DAS HAUS DER MONSTER - DIE MONSTER SIND ZURÜCK - Danny King - E-Book

DAS HAUS DER MONSTER - DIE MONSTER SIND ZURÜCK E-Book

Danny King

5,0

Beschreibung

John Coal war der typische Sonderling im Ort – ein alter, schrulliger Eigenbrötler, aber ansonsten harmlos. Zumindest war es das, was die Nachbarn von ihm dachten. Bis eines Nachts ein Junge sein dreißig Jahre lang sorgfältig gehütetes Geheimnis enthüllte … Nun ist er auf der Flucht. Die Polizei, die Armee und sogar die Zoos machen Jagd auf ihn. Aber John ist ein alter Hase, wenn es darum geht, den Menschen zu entkommen, und so begibt er sich zusammen mit seiner Vampir-Ziehtochter Rachel in die Wildnis der schottischen Highlands. Hier, so hoffen sie, können sie einen neuen Anfang wagen. Aber John kann seiner Vergangenheit genauso wenig entkommen wie seinem Fluch. Das Böse wird immer das Böse finden, und die Bedrohung für John und Rachel hat gerade erst begonnen … Auch in der zweiten Geschichtensammlung erwarten Sie wieder Horrorstorys über Werwölfe, Vampire, Ghule, Geister, die Toten und die Untoten – erlebt und erzählt von John Coal, dem seltsamen Mann aus dem HAUS DER MONSTER. "Einer der wenigen Autoren, die mich zum Lachen bringen." - David Baddiel

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DAS HAUS DER MONSTER – DIE MONSTER SIND ZURÜCK

Danny King

übersetzt von Madeleine Seither

This Translation is published by arrangement with Danny King Title: The Monster Man of Horror House Returns. All rights reserved.

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Impressum

überarbeitete Ausgabe Originaltitel: THE MONSTER MAN OF HORROR HOUSE RETURNS Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Madeleine Seither Lektorat: Astrid Pfister

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-512-5

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

DAS HAUS DER MONSTER 2
Impressum
Böses Erwachen
Das war’s dann mit dem Viertel
Auf Wiedersehen, Thetford
TEIL 1
Das Haus der Toten
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
Neuanfänge
TEIL 2
Flucht aus Anlage X
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
Dinner für zwei
TEIL 3
Das Werk des Herrn
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
Die Monsterjäger
TEIL 4
Das Mädchen in Weiß
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
Alte und neue Freunde
Epilog – Insel der Toten
Über den Autor

For Charlie, Katie, Scarlett & Frankie, four monsters of assorted horror, with love. X

John Coal war der örtliche Sonderling. Alt, schrullig und einzelgängerisch, aber ansonsten harmlos. Zumindest hatte er auf seine Nachbarn bisher so gewirkt. Doch mittlerweile nicht mehr. Dreißig Jahre der Selbstkontrolle waren in einer einzigen Nacht verpufft, als John unabsichtlich eine Seite von sich gezeigt hatte, die nur wenige Menschen je zu Gesicht bekommen hatten – geschweige denn, dass sie lange genug gelebt hatten, um davon erzählen zu können.

Nun musste er, aus den ruhigen Vororten von Thetford fliehen und so weit weg von anderen, wie er nur konnte, denn die Polizei jagte ihn, die Armee jagte ihn und selbst die Zoos jagten ihn. Doch John war ein alter Hase, wenn es ums Entwischen ging, und zusammen mit Rachel, seinem Vampirmündel, zog er nach Norden, weg von der Zivilisation und hinein in die Wildnis der schottischen Highlands.

Hier warteten ein neues Zuhause und ein neuer Anfang auf die beiden. Das glaubten sie zumindest. Doch John konnte seiner Vergangenheit genauso wenig entkommen wie seinem Fluch. Das Böse fand das Böse nun mal immer, und für John und Rachel hatte die Gefahr deshalb gerade erst begonnen.

Böses Erwachen

In jeder Stadt und in jedem Viertel gab es ein gruseliges altes Haus … heruntergekommen, zugewuchert, vernachlässigt und vergessen. Meistens wurde es von einem gruseligen alten Mann bewohnt, auf den mehr oder weniger die gleiche Beschreibung zutraf.

So hatte ich die letzten paar Jahrzehnte meines Lebens verbracht  –  vor aller Augen versteckt. Nur wenige Menschen nahmen mich überhaupt wahr, und noch weniger kümmerte es. Ich war einfach nur der alte John Coal, ein gewöhnlicher und unscheinbarer Mann, der leicht humpelte und einen Finger weniger als die meisten Menschen hatte. Solange ich meine Nachbarn nicht behelligte, behelligten sie mich auch nicht. Das war eine stille Übereinkunft zwischen den Bewohnern meiner Straße und mir.

Doch anscheinend konnte niemand seiner Vergangenheit für immer entkommen.

***

Ein Werwolf zu sein hatte viele Nachteile. Der Kontrollverlust beim Aufgehen des Mondes, die unaufhaltsame, mörderische Raserei, die kurz darauf folgte, die unschuldigen Leben, die mit dem Zuschnappen des Kiefers ausgelöscht wurden, und natürlich all die verdammten Hosen, die man dabei verbrauchte. Aber das vielleicht Nervtötendste daran war, am nächsten Morgen aufzuwachen, weit weg von zu Hause und ohne Erinnerung daran, wie man dorthin gekommen war … durchgefroren und nackt wie am Tag der Geburt. So hatte ich mich auch an dem Morgen wiedergefunden, nachdem Tommys Vater sich dazu bequemt hatte, mich aufzusuchen.

Ich brauchte einen Moment, um mich an die Ereignisse zu erinnern, die zu seinem Besuch geführt hatten, aber sobald es mir gelungen war, war mein Gesicht unter den verkrusteten scharlachroten Streifen kalkweiß geworden.

»Oje«, war alles, was ich noch herausbringen konnte. Was sonst gab es auch noch dazu zu sagen? Bewusstlos geschlagen und zum Sterben zurückgelassen, hatte ich keine Möglichkeit gehabt, mich vor meiner Verwandlung in meinem extra für diese Zwecke verstärkten und schalldichten Keller einzusperren, was ich normalerweise immer tat. Auf diese Weise hatte ich mich selbst und alle anderen in meiner Nähe in den letzten dreißig und ein paar zerquetschten Jahren geschützt … und doch war ich jetzt, am Morgen danach hier, entfesselt und frei.

Was hatte ich bloß getan?

Bis jetzt hatten nur wenige Menschen in der Stadt überhaupt Notiz von mir genommen, und obwohl ich lediglich eine extrem verschwommene Erinnerung an die letzten Stunden hatte, konnte ich nicht anders, als zu befürchten, dass sich das nun drastisch ändern würde.

Doch zuallererst musste ich Kleidung finden. Das war nicht gerade die leichteste Aufgabe, weil ich mitten im Heideland, unter einem Ginsterbusch aufgewacht war, der nur ein paar dornige Zweige besaß, mit denen ich meine Scham bedecken konnte. Mich dort raus zu schleppen, stellte sich als äußerst ereignisreiche Erfahrung heraus, doch glücklicherweise hatte die frostige Novemberluft dazu beigetragen, meine faltige blaue Haut zu betäuben.

Es gab keinerlei Geräusche oder Anzeichen von Leben jenseits des Busches, nur einige herabstürzende Stare und ein weit entfernter Jet, der einen bauschigen Kondensstreifen an den klaren blauen Himmel malte. Anders als die meisten dachten, besaß ich in meiner menschlichen Form keinen besseren Orientierungssinn als alle anderen. Ich mochte als Werwolf zwar in der Lage sein, mich über einen halben Quadratkilometer offenes Land hinweg an einen Hirsch anzupirschen, aber als Mensch konnte ich an den meisten Tagen nicht mal das Corned Beef bei Aldi finden. Ich machte mich also einfach in Richtung der wenigsten Ginsterbüsche auf den Weg und hoffte, eine Wäscheleine zu finden, bevor ich den dazugehörigen Waschfrauen begegnete. Leider hing niemand zu dieser Jahreszeit seine Wäsche draußen auf, deshalb musste ich mit einem Plastikbeutel und einem liegen gelassenen Leitkegel auskommen, um mich vor den herbstlichen Elementen zu schützen. Keine idealen Umstände, aber das war leider das Problem mit der heutigen Gesellschaft. Vor vierzig Jahren waren die Hecken noch von illegal abgeladenem Müll übersät gewesen, doch heutzutage war die Landschaft so sauber, dass es schon fast ekelhaft war. Wie sollte ein Werwolf da nach einer wilden Nacht etwas zum Anziehen finden? Ich war schon fast versucht, das bei meinen Gemeinderäten vorzubringen  –  falls ich in der letzten Nacht, welche von ihnen am Leben gelassen hatte. Es gab noch nicht mal mehr Vogelscheuchen … eine Bezugsquelle, von der ich mir früher immer regelmäßig Klamotten besorgt hatte. Aber nein, die waren auch weg.

