DAS HAUS DER MONSTER - Danny King - E-Book

DAS HAUS DER MONSTER E-Book

Danny King

4,5

Beschreibung

Es gibt ihn in jeder Kleinstadt: Den verrückten alten Sonderling, der allein in einem unheimlichen Haus lebt, das fast so heruntergekommen ist wie er selbst. In dem englischen Städtchen Thetford ist sein Name John Coal. Aber als die Jungen aus der Nachbarschaft anfangen, dem eigenbrötlerischen Alten immer dreistere Streiche zu spielen, müssen sie feststellen, dass sie sich mit dem Falschen angelegt haben. Denn John Coal hat mehr als eine Leiche im Keller. Zu den dunklen Geheimnissen, die er bewahrt, zählen seine Abenteuer mit Serienmördern, Werwölfen, Dämonen, Geistern und manisch-depressiven Vampiren. Und es wäre ein Fehler, einen Mann zu unterschätzen, der all dies überlebt hat … Der britische Autor Danny King erzählt John Coals geheimnisvolle Lebensgeschichte in vier Episoden: düster, spannend und mit viel schwarzem Humor.

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Das Haus der Monster

Danny King

This Translation is published by arrangement with Danny King Title: The Monster Man of Horror House. All rights reserved.

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Impressum

überarbeitete Ausgabe Originaltitel: THE MONSTER MAN OF HORROR HOUSE Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Heike Schrapper

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-184-4

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhalt
Das Haus der Monster
Impressum
Kapitel 1 | Das vorletzte Haus auf der linken Seite
Kapitel 2 | Nächtliche Besucher
Kapitel 3 | Böse Kinder kommen in den Keller
TEIL 1 | WIE DER VATER, SO DER SOHN
Kapitel 4 | Aufkeimendes Interesse
TEIL 2 | MÖRDERMOND
Kapitel 5 | Die Meinungen sind geteilt
TEIL 3 | DER SCHWARZE FLECK
Kapitel 6 | Da war es nur noch einer
TEIL 4 | WIE DIE MUTTER, SO DIE TOCHTER
Kapitel 7 | Gute Nacht und schlaft schön
Epilog| Die Monster sind unter uns
Über den Autor
Begriffserklärungen
LUZIFER Verlag

Kapitel 1 | Das vorletzte Haus auf der linken Seite

In jeder Stadt, in jedem Viertel gibt es so ein gruseliges altes Haus: heruntergekommen, zugewuchert, vernachlässigt und vergessen. Bewohnt wird es in der Regel von einem gruseligen alten Mann, der mehr oder weniger den gleichen Eindruck macht. Vergammelt, verwittert und mit bröckelnder Fassade schlurft dieser alte Mann durch die Gegend und kümmert sich um seinen eigenen Kram, wie zum Beispiel das Durchwühlen der Bauschuttcontainer in der Nachbarschaft. Wenn er und sein muffiger Geruch kommen, um die Rente abzuholen, lichtet sich unweigerlich die Schlange vor dem Postschalter.

Die Tatsache, dass er von allen als verschrobener Sonderling angesehen wird, ist ihm beneidenswerterweise überhaupt nicht bewusst. Er selbst hält sich für einen ruhigen, anspruchslosen Gesellen, unaufdringlich und weise – zwar ein Einzelgänger, aber auch ganz schön ausgefuchst. Und höchstwahrscheinlich macht er den klassischen Fehler zu denken, dass er sich einfach nur aus den Angelegenheiten anderer heraushalten muss, damit die anderen sich auch aus seinen heraushalten.

Wenn es doch bloß so einfach wäre!

Es hat ein paar Monate gedauert, bis ich herausfand, dass der gruselige alte Sonderling in meiner Straße ich selbst war.

Bis dahin hatte ich mich einfach nur als John betrachtet: hart arbeitend, konservativ, sparsam und alleinstehend. An heißen Tagen vielleicht ein wenig streng riechend, aber was machte das schon, wenn ich sowieso allein lebte? In meinem eigenen Haus konnte ich schließlich riechen, wie ich wollte. Davon abgesehen hatte ich mal irgendwo gelesen, dass Seife die Pheromonausgänge verstopft, und die sind es doch wohl, was die Frauen feucht im Schritt werden lässt, nicht Rasierwässerchen und Herrendüfte und dieser ganze tuntige Mist. Wobei mich so ein Schnickschnack wie Frauen sowieso nicht mehr interessierte. Meine Libido war wie meine alte Armee-Faustfeuerwaffe: irgendwo in einem Karton unter einem Haufen altem Scheiß vergraben, und seit damals in Aden nicht mehr abgefeuert worden. Aber ich war zufrieden mit meinem Los. Ein bisschen im Schatten vor mich hinwerkeln, die Welt da draußen auf Abstand halten und ein paar Pennys für das Alter auf die Seite legen, das war alles, was ich wollte.

Ich war 1972 in dieses Haus gezogen, das damals ein schickes Reihenendhaus mit Garage und Garten gewesen war. Es hatte mich die stolze Summe von dreitausend Pfund gekostet, und obwohl ich nie den Rasen gemäht, die Dachrinne gesäubert oder die Fenster geputzt hatte, nahm ich doch an, dass es seitdem nicht an Wert verloren hatte.

Als einsamer alter Kauz zu enden, dessen einziger Lebensinhalt im Leeren von Dosen mit Ochsenschwanzsuppe bestand, hatte ich nie geplant. Ich meine, wer will das schon? Aber so war es nun mal gekommen. Als ich jung war, nicht mehr als ein Dreikäsehoch, träumte ich davon, zur See zu fahren, die Welt zu sehen und unbekannte Länder zu entdecken. Tja, weiter weg von diesen Träumen hätte ich wohl nicht enden können. Wahrscheinlich hatten meine Pläne einfach irgendwann Schiffbruch an den Klippen des Schicksals erlitten – aber wenn man ehrlich ist, geht es wohl den meisten Menschen so.

Wie dem auch sei, da mein sozialer Abstieg ein langsamer gewesen war, und nicht etwa ein spektakulärer Sturz aus großer Höhe, war mir erst gar nicht bewusst, dass mein Ansehen ungefähr auf einer Stufe mit dem des Schrottplatzköters rangierte. Jedenfalls bis die Kids aus der Nachbarschaft anfingen, sich für mich zu interessieren – immer ein untrügliches Zeichen dafür, dass man nicht gerade den Respekt der Gemeinde genießt. Über die Tatsache, dass ausgerechnet mir die zweifelhafte Ehre zuteilgeworden war, als Ziel ihrer Streiche zu dienen, wurde ich nicht lange im Unklaren gelassen. Gespenstisches Klopfen ertönte zu jeder Tages- und Nachtzeit an meiner Haustür, Stimmen flüsterten im verschlungenen Dschungel meines Gartens und die gelieferte Milch wartete nicht länger auf der obersten Stufe, bis ich sie hereinholte, sondern wurde mir im Morgengrauen direkt durch den Briefschlitz geschüttet. Was für Witzbolde!

Nachdem ich diesen Unfug vier Wochen lang ertragen hatte, warf ich einen langen, prüfenden Blick in den Spiegel und musste schließlich bestürzt erkennen, dass ich der seltsame alte Kauz von Thetford war.

Wie schon gesagt, in jedem Viertel gibt es einen. Zu meiner Zeit hieß er Harold und wohnte in einer Kate am Ende unserer Straße. In Ypres war er einer deutschen Granate in den Weg gelaufen, und deshalb sah er wie ein Monster aus, mit Hakenhänden und einem Gesicht, das irgendwie falsch zusammengesetzt wirkte. Ich und meine Freunde hatten furchtbare Angst vor ihm und dachten uns schreckliche Geschichten darüber aus, welches Schicksal einem Kind drohte, das ihm in die Klauen fiel. Das führte unweigerlich dazu, dass wir nachts in seinen Garten schlichen, um unseren Mut beim Zertrampeln von Harolds Tomatenpflanzen zu beweisen. Wenn wir anschließend über die Mauer kletterten und in der Dunkelheit verschwanden, schimpfte er jedes Mal laut hinter uns her. Wir hielten dieses Gebrüll natürlich für die Raserei eines Mörders, dem wir ganz knapp entkommen waren, bevor er seine Pasteten mit unserem Fleisch füllen konnte.

