Das Haus im Himmel - Stephan Urfer - E-Book

Das Haus im Himmel E-Book

Stephan Urfer

0,0

Beschreibung

Ein junger Mann zieht sich für ein Jahr in die Abgeschiedenheit der Natur zurück. Enttäuscht von Kirche und Christentum und verunsichert durch Aussagen der Wissenschaft, hat er letztlich nur eine Frage: Gibt es Gott? Gibt es Gott? Muss man sich zwischen Wissenschaft und Glauben, zwischen Evolutionstheorie und Christentum entscheiden? Wie soll man die Bibel verstehen? Was bedeutet Erlösung, wer ist Christus? Was ist mit dem ganzen Leid in der Welt, und sollte es tatsächlich so etwas wie die Hölle geben? Diesen und anderen Fragen wird in diesem Buch in der Form einer Erzählung nachgegangen. Dabei verbinden sich die theologischen Fragestellungen mit der Suche des Protagonisten nach dem Göttlichen. Eine sehr ehrliche und bewegende Reise, zu den Grundlagen des Glaubens und zum Ursprung des eigenen Seins.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 369

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

2. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten

© copyright by Riverfield Verlag

Reinach BL (CH) www.riverfield-verlag.ch

Korrektorat, Satz und E-Book-Programmierung: Dr. Bernd Floßmann, Berlin (D)

Umschlaggestaltung Riverfield Verlag

Bildnachweis Umschlag pixelparticle/Shutterstock.com

Druck und Bindung CPI books GmbH, Leck (D)

Print: ISBN 978-3-907459-10-2

E-Book: ISBN 978-3-907459-11-9

Inhalt
Titel
Impressum
Sommer
Prolog
Der Schmetterling
Wer hat den Glauben an ein »Haus im Himmel« zerstört?
Zurück zum Ursprung?
Der glimmende Docht
Herbst
Mitten in der Nacht
Der Platz vor dem Tisch
Winter
An den Strömen Babels, da saßen wir und weinten
Der du meinen Namen kennst, dir weih’ ich mein Sein
Frühling
Wenn alle untreu werden, so bleib ich dir doch treu
Freiheit auszurufen den Gefangenen
Das Haus im Himmel
Verwendete Literatur
Über den Autor

 

 

Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe an; wenn jemand meine Stimme hört und die Tür öffnet, zu dem werde ich hineingehen und mit ihm essen und er mit mir. 

Offenbarung 3,20

Sommer

Prolog

»Ja, es steht leer.«

 …

»Ja, aber wir vermieten es eigentlich nicht.«

 …

»Ah … Für wie lange denn?«

 …

»Ein ganzes Jahr? !«

 …

»Samstag?«

 …

»Nein, die Straße endet bei der großen Eiche. Von dort muss man zu Fuß weiter.«

 …

»Eine gute Stunde.«

 …

»Nein, es hat keinen Strom.«

 …

»Mein Mann könnte Sie mit dem Auto bis zur Eiche fahren. Von dort müssten sie alleine weiter. Er kann kaum noch gehen.«

 …

»Er würde ihnen den Weg weisen. Sie könnten es nicht verfehlen.«

 …

»Ach, ich habe ja fast vergessen zu sagen … Das Häuschen liegt jenseits des Baches, auf der anderen Seite des Tales. Die Brücke wurde vor Jahren bei einem schweren Unwetter jedoch weggeschwemmt ! Es gibt allerdings eine Stelle, an der man den Bach durchqueren kann … doch sie würden bestimmt nasse Füße kriegen.«

 …

»Aha … gut !«

 …

»Mit Holz. Aber das Häuschen ist gut isoliert und Holz ist massenweise vorhanden.«

 …

»Wir haben es ursprünglich als eine Art Rückzugsort gebaut, aber wir haben es seit Jahren nicht mehr benutzt.«

 …

»Das wäre eine lange Geschichte.«

 …

»Nein, nein, das ist kein Problem.«

 …

»Kommen sie im Dorfladen vorbei …«

 …

»Ja, mein Mann und ich führen den Laden …«

 …

»Gut … einverstanden …«

 …

»Ja, sie werden es lieben. Es ist wunderschön hergerichtet und der Ort ist paradiesisch.«

 …

»Also, dann bis Samstag !«

 …

Der Schmetterling

»Dort !«, schreit der Mann und zeigt, während er meine Taschen aus dem Gepäckfach reißt und auf den Boden wirft, über den Dorfplatz.

Dort? denke ich mir.

Ah, ja, in der Tat ! Jetzt sehe ich ein Schild: »Dorfladen«.

»Danke !«, gebe ich etwas unbeholfen zurück. Doch der Mann sitzt bereits wieder im Bus. Die Türen schließen sich und er fährt davon.