Gut war, dass es mittlerweile Altkleidercontainer gab, die oft sehr abgelegen standen und bis zum Rand voll mit frisch gewaschenen Klamotten waren. Aber es war fast unmöglich, an die Kleidung ran zu kommen. Trotzdem musste ich es heute versuchen. So fand ich mich später am Morgen genau dort wieder, in einer Parkbucht an der A134, wo ich mit einem Zweig in der Hand durch die Klappe eines hellgrünen Metallcontainers angelte, während ich mit der anderen Hand strategisch den Leitkegel hielt und etwas zum Anziehen zu besorgen versuchte.

Der Verkehr brummte an mir vorbei und man schenkte mir nur ein gelegentliches mitfühlendes Hupen, aber im Großen und Ganzen versuchte niemand, meinem Diebstahl Einhalt zu gebieten. Ich nahm an, dass Thetford an diesem Morgen mit größeren Problemen zu kämpfen hatte.

Trotz meiner Bemühungen befanden sich die schönen Geschenke im Kleidercontainer in quälender Entfernung. Ich versuchte es, indem ich zwei Zweige abbrach und damit die Klappe aufstemmte, schaffte es aber nur, mehrere Paare Kinderfußballschuhe (alle in Größe 1) und den Karton eines Samsung Flatscreen-Fernsehers herauszuziehen, den jemand fein säuberlich in den falschen Container gesteckt hatte, obwohl der richtige Recyclingbehälter praktischerweise direkt daneben stand. Sehr frustrierend, aber trotzdem nicht schlimmer als meine sonstigen Shopping-Erfahrungen.

Ich wollte gerade aufgeben, als eine Stimme hinter mir fragte, ob alles klar wäre.

Ich hatte lange genug in Thetford gelebt, um zu kapieren, dass die Frage, ob alles klar war, nicht wörtlich zu verstehen war. Es ist schwer, die exakte Bedeutung rüberzubringen, aber es bedeutete in etwa so viel wie: Und was zum Henker glaubst du eigentlich, was du da machst, Sonnenscheinchen?

Ich drehte mich um und erblickte einen Mann mit mehreren Tüten voller leerer Flaschen in den Händen, der neben einem großen weißen Van stand. Er war bestimmt einen Meter achtzig breit und fast genauso groß und hatte Tattoos an Stellen, an denen die meisten anderen Menschen Kleider trugen, und mehr Haare auf seinen Fingerknöcheln als auf seinem Kopf. Ich überflog hastig seine Tinte und schlussfolgerte daraus, dass er den Peterborough United Football Club unterstützte, ein Fan alles Englischen war (einschließlich, aber nicht ausschließlich, flatternder Flaggen und Bulldoggen in Union-Jack-Westen) und entweder auf drei Söhne namens Mickey, Terry und Carl oder aber auf ein Trio homosexueller Liebhaber dieser Namen stolz war.

»Mir ist kalt«, antwortete ich, was zwar stimmte, aber natürlich nicht die ganze Geschichte war.

»Bist du Engländer?«, fragte er überrascht. Das war nicht die Erwiderung, die ich erwartet hatte. »Ich dachte, du wärst einer von diesen verfickten Bulgaren. Die hocken nämlich ständig in diesen Tonnen.«

Mein neuer Freund sah nicht aus wie ein Mann, der scharf darauf war, sich mit Bulgaren abzugeben … oder mit überhaupt jemandem, nackt oder sonst wie.

»Bulgare?«, fragte ich ein wenig verwirrt.

»Ja, du weißt schon  …  aus  …«, sagte er und zeigte beiläufig mit dem Daumen über seine Schulter.

»Bulgarien?«, erkundigte ich mich vorsichtig.

»Nein. Ja, doch, ich schätze schon. Aber nein, ich mein das Lager die Straße runter. All diese Immigranten da unten. Alles Abschaum!«, spie er aus, als ob allein schon die Worte ihm einen schlechten Geschmack im Mund verursachten.

»Ich komme aus King’s Lynn«, versicherte ich ihm, merkte aber an der Art, wie sich seine Lippen verzogen, dass er auch nur wenig Sympathien für jemanden aus King’s Lynn besaß.

»Wo sind denn deine Klamotten?«, fragte er nun. Ich hatte mich schon gefragt, wann er darauf zu sprechen käme.

»Tja, du wirst es mir wahrscheinlich nicht glauben, aber  …«, begann ich.

Ich werde euch jetzt nicht mit den Einzelheiten meiner Geschichte langweilen, aber als ich fertig war, mochte er Bulgaren noch weniger und war garantiert drauf und dran, dem ersten Ausländer, dem er begegnete, für das, was sie mir meiner Behauptung nach angetan hatten, die Arme abzureißen.

Mir  –  einem armen, alten Peterborough United Fan wie er einer war.

Ich war nicht besonders stolz auf die Lügen, die ich ihm aufgetischt hatte, aber indem ich mir seine Vorurteile zunutze machte, erhielt ich ein verständnisvolles Ohr, ein oranges Weingummi und, was noch viel wichtiger war, etwas zum Anziehen. Gary (oder Gaz, wie er sich selbst nannte) wühlte nach meiner Story hinten in seinem Van herum und fand dort ein Paar kurze Arbeitshosen, ein verschlissenes T-Shirt, eine leuchtende Sicherheitsweste und ein Paar alte Stiefel für mich, die noch nicht mal ein schuhloser Bulgare mitten im tiefsten, dunkelsten Januar würde tragen wollen. Ich revanchierte mich für den Gefallen, indem ich ihm dabei half, mehrere hundert Bierflaschen in die jeweiligen Öffnungen zu stecken, und verabschiedete mich dann herzlich von ihm, als er sich wieder trollte.

»Tschüss«, rief er ohne einen Anflug von schlechtem Gewissen, weil er mir keine Mitfahrgelegenheit in die Stadt anbot. »Pass auf dich auf. Anscheinend rennt hier draußen irgendwo ein irres Scheißvieh frei rum. Einer von diesen scheißfurchtbaren Zigeunerhunden, möchte ich wetten«, meinte er und fuhr mit quietschenden Reifen und klapperndem Auspuff davon.

Da lag Gaz aber mal wieder komplett falsch. Dieser irre Hund war nicht bulgarischer als er. Rein technisch gesehen, kam auch er nämlich aus King’s Lynn.

Das war’s dann mit dem Viertel

Da ich eine leuchtende Sicherheitsweste anhatte und einen Leitkegel mit mir herumtrug, war es mir möglich, den ganzen Weg bis zur Hauptstraße und in die Stadt zu laufen, ohne dass jemand auch nur mit der Wimper zuckte – oder sich übertriebene Mühe gab, mich nicht umzufahren.

Als ich die Stadt erreichte, war sie eindeutig nicht mehr dieselbe, die ich in der Nacht zuvor verlassen hatte. Ein blaues blinkendes Lichtermeer erfüllte die High Street und Hundeführer und bewaffnete Polizisten rannten aufgeregt hin und her, während ich an ihnen vorbeiging, ohne dass eine Schnauze oder ein Pistolenlauf auf mich gerichtet wurde. Um der Polizei gegenüber fair zu sein: Ich war es ja eigentlich auch nicht, nach dem sie suchten, und doch war es genau ich, den sie suchten. Sie wussten es nur noch nicht, und ich beabsichtigte, es so lange wie nur möglich dabei zu belassen.

