, blieb ihm am Ende nichts anderes übrig, als in das Familiengeschäft einzutreten. Wenigstens daraus wollte er einen großen Erfolg machen. In den nächsten Jahrzehnten baute er mit seinen jüngeren Geschwistern Albert und Regine die internationale Textilien-Firma A. Mayer & Co. auf und expandierte in die Levante.15 Der Firmenhauptsitz befand sich 1882 in Alexandrien, die Zweigniederlassungen unter anderem in Konstantinopel, Smyrna und Wien.16 Der unermüdliche Einsatz der Mayer-Geschwister rentierte sich schließlich: 1910 standen sie auf der Liste der 1000 reichsten Wiener und Niederösterreicher.17

Während seine Geschwister damit zufrieden waren, verfolgte Sigmund noch ein weiteres Ziel – er engagierte sich im Wiener Gemeinderat. Sein Gegenspieler wurde dort der Antisemit Karl Lueger.

Adolf Hitler würde sich später von Lueger in vielerlei Hinsicht inspiriert fühlen, aber »der schöne Karl« war nicht von Anfang an Antisemit gewesen. Sigmund glaubte sogar, Lueger habe sich nur in einen Judenhasser verwandelt, um Bürgermeister von Wien zu werden: »Luegers antisemitische Gesinnung war stets ganz und gar Heuchelei. Vor allem war bei ihm von dem … Rassenhass gegen Juden gar keine Rede. Er verkehrte früher nicht nur gerne, sondern vorwiegend mit Juden. … Im Abgeordnetenhaus … sagte ich ihm: ›Nicht dass Sie Antisemit sind, werfe ich Ihnen vor, sondern dass Sie es in Wirklichkeit nicht sind.‹«

Ob nun gespielt oder aufrichtig, der Effekt war am Ende der gleiche. Lueger machte den Antisemitismus in Wien salonfähig. Sigmund erhielt Drohbriefe und Duellaufforderungen, die er mit dem Satz konterte: »Wenn einer schon gar nichts mehr ist, dann ist er Antisemit.«18

Als Lokalpolitiker und regelmäßiger Kolumnist der Neuen Freien Presse bekämpfte Sigmund jedoch nicht nur Antisemiten.19 Er schaffte es auch, sich mit dem Zionisten Theodor Herzl anzulegen. Während Herzl glaubte, Juden müssten als Reaktion auf den Antisemitismus einen eigenen »Judenstaat« errichten, lehnte Sigmund den Zionismus rundweg ab und setzte auf Assimilation. Alice schrieb später, dass ihr Vater und Herzl sich hitzige Streitgespräche lieferten.20 Diese Gespräche werden jedoch 1897 abrupt aufgehört haben, als Sigmund einen sarkastischen Angriff auf Herzl veröffentlichte. Anlass war die Einberufung des ersten Zionistenkongresses in Basel, einer »Stadt ohne Juden«, wie Sigmund süffisant bemerkte. Die Initiatoren dieses Kongresses bezeichnete er als »zwei geistreiche Feuilletonisten, die Herren Herzl in Wien und Nordau in Paris, welche beide plötzlich aus Juden von Zufall und Geburt Juden von Beruf geworden sind«. Ihre Idee eines Judenstaats in Palästina würde dazu führen, dass

die Juden … eine Heimat von außerordentlich fraglichem Werte gewonnen haben und dafür allüberall in den europäischen Ländern wirklich ein Gastvolk werden! Und um dahin zu gelangen, sollen ihre Besten zwei Jahrtausende gekämpft haben! … Die Gefahr also, dass der Judenstaat zustande kommt, schätzen wir gleich Null und kaum einer Erörterung in einem ernsten Blatte wert. Eine sehr ernste soziale Gefahr für die Juden aber und ihre wichtigsten Interessen … ist Herr Herzl.21

Es ist nicht anzunehmen, dass die beiden Männer anschließend noch einmal miteinander redeten. Nur beerdigt wurden sie am Ende am gleichen Ort, in der israelitischen Abteilung des Döblinger Friedhofs.22

Sigmund kämpfte nicht nur beruflich an zahlreichen Fronten, auch sein Privatleben war phasenweise ein einziges Schlachtfeld. Alice verdankte ihre Existenz allein der Tatsache, dass Sigmunds erste Frau Henriette ihn betrogen hatte. Anfang der 1870er-Jahre, als er geschäftlich oft in Kairo unterwegs war, nahm sich Henriette einen Liebhaber und wurde schwanger. Sigmund entschied kurzerhand, die Ehefrau zu entsorgen und die kleine Gabriele zu behalten. Henriette erhielt eine finanzielle Abfindung inklusive einer Fahrkarte in das Provinznest, aus dem sie gekommen war. Die Härte, mit der Sigmund sie bestrafte, entsprach seinem gepanzerten Charakter, aber sie war auch typisch für die Zeit. Gustave Flaubert hatte schon 1856 beschrieben, was eine »Ehebrecherin« wie Madame Bovary erwartete, Leo Tolstois Anna Karenina warf sich 1878 vor einen Zug, und 1894 landete Theodor Fontanes untreue Effi Briest im Unglück. Ob Sigmund, der Romane liebte, Madame Bovary oder Anna Karenina las, ist nicht bekannt. Geändert hätte die Lektüre wenig. Die tiefe Kränkung, die er durch seine Frau erfahren hatte, führte dazu, dass er zehn Jahre lang alleinerziehender Vater von vier Kindern war.23 Am Ende heiratete er doch noch einmal. Seine zweite Frau, Pauline Gutmann, war 20 Jahre jünger und ordnete sich ihm als dienende Ehefrau bereitwillig unter.24 Mit ihr hatte er drei weitere Kinder: Felix (geb. 1884), Alice (geb. 1886) und Helene, genannt Mutzi (geb. 1894).

Alice hatte blaue Augen und helles Haar. Sie galt damit als hübsches Kind, aber die viel wichtigere Frage, die sich ihr Vater stellte, lautete: Hatte sie eine besondere Begabung? Etwas, worauf man stolz sein konnte?