In eine große Staubwolke gehüllt bleibe ich zurück und beginne zu husten. Was für ein Staub ! Wie lange es hier oben wohl nicht mehr geregnet haben mag?

Nach kurzer Zeit legt sich das Staubgewirbel wieder und ich sehe weit unten auf der Straße den in der Sonne glitzernden und funkelnden Bus dem Bach entlangfahren. Dann entschwindet er langsam ganz meinen Blicken.

Da bin ich nun also !

Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und schaue mich um. Die Hitze ist einfach unerträglich !

Erschöpft schleppe ich meine Taschen zu der Bank unter der Linde, die mitten auf dem Platz steht, und setze mich nieder.

Ein Spatz kommt daher gehüpft.

Nachdem ich meinen restlichen Reiseproviant und meine Wasserflasche hervorgekramt habe, streue ich dem frechen Besucher einige Brotkrümel hin.

Vier Uhr nachmittags, zeigt meine Uhr. Um fünf Uhr in der Früh bin ich losgefahren !

Was für eine Reise !

Die Uhr werde ich wegwerfen oder … ganz unten in meiner Tasche verstauen ! Ja, keine Uhr mehr während der Zeit hier oben ! Ha … das wird ein Befreiungsschlag sein !

Der Lindenbaum ist wunderschön !

Wie viel kühler es doch unter einem solchen Baum gleich ist !

Jetzt fallen mir erst die gewaltigen Berge auf, die in der Ferne auf der anderen Seite des Baches hoch in den Himmel ragen. Majestätisch ! Still und erhaben !

Unglaublich !

Die Gipfel sind noch immer mit Schnee bedeckt.

Bei dieser Hitze? !

Wie hoch diese Berge wohl sein mögen?

Ein Idiot sei ich, meinte der Busfahrer.

Nun zankt sich bereits ein ganzer Schwarm von Spatzen um meine Brotkrümel.

Ein Idiot?

Ich hätte ihm halt nichts von meinem Vorhaben erzählen sollen.

Selber schuld.

Aber er schien zuerst ganz nett zu sein.

Was ich denn vorhätte hier oben, ganz alleine, fragte er mich.

Die Wahrheit über Gott herausfinden? Das sei ja lächerlich, schrie er dann plötzlich auf ! Die Frage sei doch unbeantwortbar ! Ich solle mich lieber dem wirklichen Leben zuwenden – und erwachsen werden !

Ja … dasselbe haben mir ja auch meine Leute zu Hause gesagt ! Ein Jahr nichts tun? Das sei ja idiotisch ! Eine reine Zeitverschwendung !

Aber …, wenn ich diese Berge so betrachte … dann hat sich die ganze Sache eigentlich bereits gelohnt !

Einfach unglaublich schön, dieser Anblick !

Wie lange diese Berge schon so dastehen mögen?

Und nichts tun …

Vielleicht wurden ja auch sie bereits »Idioten« genannt !

Ja ! Einfach nur so vor sich hin in den Himmel ragen … das geht doch nicht !

Aber … da stehen sie ! Unberührt, unbeweglich.

Nachdenklich esse ich mein letztes Brötchen auf.

Ob das Zufall war, dass ich den Zug verpasst und diese Nonne in dieser Kirche getroffen habe? frage ich mich nach einer Weile.

Sie fand mein Vorhaben … »wunderbar« !

Ich solle jedoch nicht ohne »geistliche Begleitung« – wie sie das nannte – längere Zeit in der Stille verbringen, meinte sie dann.

Ja, ja !

Sie mag ja … vielleicht … recht haben.

Aber … ich habe nun mal halt keinen solchen »geistlichen Begleiter«.

Doch …, wenn es in der Tat so dringend nötig sein sollte, dann werde ich einen finden.

Bestimmt !

Irgendwo.

»Zu früh oder zu spät !«, brüllt auf einmal eine Stimme hinter mir.

Erschrocken springe ich hoch.

Ein alter Herr steht hinter der Bank neben dem Baum, in Kittel und Krawatte gekleidet, mit einer dicken Zigarre im Mundwinkel.

Verwirrt bleibe ich stehen. Zu früh oder zu spät, was soll das bedeuten? denke ich mir.

Jetzt schreitet er langsam um die Bank herum, fast so wie ein Pferd, das man zum Beschlagen der Hufe von einer Seite auf die andere wendet.

Ganz vorsichtig setze ich mich wieder hin.

Der alte Mann steht nun direkt vor mir.

Höchst merkwürdig ! denke ich mir.

»Zu früh oder zu spät? Zu dieser Zeit gibt es hier oben keine Touristen !«, brummt er nun wieder mit lauter Stimme, während er an seiner Zigarre pafft und mich von oben bis unten mustert.