»Halten Sie sich von der Straße fern. Allen Bewohnern wird geraten, drinnen zu bleiben und bis auf Weiteres Türen und Fenster verschlossen zu halten«, rief ein Polizeikommissar mit Megafon, der hinten auf einem Polizeibus stand und ein paar vereinzelte Seelen dirigierte. Er warf mir einen kurzen Blick zu, als ich an ihm vorbeischlenderte, und so hielt ich meinen Leitkegel in die Höhe, wie um zu fragen: Wo soll der denn hin?

Der Kommissar ließ mich anstandslos weitergehen, ohne mich noch mal anzusehen, sodass ich meinen Heimweg, vorbei an Reihen über Reihen von Krankenwagen und einem Rudel sensationsgeiler Reporter, unbehelligt fortsetzen konnte.

Soweit ich hören konnte, wusste niemand, woher die wütende Bestie gekommen oder wohin sie gegangen war, aber sie war im Viertel definitiv eingeschlagen wie eine Kanonenkugel in einem Kindergarten. Es gab bislang sechs bestätigte Todesopfer, aber Gott sei Dank keine Verletzten, denn ansonsten hätte die Stadt bei Anbruch der nächsten Nacht echte Probleme bekommen.

Meine Straße war von bewaffneten Polizisten abgeriegelt worden. Fünf der sechs Opfer waren meine Nachbarn, und einer von ihnen war komplett aufgefressen worden, mit Knochen und allem drum und dran, weshalb ich mich natürlich schrecklich fühlte, bis ich herausfand, dass man dabei offenbar über mich selbst sprach.

»Von dem armen alten Trottel ist nichts übrig geblieben außer jede Menge Blut an den Wänden. Ist das zu fassen?«, meinte der diensthabende Polizist zu mir, als ich mich ans flatternde gelbe Absperrband stellte und all die weißen Kriminaltechnik-Zelte betrachtete, die man in meiner Straße aufgestellt hatte.

»Oh ja, ich hab gehört, dass so was passieren kann«, antwortete ich hastig, nur zu glücklich, seine Version der Ereignisse bekräftigen zu können. Der Polizist sah mich zweifelnd an und fragte dann, wer ich sei. »Die Verkehrssicherung hat mich hierher geschickt. Anscheinend nehmen die sich die ganze Straße vor.«

Der Polizist betrachtete meinen Leitkegel, war aber offenbar nicht vollends überzeugt.

»Mir hat keiner was gesagt und ich soll niemanden durchlassen«, betonte er auf eine Weise, die mich fast den Punkt am Ende seines Satzes hören ließ.

»Ist mir auch recht«, sagte ich mit einem Achselzucken. »Dann besorg ich mir jetzt erst mal ein Frühstück.« Ich überreichte ihm meinen Leitkegel und trottete mit der größtmöglichen vorgetäuschten Lässigkeit davon.

Natürlich würde man mich nicht nur mit einem Leitkegel als Beweis durch eine Polizeiabsperrung lassen, aber ich musste irgendwie in mein Haus zurückkommen. Es war wichtig … im wahrsten Sinne des Wortes eine Sache von Leben und Tod … also schlüpfte ich um die Ecke und behielt den Polizisten dabei im Auge, in der Hoffnung, dass dieser seinen Posten wenigstens fünf Minuten lang für eine heimliche Kippe verlassen würde. Zu meinem Pech, wenn auch nicht zum Pech seiner Lungen, tat er das aber nicht. Doch durch genaues Beobachten entdeckte ich irgendwann trotzdem einen Weg durch die Absperrung.

Forensische Teams der Polizei durchkämmten nun das Gebiet auf der Suche nach Beweisen und DNS und schienen offenbar Backstage-Pässe für alles zu haben. Ich hatte daraufhin eine plötzliche Eingebung und eilte zu B&Q am anderen Ende der Stadt. In der Abteilung für Farben und Dekoration schnappte ich mir kurzerhand einen weißen Papieroverall, eine Staubmaske, ein paar Einweg-Latexhandschuhe und eine Spendenbox vom Tisch des Kundenservice, die mir beim Bezahlen der gerade genannten Dinge half. Auf dem Parkplatz zog ich alles an und ging dann zurück, wobei ich hoffte, dass ich eher wie aus CSI: Miami als aus DIY SOS aussah, und glücklicherweise sah der Polizist das wohl so, denn er hob das gelbe Absperrband und ließ mich den Tatort betreten.

Bis ich mein Haus erreichte, kam ich an einem weiteren Dutzend weiß gekleideter Ermittler vorbei, die allesamt auf Händen und Knien über den Asphalt krochen. Auch im Haus selbst nahmen mehrere Ermittler Blutproben von meinem Teppich, schossen Fotos meiner Habseligkeiten und vermaßen die eindrucksvollen Kratzspuren, die meine Wände zierten. Ich stibitzte mir ein Lineal und einen Plastikbeutel von einem Klapptisch in meinem Vorgarten und ging hinein.

»Könnte es ein Löwe gewesen sein?«, hörte ich eine von ihnen mutmaßen.

»Auf jeden Fall irgendeine Raubkatze«, stimmte ihr ein Kollege zu.

Sie zupften nun einige winzige Haarsträhnen vom Türrahmen und packten sie sehr sorgfältig in einen durchsichtigen Beweismittelbeutel. Ich fürchtete, dass sie enttäuscht sein würden, wenn sie diese untersuchten, da alle Beweise meiner Transformation am nächsten Morgen grundsätzlich verschwanden. Diese Strähnen stammten bestimmt von meinem mit Schottenkarostoff bezogenen Einkaufs-Trolley, mit dem ich die letzten vierzig Jahre beim Raus- und Reingehen an meiner Tür entlang geschrammt war.

In meinem Keller befanden sich weitere Ermittler; manche durchwühlten meinen Besitz, andere fotografierten alles, was sie fanden. Hier unten gab es auch weitere Furchen, insbesondere auf der Rückseite meiner verstärkten Stahltür. Wie es aussah, hatten sie mittlerweile eine vernünftige Vorstellung davon, woher die Bestie gekommen war, wenn auch nicht, um was es sich dabei tatsächlich handelte. Mein Keller schien aber auf jeden Fall spannende Hinweise zu liefern.

Dann war da noch die Sache mit Rachels Sarg.

Sie hatten ihn unter einem Berg alter Zeitungen gefunden und vergeblich versucht, ihn aufzustemmen. Zum Glück – meinem und natürlich ihrem eigenen – hatten sie bisher keinen Erfolg gehabt. Sie hatten schon alle Schrauben herausgedreht und ihre Stemmeisen in der Lücke angesetzt, aber so sehr sie sich auch bemühten, sie konnten den Deckel einfach nicht aufhebeln. Keiner konnte sich erklären, warum das so war, doch es gab einen vollkommen vernünftigen Grund dafür. Rachel lag darin und hielt ihn von innen geschlossen. Da sie wusste, dass sie in großen Schwierigkeiten wäre, wenn man sie da drin fand, hielt sie ihn fest und wartete auf Rettung, die entweder durch meine Rückkehr oder die Ankunft der Nacht kommen würde.

»Ich übernehme das jetzt«, sagte ich zu ihnen, als ich mir einen Weg durch die anderen Leute bahnte. Das hatte ich vor allem wegen Rachel gesagt, damit sie meine Stimme hörte und mir half, wenn es soweit war.

Rachel ist, wie ich vielleicht schon erwähnt habe, ein Vampir. Sie ist verwandelt worden, als sie noch ein Kind war und obwohl sie nun fast hundert Jahre alt ist, sieht sie noch immer kaum wie zwölf aus. Sie ist vor ungefähr dreißig Jahren zu mir gekommen, um Hilfe zu suchen. Sie war mordsüchtig und über die Jahre extrem unglücklich geworden. Das passiert verlorenen Seelen oft. Für manche Kreaturen ist der Tod etwas Unvermeidliches, aber es kann dennoch schwer auf dem Gewissen lasten, und so hatte ich für sie getan, was ich konnte. Ich hatte sechs Silberschrauben aus einem Kruzifix geschmiedet, das ich mir von der Lincoln Kathedrale geborgt hatte, und hatte sie weggesperrt, während ich an ihrer Rehabilitation gearbeitet hatte. Wisst ihr, Rachel braucht zwar Blut zum Leben, aber sie muss nicht zwangsläufig töten, und ich hatte immer gehofft, wenn ich sie dazu bringen könnte, das zu verstehen, dann könnte ich sie endlich freilassen.