In Wirklichkeit wollte er wohl nur, dass wir abhauten und nicht mehr in seine Gießkanne pinkelten. Der arme alte Harold; auf dem Schlachtfeld war er durch die Hölle gegangen und nicht einmal zu Hause, im hohen Alter, ließ man ihm seine Ruhe.

Seltsam, seit fünfzig Jahren hatte ich nicht mehr an ihn gedacht, bis die Streiche vor meiner eigenen Haustür anfingen. Und in dem Moment wurde mir klar, dass ich seine Reinkarnation war.

Natürlich hatte es keinen Sinn, sich bei den Eltern der Blagen zu beschweren. Die würden sowieso nichts tun.

Mein Tommy macht so was nicht, und erzählen Sie mir bloß nichts anderes, Sie alter Wichser. Los, verpissen Sie sich von meinem Grundstück! Sie stinken!

So etwas hätte es früher nicht gegeben. Hätte sich zu meiner Zeit ein Nachbar über mich beschwert, hätte mein Vater mir sofort eins mit dem Gürtel übergezogen. O ja, damals wurde den Kindern noch Respekt vor dem Alter beigebracht – vielleicht mal abgesehen von dem armen Harold. Er hatte sich bei jedem beschwert, aber niemand hatte auch nur im geringsten Notiz von ihm genommen. Ich vermute, keiner will was mit einem Sonderling zu tun haben, ob jung oder alt, denn Sonderlinge beschweren sich immer über irgendwas, seien es die Kinder im Gemüsebeet oder die Katholiken im Stadtplanungsbüro. Warum sollte man so jemandem nachgeben? Kurzer Prozess und die borstige Seite des Besens, das ist alles, was die verstehen.

Ich kann das durchaus nachvollziehen. Ehrlich. Bei objektiver Betrachtung kann ich absolut nicht ausschließen, dass ich mir selbst auch nicht zugehört hätte, wenn ich mein Nachbar gewesen wäre. Aber das machte die Gleichgültigkeit meiner Nachbarn nicht erträglicher, besonders nachdem meine Mülltonnen anfingen, einen Tag vor der Leerung auf dem Gartenweg Kopfstand zu machen. Diese kleinen Arschlöcher!

Es wurde so schlimm, dass ich schon darüber nachdachte, zur Polizei zu gehen. Aber diese Idee verwarf ich schnell wieder. Die Behörden und ich kommen nicht besonders gut miteinander aus. Ich mag es nicht, wenn sie in meinen Privatangelegenheiten herumschnüffeln – besonders nicht diese Fischfresser im Stadtplanungsbüro. Also ergriff ich die einzige Möglichkeit, die mir blieb, und nahm die Schädlingsbekämpfung selbst in die Hand.

Einer der vielen Vorteile meiner Lebensweise ist es, dass ich immer genügend Material für jegliches Vorhaben parat habe, sei es im Garten einen Hühnerstall zusammenzuzimmern, einen alten Staubsauger zu reparieren oder im Keller eine Guillotine zu bauen. Also schlug ich Nägel in Wände, zog Drähte über Flaschenzüge und montierte Bolzen an Türen, bis ich eine zufriedenstellende Lösung für meine Sorgen geschaffen hatte.

Meine Falle war fertig.

»So sollte es klappen«, murmelte ich und bewunderte mein Werk, während ich mir eine Körperreinigung mit dem Taschentuch gönnte. »Fehlt nur noch ein Köder.«

Drei Nächte lang ließ ich einen Fünfer offen auf dem Wohnzimmertisch liegen, aber niemand brach ein, um ihn zu klauen. Offensichtlich war eine weniger subtile Herangehensweise vonnöten. Ich kramte den alten Filzhut meines Vaters hervor.

Mein Vater hatte sein Leben lang Melone getragen. Ich selbst war von dieser Mode verschont geblieben, deshalb war der Hut in den letzten vier Jahrzehnten im hinteren Schlafzimmer verstaubt. Aber jetzt war seine Zeit endlich gekommen. Ich fischte ihn vom Kleiderschrank, wischte den Rand mit meiner Hemdmanschette ab und setzte ihn mir in einem kecken Winkel auf den Kopf. Und was soll ich sagen? Als ich mich in der Diele im Spiegel bewunderte, musste ich zugeben, dass ich wie ein totaler Schwachkopf aussah. Nun, Melonen sind wohl nicht ohne Grund aus der Mode gekommen.

Als Nächstes griff ich nach meinem Mantel und dem Einkaufskorb. Da ich eine ziemlich genaue Vorstellung davon hatte, wer die kleinen Gangster waren, die mich so piesackten, und auch, wo ich sie finden würde, machte ich mich klar zum Gefecht und setzte Kurs in Richtung Supermarkt.

Einen Vorteil hat es immerhin, wenn man im Ort als verrückter Sonderling gilt: Man kann sich auch wie einer anziehen. Und deshalb wurde ich trotz meines extravaganten Kopfschmucks keines Blickes gewürdigt – jedenfalls, bis ich auf die miesen kleinen Ratten traf, die in einer Gasse neben dem Supermarkt Zigaretten schnorrten. Unterdrücktes Kichern, Gejohle und spöttische Rufe aus ihrer Richtung verrieten mir, dass sie mich zur Kenntnis genommen hatten. Ich zog vor ein paar verwirrten Kunden den Hut und begab mich in das Geschäft, um zu sehen, welche Schätze ich aus dem Regal mit den verbeulten Dosen heben könnte.

Während der nächsten Tage trieb ich mich oft im Ort herum, immer mit der Melone auf dem Kopf und immer im Sichtfeld meiner Plagegeister. Sie schlichen mir hysterisch kichernd hinterher und gingen irgendwann dazu über, sich aus McDonald's-Tüten Kopfbedeckungen zu formen, die wohl meiner eigenen ähneln sollten. Offensichtlich fanden sie das alles enorm unterhaltsam, daher trug ich den Hut weiter, bis sie sich einen Sport daraus machten, ihn mir abwechselnd vom Kopf zu stoßen und selbst eine Runde damit zu drehen.

In der Gewissheit, die bestmögliche Vorarbeit geleistet zu haben, platzierte ich die Melone schließlich zu Hause auf der Fensterbank, schön nach vorne raus, mit direktem Blick auf die Straße (jedenfalls wenn man sich die überhängenden Äste des Nussbaums wegdachte) und machte mich bereit für eine arbeitsreiche Nacht.

Kapitel 2 | Nächtliche Besucher

»Hast du ihn schon?«

»Nee, das Scheißding ist auf den Boden gefallen. Komm, halt das Fenster offen, ich geh rein.«

»Tommy, mach das nicht!«

»Fick dich doch, du feige Memme.«

»Halt die Fresse, ich bin keine Memme.«

»Dann beweis es mir.«

»Ihr haltet jetzt alle die verfickte Fresse, sonst wird die alte Vogelscheuche noch wach.«

»Ich hab nichts gesagt, das war Farny.«

»Scheiß Petze.«

»Fick dich!«

Der Anführer der Bande kletterte durchs Fenster und ließ sich ins Zwielicht meines Wohnzimmers fallen. Kaum in der Lage, einen Begeisterungsschrei zu unterdrücken, grapschte er nach dem alten Hut meines Vaters und reichte ihn durch das offene Fenster an seine Kumpel weiter.

»Hab ihn! Hier, nehmt das Ding!«, flüsterte er aufgeregt und kraxelte zurück auf die Fensterbank, um von dort den Rückzug anzutreten. Die Jungen draußen kicherten triumphierend. Reihum setzten sie sich den Hut auf die Köpfe, bis sie plötzlich merkten, dass ihr Anführer noch nicht zurück war.