In fast allen jüdischen Familien existierte die Sehnsucht, ein Wunderkind zu produzieren. Ein Wunderkind konnte den sozialen Status der gesamten Familie heben und diente als Beleg dafür, dass man in der Gesellschaft angekommen war. Bei der Produktion von Wunderkindern wurde kein Unterschied zwischen Jungen und Mädchen gemacht. Jedes Kind konnte eines sein. Vielleicht hatte es das Potenzial, ein Mathematikgenie oder eine große Pianistin zu werden? Natürlich wollte man dem Wunder etwas nachhelfen. Ganze Kompanien von Privatlehrern und französischen Gouvernanten wurden dafür beschäftigt, und selbst Familien, in denen das Geld knapp war, investierten ihre Ersparnisse in die Optimierung des Nachwuchses. Alice konnte noch Jahrzehnte später aufzählen, welche Wiener Familie die erfolgreichsten Kinder hervorgebracht hatte. Da war an erster Stelle Sigmund Freuds Tochter Anna, dicht gefolgt von den Kindern des Anwalts Dr. Meitner:

Er brachte seine drei Töchter zu uns, und ich war sehr beeindruckt davon, dass eine von ihnen schon studierte. Dieses anmutige Mädchen, Lise Meitner, war ganz in unschuldiges Weiß gekleidet, und ich konnte nicht ahnen, dass sie eines Tages einen sehr viel weniger unschuldigen Beruf ausüben und am Bau der Atombombe beteiligt sein würde … Auch ihre Schwestern waren hochbegabt, eine davon, die Pianistin, wurde die Mutter von Otto Frisch, den ich noch als Baby kannte.25

Und dann waren da noch all die schreibenden Wunderkinder. Alice’ Mutter war mit Alfred Polgars Mutter befreundet, und natürlich bewunderte jeder die Familie Schnitzler, die sogar zwei erfolgreiche Söhne – den Arzt Julius und den Schriftsteller Arthur – hervorgebracht hatte. Frau Schnitzler brachte es einfach nicht fertig, die obligatorische Bescheidenheit vorzutäuschen. Als sie gefragt wurde, wie es denn ihrem »berühmten Sohn gehe«, antwortete sie: »Welchem?«26

Alice träumte von vergleichbaren Erfolgen. Als Siebenjährige hoffte sie, ein Gesangsstar werden zu können, und brachte ihre Eltern damit in große Verlegenheit. Die ganze Familie war 1893 zur jährlichen Sommerfrische am Altaussee gereist. Alice mopste sich wie immer beim Promenadenspaziergang, als sie plötzlich Johannes Brahms beim Flanieren entdeckte. Sofort brach sie in Gesang aus. Es kann keine besonders gute Darbietung gewesen sein, denn Alice wurde von ihrer Mutter umgehend von der Promenade gezerrt: »Damit war mein Traum, als Wunderkind entdeckt zu werden, beendet.«27

In der internen Geschwisterhierarchie nahm Alice einen der unteren Plätze ein. Ihre vier älteren Halbgeschwister galten als intelligent, ihr Bruder Felix arbeitete hart und wurde später Kontorist der Familienfirma. Ihre jüngere Schwester Helene würde den Traum des Vaters erfüllen und in Jura promoviert werden. Alice hingegen litt ihr ganzes Leben lang darunter, in Bezug auf Bildungszertifikate versagt zu haben: »Ich war faul. Dafür habe ich später bezahlen müssen.«28

Bis zu Alice’ elftem Geburtstag lebte die ganze Familie in der Oberen Augartenstraße 32 in der jüdisch geprägten Leopoldstadt. Im Parterre befand sich das Geschäft, im ersten Stock residierte Alice’ Pressburger Großmutter Tony, im zweiten Stock Sigmunds Familie und im dritten sein Bruder Albert. Die Mayers entwickelten großbürgerliche Ambitionen, die Alice genau beschrieb:

Die Dame des Hauses ging nicht selbst einkaufen, Frauen gingen einkaufen, Damen nicht. Die Köchinnen mussten täglich einkaufen gehen, weil es noch keine Kühlschränke gab, um die Zutaten frisch zu halten … Damen kochten also nicht, die Köchin übernahm das. Damen kümmerten sich auch nicht um ihre Babys, das Kindermädchen erledigte das, und sie passten auch nicht auf ihre älteren Kinder auf, die Gouvernante war dafür zuständig. Stattdessen gingen Damen Luxusdinge einkaufen und statteten sich gegenseitig Besuche ab … Mittags kamen alle Familienmitglieder wieder nach Hause zurück, und es gab immer eine Suppe als Vorspeise … und dann Fleisch und Gemüse … Die Krönung einer jeden Mahlzeit war die Nachspeise. Typisch wienerisch waren die Knödel mit Pflaumen, Kirschen oder Aprikosen je nach Jahreszeit und natürlich der Strudel. Nach so einem schweren Essen mussten sich alle sofort ausruhen. Die Kinder hatten dann wieder Schule bis vier Uhr nachmittags, und die Männer gingen zurück zur Arbeit. Die Damen hatten ab vier oder fünf Uhr ihre Kaffeenachmittage, zu denen ihre Freundinnen kamen.29

Alice’ Mutter war eine Dame und stattete der Küche daher nur sporadische Besuche ab, aber für Alice wurde es der wichtigste Ort im Haus. Hier roch es gut, und in der Vorratskammer gab es Süßigkeiten. Schon als kleines Kind durfte sie auf einem Hocker sitzen und den Küchenhilfen zuschauen. Die rührten nicht nur interessante Speisen an, sie sprachen auch über aufregende Themen – Liebesabenteuer beim Heurigen oder die neuesten Mordgeschichten aus der Kronenzeitung. Im Salon herrschte Alice’ Vater, aber in der Küche hatte die Köchin das Sagen. Sie war ein Feldwebel, und alle erduldeten ihre Launen, denn von ihrer Kreativität hing viel ab. Eine versierte Köchin konnte eine Familie an die gesellschaftliche Spitze kochen, und die Angst, sie an eine konkurrierende Gastgeberin zu verlieren, stand permanent im Raum.30 Nicht nur das Sacher oder der Demel versuchten, einander die besten Konditoren abzuwerben, auch Privathäuser mussten jederzeit feindliche Übernahmen befürchten. Um die Köchin bei Laune zu halten, arbeitete die Hausherrin in engster Kooperation mit ihr. Gemeinsam wurde die Menüfolge entwickelt, damit jeder Gang, der auf den Tisch kam, »ein kulinarisches Meisterwerk« wurde. Und natürlich träumte jede Gastgeberin davon, bei einer großen Abendeinladung ein Gericht zu servieren, das auf einem Geheimrezept beruhte. Wie verbissen dieser Kampf um Geheimrezepte geführt wurde, zeigt Friedrich Torberg in seiner Tante Jolesch. Die Tante war für ihre Krautfleckerln berühmt. Als sie im Sterben lag, unternahm eine Nichte einen letzten Versuch, das Rezept doch noch aus ihr herauszupressen:

»Tante – ins Grab kannst du das Rezept ja doch nicht mitnehmen. Willst du es uns nicht hinterlassen? Willst du uns nicht endlich sagen, wieso deine Krautfleckerln immer so gut waren?«

Die Tante Jolesch richtete sich mit letzter Kraft ein wenig auf: »Weil ich nie genug gemacht hab …«

Sprach’s, lächelte und verschied.31

Mit dieser Methode war die Tante Jolesch Marketingstrategen um Jahrzehnte voraus. Gerichte mussten schmecken und verführerisch aussehen, aber vor allem mussten sie rar sein. Schon als Kind war es Alice’ Traum, eines Tages besondere Dinge zu kochen: »Mein Vater war, neben all seinen intellektuellen Ansprüchen, ein großer Gourmet. Sein Gesicht war streng, aber sobald ich groß genug war, um den Küchentisch zu erreichen, wollte ich für ihn kochen, damit er mich anlächelte.«

Es klingt wie krude Küchenpsychologie, dass Alice kochen lernte, weil sie ihrem Vater gefallen wollte. Aber es war tatsächlich die einzige Möglichkeit, um von ihm überhaupt wahrgenommen zu werden:

Mein Vater sprach selten mit uns, wir Kinder sahen ihn nur zu den Mahlzeiten … Wenn er uns eine Frage stellte, hatten wir höflich zu antworten, das war alles. An Sonntagen wurden wir zum Spaziergang mitgenommen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass er jemals mit mir allein spazieren gegangen wäre, bevor ich 20 wurde … Als Kinder lebten wir ein von den Erwachsenen völlig separates Leben.32

Die Küche war das Verbindungsglied zur Erwachsenenwelt. Hier lernte Alice etwas, das alle brauchten. Und natürlich hoffte sie, sich die Anerkennung ihrer Umgebung doch noch zu erkochen. Es funktionierte nur teilweise. Sigmund schätzte zwar Alice’ Gerichte, die im Laufe der Jahre immer raffinierter wurden, aber die Idee, eine große Köchin hervorgebracht zu haben, kam ihm nie. Wenn ihm jemand prophezeit hätte, dass ausgerechnet die verträumte Alice einen Kochbuchbestseller schreiben würde, wäre er überrascht gewesen. Vielleicht hätte es ihm gefallen, dass sie am Ende doch noch aufgewacht war und etwas aus ihrem Leben gemacht hatte. Doch die Umstände, die zu Alice’ »Erweckung« führten, hätten ihn entsetzt.

Alice, sitzend, mit ihrer Schwester Dr. jur. Helene Eissler

Über Alice’ Generation von Wienerinnen gibt es unzählige Klischees. Für viele davon sind die Bilder Gustav Klimts und die Theaterstücke Arthur Schnitzlers verantwortlich. Bei Schnitzler sind Frauen oft das »süße Mädel« aus der Wiener Vorstadt, das aufrichtig seinen adeligen Verehrer liebt, aber von Anfang an ahnt, dass es am Ende doch den langweiligen Portier heiraten muss. Ihre Gegenspielerin ist die mondäne Ehefrau aus der Oberschicht, die alles andere als »süß« ist und ihren Mann routiniert hintergeht. Alice entsprach keinem dieser Klischees. Sie hatte Angst vor Sex, und diese Angst war in ihrer Generation weitverbreitet. Stefan Zweig, wie Alice in den 1880er-Jahren in eine wohlhabende jüdische Familie geboren, fasste in Worte, was sie nie hätte ausdrücken können – wie trostlos das Liebesleben dieser Generation war. In Zweigs Augen hatte sie keine Chance auf normale sexuelle Erfahrungen: »Die jungen Mädchen luftdicht vom Leben abgeschlossen unter die Kontrolle der Familie gestellt, in ihrer freien körperlichen wie geistigen Entwicklung gehemmt, die jungen Männer wiederum zu Heimlichkeiten und Hinterhältigkeiten gedrängt von einer Moral, die im Grunde niemand glaubte und befolgte.«33

Dieses Moralkorsett führte dazu, dass die meisten jungen Männer ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit Prostituierten machten. An vielen Ecken Wiens standen diese »traurigen Paradiesvögel«, wie Zweig sie nannte, deren kurze »Karrieren« in der Regel im Krankenhaus endeten. Männer aller Gesellschaftsschichten machten von ihnen Gebrauch, ob im Hauseingang oder in den besseren Bordellen Wiens. Ungefährlich war es nirgends. Eine der großen, sehr realen Ängste, die jede sexuelle Begegnung begleitete, waren Geschlechtskrankheiten. In den Großstädten hatte sich die Syphilis ausgebreitet, und es gab noch keine Chance auf Heilung. Arthur Schnitzlers Vater Johann, der Medizin an der Wiener Universität unterrichtete, brach aus Angst, dass sein Sohn sich anstecken könnte, dessen Schreibtisch auf und las sein geheimes Tagebuch. Dort hatte der 16-jährige Arthur all seine – echten und imaginierten – Erlebnisse mit »griechischen Göttinnen« verzeichnet. Die Lektüre brachte den Vater an den Rand eines Herzinfarktes, und er zwang seinen Sohn, ein medizinisches Lehrbuch über Syphilis und Hautkrankheiten zu lesen.34 Die drastischen Illustrationen taten ihre Wirkung, Arthur stellte seine Besuche bei den griechischen Göttinnen vorübergehend ein. Lang hielt er diese Tortur jedoch nicht durch.

Sexuelle Beziehungen waren also ein Roulettespiel, und ein jungfräuliches, »luftdicht abgeschlossenes« Mädchen wie Alice konnte nur hoffen, dass ihr späterer Mann sich vor der Heirat nicht angesteckt hatte. Unwahrscheinlich war es nicht.