Es war ein langer und Geduld erfordernder Prozess, aber Rachel hatte jetzt seit über dreißig Jahren niemanden mehr getötet. Das hatte übrigens keiner von uns beiden – zumindest bis letzte Nacht. Oh, der süffisante Ausdruck auf ihrem Gesicht … ich konnte ihn schon beinahe sehen und fühlte mich auch gebührend schuldig.

»Wer sind Sie? Sie gehören nicht zu meiner Einheit«, meinte eine Ermittlerin schließlich, nahm mich beiseite und verlangte meinen Ausweis zu sehen.

Alle drehten sich daraufhin zu mir um und ein Fotograf machte ein Bild von mir, doch da ich noch immer meinen Ganzkörperpapieranzug (nur drei Pfund – das ist echt preiswert) und meine weiße Staubmaske trug, sah ich nicht anders aus als die Ermittlerin neben mir. Vielleicht trug ich ein bisschen weniger Lidschatten, aber viele Unterschiede wiesen wir nicht auf.

»Hör mal, wenn ich dir helfe, versprichst du mir dann, ein braves Mädchen zu sein?«, fragte ich zum großen Erstaunen der Ermittlerin.

»Holen Sie sofort den Sergeant her. Dieser Verrückte befindet sich unbefugt an meinem Tatort«, blaffte sie als Antwort.

»Ich meine es ernst. Wir zwei haben ein ernstes Problem, wenn du Blödsinn machst. Hast du gehört, Mädel?«

Die Ermittlerin blinzelte über meine Unverschämtheit und einer ihrer Assistenten lachte, aber ich hatte in Wirklichkeit gar nicht mit ihr gesprochen. Ich hatte mit Rachel geredet.

»Bring sie nicht um«, warnte ich sie. »Halt sie bloß davon ab, sich einzumischen.« Draußen herrschte Tageslicht und es war der schlimmste Albtraum jedes Vampirs, dass seine Ruhestätte während des Tages aufgespürt wurde. Ich konnte Rachel zwar helfen, hier rauszukommen, aber meine Hilfe würde ihren Preis haben.

Ein bewaffneter Polizist tauchte jetzt am oberen Ende der Treppe auf und fragte, wo das Problem war.

»Entfernen Sie diesen Mann auf der Stelle vom Tatort, bevor er noch alles kontaminiert«, verlangte sie schnippisch. Rachel wartete, bis der Beamte fast bei mir war, bevor sie den Deckel mit aller Kraft wegstieß und alle damit überrumpelte.

»Oh, John.« Sie lächelte begeistert. Ihre Reißzähne waren voll ausgefahren und schimmerten im elektrischen Licht. »Du warst ein ganz schön böser Junge.«

Auf Wiedersehen, Thetford

Rachel und ich waren schon hundert Kilometer weit weg, bevor überhaupt jemand nach der Ermittlerin und ihrem Team suchte. Sie fanden sie in meinem Keller, verwirrt, aber am Leben. Sie faselten so merkwürdiges Zeug, dass ihre Retter das Ganze schließlich auf eine Kohlenmonoxidvergiftung zurückführten. Rachel hatte sie alle überwältigt, bevor einer von ihnen auch nur schreien konnte, und hatte, wie sie vorher versprochen hatte, nicht einen Tropfen Blut vergossen. Wir hatten außerdem ein Dutzend weitere Kriminaltechniker und Polizisten in den Keller gelockt, um die Straße draußen freizumachen, und als wir fertig waren, nahm sie ihren Platz im Sarg wieder ein und ich schleppte ihn nach oben. Sie brauchte zum Glück nur einen Kindersarg, sodass ich es allein schaffte, trotzdem wäre es in der Nacht wesentlich einfacher gewesen, da Rachel dann nicht in dem verdammten Ding hätte liegen müssen.

Ein Polizeibus stand hilfreicherweise mit den Schlüsseln in der Zündung genau vor dem Haus und der Polizist, mit dem ich zuvor gesprochen hatte, hob äußerst höflich das Absperrband für mich hoch, damit ich wegfahren konnte.

Wir ließen den Polizeibus direkt vor der Stadt stehen und mithilfe einer Heckler & Koch, die ich mir von einem der Beamten geliehen hatte, kaperten wir uns nordwärts und zogen eine Spur zurückgelassener Fahrzeuge und erschütterter Opfer hinter uns her.

Als die Nacht anbrach, hatten wir bereits die Grenze überquert und befanden uns in der weiten Landschaft der schottischen Highlands. Wir hatten also halb England zwischen uns und die Polizei gebracht, doch jetzt wurde die Sache schwierig, denn mit dem Anbruch der Nacht verschwand auch mein Einfluss auf Rachel, und mit dem Aufgehen des Mondes schwand außerdem meine Macht über mich selbst. Das konnte nur zu einem Blutbad für die armen Menschen in Broxburn, Dunbar und West Barns werden … ein Vampir und ein Werwolf, die von der Leine gelassen worden waren und kein Van Helsing weit und breit. Aber ausnahmsweise in ihrem extrem langen Leben sah Rachel mal die Vorzüge, tatsächlich auf mich zu hören, anstatt in einen Blutrausch zu verfallen, und wir konnten den Schutz der Dunkelheit deshalb dazu nutzen, um zu verschwinden, ohne verfolgbare Spuren zu hinterlassen.

Sobald der Mond aufgeht, bin ich nämlich schnell und stark. Ich brauche kein Fahrzeug, kann aber dennoch weite Strecken zurücklegen, selbst mit einem Sarg auf dem Rücken. Rachel ist ebenso schnell und außerdem kann sie mich in meinem verwandelten Zustand beeinflussen, deshalb hatten wir bei Sonnenaufgang weitere dreihundert Kilometer in nördliche Richtung geschafft und uns danach sicher in einem Heuschober irgendwo östlich von Inverness versteckt.

Hier ruhten wir uns eine Weile aus. Rachel frühstückte mehrere Hühner, während ich mir ein Paar Stiefel und einen Regenmantel lieh, den ich an einem Haken neben der Tür fand, um in die Stadt zu marschieren.

»Du kommst doch wieder zurück, oder?«, fragte Rachel, als ich ging.

»Natürlich. Wir sind doch eine Familie«, versicherte ich ihr, bevor ich ihren Sargdeckel schloss und sie unter mehrere Heuballen in eine Ecke der Scheune schob. Solange niemand mit einer Heugabel dort rumstocherte, würde man nicht herausfinden, dass sie dort war. Zumindest konnte man sie nicht so einfach entdecken. Später am Morgen jedoch hatte der Bauer kein Glück damit, seine Kühe zum Füttern reinzubringen. Irgendetwas verängstigte sie offenbar und sie weigerten sich, zur Fütterung auch nur in die Nähe der Scheune zu gehen, egal, wie hungrig sie auch waren.

Ich brauchte gute drei Stunden, um nach Inverness zu laufen, denn niemand hielt an, um mich mitzunehmen, trotz des strömenden Regens, daher erreichte ich die Stadt kurz vor der Mittagszeit. Ich sah mittlerweile wie eine frisch aus dem Grab auferstandene Leiche aus. Es gab viele Orte, wo ich etwas hätte essen können, aber ich war eigentlich gar nicht hungrig. Tatsächlich war ich nicht mehr hungrig gewesen, seit ich gestern Morgen aufgewacht war. Ich musste mich wohl nachts in Thetford richtig vollgefressen haben und jetzt würde ich wahrscheinlich tagelang nichts mehr essen können. Ein kloschüsselsprengender Toilettengang war wohl zu erwarten, aber was Essen anging, könnte man mir jetzt beim besten Willen nicht mal mehr eine Wurst in den Mund zwingen.