»Tommy, kommst du jetzt raus oder was ist?«

»Wartet. Seht euch das mal an«, antwortete der und deutete auf das andere Ausstellungsstück, das ich dort extra für meine nächtlichen Besucher platziert hatte.

Ein paar Meter vom Fenster entfernt hatte ich ein paar der größeren Müllhaufen zur Seite geschoben, um ein Stück Teppich ans Tageslicht zu holen. Meine gute alte Auslegeware hatte seit 1982 keine Luft mehr geschnappt, und auch diesmal war ihr keine längere Atempause vergönnt, denn ich hatte meinen Köder aus dem Keller gehievt und an ebendieser Stelle abgesetzt. Von den überwucherten Unkrautbeeten meines Vorgartens aus war das Objekt kaum zu erkennen, aber wenn man erst einmal im Haus war, stach es ins Auge wie ein rostiger Nagel.

»Das ist ein Sarg!«, erklärte Tommy seiner Gang.

»Was?«, kam die Antwort.

»Ein Sarg! Der Spinner hat einen verfickten Sarg in seinem Wohnzimmer!«

»Wo?«

»Ich seh nix.«

»Du lügst doch.«

Tommy nahm seinen ganzen Mut zusammen und bewegte sich vorsichtig auf den Sarg zu, immer darauf bedacht, zwischen all dem Gerümpel nicht zu stolpern und beim ersten verdächtigen Geräusch die Flucht zu ergreifen.

»Was ist da drin?«

»Tommy, mach das nicht. Lass uns abhauen.«

»Schnauze, Memme!«

Tommy ignorierte seine Kumpel und näherte sich weiter dem Sarg, bis er in Reichweite des zerkratzten alten Zedernholzdeckels war. Auf makabre Weise fasziniert betastete er den Rand auf der Suche nach einem Verschluss.

»Tommy, was machst du denn?«, rief eine dünne, ängstliche Stimme von draußen, aber Tommy, der Abenteurer, war gerade in Grabräuberstimmung. Er mühte sich an dem schweren Deckel ab, bis er ihn tatsächlich einen Spalt breit angehoben hatte. Nach wenigen Zentimetern verhinderten allerdings die schweren Schrauben, die ich in die Scharniere getrieben hatte, ein weiteres Öffnen.

Eine jähe Bewegung innerhalb des Sarges führte dazu, dass Tommy den Deckel fallen ließ und erschrocken zurücktaumelte.

»Oh mein Gott!«, quiekte er. Mit ein paar hektischen Sätzen hatte er sich auf die Fensterbank gerettet, wo er seinen Mut schließlich wiederfand. In derselben Zeit hatten es seine Freunde schon wesentlich weiter gebracht: Sie waren praktisch schon wieder zu Hause und in ihre Schlafanzüge gesprungen, bis schließlich die Neugier, gepaart mit dem Ausbleiben jeglicher Reaktion durch den Hausbesitzer, dazu führte, dass es um meinen Sarg herum wieder lebhafter wurde. Jetzt waren schon zwei von ihnen im Haus.

»Du hebst ihn an, ich gucke rein.«

Tommy ließ sich auf die Knie fallen und drückte ein Auge gegen den Spalt.

»Ach du Scheiße!«, jaulte er, als sich im Inneren wieder etwas bewegte. Tommy fiel auf den Hintern, krabbelte zum Fenster und über seinen Kumpel, der schon auf halbem Weg nach draußen war.

Dieses Mal dauerte es eine geschlagene Stunde, bis sie zurückkamen. Drei von ihnen kletterten durchs Fenster – erst Tommy, dann der Junge, den sie Farny nannten, und schließlich ein Rotschopf – sodass nur der kleinste von ihnen draußen zurückblieb, wo er protestierend vor sich hin schniefte und flennte.

»Was ist das?«, fragte Farny, der den Deckel, so weit es ging, hochhielt.

»Keine Ahnung, aber es ist voll gruselig«, erwiderte Tommy, und Rotschopf, der neben ihm kniete, gab ihm recht.

»Glaubt ihr, das ist der Alte selber und er schläft hier drin oder so?«, fragte er, woraufhin Farny seine Finger wegzog und den Deckel fallen ließ – sehr zum Nachteil der Nasen seiner Freunde.

»Du verfickter Arschidiot!« Tommy stöhnte und hielt sich die blutige Masse, die von seinem Gesicht übrig geblieben war, bis er feststellte, dass das Feuchte gar kein Blut war, sondern bloß Tränen. »Blöder Penner!«

»Es ist ein Mädchen«, sagte der Rotschopf und hielt den Sargdeckel lange genug offen, um noch einen Blick hineinzuwerfen.

»Tommy, bitte, lass uns nach Hause gehen«, schluchzte der vierte der Musketiere durch das offene Fenster.

»Barry, komm rein hier«, war alles, was er zum Lohn für seine Mühen zurückbekam.

»Nein, ich mag nicht.«

»Feige Memme!«, war Farnys Einschätzung und Rotschopf stimmte zu.

»Er pisst sich gleich in die Hose.«

»Tu ich gar nicht, ich will bloß nach Hause«, jammerte der Kleinste, aber Tommy ließ sich nicht umstimmen.

»Barry, du kommst jetzt sofort hier rein oder du darfst nie wieder mit uns abhängen.«

»Das sage ich Mama«, drohte Barry, löste damit aber lediglich verächtliches Gelächter aus. Schließlich brachte er die anderen auf die einzig mögliche Weise zum Schweigen, die ihm noch blieb: Er kletterte durch das Fenster. Zu sagen, dass er dabei äußerst widerwillig vorging, wäre die Untertreibung des Jahres. Jede panische Schmeißfliege schafft es schneller durch ein Fenster als Barry in diesem Moment, aber schlussendlich war er bei seinen Freunden angekommen und konnte seine Bedenken aus der Nähe äußern, wenn auch seine Stimme vor Angst inzwischen so hoch war, dass ihn wahrscheinlich nur noch Hunde oder Superman verstehen konnten.

»Guck in den Sarg, Barry«, befahl Tommy. Er hob den Deckel – und ebenso das Ausmaß der Angst, die sein kleiner Bruder verspürte – an, bis es nicht mehr ging.

Es folgten ein paar Strophen des alten Liedes (Memme/garnicht/Fressehalten/jetztmachschon), bevor Barry durch den Schlitz spähte, scharf die Luft einzog und die anderen endlich Ruhe gaben.

»Wer ist das?«, fragte er mit zittriger Stimme, doch die anderen bekamen keine Gelegenheit zu antworten, denn genau in diesem Moment zog ich an der Schnur und das Fenster, durch das sie hereingekommen waren, knallte zu.

Mit qualmenden Socken traten die Jungs die Flucht an, aber das Fenster war nun fest verschlossen – und außerdem mit Plexiglas verstärkt, damit sie nicht die Scheiben einschlagen konnten.

»WAS WOLLT IHR HIER?«, dröhnte ein Tonband aus den Schatten des Raumes. Die Stimme scheuchte die Bande in Richtung der offenen Tür, von wo sie, in jämmerlicher Panik übereinander stolpernd, in den Flur purzelten. Dort versperrten zwei Kistenstapel sowohl den Vorder- als auch den Hinterausgang. Eine dritte Tür jedoch stand einladend offen und versprach Schutz vor der immer wütenderen Stimme, die aus einem halben Dutzend strategisch im Haus verteilter Lautsprecher schallte.

»WO IST MEINE AXT?«

»Hier rein!«, rief Tommy und alle folgten ihm, ohne auch nur eine Sekunde lang nachzudenken.

Als sie kaum zwei Schritte in den Keller getan hatten, stellte die Bande fest, dass es keinen Weg nach draußen gab, aber da war es sowieso zu spät. Die Tür schlug zu und die Treppenstufen klappten ein, wurden zu einer glatten Rutschbahn, die sie geradewegs ins Dunkel stürzen ließ.

»Hab ich euch«, gluckste ich zufrieden, schob von außen den schweren eisernen Riegel vor und lauschte dem Chor der Angstschreie.