Alice’ Leben hatte mehrere Brüche, der erste kam mit ihrer Hochzeit. Bis dahin war ihr Alltag angenehm verlaufen.35 Alles war im Überfluss vorhanden, auch schöne Kleider. »Es gibt keine hässlichen Frauen, nur schlecht angezogene«, pflegte man in Wien zu sagen, und Alice teilte diese Meinung. Wie so viele Wienerinnen der Vorkriegsgeneration liebte sie bunte Stoffe, große Hüte und üppige Schleifen. Da sie aus einer Familie stammte, die mit Textilien reich geworden war, musste sie sich um Nachschub keine Sorgen machen. Personal gab es ebenfalls im Übermaß, und das wohlhabende jüdische Bürgertum hatte vom Adel auch die Usance übernommen, Dienstleistungen »im Haus« vornehmen zu lassen. Schneider, Modisten und sogar der Raseur kamen nach Hause.36 Wenn man keine Maskenbälle oder Abendeinladungen gab, besuchte man Konzerte, die Oper oder das Burgtheater. Alice ging gerne aus, und sie war nicht unattraktiv. Ihre »Mehlspeisefigur« mit dem üppigen Dekolleté galt vor dem Ersten Weltkrieg als sehr begehrenswert. Sie hatte zwar relativ große Füße – eine Eigenschaft, die man damals den Wienerinnen nachsagte37 –, aber trotz der Füße hätte sie auf dem Heiratsmarkt durchaus Erfolge erzielen können. Ihr Interesse daran hielt sich allerdings in Grenzen. Ihre älteren Halbschwestern Sidonie (Sida) und Karoline (Karla) waren bereits verheiratet und schienen damit nicht besonders glücklich zu sein. Sidonies Ehemann Julius Rosenberg war ein charmanter Ungar, der oft den Beruf wechselte und dafür auf das Vermögen seiner Frau zurückgriff.38 Karoline hatte es nicht sehr viel besser getroffen. Sie war mit dem Buchhändler Richard Löwit verheiratet worden, der vor allem ihrem Vater gefallen hatte. Sigmund Mayer sammelte leidenschaftlich Bücher, und so machte er – mit vielen finanziellen Zuschüssen – aus seinem Schwiegersohn einen Verleger.39 Für Karoline erwies sich das Arrangement als weniger ideal, sie blühte erst wieder auf, nachdem ihr Mann gestorben war.40

Die Erfahrungen ihrer älteren Schwestern erschienen Alice also nicht sehr verheißungsvoll. Sie glaubte nicht, dass eine Ehe ihr Leben verbessern würde. Unverheiratet zu bleiben hatte hingegen viele Vorteile: Sie konnte auf eine Sprachschule gehen, weiterhin Gesangsstunden nehmen und vor allem ihre Kochkünste verfeinern. Ihr Traum war es, eine zweite Anna Sacher zu werden oder zumindest ein kleines Restaurant zu eröffnen:

Ich interessierte mich für die Gastronomie, aber wie hätte ein Mädchen aus gutem Hause damals ein Kaffee oder ein Restaurant aufmachen können? … Ich hätte gerne als Lehrling in einer von Wiens großen Konfiserien gearbeitet. Aber Mädchen wurden für diesen Beruf nicht zugelassen … Als ich 18 Jahre alt war, eröffnete eine Dame in der Nähe unseres Hauses eine sehr exklusive, snobistische Kochschule …, in der auch ein französischer Patisseriechef aus einem der feinsten Ringstraßenhotels Unterricht gab. Ich besuchte diese Schule, und die wenigen Unterrichtsstunden wurden zu einem Wendepunkt in meinem Leben. Ich hatte damals nicht die geringste Ahnung, wie wichtig sie für mich später sein würden. Dieser Cordon-bleu-Koch aus der Ringstraße brachte mir Dinge bei, die später mein Rettungsboot werden würden. Von diesem Mann lernte ich auch die großen Künste der Konditorei, und ich schätze seine Rezepte noch immer. Damals wusste ich jedoch nicht, was dieses Hobby für mich eines Tages bedeuten würde. Ich nutzte meine neuen Kenntnisse nur zum Vergnügen. Bei den Einladungen meiner Eltern bot [ich] jetzt noch ein paar extra ausgefallene Desserts an, und in die großen Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenkkörbe packte ich selbstgemachte Bonbons, Petits fours und andere Süßigkeiten.41

Sigmund sah keine Zukunft in der Herstellung von Süßigkeiten. Wie alle viktorianischen Väter entschied er darüber, welche Karrieren seine Kinder anstreben und wen sie heiraten sollten. Obwohl Alice es schaffte, einer Ehe so lange wie möglich aus dem Weg zu gehen, war ihre Schonfrist im Jahr 1912 endgültig abgelaufen. Sie war 26 Jahre alt, »ein spätes Mädchen«, als sie sich Sigmunds Entscheidung fügte. Sie heiratete den falschen Mann aus den falschen Motiven: um ihre Eltern glücklich zu machen und um den Erwartungen der Gesellschaft zu entsprechen. Im Dezember 1912 wurde Alice in der Synagoge des 18./19. Bezirks die Ehefrau von Dr. Maximilian Urbach.

Auf den ersten Blick war Max Urbach eine gute Partie. Er kam aus einer großen Familie, die Geschäftsleute, Ärzte und Juristen hervorgebracht hatte. Am 1. Juli 1908 war er in Prag zum »Doktor der gesamten Heilkunde« promoviert worden, Spezialgebiet Kindermedizin.42 Alice schrieb später, Max habe sich für sie interessiert, »weil ich ein hübsches, reiches Mädchen aus guter Familie war. Er wollte eine Praxis eröffnen und brauchte Geld.«43

Sie erklärte nie, wie sie einander kennengelernt hatten, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass Sigmund zum letzten Hilfsmittel eines besorgten jüdischen Vaters griff und einen »Schadchen« engagierte, einen Heiratsvermittler, dem man im Erfolgsfall hohe Summen bezahlte. Ein Schadchen konnte männlich oder weiblich sein, wichtig war, dass er kompatible Ehepartner auftrieb. Für großbürgerliche Familien wie die Mayers hatten die Schadchen vorzugsweise Anwälte und Ärzte im Angebot, schließlich wollte niemand seine Tochter nach unten verheiraten. Der künftige Ehemann konnte an einer solchen Heirat gut verdienen. Alice’ Mitgift belief sich auf 80 000 Kronen, damals eine enorme Summe (ein Dienstmädchen verdiente im Jahr 100 bis 300 Kronen, ein Universitätsprofessor 8000 bis 16 000).44 Falls Alice’ Ehe also wirklich durch einen Heiratsvermittler zustande kam, dann hätte die Familie Mayer guten Grund gehabt, die Kommission zurückzuverlangen. Denn Max Urbach war nicht der seriöse Schwiegersohn, der zu sein er vorgab. Er war ein Spieler, und er hatte etliche Frauengeschichten.