Der andere Effekt, den meine Raserei stets hatte, war, mich zu verjüngen. Es ist schon eine seltsame Sache mit Werwölfen. Wir sind nämlich nicht unsterblich wie Vampire. Wir werden alt und müssen letzten Endes sterben, aber eine erfolgreiche Jagd kann den Alterungsprozess aufhalten und manchmal sogar umkehren, wenn wir genug töten … was ich seit fast dreißig Jahren nicht mehr getan hatte. Ich hatte mir erlaubt, alt zu werden, denn ich hatte gewollt, dass mein verfluchtes Leben endlich endet, aber jetzt, dank meines spontanen nächtlichen Straßenfestes, hatte ich die Uhr deutlich zurückgedreht und war wieder jung – oder zumindest nicht mehr ganz so alt wie vorher. Meine Haare waren noch immer grau und mein Gesicht voller Falten, doch meine Augen strahlten wieder blau und mein Körper fühlte sich stärker an als seit … nun ja, länger, als ich mich zurückerinnern konnte.

Als Erstes ging ich zur Bank. Ich hatte nämlich daran gedacht, meinen Geldbeutel einzupacken, als ich mit Rachel geflohen war, und jetzt hob ich genug ab, um mich komplett neu einzukleiden und ein Auto zu mieten. Wie die meisten alten Einsiedler hatte ich mit den Jahren einen beträchtlichen Notgroschen angespart. Tatsächlich hatte ich mit den Jahren ungefähr zehn Notgroschen angespart, alle auf andere Namen und auf anderen Bankkonten und keiner davon war zu mir zurück verfolgbar. Es zahlt sich nämlich aus, den Behörden immer einen Schritt voraus zu sein, besonders da sie wegen der berüchtigten Moor-Würger-Morde damals in den 1960er Jahren noch immer nach mir suchten. Die hatten natürlich nichts mit mir zu tun. Das war leider ganz und gar das Machwerk meines verstorbenen Vaters gewesen, aber ich stand deswegen trotzdem unter Verdacht. Herrlich, nicht wahr? Die meisten Eltern hinterlassen ihren Kindern ein Haus oder ein paar staubige, alte Fotoalben als Erinnerungsstücke, aber mein Vater nicht … nein, der hinterließ mir einen unvorteilhaften Ruf als Serienmörder, der mir wohl für den Rest meines Lebens anhaften wird. Ich vermute, im Gegensatz zum Mittelalter würden mich die Behörden wahrscheinlich einfach einsperren, anstatt mich zu hängen, aber alles in allem wäre es mir trotzdem lieber gewesen, mein Vater hätte mich komplett aus der Sache rausgehalten und sein Vermächtnis stattdessen einem anderen Trottel hinterlassen.

»Unglaublich, oder?«, fragte der Immobilienmakler, der es kaum schaffte, seinen Blick von der heutigen Zeitung loszureißen, obwohl ich ihm genau gegenüber saß und seit drei Minuten ungeduldig gegen seinen Schreibtisch trat. »Es heißt, sie sind jetzt schon in Schottland.«

»Tatsächlich?«, antwortete ich ausdruckslos.

»Es heißt, sie sind vielleicht genau hierher unterwegs.«

»Ist das so?«

»Ein alter Kerl und ein junges Mädchen, mit Maschinengewehren bewaffnet.«

»Ein alter Kerl, sagen Sie? Vielleicht so einer wie ich?«, erkundigte ich mich, nur um seine Aufmerksamkeit zu bekommen.

Der Makler senkte nun tatsächlich seine Zeitung und musterte mich interessiert. Ich war mittlerweile frisch gewaschen und gekämmt, nachdem ich in der Toilette des Eastgate Shoppingcenter ausgiebig Gebrauch von einem Stück Seife und einer Haarbürste gemacht hatte, bevor ich in einen Anzug von der Stange geschlüpft war.

Der Makler lächelte höflich und legte seine Zeitung jetzt endlich hin. »Wohl kaum«, sagte er. »Was kann ich denn für Sie tun?«

»Ich möchte eine Immobilie kaufen«, erklärte ich ihm. »An irgendeinem ruhigen Ort, weit, weit weg von allen anderen.«

TEIL 1

Das Haus der Toten

I

Cape Wrath ist eine Halbinsel im Norden Schottlands, der von Westen und Norden her die kalten Atlantikwinde zusetzen und die im Osten durch den Kyle of Durness vom nächsten Dorf abgeschnitten ist. Ursprünglich war es die Heimat einiger kleiner Bauern-Gemeinschaften, die das Land bearbeitet und wirtlich gemacht hatten, denn das Cape war beinahe hundert Jahre lang unbewohnt gewesen, zum Teil dank der Highlands Clearances des 18. Jahrhunderts und der Tatsache, dass man um keinen Preis der Welt Match of the Day auf die Mattscheibe bekam, nicht mal mit diesen richtig großen Fernsehschüsseln. Ein Großteil des Landes war gesperrt und wurde von der RAF für Bombenübungen benutzt, und die wenigen Straßen, die die Insel aufweisen konnte, waren im Winter und manchmal sogar im Sommer vollkommen unpassierbar. Im Norden gab es einen Leuchtturm und ein paar vereinzelte Einsiedler, die sich in den Granitsteinbuchten der zerklüfteten Küstenlinie vor der Welt versteckten, aber wenn ich nach Abgeschiedenheit suchte, versicherte mir der Immobilienmakler, dann war das eine der letzten unberührten Landschaften in ganz Großbritannien.

Es klang perfekt, wenn auch ein bisschen weit von Geschäften entfernt.

TAIGH NAM MARBH war schon so lange auf dem Markt, dass es mittlerweile unter schottischen Maklern als die Bundeslade der Grundstücksgeschäfte galt. In den letzten zwanzig Jahren war es ein halbes Dutzend Mal aus den Büchern genommen worden, aber fast direkt nach dem Verkauf war das verfluchte Cottage wieder aufgetaucht, da der jeweilige Pächter es entweder plötzlich verlassen hatte oder spurlos verschwunden war. Die Sachlage war auf jeden Fall höchst mysteriös, aber wie das Glück es wollte, lag es aufgrund dieser Umstände perfekt in meiner und Rachels Preisklasse. Ich kaufte es ungesehen und zahlte den Preis in bar.

»Ich bin mir sicher, Sie werden dort sehr glücklich sein«, meinte der Makler mit einem unkontrollierbaren Strahlen, das ihn wie einen Mann aussehen ließ, der es kaum erwarten konnte, die Buschtrommeln zu schlagen und seinen Kumpels diese absolut unglaubliche Nachricht zu erzählen.

Ich fuhr zur Farm und sammelte Rachel im Schutz der Dunkelheit dort ein. Der Mond nahm gerade ab und mein Fluch war damit für die nächsten vier Wochen erst einmal gebannt. Meine Scheinwerfer erfassten Rachel, die auf dem Feldweg vor der Scheune bereits auf mich wartete. Ihre Augen waren geweitet und ihr ramponiertes Nachthemd mit frischen Blutflecken befleckt.

»Was hast du getan?«, wollte ich sofort wissen, sprang aus dem Auto und zuckte beim Gestank von Tod in ihrem Atem angewidert zurück.

»Ach, John, sei doch bitte kein Heuchler. Das steht dir nicht«, antwortete sie mit einem missbilligenden Seufzen, nahm auf dem Beifahrersitz Platz und legte ihren Sicherheitsgurt an, während ich schweren Herzens zum Bauernhaus hinübersah. Drinnen rührte sich nichts. Nur ein einzelnes Licht brannte auf der Veranda, doch sonst war alles ruhig.

»Wie viele?«, fragte ich beklommen. Der Bauer hatte eine Frau und drei Kinder, soweit ich mich erinnerte.

»Nur einen«, versicherte sie mir stolz.

Ich fand ihn kopfüber in der Scheune hängend. Sein Hals war aufgeschlitzt worden und fast sein gesamtes Blut war aus ihm herausgeflossen. Ich war schwer von Rachel enttäuscht, stellte aber zu meiner Überraschung fest, dass es weder der Bauer noch seine Frau war. Sie waren nach Rachels Aussage mit den Kindern in die Stadt gefahren, um sich einen Film anzusehen. Der Typ, der an den Füßen in der Scheune hing, war ein opportunistischer Nachbar, der die letzten sechs Jahre ihre Eier gestohlen hatte, während sie fort waren und ihren Familien-Donnerstag genossen. Das hatte er Rachel nämlich erzählt, bevor sie ihm die Kehle rausgerissen hatte. Das hier war anscheinend seine Strafe.