Kapitel 3 | Böse Kinder kommen in den Keller

Ich ließ sie eine halbe Stunde lang in der Dunkelheit schmoren, bevor ich zur Kellertür zurückkehrte. Die menschliche Einbildungskraft ist eine mächtige Waffe und ich wollte, dass die jugendlichen Gehirne meiner Gäste gut auf das Programm, das ich ihnen darzubieten beabsichtigte, vorbereitet waren. Ich schob den Riegel zur Seite und leuchtete mit einer Taschenlampe ins Dunkel. Farny und Rotschopf hatten sich auf dem Fußboden aneinandergekauert und heulten sich die Augen aus. Sie hatten sozusagen die weiße Flagge gehisst und waren offensichtlich entschlossen, ihrem Schöpfer so wenig würdevoll wie möglich gegenüberzutreten (na gut, sie waren ja auch erst zwölf), während Tommy eine Maurerkelle umklammert hielt und sich schützend vor seinem kleinen Bruder aufbaute. Geblendet vom Licht der Taschenlampe drehten Farny und Rotschopf die Heul-Lautstärke auf. Tommy versuchte währenddessen, mit seiner Kelle Löcher in die Luft zu sensen.

»Lass uns raus, du Pisser! Lass uns raus oder wir rufen die Bullen!«, drohte er.

»Warum habt ihr das dann nicht schon getan?«, fragte ich. Die Antwort kannte ich natürlich längst. Ich hatte den Großteil meiner Bleivorräte im Zimmer direkt über dem Keller auf dem Fußboden angehäuft, was bedeutete, dass ihre Handys ungefähr die gleiche Chance auf ein Netz hatten wie mein Haus auf eine Fotostrecke in Schöner Wohnen.

»Funktionieren die Handys etwa nicht, Jungs?«, kicherte ich.

»Ich will nach Hause«, schniefte Barry, unfähig sich noch länger zu beherrschen.

»Das kann ich mir vorstellen«, knurrte ich. »Nur leider bekommt man im Leben nicht immer, was man will.«

Die Stufen vor mir hatten sich im 45-Grad-Winkel eingeklappt und die Kellertreppe dadurch in eine spiegelglatte Rutschbahn verwandelt. Ich hielt meine alte Automatikpistole in den Lichtkegel der Taschenlampe und dirigierte die Jungen vom Fuß der Treppe weg.

»An die Wand. Los, Bewegung. Wenn ihr tut, was ich sage, lasse ich euch vielleicht lebend hier raus«, ermunterte ich sie.

Die Jungs begaben sich zur hinteren Wand, wo ich sie dazu überredete, sich auf ein angeschlagenes, zerfetztes Sofa zu setzen, von dem ich schon vergessen hatte, dass es überhaupt existierte, bis ich das ganze verdammte Blei nach oben geschleppt hatte. Ich legte einen Hebel an der Wand am Kopf der Treppe um und die Stufen vor mir klackten zurück in eine benutzbare Treppenform. Vorsichtig stieg ich hinunter, den Lauf meiner Browning immer auf die Bande gerichtet. Auf dem Boden des Kellers angelangt, tastete ich nach dem Lichtschalter, der hinter einem Regal versteckt war. Eine 40-Watt-Glühbirne in der Ecke flammte auf. Den Lampenschirm für diese Birne bildete ein alter Schafsschädel. Als das Licht durch die Augenhöhlen und das grinsende Maul brach, stöhnten die vier Jungen kollektiv erschrocken auf, also wies ich sie an, still zu sein, sonst würde ich auch aus ihren Schädeln Lampenschirme machen.

Ich zog ein umgedrehtes Ölfass ans Sofa heran und setzte mich darauf, bevor mein verfluchter Rücken mich noch umbrachte.

»Na dann«, sagte ich. »Rausziehen!«

Ihrem Gesichtsausdruck nach mussten sie wohl »ausziehen« verstanden haben, deswegen zeigte ich auf die linke Seite des Sofas, wo Tommy einen langen Ledergurt in der Ritze zwischen Sitzfläche und Lehne fand, dessen eines Ende am Holzrahmen des Möbels festgemacht war. Mit etwas Überzeugungsarbeit brachte ich ihn dazu, das andere Ende weiterzugeben, sodass Rotschopf, der rechts außen saß, den Gurt an einem Haken befestigen konnte, den ich unterhalb der Armlehne eingeschraubt hatte. Es war nicht gerade der Sicherheitsgurt von Hannibal Lecter, aber es würde sie davon abhalten, sich sofort auf mich zu stürzen, sollte ich mich mal kratzen müssen.

»So, Jungs, dann fangen wir doch am besten mit euren Namen an, okay?«

Tommy erklärte, von ihm würde ich gar nichts erfahren, was einerseits bewundernswert widerspenstig, andererseits ziemlich sinnlos war, wenn man bedachte, dass er eine Baseballkappe mit dem Schriftzug Tommy trug. Barry dagegen sang wie ein Vögelchen, ebenso Farny und Rotschopf, die sich als Ralph Farnsworth (von seinen Freunden Farny genannt) und Colin Dunlop (von Freund und Feind Ginger genannt) herausstellten.

»Ich heiße John Coal«, erklärte ich ihnen, wobei ich die Waffe senkte und in meiner Jacke nach der Pfeife suchte. »Und das Haus, in das ihr eingebrochen seid, ist mein Eigentum.«

»Sie lassen uns jetzt sofort gehen, sonst sag ich's meinem Vater«, drohte Tommy erneut.

»Dann sag's ihm doch«, entgegnete ich. »Na los, geh und erzähl's ihm.«

Tommy blieb einen Moment lang stumm, während die Hemmnisse, die der Verwirklichung dieser Drohung entgegenstanden, in seinem Kopf rotierten.

»Wenn ich euch nicht gehen lasse, kannst du deinem Papa wohl schlecht irgendwas erzählen, oder?«, gab ich zu bedenken.

Tommy antwortete nicht, stattdessen appellierte sein kleiner Bruder Barry, der den Ernst der Lage anscheinend besser einzuschätzen wusste, an mein Gewissen und bat um Gnade. So ist das mit Kindern; bis sie zehn Jahre alt sind, kann man ihnen mit Gartenschere und Heckentrimmer hinterherlaufen und sie glauben allen Ernstes, dass man ihnen die Beine abschneiden wird, wenn man sie erst gefangen hat. Aber sobald sie in dieses furchtbare Teenager-Alter kommen, entwickeln sie über Nacht ein Gespür für das englische Strafrecht. Tommy wusste in seinem Alter wahrscheinlich – oder glaubte, es wenigstens zu wissen – dass ich ihnen nicht wirklich etwas tun konnte, nicht in echt, jedenfalls nicht, ohne Strafverfolgung, Verurteilung und Gefängnis zu riskieren. Aber dieses Halbwissen ist gefährlich, denn ab und zu kommt es vor, dass so ein großspuriger junger Heißsporn auf einen unberechenbaren alten Sack trifft, der eben nicht nur labert. Und dann hat er seine letzte Geburtstagskerze ausgeblasen, da hilft ihm kein Strafgesetzbuch der Welt mehr. Jetzt war es an mir, meine Gäste zu überzeugen, dass ich genau dieser unberechenbare alte Sack war.

»Tut mir leid, Jungs, nehmt es nicht persönlich, aber ich kann nun mal nicht dulden, dass irgendwelche kleinen Petzen in meinem Haus und Hof rumschleichen. Ich habe viel zu viele Leichen im Keller, und wenn ihr ihnen nicht Gesellschaft leisten wollt, dann solltet ihr mir besser aus dem Weg gehen, zu eurem eigenen Besten.«

»Was für Leichen?«, fragte Farny, als ob ich ihm das nach dem ganzen Sermon auf die Nase binden würde.