Alice verfasste später zwei Versionen ihrer Memoiren – eine ausführlichere für die Familie und eine sehr kurze für sich selbst.45 In der offiziellen Fassung erwähnt sie ihre Ehe nur mit ein paar Sätzen: »Nach einer siebenjährigen Ehe starb mein Mann. Ich will nicht erklären, was ich damals fühlte. Im Mittelpunkt dieser Geschichte sollen meine Taten und Abenteuer stehen, nicht meine Gefühle.«46 In der inoffiziellen Fassung wird klar, warum sie nicht ausführlicher wird. Über die Hochzeit mit Max notiert sie: »Ich habe einen sechsten Sinn, und als ich mich zum Festessen hinsetzte, hatte ich nur einen Gedanken: Oh Gott, was habe ich getan!« Die Einsicht kam ein paar Stunden zu spät. Die Hochzeitsnacht wurde zur ersten in einer langen Reihe von Ehekatastrophen: »Mein Mann hatte keine Ahnung, wie man ein unschuldiges Mädchen behandelt … er küsste oder streichelte mich nicht, es dauerte nur ein paar Sekunden, und dann rauchte er eine Zigarette und schlief ein. Ich dachte, ich muss meine Pflicht tun, aber ich habe es gehasst.«47

Alice brachte es weder in ihren geheimen noch in den offiziellen Aufzeichnungen fertig, Max bei seinem Vornamen zu nennen. Stets bezeichnete sie ihn distanziert und sehr formell als »meinen Mann«. Ein Kosewort fand sie nie, und das hatte gute Gründe. Mit Max verheiratet zu sein war nicht nur eine sexuelle Enttäuschung, es stellte sich auch als großer sozialer Abstieg heraus.

Als Elfjährige war Alice mit ihren Eltern aus der Leopoldstadt ins Döblinger Cottageviertel gezogen.48 Das »Cottage« galt als die schönste Wohngegend Wiens. In der Nachbarschaft residierten wohlhabende Geschäftsleute und berühmte Künstler. Arthur Schnitzler kaufte 1910 eine Villa in der Sternwartestraße 71, Schnitzlers Freund Felix Salten, der Autor von Bambi, lebte in der Cottagegasse 37 (Salten beriet später Alice’ kleinen Sohn bei der Aufzucht seines Hasen).49

Döbling war also etwas Besonderes, und Alice liebte ihr Zuhause. Die Villa war in einem satten Gelb gehalten, dem berühmten Schönbrunner Gelb. Alle Zimmer strahlten hell, und im großen Garten blühten Apfelbäume, unter denen man sich mit einem Buch niederlassen konnte.

Nach der Hochzeit musste Alice mit Max nach Ottakring ziehen, in einen Stadtteil, den sie bis dahin nur dem Namen nach kannte. Allein ein Wiener kann erahnen, was es 1912 bedeutet haben muss, von Döbling nach Ottakring zu ziehen. Geografisch ist die Entfernung nicht besonders groß, doch der soziale Graben zwischen den Bezirken erscheint auch heute noch unüberbrückbar.

Ottakring war das Gegenteil des Cottage. Es war ein überfülltes Arbeiterviertel mit dunklen und stickigen Wohnungen. Hier gab es weit und breit keine gelben Häuser und parkartigen Gärten, hier herrschte eindeutig tristes Grau vor. Apfelbäume pflanzte niemand an, es hätte in der Asphaltwüste auch keinen Platz gegeben. 1911 – ein Jahr vor Alice’ Hochzeit – hatte die Erhöhung von Mieten und Lebensmittelpreisen zu schweren Unruhen in Ottakring geführt. Der Bezirk galt seitdem als sozialer Brennpunkt und war sicher kein idealer Ort für eine höhere Tochter wie Alice. Auch wenn ihre neue Wohnung recht groß und komfortabel aussah, muss der Kulturschock beträchtlich gewesen sein.

Natürlich hatte Alice nicht erwartet, ein Haus in Döbling zu beziehen. Sie wusste, dass sie einen Arzt heiratete, der seine Praxis erst aufbauen, der von unten anfangen musste. Aber wie tief unten, das schien ihr nicht bewusst gewesen zu sein. Die Patienten von Max hatten kaum genug Geld, um die Miete, geschweige denn ihre Arztrechnungen zu bezahlen. Aber Ottakring weckte Alice auf. Sie sah, wie hart das Leben der Arbeiterfrauen war:

Die Arbeiterschaft lebte in schrecklichen Verhältnissen. Eine ganze Familie teilte sich nur ein Zimmer und eine Küche. Die Zimmer lagen meistens an lauten, schmutzigen Straßen, und die Küche hatte kein Fenster. Die Hausfrau musste in diesem dunklen Zimmer kochen und ihre Wäsche waschen, umgeben von all ihren Kindern. Manchmal, wenn sie gar kein Geld hatten oder der Vater arbeitslos war, nahmen sie noch einen Schlafgänger auf, der in der Küche schlief, während Vater, Mutter und die Kinder, ob krank oder gesund, nebeneinander in einem Raum lagen … Tuberkulose breitete sich in Wien aus, man nannte die Krankheit den ›weißen Tod‹. Natürlich gab es keine Badezimmer oder eigene Toiletten [nur sieben Prozent aller Wohnungen hatten einen eigenen Wasseranschluss]. Viele Familien teilten sich eine Toilette im Hof. Wegen der Toiletten und dem engen Aufeinanderleben kam es oft zu Auseinandersetzungen unter den Frauen und Schlägereien unter den Männern.50

Alice lebte zwar in einer sehr viel besseren Wohnung, aber die Tristesse von Ottakring deprimierte sie. Ihre einzige Freude in dieser Zeit war die Geburt ihres ersten Kindes: »Ich wurde sofort schwanger, und ich liebte den Kleinen, der schrecklich krank war und den ich gesund pflegen konnte … er hatte so viel Charme, ein wunderbarer Sohn.«51

Otto wurde im September 1913 geboren, zehn Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Sein erstes Lebensjahr sollte eines der wenigen Friedensjahre werden, die er erlebte. Kriege und Aufstände begleiteten ihn bis zu seinem Tod – in Wien, in China, als Soldat im Zweiten Weltkrieg und im langen Kalten Krieg. Schon in seinem Elternhaus herrschte eine permanent angespannte Stimmung. In ihren geheimen Aufzeichnungen schreibt Alice:

Otto als Kleinkind

Die ersten zwei Jahre meiner Ehe waren nicht völlig unglücklich. Aber dann brach der Krieg aus, und es gab keine Möglichkeiten mehr, Essen zu kochen. Von diesem Zeitpunkt an ging mein Mann jeden Abend in eine Kneipe, wo er aß, trank und mit einfachen Leuten Karten spielte … Ich saß zu Hause mit der Kinderschwester und tat, als würde mir das alles nichts ausmachen. Aber wie konnte sich ein jüdischer Mann so schlecht benehmen? Ich schämte mich entsetzlich, eine so schlechte Wahl getroffen zu haben, und redete mit niemandem darüber. Wem hätte ich es auch erklären können? Meine Eltern waren alt, und man sprach nicht über Dinge, die sich im Schlafzimmer abspielten.52

Schlimmer als die Schlafzimmerprobleme war Max’ Spielsucht. Nach einem berühmten Bonmot von Alfred Polgar gibt es zwei Arten von Spielern: »Die einen spielen zum Vergnügen, die anderen, weil sie Geld brauchen; zwangsläufig geht nach einiger Zeit die erste Kategorie in die zweite über.«53 Die Ehe mit Max bedeutete für Alice, dass sie ihr Leben mit einem Suchtkranken verbringen musste, der sie Stück für Stück in den finanziellen Ruin zog. Der Krieg machte die Lage nicht besser. Während Alice’ Bruder Felix wie alle jungen Männer der Familie Mayer an die Front ging, wurde Max als Regimentsarzt dem Landsturm zugewiesen.54 Aber das bedeutete auch, dass er nicht an einer fernen Front diente, sondern in Wien. Alice hätte ihn lieber sehr weit weg gewusst:

Ich kann mich nicht erinnern, wie es am Ende dazu kam, dass ich noch einmal schwanger wurde. Ich hatte versucht, es zu vermeiden, weil ich glaubte, ein von Alkohol deformiertes Kind bekommen zu können. Als ich dennoch schwanger wurde, sagte mein Mann, ich solle abtreiben, denn er sei geschlechtskrank. Mit dem Baby war an eine Scheidung nicht mehr zu denken. Wir führten völlig getrennte Leben, es war eine schreckliche Zeit.55

Um welche Geschlechtskrankheit es sich genau handelte, ob Max sie schon vor der Ehe gehabt und verheimlicht hatte, erfuhr Alice nie. Nur in einem Punkt hatte sie Glück. Weder sie noch ihr Baby waren infiziert. Im November 1917 kam ihr zweiter Sohn Karl gesund zur Welt. »Karli« wurde das völlige Gegenteil seines Vaters: ein lieber, hilfsbereiter Junge, der versuchte, seine Umgebung glücklich zu machen. Die Zeiten, in die er hineingeboren wurde, hätten jedoch nicht unglücklicher sein können.

Im Oktober 1917 war in Russland die Revolution ausgebrochen, und auch in Wien kam es immer häufiger zu sozialen Unruhen. Hunger und Krankheiten griffen um sich, die Leute waren kriegsmüde. Der neue Kaiser Karl versuchte noch, hinter dem Rücken der deutschen Verbündeten Geheimverhandlungen mit den Alliierten zu führen. Die Bemühungen scheiterten und konnten das Auseinanderfallen des Habsburgerreiches nicht mehr aufhalten.56

Obwohl sich alle nach dem Kriegsende gesehnt hatten, war die Niederlage am Ende doch ein Schock. Jegliche Sicherheiten, die Alice’ Generation gekannt hatte, existierten von einem Tag auf den anderen nicht mehr. Ihre Cousine Lily Bader schrieb darüber: »Tagelang wimmelte es in Wien vor Gerüchten und Aufregung, dennoch kam der Rücktritt des Kaisers am 11. November unerwartet. Es war schwer, sich Österreich ohne die Habsburger vorzustellen, die das Land mehr als 600 Jahre lang regiert hatten. Für uns war dieses Ereignis so seltsam, wie wenn der Mond plötzlich von seinem Posten im Himmel abgedankt hätte.«57

Nur noch die Vornamen ihrer Söhne erinnerten Alice jetzt an die Monarchie: Der ältere war nach Otto von Habsburg benannt worden, der jüngere nach dem glücklosen Kaiser Karl. Beide würden alles andere als Monarchisten werden, und auch Alice interessierte sich nach 1918 nicht mehr für liebliche Sissi-Geschichten. Sie hatte die Ottakringer Realität kennengelernt, und daran war wenig romantisch.

Der Kaiser verlor zwar über Nacht seine Autorität, doch in jüdischen Familien überlebten die Hierarchien, Revolution hin oder her, wie folgende Anekdote über Paul und Egon Erwin Kisch zeigt. Der rasende Reporter und glühende Kommunist Egon Erwin Kisch versuchte am 12. November 1918 mit der Roten Garde in das Redaktionsgebäude der Neuen Freien Presse einzudringen und stieß im Treppenhaus auf seinen Bruder Paul, Wirtschaftsredakteur der Presse. Paul versperrte Egon den Weg mit den Worten:

»Was willst du hier, Egon?«

»Das siehst du ja. Wir besetzen eure Redaktion.«

»Wer – wir?«

»Die rote Garde.«

»Und warum wollt ihr gerade die Presse besetzen?«

»Weil sie eine Hochburg des Kapitalismus ist.«

»Mach dich nicht lächerlich und schau, dass du weiterkommst.«

»Paul, du verkennst den Ernst der Lage. Im Namen der Revolution fordere ich dich auf, den Eingang freizugeben. Sonst …!«

»Gut, Egon. Ich weiche der Gewalt. Aber eins sag ich dir: ich schreib’s noch heute der Mama nach Prag.«58

Nach dieser furchteinflößenden Drohung zog sich Egon Erwin Kisch zurück. Die Authentizität dieser Geschichte ist bezweifelt worden, obwohl die Neue Freie Presse tatsächlich von der Roten Garde kurzfristig besetzt wurde. Zeitgenossen, die Mama Ernestina Kisch noch persönlich kannten, beschwören den Wahrheitsgehalt.59

Das Auseinanderfallen des Habsburgerreiches hatte auch dazu geführt, dass der preiswerte Weizen aus Ungarn und die Kohle aus der Tschechoslowakei verloren gingen. Die Wiener mussten sich nun um Tauschgeschäfte auf Bauernhöfen bemühen. Alice schreibt in ihren offiziellen Erinnerungen:

Meine Kinder hatten nie frische Milch getrunken und wussten nicht, wie eine Orange aussah oder wie Schokolade schmeckte. Sie wussten nicht einmal, wie man Brot ohne eine Rationskarte kaufte … In den Nachkriegsjahren kam es zu einem furchtbaren Kampf um Lebensmittel. Offiziell war alles noch rationiert. Wer sich den Schwarzmarkt nicht leisten konnte, hungerte oder versuchte, über die Grenze zu gehen, um seine letzten Besitztümer einzutauschen – ein Pelzmantel für ein paar Pfund Butter, ein Fotoapparat für Kartoffeln. Die Bauern nahmen kein Geld an, weil sie bereits mehr davon hatten, als sie brauchten, aber sie füllten ihre Häuser mit Dingen, die sie nie zuvor gesehen hatten. Ein Klavier, das sie nicht spielen, Abendgarderobe, die sie nicht tragen, oder wertvolle Bücher die sie weder lesen noch verstehen konnten.60

Dass Amerika eine reiche Gegenwelt darstellte, lernten die Wiener Kinder im ersten Nachkriegswinter. US-Hilfsorganisationen versorgten sie mit der »amerikanischen Ausspeisung«.61 Der Schauspieler Leon Askin war eines dieser Kinder. Er beschrieb später, welch manisch-depressive Stimmung damals in Wien vorherrschte. Schulen mussten geschlossen werden, weil sie nicht beheizt werden konnten. Die Kinder lungerten auf der Straße herum und spielten stundenlang Fußball, um nicht zu frieren. Einen richtigen Ball besaß keiner mehr, also rollte man alte Fetzen zusammen, wickelte einen Draht darum und nannte es Fetzenball.

Obwohl Askin aus einer sehr armen jüdischen Familie stammte, konnte er weiterhin am Kulturleben teilnehmen. Lebensmittel waren unerschwinglich in Österreich, Kulturereignisse aber konnte man sich leisten. Um Licht zu sparen, verlegten die Theater ihre Vorstellungen auf den Nachmittag, und um halb acht fiel der Vorhang.62 Doch das machte niemandem etwas aus. Hauptsache, man konnte aus dem Alltag fliehen. Wie Leon Askin liebte auch Otto diese Fluchten. Beide waren besonders vom Ballett begeistert. In der Staatsoper konnten sie Rotkäppchen oder Hans Christian Andersens Die roten Schuhe bewundern und die Realität für ein paar Stunden verdrängen.

Auch die Erwachsenen flohen ins Theater und kratzten anschließend etwas Geld für einen Abend im Kaffeehaus zusammen. Für Alice waren diese Ausflüge mit ihren Freundinnen überlebenswichtig:

Als ich Kind war, … wäre es völlig unmöglich gewesen, ohne Ehemann in ein Kaffeehaus zu gehen. Der Krieg änderte das alles. Die Verknappung von Essen, Elektrizität und Heizmaterial führte dazu, dass auch Frauen ins Kaffeehaus kamen, in dem es warm war und wo sie Bridge spielten, Ersatzkaffee tranken und sich ein Brötchen mit der Rationskarte leisteten. Diese Invasion von Frauen wurde von einigen Männern schwer bedauert, das Kaffeehaus war ihre Domäne gewesen.63

Aber Alice wollte ihrem Mann einfach so oft wie möglich entkommen. Die beiden waren nur noch durch Katastrophen miteinander verbunden: »1920 verlor er eine große Summe beim Kartenspiel und zwang mich dazu, mein wunderschönes Diamantarmband zu verkaufen, um seine Schulden zu bezahlen. Das war das Ende. Ich glaube, er lebte danach nur noch eine Woche, denn als er starb, hatte ich noch Geld übrig.«64

Es sollte nicht lange reichen.

Hungrige Zeiten

»Leute, genießt bloß die Nachkriegszeit. Denn bald wird sie wieder zur Vorkriegszeit.«

Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller in Wir Wunderkinder1

Wenn man in Deutschland stirbt, geht das Testament an ein Nachlassgericht. In Österreich gibt es für Nachlassakten ein anderes Wort – man nennt sie »Verlassenschaftsakten«. Die Bezeichnung hat eine leicht dramatische Note, schließlich ist Verlassenwerden in der Regel eine schmerzhafte Erfahrung. Als Max am 1. April 1920 im Alter von 44 Jahren im Wiener Sanatorium Löw starb, war Alice froh, dass er sie endgültig verlassen hatte. Sehr viel länger hätte sie den Part der zufriedenen Ehefrau nicht mehr durchhalten können. Es war eine undankbare Rolle geworden, die ausgesprochen viel Kraft kostete. Max’ Tod bedeutete eine Befreiung für Alice, aber die Erleichterung darüber hielt nur kurze Zeit an. Die Eröffnung seines Testaments zeigte ihr, dass Fassade und Realität noch weiter auseinanderklafften, als sie befürchtet hatte.

Das Testament liegt bis heute beim Wiener Stadt- und Landesarchiv. Es ist ein Schriftstück von über 50 Seiten, und wenn man es nach seinem Umfang beurteilen würde, könnte man vermuten, dass es hier etwas zu vererben gab. Die Vermutung ist falsch.

In der relativ kurzen Zeit von sieben Ehejahren hatte Max es geschafft, Alice’ Mitgift von 80 000 Kronen zu verspielen. Laut Inventur hinterließ er lediglich folgende Gegenstände:

1. Kleidung und Wäsche im Wert von 1960 Kronen, darunter befanden sich »ein dunkler, beschädigter Winterrock für 150 Kronen, ein Zylinder (50 Kronen), ein Frack (100 Kronen)«.

2. Eine goldene Uhr (1000 Kronen)

3. Bargeld (300 Kronen)

4. Arztinstrumente (Zahnzangen, Pinzetten etc.), diverse kleine Behelfe zur Geburtshilfe, ein großer und ein kleiner Untersuchungstisch, Waschtisch, Sterilisator samt Wandgestell, ein Schreibtisch

Schulden hatte Max bei Sepp Bruckner (15 Kronen); Familie Koet (30 Kronen) und beim Café Stadt Museum (115 Kronen). Geblieben waren Alice ungarische Wertpapiere und eine Police der Germania Lebensversicherung.2

Alice erzählte ihrem Vater nichts von Max’ Tod.3 Sigmund Mayer war jetzt 88 Jahre alt, und seine Tochter wollte ihm keine Aufregungen mehr zumuten. Sie konnte erahnen, wie entsetzt er auf die neueste Hiobsbotschaft aus ihrem Leben reagiert hätte. Er hatte sie mit einer großzügigen Mitgift ausgestattet, und nun, nach kurzer Ehe, waren ihr das Geld und der Mann abhandengekommen. In den Augen eines klugen Geschäftsmannes wie Sigmund Mayer war Alice eindeutig ein Verlustposten, den man abschreiben musste. Und genau das hatte er längst getan.