»Ich fand es nur fair«, erklärte Rachel, als ich ihren Sarg in den Kofferraum unseres Autos lud. »Der Bauer war immerhin so nett, uns bleiben zu lassen, und ich hab mir ja nur ein paar Hühner genommen.«

»Und eine Ratte«, rief ich ihr in Erinnerung.

»Und eine Ratte«, bestätigte sie. »Ich fand, dass ich ihm etwas für seine Gastfreundschaft schuldete.«

So entsetzlich das auch war, musste ich zugeben, dass es doch eine Art Fortschritt war, denn vor dreißig Jahren hätte der Bauer, genau wie der Kerl in der Scheune, auf komplett unschöne Weise mit seiner Familie abgehangen.

Rachel machte also definitiv Fortschritte.

***

Ich hatte die Voraussicht besessen, ein Allradfahrzeug zu mieten, und darüber war ich jetzt sehr froh. Die Straße, die an der Küste von Cape Wrath entlangführte, war nämlich nicht viel mehr als ein schmaler Streifen aus Schlamm und Gras und unterschied sich vom umliegenden Schlamm und Gras nur insofern, dass weniger Felsen darauf lagen, die man umfahren musste. Aber so viel weniger nun auch wieder nicht.

Unser neues Zuhause lag nur ungefähr fünf Kilometer von der Hauptstraße entfernt, aber es hätten genauso gut fünfzig Kilometer sein können, so wie wir in der Nacht über einen schmalen Pfad holperten, der manchmal direkt über eine steile Klippe hinwegführte. In diesen Momenten war ich dann gezwungen, wieder zurückzufahren und nach der Gabelung im Weg zu suchen, die ich offensichtlich übersehen hatte. Letzten Endes stieg Rachel aus und lief vor mir her, um mir auf dem letzten tückischen Kilometer den Weg zu weisen, bis unsere Scheinwerfer schließlich endlich auf ein verfallendes Cottage fielen.

Eigentlich war verfallen gar kein passendes Wort dafür. Die uralten Steinwände neigten sich in gefährlichen Winkeln und das Dach war mit mehr Möwennestern als Ziegeln bedeckt. Die Hälfte des Schornsteins fehlte, aber glücklicherweise fanden wir die andere Hälfte in der Küche unter dem improvisierten Dachfenster. Die anderen Zimmer hatten die Jahre auch nicht besser überstanden. Neben der Küche befand sich ein schäbiges Wohnzimmer, dessen Bodendielen größtenteils vollkommen verrottet waren, eine Vorratskammer, die so faulig roch, dass ich noch nicht einmal eine Leiche darin aufbewahren würde, und zwei kleine Schlafzimmer oben, in denen man sich mit ausgestreckten Armen kaum im Kreis drehen konnte, die aber so aussahen, als hätte es jemand erst kürzlich versucht. Das Cottage besaß weder Elektrizität noch Gas, verfügte aber über fließendes Wasser – das meiste davon floss die Wohnzimmerwände herunter. Die Hälfte der Scheiben fehlte und die dunklen Holzbalken absorbierten offenbar jeden Funken Helligkeit, weshalb das gesamte Haus in düstere, Unheil verkündende Schatten getaucht war.

»Trotzdem immer noch netter als dein letztes Haus«, meinte Rachel, was zwar vollkommen unangebracht war, aber ansonsten schon irgendwie stimmte.

Das einzig Schöne an dem ganzen Cottage war das Bild, das im Flur hing. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, das Haus und das umliegende Land in Öl einzufangen, mit großzügigen weißen, blauen und grünen Pinselstrichen, die nahelegten, dass der namenlose Maler anscheinend so viel künstlerisches Talent besaß wie der Makler, der uns das Haus verkauft hatte. Ich hatte ihn zwar nach etwas Abgelegenem gefragt, aber ganz sicher nicht nach einer Ruine.

Rachel beanspruchte sofort die Vorratskammer für sich, also bahrte ich ihren Sarg dort auf dem Boden auf und schaute, ob ich irgendwo Feuerholz auftreiben konnte. In dieser ersten Nacht verbrannte ich kurzerhand die Reste des Treppengeländers und am Morgen begann ich sofort, eine Liste mit Baumaterialien aufzustellen, die ich brauchen würde, um das Haus wieder einigermaßen in Schuss zu bringen. Sie wurde letzten Endes mehrere Seiten lang, aber es fühlte sich gut an, ein Projekt zu haben, das meine Gedanken von dem, was in Thetford passiert war, ablenkte.

Ich hatte die Zeitungen nicht gelesen, daher kannte ich die Identitäten meiner Opfer nicht, aber ich war mir auch gar nicht sicher, ob ich das wollte. Was, wenn ich ein paar der Jungs getötet hatte, mit denen ich mich im Laufe der Zeit angefreundet hatte? Das könnte ich mir niemals verzeihen. Barry war so ein netter Junge gewesen. Farny und Collin auch, auf ihre Weise zumindest, und was Tommy betraf … er hatte in seinem kurzen Leben mehr Probleme gehabt als ich in fast sieben Jahrzehnten. Ich hatte erst mit sechzehn Jahren das erste Mal Monster getroffen, doch er hatte seit dem Tag seiner Geburt mit ihnen zusammengelebt. Gab es etwas Tragischeres als das?

Rachel wusste es besser, als mich mit dieser Sache zu nerven. Ich denke, ihre neu gewonnene Freiheit hatte sie von der Wut befreit, die sie für den Großteil eines Jahrhunderts mit sich herumgeschleppt hatte. Sie war ohne große Diskussionen damit einverstanden, in der ersten Nacht nur Seemöwen zu jagen, und brachte mir in den Falten ihres Nachthemds sogar noch einige Eier mit, die ich mir am nächsten Morgen zubereiten konnte.

Ich machte mir gerade Frühstück und kümmerte mich um meinen eigenen Kram, als ich plötzlich ein Klopfen an der Tür und die Stimme einer Frau hörte, die offenbar hierhergekommen war, um mir mehr als nur eine Tasse Zucker als herzliche Begrüßung anzubieten.

II

»Es ist so schön, das kleine Cottage wieder bewohnt zu sehen, und noch dazu von einem so starken und gut aussehenden Mann. Sie sind unserer kleinen Gemeinde herzlich willkommen, Mister …?«

Die Frau vor mir hätte beim besten Willen nicht schottischer aussehen können, in ihrem Kleid mit dem grünen Schottenkaro und einem selbst gestrickten Cardigan, der mithilfe einer silbernen Brosche in der Form einer Distel zusammengehalten wurde. Sie war bestimmt vom Fremdenverkehrsamt hierher geschickt worden.

Aber nein, wie sich herausstellte, war sie meine Nachbarin. Zugegeben, ihre Haustür befand sich einen Kilometer die Küste rauf, aber sie war dennoch der nächste Mensch weit und breit.

»Ich bin Virginia Fraser«, sagte sie, während ich mit meinem Namen immer noch nicht herausgerückt war.

»John … äh, Black«, sagte ich, wobei ich mich zu erinnern versuchte, ob das tatsächlich der Name war, unter dem ich das Grundstück gekauft hatte. Meine Pseudonyme waren meistens Black, Stoker, Ash, und manchmal, wenn ich besonders faul war und mich nicht damit aufhalten wollte, mir was Kluges auszudenken, Cole.

»Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Black. Gibt es hier im Haus auch eine Mrs. Black?«, fragte sie mit der gesammelten Subtilität eines kürzlich entlassenen Vergewaltigers.

»Nicht mehr, leider«, log ich mit einem traurigen Kopfschütteln. Mit den Jahren hatte ich festgestellt, dass die Menschen weitaus mehr Verständnis für Witwer als für Junggesellen hatten. Als Witwer darf man nämlich ein bisschen distanziert daherkommen, aber benimmt man sich als Junggeselle so, dann wird man sofort von jedem verdächtigt, wann immer eine Katze im Viertel verschwindet.

»Das tut mir leid. Das Problem mit der Einsamkeit verstehe ich nur zu gut«, sagte sie. Es wirkte fast schon wie ein Angebot. Sie war durchaus eine attraktive Frau, Mitte fünfzig, mit flammend rotem Haar und windgeküssten Wangen, aber ich war mir nicht sicher, ob sie wirklich mein Typ war. Auf der anderen Seite war es so lange her, seit ich einen Typ gehabt hatte, dass ich mir heutzutage über gar nichts mehr sicher war, besonders wenn es um Frauen ging. Mit Vampiren, Geistern, Werwölfen und Dämonen konnte ich umgehen, aber Frauen jagten mir immer noch eine Heidenangst ein.