»Die dunkelsten Geheimnisse; Mord und Tod, Blut und Dämonen«, zischte ich, mir die sprichwörtliche Taschenlampe unters Kinn haltend. »Deswegen bin ich überhaupt in dieses erbärmliche Kaff gekommen: um all die Schrecken hinter mir zu lassen. Und deswegen lebe ich so zurückgezogen, nicht auf eigenen Wunsch, sondern um die Menschen um mich herum zu schützen. Denn wenn meine Geheimnisse jemals ans Licht kämen, würde es Tod und Verderben für diese ganze gottverlassene Gegend bedeuten.«

»Sie labern doch nur«, sagte Tommy. »Mein Vater meint, Sie sind bloß ein alter Penner, der zufällig ein Haus hat. Und wenn ich nicht enden will wie Sie, soll ich endlich die Schule schmeißen und mit ihm auf den Bau gehen.«

So sehr ich es schätzte, an Tommys elterlicher Karriereberatung teilhaben zu dürfen, merkte ich doch, dass meine Redekunst verschwendet war, sollte ich nicht mit ein paar stichhaltigen Einzelheiten aufwarten. Daher steckte ich meine Pfeife an, nahm einen tiefen Zug, vernebelte die abgestandene Kellerluft mit einer blaugrauen Wolke und bedachte die weitere Vorgehensweise.

»Ist das so?«, überlegte ich dann laut. »Ich dachte immer, gerade Väter erzählen ihren Kindern allen möglichen Blödsinn. Mein eigener Vater war da keine Ausnahme, und ausgesprochen überzeugend. Natürlich ist er längst tot, er starb vor vielen Jahren. Aber als er noch lebte, hätte ich alles für ihn getan. Einfach alles. Oder wenigstens fast alles …

TEIL 1 | WIE DER VATER, SO DER SOHN

I

Mein Vater, Reginald Coal, war ein außergewöhnlicher Mann; umso mehr, wenn man seinen außerordentlich schwierigen Start ins Leben bedachte. Von seiner unverheirateten Mutter ausgesetzt und sich selbst überlassen in den blutgetränkten Laken, in die er geboren worden war, grenzte es an ein Wunder, dass man ihn überhaupt gefunden hatte, bevor die Kälte des Winters seinem kurzen Leben ein Ende setzen konnte.

Die Haushälterin der Lloyds hatte sich gerade zur Nachtruhe fertig gemacht, als sie von draußen aus der Gasse die Schreie einer Katze zu hören glaubte. Damit die gnädige Frau nicht gestört wurde, stand sie auf, um das Tier zu verscheuchen – und bekam den Schreck ihres Lebens.

Ich nehme an, die Absicht meiner Großmutter – mal abgesehen davon, dass sie nicht mit der Schande leben wollte, als die ein Kind der Liebe in solch ungnädigen Zeiten nun einmal galt – war es gewesen, meinen Vater bei einer wohlhabenden Familie unterzubringen. Und eine solche waren die Lloyds. Sie rühmten sich einer langen, illustren Ahnenreihe, besaßen ihre eigene Loge in Ascot und einen Haufen Aktien, der sie bis zum Börsencrash 1929 finanziell in trockenen Tüchern hielt. Leider erhalten Familien wie die Lloyds ihre erlesene Ahnenreihe nicht dadurch, dass sie jedes hergelaufene Waisenkind adoptieren, das ihnen irgendjemand in den Kohlenschuppen legt.

»Nehmen Sie es mit«, verfügte Mr. Lloyd knapp, als der Arzt ihm mitteilte, dass der kleine Reginald außer Gefahr sei.

»Natürlich«, buckelte der Doktor. »Ganz wie Sie wünschen.«

Anstatt in privilegiertem Luxus verbrachte Reginald seine ersten zehn Jahre deshalb im örtlichen Waisenhaus, chronisch unterversorgt mit Liebe und Vitamin D. Von hier aus hätte alles auch ganz anders kommen können, aber eines Tages, im Frühling des Jahres 1932, erbarmte der Reverend Charles Eckett sich des schlaksigsten Waisenjungen im Heim St Mary's of the Blessed Salvation (und ganz Norwich). Er bot ihm an, wovon alle Waisenkinder der Welt bei Tag und Nacht träumen: ein Zuhause und eine Familie ganz für sich allein.

Wisst ihr, der gute Reverend und seine Frau konnten nämlich keine eigenen Kinder bekommen, also taten sie ein Werk christlicher Nächstenliebe und holten sich ein Kind von der Müllkippe des Lebens. Je elender und bedauernswerter dieses Kind war, so meinten sie, umso heller strahlte dadurch das Licht ihrer noblen Geste.

Reginald Coal erhielt zum ersten Mal in seinem kurzen Leben saubere Bettwäsche und warme Umarmungen, und er gewöhnte sich sehr schnell daran. Die Rachitis, die seine frühen Jahre überschattet hatte, verschwand und er wuchs mit der Zeit zu einem stattlichen jungen Mann heran. Wenn Reichskanzler Hitler die Laufbahn meines Vaters nicht durch seinen Einmarsch in Polen abgelenkt hätte, wer weiß, ob er unter anderen Umständen nicht nach Oxford oder Cambridge gegangen wäre? Unter den gegebenen Umständen ging er nach Nordafrika.

Wie so viele Kriegsveteranen sprach mein Vater selten von seinen Erlebnissen, aber er muss sich wohl in der Schlacht bewährt haben, denn er begann als einfacher Gefreiter in Tobruk und kam als Captain in Rom an. Als Reiseandenken hatte er die Brust voller Medaillen, darunter auch das Victoria-Kreuz.

Jetzt hätten Oma Coal und die Lloyds sich bestimmt nur zu gerne mit Reginald sehen lassen.

Er machte allerdings nie viel Aufhebens um seine Auszeichnungen. Sie waren nichts anderes als Sinnbilder dafür, dass er seine Pflicht getan hatte. Er hatte zu viele Kameraden verloren, als dass er Lust gehabt hätte, mit seinen Medaillen anzugeben, also legte er sie nach seiner Heimkehr in eine Blechdose, tauschte sein Schiffchen gegen eine Melone und kümmerte sich um seine Ausbildung.

Und so kam es, dass zwei Jahre (und tausend während nächtlichen Lernens abgebrannte Kerzen) später Reginald Coal schließlich doch noch in Oxford angenommen wurde.

»Warum hieß er immer noch Coal?«

»Was?«

»Warum hieß er immer noch Coal? Warum hat er seinen Namen nicht in Eckett geändert, so wie sein neuer Vater, der Reverend?«, fragte Tommy.

»Er hatte den Namen Coal in seinen ersten zehn Lebensjahren getragen. Man hatte ihn so genannt, weil er im Kohleschuppen gefunden worden war«, erklärte ich. »Der Reverend hielt es für wichtig, dass mein Vater seine Wurzeln nicht vergaß. Wie dem auch sei, ihr sollt mich nicht unterbrechen«, rügte ich, klopfte meine Pfeife gegen die Wand des Ölfasses und griff in meinen Tabaksbeutel, um sie aufzufüllen.

Jedenfalls war das eine erstaunliche Leistung für ein uneheliches Kind, das auf einem Haufen Kohle zum Sterben abgelegt worden war. Und sie wird noch erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass er, während er für das Examen lernte, noch in Vollzeit arbeitete, um mich und meine Mutter zu ernähren.

Ich wurde 1945 geboren, beinahe auf den Tag genau neun Monate, nachdem die Royal Air Force den gefeierten Captain Coal aus Italien für eine Woche in den verdienten Heimaturlaub geschickt hatte. Als er 1946 dann endgültig nach Hause kam, warteten wir schon in einem Cottage in der Nähe von King's Lynn auf ihn. Meine Mutter, Rhea Eckett, war die Nichte des Reverends, und mein Vater hatte sie wahrscheinlich aus Pflichtgefühl seinem Adoptivvater gegenüber geheiratet, oder weil er merkte, dass Geduld doch nicht mehr die höchste Tugend war, wenn einem erst die Maschinengewehrkugeln um die Ohren flogen. Ich weiß nicht, vielleicht bin ich auch etwas ungerecht zu meinen Eltern. Vielleicht liebte mein Vater meine Mutter aufrichtig und war mit ihr auf eine Weise verbunden, die man nur mit dem Herzen erfassen kann. Schon möglich. Weil ich sie aber nicht nur als meine geliebte Mutter kannte, sondern auch als die ewig nörgelnde alte Schreckschraube, die sie leider war, bin ich mir ziemlich sicher, dass Kriegsheld Captain Coal durchaus etwas Besseres hätte finden können. Nach fünf weiteren Jahren voll mit Lernen, Pauken, Büffeln und Schuften wurde mein Vater 1953 endlich Anwalt, und später zu einem der besten Strafverteidiger, die seine Generation hervorgebracht hat.