Es existieren unzählige Bonmots über Testamentseröffnungen. Der Emigrant Franz Marischka hat die folgende geprägt: Er und sein Bruder Georg erhofften sich jahrelang große Gewinne vom Ableben ihrer Tante Lilly. Als das Testament eröffnet wurde, telegrafierte Franz seinem Bruder: »Tante Lilly – mir nix – dir nix gestorben.«4

Ähnlich erging es Alice, als sie sieben Monate nach Max’ Tod auch noch ihren Vater beerdigte. Sigmund bekam ein imposantes Grabmal in der israelitischen Abteilung des Döblinger Friedhofes.5 Auf einem meterhohen weißen Halbkreis aus Stein prangte rechts oben Sigmunds Name. Daneben blieb noch genug Platz für seine Kinder, die hier eines Tages ebenfalls beerdigt werden sollten (dass sie alle fernab von Wien sterben würden, konnte damals niemand ahnen). Das Grab strahlt großbürgerlichen Wohlstand aus, und auch die Nachrufe, die Sigmund gewidmet waren, feierten einen erfolgreichen Mann. Die Neue Freie Presse gedachte des »kleingewachsenen, halbblinden Mann[es] … der starke Wirkung im öffentlichen Leben Wiens ausübte … und die bedeutendsten Theoretiker der Volkswirtschaft zum Aufhorchen zwang«.6

Bei der Testamentseröffnung zwang Sigmund auch seine Familie noch einmal zum Aufhorchen. Das große Mayer-Geschäftsimperium war zwar nach dem Krieg genauso untergangen wie die Habsburgermonarchie, aber anders als Max hatte Sigmund 1920 noch einige Besitztümer zu vererben. Er listete sie auch sehr genau auf, darunter waren, neben den üblichen Preziosen, die Döblinger Villa, eine große Bibliothek mit Erstausgaben sowie Wertpapiere.7 Die erste Fassung des Testaments war 1914 aufgesetzt worden. Damals belief sich sein Verm0ögen auf ca. 400 000 Kronen, die einem heutigen Wert von zwei Millionen Euro entsprechen. 1920 war es auf 190 000 Kronen geschrumpft, die jetzt nur noch einen Gegenwert von 17 556 Euro hätten. Dieses Geld sollte zu ungleichen Teilen an seine Ehefrau Pauline, an Felix und die Töchter Helene, Sidonie und Karoline gehen. Es war das Testament eines strengen Patriarchen, der das gefügigste Kind am meisten belohnt.

Über Alice stand dort: »Meine Tochter Alice hat bei ihrer Verehelichung ein Heiratsgut per achtzigtausend Kronen und Möbelausstattung im Werte von fünftausend Kronen erhalten. Überdies habe ich für sie aus Anlass ihrer Verheiratung einen Aufwand per rund fünftausend Kronen bestritten. Ich ordne daher an, dass sie aus meinem Nachlass außer das, was ihr unter IIIA zugedacht ist, weiter nichts mehr zu erhalten hat.«8

Auch Sigmunds ältester Sohn aus erster Ehe wurde abgestraft: Dr. Arnold Mayer war Germanist und Bibliothekar der Wiener Universitätsbibliothek geworden, was dem bibliophilen Sigmund eigentlich hätte zusagen müssen. Laut Felix’ Erinnerungen litt Arnold jedoch »unter jüdischem Selbsthass« und war konvertiert. Für Sigmund scheint damit die Liebe zu seinem ältesten Sohn beendet gewesen zu sein.9 Arnold bekam nur einen Pflichtteil, während Helene, Sigmunds jüngstes Kind, am großzügigsten bedacht wurde. Mit ihr hatte er seine Manuskripte und Artikel besprochen, sie war das kluge Wunderkind geworden, das er sich immer gewünscht hatte. Aus diesem Grund vermachte er ihr neben Geld auch ein besonderes Souvenir: »Meiner Tochter Helene hinterlasse ich zum Andenken meinen Ehering für ihren zukünftigen Gatten. Möge er ihr Glück bringen.«10

Doch obwohl ein paar seiner Kinder ansehnlich erbten, war das Geld bald nicht mehr viel wert. Die Inflation in Österreich stieg nach Sigmunds Tod immer rasanter. 1914 entsprach eine Krone noch dem Wert von 5,12 Euro. 1923 hätte man für 10 000 Kronen gerade einmal 4,37 Euro bekommen. Als Sigmunds Erben 1922 ihr Geld endlich ausgezahlt bekamen, war sein Barvermögen nicht mehr wert als magere 193 Euro.11 Die Inflation hatte alles aufgefressen.

Die Testamentseröffnung bestätigte, was Alice natürlich bereits wusste: Sigmund hatte sie nicht geliebt, und ihre finanzielle Lage blieb desaströs. Ihr sozialer Abstieg schien nun unausweichlich. Sie war eine 34 Jahre alte Witwe ohne Geld. Kein Mann, der bei klarem Verstand war, würde sich eine mittellose Frau mit zwei kleinen Söhnen aufhalsen. Alice musste einen Weg finden, ihre Kinder zu ernähren. Aber ihr fehlte das Selbstvertrauen:«Ich war der Überzeugung, nichts gelernt zu haben, mit dem man Geld verdienen konnte. Ich hatte Gesangsstunden und Klavierstunden gehabt. Ich war mit meinen Eltern viel gereist und hatte dadurch auf angenehme Weise etwas über Kunst gelernt. Es war die übliche Ausbildung für höhere Töchter, die kein Talent für irgendetwas haben.«12

Vorübergehend profitierte Alice von einem Nachkriegsproblem – der großen Wohnungsnot. Sie konnte Untermieterinnen aufnehmen, »denen ich das große Wohnzimmer vermietete, das ich nicht brauchte. Sie bezahlten in tschechischen Kronen, die viel mehr wert waren als österreichische Kronen und Schillinge. Die Mädchen waren Freundinnen, die sich zu dritt oder viert das Zimmer teilten. Ich brachte ihnen bei, für ihre Geburtstagspartys Kuchen und Kekse zu backen.«13 Das gemeinsame Backen half Alice. Kochen gab ihr immer ein Gefühl von Sicherheit.

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