In dem Moment erinnerte sich Virginia offenbar an die Blumen, die sie mir mitgebracht hatte, und reichte mir einen kleinen Strauß weißer Lilien, die sie mit einem zu einer säuberlichen Schleife gebundenen Seidenband umwickelt hatte.

»Danke«, sagte ich, weil es sich wie etwas anfühlte, das ich unter diesen Umständen sagen sollte. Aber um ehrlich zu sein, habe ich nie begriffen, was der Reiz an Blumen sein soll. Sie sind schließlich nichts weiter als Fortpflanzungsorgane von Pflanzen, aber aus irgendeinem Grund lieben die Menschen es, sie abzuschneiden und sie einander zu schenken.

»Wenn Sie die Stiele noch mal anschneiden und ein bisschen Zucker ins Wasser geben, werden sie bis zu zwei Wochen halten«, erklärte sie, was ich ebenfalls für einen kranken Gedanken hielt. Falls ich mich jemals verstümmelt oder geköpft wiederfinden sollte, würde es mir gerade noch fehlen, dass der kranke Bastard, der mich geköpft hat, meinen Tod so lange wie möglich hinauszögert, nur weil ich auf dem Kaminsims so toll aussehe.

»Ich werde bestimmt ein schönes Plätzchen für sie finden«, sagte ich zu ihr, aber dieses Versprechen war Virginia offenbar nicht entschieden genug, denn sie bat sich jetzt einfach selbst ins Haus und ging direkt in meine baufällige Küche.

»Sie erlauben«, sagte sie, als sie eine Fläche freiräumte und die Blumen von dem Band befreite. Sie hatte sogar eine Vase mitgebracht, ein grässliches schwarzes, mit keltischen Symbolen verziertes Ding, das aussah, als wäre es in einem Ofen gebrannt worden und hätte dabei einen Herzanfall erlitten.

»Ich ziehe sie selbst in meinem Gewächshaus«, erzählte sie mir nun, während sie die Stiele kürzte und sie mit unendlicher Vorsicht in die schreckliche Vase stellte. »Zucker?«, fragte sie mit einem Blick zur Vorratskammer, doch ich hielt sie schnell auf, bevor sie noch weiter ins Haus vordringen konnte.

»Tut mir leid, aber ich muss da drin erst sauber machen, bevor ich dort Lebensmittel einlagere. Momentan ist da alles voller Spinnen und Nacktschnecken.«

»Oh, das tut mir leid. Ich hätte ja vor Ihrer Ankunft für Sie geputzt, aber wir haben erst gestern Nachmittag erfahren, dass das Cottage wieder einen Besitzer hat«, sagte sie, sehr zu meiner Verwirrung.

So wie es aussah, war Virginia nicht nur meine Nachbarin, sondern auch die Grundbesitzerin. Ich hatte anscheinend lediglich den Pachtbesitz gekauft. Während das Cottage mir gehörte, gehörte das Land, auf dem es stand, Virginia. Zusammen mit einem weiteren großen Gebiet des Küstenstrichs. Das sollte mir eine Lehre sein, in Zukunft unbedingt auch das Kleingedruckte zu lesen.

»Dieses Haus stand jetzt schon so lange leer, dass wir leider zugelassen haben, dass es ein bisschen verfällt«, erklärte sie, was ja wohl die Mutter aller Untertreibungen war, daher war ich beinahe versucht, sie zu fragen, ob sich nicht eher eine der RAF-Bomben hierher verirrt hatte. Stattdessen fragte ich allerdings etwas noch Dümmeres.

»Wir?«

Virginias Lippen kräuselten sich zu einem schmalen kleinen Lächeln und ich trat mir deshalb innerlich auf der Stelle in den Hintern. »Meine Schwester und ich«, meinte sie mit einem verstohlenen Zwinkern und mein Herz wurde bei dem Gedanken daran, dass demnächst zwei von der Sorte regelmäßig auf meiner Türschwelle auftauchen könnten, unendlich schwer. »Wenn Sie etwas brauchen – und ich meine, egal was – können Sie einfach jederzeit vorbeikommen«, drängte sie mich mit einer Offenheit, die sogar ihre Lilien zum Erröten bringen musste.

Sie hörte jetzt auf, die Blumen in der Vase zu drapieren, und reichte sie mir.

»So, bitte. Wo werden Sie sie denn hinstellen?«

Beim Komposthaufen draußen, war mein erster Gedanke gewesen, aber sie hatte sich so viel Mühe gegeben, dass ich glaubte, es ihr zu schulden, sie an einem etwas schöneren Platz auszustellen. Die Küche wäre zu warm, sagte mir Virginia, und das Schlafzimmer zu kalt, also ordnete sie an, sie auf das Sideboard im Flur zu stellen, das sich genau im Herzen des Hauses befand.

»Hier beleben sie das Haus doch ungemein, finden Sie nicht?«, fragte sie jetzt, ohne zu würdigen, dass das Haus bereits von allen Arten von Flora und Fauna belebt wurde. Virginia warf einen Blick auf das Ölgemälde des Cottages, das an der gegenüberliegenden Wand hing, und fasste sich dann an die Brust.

»Es ist mein absoluter Traum, dieses alte Haus wieder so zu sehen, wie es früher einmal gewesen ist«, sagte sie.

»Ich werde mein Bestes geben«, sagte ich zu ihr. »Danke fürs Vorbeikommen.« Ich hielt ihr die Haustür auf, für den Fall, dass sie jetzt von mir erwartete, dass ich den Kessel aufsetzte. Zum Glück verstand sie den Wink.

»War mir ein Vergnügen«, antwortete sie. »Es war so schön, Sie kennenzulernen, John. Als Nächstes werden Sie uns mal besuchen kommen, nicht wahr? Wir wohnen direkt die Küste runter, Milly und ich, und wir backen unheimlich gern.«

»Dann werde ich einfach meiner Nase folgen«, versprach ich ihr, was ihre Lippen sofort zum Beben brachte.

»Auf Wiedersehen und bis bald hoffentlich«, sagte sie und zwängte sich so langsam wie nur möglich an mir vorbei. Ich presste mich flach gegen die Wand, versuchte aber gleichzeitig, nicht zu fest zu drücken, damit nicht die ganze Decke über uns runterkam. Virginia nutzte das sofort voll aus, indem sie sich übertrieben an mir vorbeischob. So langsam begriff ich, warum es früher immer Lehnsfrau geheißen hatte.

»Entschuldigung«, hauchte sie, meinte es aber ganz offensichtlich kein Bisschen ernst.

Sobald sie draußen war, drehte sie sich wieder um und betrachtete mich wie eine Katze einen verwundeten Spatzen. »Ich bin mir sicher, dass Sie hier sehr glücklich werden«, sagte sie, bevor sie sich endlich losriss, um mich meinem Frühstück zu überlassen.

Mir kam plötzlich ein spontaner Gedanke, deshalb rief ich ihr hinterher, bevor sie ganz verschwunden war.

»Was bedeutet Taigh nam Marbh eigentlich?«, fragte ich und zeigte auf das rissige Holzschild, das neben der Vordertür herabhing.

»Haus der Toten«, antwortete sie und bedachte mich mit einem letzten, langen Blick, bevor sie die Küste hinauf nach Hause zu ihrer Schwester ging.

III

Das Haus der Toten hatte sich seinen Namen wirklich redlich verdient. Zweihundert Jahre zuvor war es offenbar das Heim eines Bauern und seiner Familie gewesen, der hier das umgebene Land bestellt und Vieh gezüchtet hatte, genau wie sein Vater vor ihm und seines Vaters Vater davor. Das Cottage selbst war im Laufe vieler Jahre aufgebaut und dann immer wieder umgebaut worden … hier war eine Wand herausgebrochen worden, da ein Balken hinzugefügt, bis es schließlich geräumig genug war, um vier Erwachsenen, sechs Kindern und einem Border Collie ein Zuhause zu bieten.