Über die nächsten fünfzehn Jahre vertrat er sie alle, von Donald Cooper, dem Kühltruhenkiller (gehängt), bis Sir Henry Davenport-Fielding, dem Hausmädchen mordenden Ehebrecher mit einflussreichen Freunden (auch gehängt – seine Freunde waren offenbar gerade nicht da, als er sie gebraucht hätte). Natürlich hatte mein Vater auch seine Erfolge, zum Beispiel Penny Wilson, die Witwe von Wimborne, die dem Galgen entkam, nur um für den Rest ihrer Tage in einer Zelle in Holloway Schals zu stricken – genau solche Schals wie die, die ihren Liebhabern immer die Luft abgeschnürt hatten, wenn sie gerade mit der armen Penny Schluss machen wollten. Dann war da noch Ryan Douglas, der Kidnapper von Colchester, der nicht nur von jedem Verdacht freigesprochen wurde, irgendetwas mit dem Verschwinden von Beryl Ashby zu tun zu haben, sondern es später noch zu einem berühmten Dichter brachte. Avantgardistische Poesieliebhaber und Kritiker bejubelten seine Anthologie Mit den Augen eines Geistes, die nach seiner Verhandlung herauskam. Darin stellte er seine und Beryls stürmische Liebesbeziehung dar, die am Ende in Beryls (rein fiktiver) Entführung und Ermordung durch seine Hand gipfelte. Sie machte den jungen Douglas zum Star, und wahrscheinlich hätte er noch größere literarische Höhen erklommen, wenn Beryls Vater, Gordon Ashby, sich damit begnügt hätte, ihn nach seiner Lesung im The Black Cat nach einem Autogramm zu fragen, anstatt ihm gleich ein Messer in den Hals zu stoßen. Wie auch immer, Gordon Ashby gab daraufhin seinerseits einen sehr sympathischen Angeklagten ab, und das Ansehen meines Vaters wuchs enorm, weil er während des folgenden Gerichtsverfahrens nicht von seiner Seite wich, bis sich schließlich die Falltür unter Ashbys Füßen öffnete.

Tja, so war das in den Fünfzigern. Vergesst die Popstars und Filmidole; Kidnapper und Killer waren damals ebenso groß in den Schlagzeilen wie irgendein Sänger mit wackelnden Knien, der ein kurzes Strohfeuer entfachte – besonders, wenn sie schlussendlich baumeln mussten. Und durch seinen unermüdlichen Beistand für aufsehenerregende Mörder und seinen tadellosen Ruf aus Kriegszeiten wurde der Name meines Vaters berühmt.

Ich sollte am besten von vornherein erwähnen, dass ich immer große Ehrfurcht, um nicht zu sagen: Furcht, vor meinem Vater hatte. Nicht, weil er ein besonders strenger Mann gewesen wäre – ganz im Gegenteil – sondern weil er ein so bewundernswert guter Mann war. In meinen frühen Jahren hatte ich immer das Gefühl, dass ich so unglaublich hohen Anforderungen, wie er sie stellte, niemals gerecht werden könnte. Zwar sagte er nie ein böses Wort zu mir, er verhielt sich auch nicht herablassend oder grausam, aber sein Lob kam nie von ganzem Herzen und seine Anerkennung war eher oberflächlich als aufrichtig.

Aber wie schon gesagt: Denkt bitte nicht schlecht über meinen Vater, denn er war kein schlechter Mensch. Ich war wohl eher ein enttäuschender Sohn, wenn ich ehrlich bin.

Im Herbst '62 ging Mutter für immer in das große Modegeschäft im Himmel ein. Das war damals sehr hart für mich, besonders weil ich ein Einzelkind war, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, denn ich wollte vor meinem Vater nicht als Weichei dastehen. Stattdessen gewöhnten wir uns eine stramme Routine an, lernten die Wäschemangel zu bedienen und erledigten zusammen gerade genug Hausarbeit, um sicherzustellen, dass uns die Unterhemden, Socken oder sauberen Taschentücher unter der Woche nicht ausgingen.

Ich hatte inzwischen die Schule verlassen und bei einem örtlichen Elektriker eine Lehre angefangen. Ich war nicht so der akademische Typ, sehr zum Leidwesen meines Vaters, aber dafür konnte ich in diesem Jahr den Fernseher reparieren, als ausgerechnet vor der Weihnachtsansprache der Queen eine Röhre durchbrannte.

»So, das wär's«, sagte ich, drehte den Knopf an der Vorderseite der Kiste und wurde fast verrückt, während der Fernseher gute dreißig Sekunden lang brummte und knisterte, bis sich endlich aus einem Lichtpunkt das Bild entfaltete. Ich drehte die Lautstärke auf und die Melodie von Good King Wenceslas erklang in unserem Wohnzimmer.

Mein Vater betrachtete das Bild eine oder zwei Sekunden lang, sah mich an und nickte.

»Fein gemacht, John. Gute Arbeit«, sagte er, bevor er sich in seinem Sessel zurücklehnte, um den Gedanken ihrer Majestät zum vergangenen Jahr zu lauschen.

Und da habt ihr es: Das Netteste, was mein Vater je zu mir gesagt hat. Ich fühlte mich zwei Meter groß und hätte vor Freude singen können, aber das ging natürlich nicht. Stattdessen saß ich einfach da und sah mit meinem Vater die Ansprache der Königin an, ohne auch nur ein Wort davon mitzubekommen.

Das war das schönste Weihnachten meines Lebens.

II

Sechs Wochen später, in der tiefsten, schwärzesten Februarnacht meines Lebens, kam mein Vater zu mir. Er trat an mein Bett, riss mich aus dem Schlaf und schüttelte mich mit einem Ausdruck tiefsten Entsetzens in den Augen. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Noch nie hatte ich meinen Vater so gesehen. Ich weiß nicht, ob ihn überhaupt schon einmal jemand so gesehen hatte, wahrscheinlich noch nicht einmal die Deutschen. Eine Angst hatte von ihm Besitz ergriffen, als ob alle Dämonen der Hölle hinter ihm her wären. Ich holte den Scotch von der Anrichte und tat, was ich konnte, damit er sich wieder beruhigte.

»Ich wollte das nicht. Es war nicht meine Schuld!«, schluchzte er immer wieder. Mit hochgezogenen Knien saß er da und kippte den Whisky hinunter.

»Was denn, Vater? Was wolltest du nicht?«, fragte ich, aber ich konnte ihn kaum dazu bringen mich anzusehen, geschweige denn zu antworten. »Vater, bitte sag doch was«, flehte ich, und endlich, nach einem weiteren enormen Schluck Scotch, flüsterte er etwas. Ein kaum wahrnehmbares Krächzen.

»Was?« Ich musste mehrmals fragen, bevor ich schließlich verstand.

»Ich habe jemanden getötet«, schniefte er. »Ich habe ein Mädchen getötet.«

Zu sagen, ich war fassungslos, wäre untertrieben. Ich war wie von einer Abrissbirne getroffen, aus den Klamotten gehauen, plattgebügelt, wieder in meinen Schlafanzug gesteckt und auf die Füße gestellt, und das alles, bevor ich zwinkern konnte.

Mein Vater hatte jemanden umgebracht!

Logischerweise hatte er eine Menge Leute umgebracht – das Victoria-Kreuz wurde schließlich nicht für höflich interessiertes Zuschauen bei den Kampfhandlungen vergeben – aber das waren alles Deutsche oder Italiener gewesen, die meinen Vater zuerst selber umbringen wollten.