Das Leben auf dem Land war zwar hart, doch das Cottage war ein unbeschwerter Ort gewesen, voller Gesang und Tanz und Geschichten am Kamin, damit die langen Winternächte schneller vorübergingen. Der Bauer hatte sich als glücklicher Mann gefühlt, wenn er seine liebevolle Familie betrachtet hatte. In seinem kleinen Cottage hatte er alles gehabt, was er brauchte, und er hatte niemals fortgehen wollen. Doch er hatte mit fast allem unrecht, insbesondere mit dem Glücklichsein.

Am Geburtstag seiner Frau war plötzlich der Sheriff gekommen und hatten dem Bauern und seiner Familie befohlen, das Cottage sofort zu verlassen. Der gesamte Küstenstrich musste auf Anordnung des Duke of Durness geräumt werden, denn der hatte vor, das Cape in Schottlands führendes Wildreservat zu verwandeln. Während der Viktorianischen Ära war der Tourismus zunehmend lukrativer geworden. Hunderte unternehmungslustige Aristokraten reisten jedes Jahr zur Jagdsaison nordwärts und der Duke of Durness war wild entschlossen, dass seine wohlhabenden Gäste Spaß haben sollten und ihr Wild nicht von einer schmutzigen Vagabundenfamilie, die dem Land ihrer Vorfahren ein Leben abrang, verscheucht werden würde.

Doch der Bauer hatte sich dem Befehl widersetzt. Er hatte sich geweigert, zu gehen, und daraufhin war ein Kampf ausgebrochen, der damit geendet hatte, dass einem der Männer des Sheriffs in den Bauch gestochen worden war. Während er auf der Türschwelle verblutet war, hatte sich der Bauer mit seiner Familie drinnen verbarrikadiert und der Sheriff hatte nach Verstärkung geschickt. Ziemlich schnell hatte er das Haus mit seinen Männern umstellt und verlangt, dass der Bauer verschwand. Doch der Bauer hatte nicht einen Millimeter nachgegeben, besonders, weil er sich sicher war, dass der Sheriff ihn vermutlich sofort am nächsten Baum aufknüpfen würde. Stattdessen hatte er seiner Frau und seinen Kindern befohlen, sich hinzuknien und inbrünstig zu beten, während er seine alten Eltern ins Wohnzimmer gebracht und sie mit einem Schlag auf den Kopf getötet hatte. Das war leider nötig gewesen, um sie davon abzuhalten, sich in das einzumischen, was er als Nächstes tun musste. Der Bauer wusste ganz genau, dass sein Leben nun verwirkt war, und er konnte den Gedanken daran, dass seine Kinder ohne ihn aufwachsen mussten, einfach nicht ertragen, daher schnitt er jedem von ihnen systematisch die Kehle durch, angefangen beim Ältesten, bis hin zu seinem neugeborenen Baby, das erst sechs Monate alt war. Während ihre Kinder entsetzt aufschrien, betete seine Frau einfach die ganze Zeit über weiter, da sie ihrem Ehemann bis zum Schluss pflichtbewusst ergeben war. Sie lächelte sogar zu ihm hinauf, als er ihr die Kehle durchschnitt, doch dann konnte er einfach nicht den Mut aufbringen, sich das Gleiche anzutun. Stattdessen erhängte er sich unter dem Hämmern der Männer des Sheriffs an einem Balken in der warmen und heimeligen Küche.

Als der Sheriff schließlich endlich die Tür aufbrach, fand er überall Leichen und den verzweifelt gegen einen untauglichen Knoten, der ihn langsam erwürgte, ankämpfenden Bauern vor dem lodernden Herd. Die Männer des Sheriffs wollten ihn losschneiden, doch der Sheriff befahl ihnen zurückbleiben und öffnete stattdessen mit einem Tritt den Kaminschirm, damit der Bauer nun auch noch die ganze Macht der Flammen spüren musste. Man erzählt sich, dass er zehn Minuten lang unter unvorstellbaren Schmerzen bei lebendigem Leib gebraten wurde, bevor er endlich starb. Die perfekte Vorbereitung darauf, was ihn auf der anderen Seite erwartete, wie die meisten meinten, die seinen Kampf bezeugt hatten.

»Das ist ja eine schöne Geschichte«, meinte Rachel und seufzte zufrieden. »Erzähl sie mir noch mal.«

Früher am Tag war ich nach Durness gefahren, um Vorräte einzukaufen, und egal, wo ich auch hingegangen war, man hatte mir jedes Mal nur zu gern etwas Unerfreuliches über mein neues Zuhause erzählt. Rachel hätte kaum glücklicher sein können, als ich ihr später am Abend die Details berichtete. Manche waren vielleicht begeistert, wenn sie feststellten, dass sie in den ehemaligen Häusern von Sir Walter Scott oder Albert Einstein wohnten, aber Rachel nicht. Sie brauchte nur ein gutes Massaker, um sich irgendwo heimisch zu fühlen.

Draußen herrschte jetzt Nacht und den Meeresklippen fehlten dank meiner Mitbewohnerin jetzt noch mehr Möwen. Der Winter rückte immer näher und im Cottage war es eiskalt, aber Rachel trug nie etwas anderes als ihr schmutziges weißes Nachthemd und eine permanente Schmutzschicht am Leib. Ich hingegen war vollkommen durchgefroren, selbst als ich schon beinahe im Feuer saß. Im Moment beneidete ich den Bauern fast.

Ich hatte den Rest des Tages damit verbracht, so viele Ziegel, wie ich erreichen konnte, zu ersetzen und die zerbrochenen Fenster erst einmal mit Brettern zu vernageln. Trotzdem war es im Cottage noch immer so kalt wie in einem Grab. Kein Wunder, dass es Rachel nichts auszumachen schien.

»Für mich ist es jetzt Zeit, ins Bett zu gehen«, verkündete ich ihr nach einer weiteren Wiederholung der Geschichte, dieses Mal mit ein paar zusätzlichen Adjektiven, um Rachels Augen vor Entzücken aufleuchten zu lassen. Es war mittlerweile fast Mitternacht und ich war zum Umfallen müde. Vierzehn Stunden am Stück das Haus zu reparieren und Möbel zusammenzubauen war mehr, als mein Körper momentan verkraftete. Doch Rachel wollte nicht, dass ich ins Bett ging. Als Kreatur der Nacht konnte sie in den Stunden zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang nicht ruhen und war daher jetzt in der Stimmung für Gesellschaft. Ich hatte ihr nämlich verboten, nachts die Heide auf der Suche nach Schäfern, die sie schröpfen konnte, zu durchstreifen. Rachel hatte mit den Jahren wirklich große Fortschritte gemacht, aber sie war trotzdem noch lange nicht von ihren psychopathischen Neigungen geheilt. Sie gab sogar selbst zu, dass sie Probleme hatte – so nannte man das, glaube ich, heutzutage – und sie arbeitete wirklich hart an deren Bewältigung, aber das packte sie nun mal wesentlich leichter, wenn sie beschäftigt und nicht sich selbst überlassen war. Aber wer von uns ist da schon anders? Um welche Sucht es dabei geht, spielt keine Rolle; Abstinenz ist immer einfacher, wenn man das Instrument seiner Zerstörung nicht aus einem Kühlschrank, einem Bett oder einem liegen gebliebenen Schulbus in der Nähe nach sich rufen hört.

»Bitte, es ist doch noch früh«, bettelte Rachel und ich stimmte widerwillig, sehr widerwillig, zu, noch für eine Runde Leiterspiel mit ihr aufzubleiben. Das war Rachels Lieblingsspiel. Sie konnte es stundenlang spielen. Ich glaube, es sprach irgendwie ihre Auffassung von Schicksal an. Das Leiterspiel hat nämlich nichts mit Fähigkeiten oder Entscheidungen zu tun. Man geht einfach dorthin, wo der Würfel einen hinschickt, schuldfrei und ganz ohne Reue. Ich hatte über die Jahre hinweg versucht, ihr die Feinheiten von Schach und Dame beizubringen, aber Rachel konnte sich mit beidem einfach nicht anfreunden. Das war schon irgendwie witzig … sie war hundert Jahre alt, aber in so vielen Dingen war sie noch immer ein zwölfjähriges Kind, innerlich wie äußerlich.

Rachel würfelte und machte den ersten Zug.