Aber ein Mädchen?

Mein Vater hatte ein Mädchen getötet?

»Wer war sie?«, fragte ich, in der Dunkelheit inzwischen ebenso zitternd wie mein Vater.

»Ich weiß nicht«, schluchzte er. »Eine von der Straße. Ein leichtes Mädchen.«

»Leichtes Mädchen?«

»Oh Gott, jetzt sieh mich nicht so an, John. Ich wusste nicht, dass sie eine Gunstgewerblerin war. Ich schwöre es«, sagte er, als er merkte, wie ich zurückschreckte.

»Das glaube ich dir, Vater«, versicherte ich ihm. »Aber wie ist es passiert?«

Mein Vater schwieg einige Sekunden lang. Er hielt nur sein Glas zum Nachschenken hin und schaute mich mitleiderregend an. Ich füllte sein Trinkglas bis zur Hälfte, dann nahm ich mir selbst eins. Normalerweise hätte ich nicht im Traum daran gedacht, in Gegenwart meines Vaters Alkohol zu trinken, aber jetzt brauchte ich einen Drink. Außerdem schlussfolgerte ich, er würde, wo er schon dazu übergegangen war Prostituierte umzubringen, wahrscheinlich Fünfe gerade sein lassen.

»Es ist kalt draußen«, begann er. »Bitterkalt, und der Nebel so dicht, dass man eine Axt braucht, um durchzukommen. Als ich sie so bibbernd am Straßenrand stehen sah, dachte ich, sie braucht eine Fahrgelegenheit nach Hause. Ich schwöre dir, John, ich schwöre es auf meines Vaters guten Namen: Ich hatte keine Ahnung, dass sie eine Dirne war.«

Das war wieder typisch mein Vater. Er war so ein guter Mann, dass es manchmal an Naivität grenzte. Eigentlich lächerlich, besonders wenn man bedenkt, dass er ein Strafverteidiger war, aber für die Schlechtigkeit in anderen Leuten hatte mein Vater eben einen blinden Fleck.

»Natürlich nahm sie mein Angebot an«, musste er nun fast lachen, wobei er den Kopf über seine eigene Dummheit schüttelte.

»Doch als wir erst einmal auf der Landstraße waren, wurde mir mein Irrtum bewusst, als sie … nun, sagen wir einfach, sie lenkte meine Aufmerksamkeit auf die wahre Natur ihres Berufes.«

Ich blinzelte ein paarmal in der Dunkelheit, zwar völlig ahnungslos über die Art und Weise, wie sie das getan haben mochte, aber nichtsdestotrotz rechtschaffen schockiert.

»Erzähl weiter«, drängte ich. Meine Vorstellungskraft verweilte noch auf dem Beifahrersitz von Vaters Auto, wo die junge Dame ihm ihre Referenzen zeigte.

»Nun, ich … äh … dankte ihr für das großzügige Angebot, das ich leider ablehnen musste, gab ihr ein paar Schillinge, um sie für ihre Unannehmlichkeiten zu entschädigen, und setzte sie wieder an der Stelle ab, von wo aus sie ihrem Geschäft nachging.«

»Wo war das, Vater?«

»Das ist unwichtig. Aber du darfst dort niemals hingehen, verstanden?«

Ich versprach ihm natürlich umgehend, das nie zu tun, auch wenn mir später klar wurde, dass ich den Ort schlecht vermeiden konnte, wenn ich nicht wusste, wo er sich befand.

»Jedenfalls nahm die junge Dame mein Geld an. Dann sagte sie allerdings, sie würde mich aus der Zeitung kennen, und dass es bestimmt einen Riesenskandal geben würde, wenn herauskäme, dass der berühmte Rechtsanwalt sich nachts Frauen des horizontalen Gewerbes in sein Auto holt – wenn ich wüsste, was sie meint.«

»Was meinte sie denn?«

»Erpressung, John. Sie meinte, sie würde mir die Presse auf den Hals hetzen, wenn ich ihr nicht helfe, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Ach, John, Alter schützt vor Torheit nicht«, jammerte er.

»Du hättest zur Polizei gehen und sie als Nutte anschwärzen können«, wandte ich ein.

»Dann hätte mein Wort gegen ihres gestanden.«

»Das wäre ja wohl keine Konkurrenz gewesen.«

»Für dich vielleicht nicht, John, und sicher nicht für die meisten meiner Freunde, aber ich bin nun einmal ein Strafverteidiger. Soweit es die Polizei betrifft, stehe ich auf der Seite des Feindes, und sie würden mir bestimmt liebend gern eins auswischen«, erklärte er. Dann starrte er in die Dunkelheit, auf den Kadaver seiner zerfetzten Karriere, und fragte sich, wie sein lebenslanger mustergültiger Einsatz ihn an diesen Punkt hatte bringen können.

»Und deshalb hast du sie umgebracht?«, fragte ich schließlich.

»Was? Gütiger Gott, John, nein!«, rief er aus. »Ich könnte keine Fliege töten, nur um meinen Ruf zu schützen, schon gar nicht ein hübsches junges Mädchen. Wie kannst du so etwas bloß denken?«

»Tut mir leid, Vater, ich habe nicht nachgedacht.«

»Nein, in der Tat nicht«, rügte er. »Es war ein Unfall, nicht mehr und nicht weniger. Als ich ihr sagte, sie solle tun, was sie nicht lassen könne, fing sie an zu schreien und griff mich an. Ich wollte mich nur verteidigen, aber ich habe wohl leider meine eigene Kraft unterschätzt.«

»Natürlich, Vater.«

»John, die letzte Person, gegen die ich gekämpft habe, war ein stämmiger deutscher Steuermannsmaat, und diese Begegnung habe ich nur um Haaresbreite überlebt. Es kann sein, dass ich mich vielleicht durch den Schock zurückversetzt gefühlt und dieselbe Kraft angewendet habe wie damals bei dem Jerry«, lamentierte er.

Was für eine Ironie des Schicksals: Mein Vater war nicht nur den Umtrieben eines hinterhältigen Flittchens zum Opfer gefallen, zu allem Übel hatten sich auch noch seine eigenen traumatischen Kriegserlebnisse gegen ihn verschworen.

»Was willst du jetzt machen?«, fragte ich.

Mein Vater zuckte bloß mit den Schultern und schüttelte den Kopf.

»Hängen«, mutmaßte er.

»Was? Aber das geht nicht.« Mein umgestoßenes Glas rollte durchs Zimmer.

»Es wird sich wohl leider nicht vermeiden lassen. Ich mache eine Fahrt nach Tyburn, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«

Ganz abgesehen von dem dramatischen Euphemismus, konnte ich kaum begreifen, was mein Vater da sagte. Er war ein Kriegsheld, der Tapferste der Tapferen, ausgezeichnet vom König persönlich. In den letzten Jahren hatte er sich einen Ruf als hoch angesehener Verteidiger hoffnungsloser Fälle erworben. Wenn es in dieser unseligen Angelegenheit ein unschuldiges Opfer gab, dann war er das. Konnte er dafür wirklich hängen?

»Sie verkaufte Sex. Wenn ein Mädchen dieses Gewerbes unter solchen Umständen stirbt, geht man so gut wie immer davon aus, dass das Motiv ebenfalls sexuell ist. Und das ist ein eindeutiges Kapitalverbrechen. Keine mildernden Umstände. Keine Gnade. Nur drei Sonntage Frist und dann eine Verabredung mit dem Seil im Morgengrauen.«

»Oh, Vater!« In mir brach alles zusammen. »Das ist so ungerecht, so unfair. Gibt es denn überhaupt nichts, was wir tun können?«

»Nein, mein Sohn, wenn ich morgen früh zur Polizei gehe, muss ich ihnen alles erzählen und mein Schicksal in Gottes Hände legen.«

Die Überraschungen kamen in dieser Nacht dicht an dicht und diese letzte Offenbarung haute mich ebenso um wie mein Whiskyglas.

»Du meinst, die Polizei weiß noch gar nichts?«

»Nein«, erwiderte mein Vater mit unschuldigem Augenaufschlag. »Woher sollte sie?«

»Aber wo …?« Ich schüttelte mir die Fragen aus dem Kopf und ordnete für einen Moment meine Gedanken. Seltsam, aber der Beruf meines Vaters und mein eigener waren in gewisser Weise gar nicht so verschieden, wie er dachte. Wenn etwas nicht funktionierte, musste ich es mir gedanklich als dreidimensionales Schaltdiagramm vorstellen können, um den Fehler zu lokalisieren. Nun wandte ich dieselbe Technik im Bezug auf das Problem meines Vaters an.

»Wann ist das alles passiert, Vater? Um wie viel Uhr?«

»Ungefähr vor einer Stunde, denke ich. Vielleicht zwei.«

»Hat irgendjemand gesehen, wie das Mädchen zu dir ins Auto stieg?«

»Ich glaube nicht, schon wegen des Nebels. John, worauf willst du hinaus?«, fragte er, aber ich wischte die Frage weg, um noch ein paar eigene zu stellen.

»Wo ist sie jetzt?«

»Sie ist tot!«, schnappte er, verärgert über meine Unverschämtheit.

»Ja, aber wo ist sie?«

Mein Vater funkelte mich durch das Zwielicht an. Für einen Moment dachte ich, er würde mir raten, mich zum Teufel zu scheren, aber stattdessen zog er ein weiteres totes Kaninchen aus dem Zylinder, indem er antwortete, sie sei noch im Auto.

»Im Auto?«

»In der Garage«, ergänzte er.

Wir hingen beide unseren eigenen Gedanken nach. Die Zeit verrann, aber der nächste Schritt musste wohlüberlegt sein. Ich verwandte einige kostbare Sekunden darauf, zu überprüfen, ob alle Glühbirnen meines imaginären Schaltplans leuchteten, dann nahm ich meinem Vater den Scotch aus der Hand.

»Geh ins Bett.«

»Was?«

»Geh ins Bett«, wiederholte ich. »Und sag niemandem irgendwas, besonders nicht der Polizei. Ich werde alles für dich in Ordnung bringen, Vater.«

»In Ordnung bringen? Was meinst du mit in Ordnung bringen?«, wollte er wissen.

»Vater, was passiert ist, ist passiert, und niemand kann es mehr ungeschehen machen. Aber es wäre völlig sinnlos, dich wegen eines Unfalls selbst zu opfern.«

»Aber welche Wahl haben wir denn?«, staunte er.

»Mein Gott, falls ich jemals in Schwierigkeiten gerate, erinnere mich daran, dass ich bloß nicht dich als Anwalt nehme«, seufzte ich.

»John …?«

»Ich lasse sie verschwinden. Verwische die Spuren zu dir.«

»Sie verschwinden lassen? Die Spuren verwischen? Einfach so? Sie wegwerfen wie ein Stück Abfall? Meinst du das? Mein Gott, John, wie konnte es so weit kommen …«, fing mein Vater wieder an zu predigen, aber zum ersten Mal in meinem Leben setzte ich mich durch und sagte ihm, er solle still sein.

»Dein Sinn für Gerechtigkeit wird dir bloß den Strick um den Hals legen. Das ist für dich und deine verdrehten Moralvorstellungen vielleicht in Ordnung, aber was ist mit mir? Ich brauche einen Vater. Ich brauche dich in meinem Leben. Deine Klienten brauchen dich. Die Welt braucht dich. Du bist ein guter und wichtiger Mensch. Du kannst dich jetzt nicht ausliefern, nur um dein eigenes Gewissen zu beruhigen. Das wäre selbstsüchtig. Du musst dem widerstehen«, redete ich auf ihn ein.

Mein Vater wusste nichts zu sagen. Bestürzt starrte er mit offenem Mund auf den Sohn, der vor seinen Augen zum Mann wurde, dann senkte er den Blick und nickte traurig.

»Dann soll es so sein, John. Wenn es dir so viel bedeutet, werden wir alles so machen, wie du willst«, erklärte er sich endlich einverstanden.

Ich griff mir seine Autoschlüssel und machte mich in Richtung Garage auf, aber mein Vater rief mich zurück, bevor ich die Tür der guten Stube erreicht hatte.

»John?«

Ich schaute zurück. Aus der Dunkelheit sah er zu mir auf. »Ich … ich möchte nur, dass du weißt … Ich bin sehr stolz auf dich«, sagte er schließlich.

Ich antwortete nicht. Ich nickte nur, dann machte ich mich auf, um die tote Prostituierte zu entsorgen, die mein Vater in dieser Nacht mit nach Hause gebracht hatte.

III

Sie war genau dort, wo er gesagt hatte: zusammengesunken auf dem Beifahrersitz seines Morris Oxford und so leblos wie ein liegen gelassenes Kleid. Ich näherte mich ihr vorsichtig, voller Furcht vor dem Anblick, der mich erwartete, aber das stellte sich als unnötig heraus, denn es gab keine sichtbaren Zeichen von Gewaltanwendung. Weder war ihr Schädel eingeschlagen noch ihr Gesicht irgendwie entstellt. Ihr Haar war ein bisschen zerzaust und ihre Bluse zerrissen, aber davon abgesehen sah sie aus, als ob sie nur mit dem Kopf am Seitenfenster eingeschlafen sei und auf den Kuss eines schönen Prinzen wartete, der sie wieder erweckte.

Ich packte eine Spitzhacke und eine Schaufel in den Kofferraum und öffnete das Garagentor.

Die Nacht war immer noch nebelverhangen und kalt wie ein Grab, aber das nahm ich kaum wahr. Zu konzentriert war ich auf die Aufgabe, die vor mir lag. Ich legte meiner Beifahrerin den Sicherheitsgurt an, damit sie nicht während der Fahrt auf mich fallen konnte, und steuerte in die Nacht.

Ich ließ es langsam angehen. Da die Sicht nur bis zur Motorhaube reichte, hatte ich auch keine andere Wahl, trotzdem schaffte ich es durch die Stadt bis zur Landstraße. Dort gab es ein paar abgelegene Stellen, die am Tag zum Picknick und in der Nacht von Liebespaaren aufgesucht wurden. Bei dieser Kälte würde allerdings wohl niemand auch nur einen Knöchel dem Frost aussetzen wollen. Nichtsdestotrotz gab es, wie das unglückselige Mädchen auf dem Beifahrersitz nur zu gut wusste, immer ein paar wetterharte Burschen, auf die man aufpassen musste, also bewegte ich mich mit aller Vorsicht.

Ich kurvte über die Landstraßen, auf der Suche nach dem Waldweg, der hinunter zum See führte. Bei der dritten Vorbeifahrt fand ich ihn endlich. Der Weg war schlammig aber festgefroren, also rumpelte und ruckelte ich mit dem Auto zum Ufer und parkte ein paar Meter vom Wasser entfernt, direkt vor einigen kahlen Bäumen mit knorrigen, verdrehten Ästen.

Keine anderen Pärchen waren an diesem Abend hier hergekommen. Ich schnallte meine Beifahrerin ab und fing sie auf, als sie mir über den Schoß fiel.

Mein Gott, sie war wirklich entzückend: jung, schön und nicht mehr belastet von weltlichen Sorgen. Abgestoßen von meinen eigenen Gedanken stieg mir die Galle hoch und ich musste würgen, als mich die Erkenntnis traf, dass mein eigener Vater hierfür verantwortlich war.

Mein Vater hatte dieses Licht ausgelöscht!

Sie war vielleicht ein knappes Jahr älter als ich und mein Vater hatte sie umgebracht.

Gut, es war ein Unfall gewesen, er hatte es nicht absichtlich getan und würde es ungeschehen machen, wenn er nur könnte, sogar zum Preis seines eigenen Ruins. Trotz alledem war sie tot. Sie war jung, schön und blond. Aber sie war tot. Und die Schuld dafür lag ganz allein bei ihr.