Jetzt hebt er auf einmal ruckartig die Arme in die Höhe, atmet tief ein und … Oh, er wollte wohl gerade etwas sagen, aber … nun beginnt er zu husten.

Meine Güte !

Und wie der Mann hustet !

Jetzt bückt er sich, stemmt seine Arme auf die Knie und röchelt nach Luft, richtet sich wieder auf und hustet weiter … Nun fällt ihm die Zigarre zu Boden und … oh nein ! … es darf nicht wahr sein … jetzt hustet er tatsächlich sein ganzes Gebiss aus dem Mund.

Entsetzt blickt der Mann, noch immer hustend und röchelnd, auf seine Zähne, die nun im staubigen Kies neben der Zigarre am Boden liegen. Und da schwirrt bereits eine Fliege heran und setzt sich auf einen seiner Stockzähne. Schrecklich, dieses aufgesperrte Gebiss am Boden und die Fliege darauf, denke ich mir.

Mit sichtlicher Anstrengung bemüht sich der Herr nun sein Gehuste zu unterdrücken, zieht ein großes, weißes Taschentuch hervor, hebt seine zerbrechlichen Kostbarkeiten sorgfältig hoch und steckt sie in die Westentasche.

Die Zigarre qualmt noch immer.

Wie ein alter Kriegsoffizier salutiert er plötzlich, beginnt wieder heftig zu husten und schleicht sich schließlich im Zickzack über den Platz davon.

Die Zigarre qualmt noch immer.

Verwirrt betrachte ich das Ding.

Dann trete ich darauf herum, bis der Rauch verglommen ist.

Was für eine merkwürdige Begegnung ! denke ich kopfschüttelnd.

Was der Herr mir wohl hatte sagen wollen?

Na ja … vielleicht hätte ja auch er mich bloß einen Idioten genannt.

Zu früh oder zu spät …?

Hoffentlich nicht !

Hoffentlich bin ich … zur rechten Zeit hier oben angekommen !

Nachdenklich bleibe ich etwas sitzen, dann seufze ich tief auf, ergreife meinen Rucksack und die Taschen und gehe langsamen Schrittes auf den Dorfladen zu.

*

Nach einigem Rütteln und mit etwas Kraft gelingt es mir schließlich, die Türe aufzustoßen.

Vor mir liegt ein dunkles Loch.

Nach einem Lichtschalter suche ich vergebens … Licht gibt es hier oben keines, wie mir gleich wieder einfällt.

Also werde ich wohl keine andere Wahl haben, als in dieses finstere Loch eintreten und nach einem Fenster suchen zu müssen.

Mir wird etwas unwohl zumute.

Was, wenn da drinnen ein Ungeheuer auf mich wartet? Ein Drache … oder eine alte, hässliche Gestalt, die mich, mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Lehnstuhl sitzend, mit den Worten empfängt: »Ich habe auf dich gewartet, Schätzchen. Ich wusste, dass du kommen wirst !«

Ich räuspere mich einige Male, im Bestreben, meine etwas zu lebhafte Fantasie von mir zu schütteln, hole tief Luft und trete dann ein.

Nachdem ich mich durch einige Spinnweben hindurchgekämpft habe und über irgendeinen Gegenstand gestolpert bin, berühren meine Hände schließlich eine Wand. Nach unbeholfenem Abtasten finde ich tatsächlich ein Fenster und öffne den Fensterladen.

Die Strahlen der Sonne fallen in den dunklen Raum hinein, direkt auf einen alten, wunderschönen Kamin an der Wand.

Erleichtert atme ich auf, öffne schnell alle anderen Fensterläden und schaue mich dann um.

Vor dem großen Fenster, das sich in der Mitte der Holzwand, gegenüber der Eingangstüre befindet, steht ein aus massivem Holz gezimmerter Tisch und ein Stuhl. An der linken Wand befindet sich ein zweites, etwas kleineres Fenster und daneben steht dieser wunderschöne alte Kamin an der Wand mit einem Lehnstuhl und einem kleinen Tischchen davor. Rechts in der Nische befindet sich das Bett mit einem in die Wand eingebauten Bücherregal an der Kopfseite, und in der hinteren linken Ecke gibt es eine kleine Küche mit zwei winzigen Fenstern, einem Tisch und einem Stuhl davor. Rechts befindet sich das Badezimmer, und die Türe gegenüber führt in den Keller.

Die Frau hatte recht !

Das Häuschen ist in der Tat wunderschön hergerichtet !

Der perfekte Ort für mein Unterfangen !

Mit dem Finger kritzle ich nun etwas in den Staub, der auf dem großen Tisch vor dem Fenster liegt: »putzen !«

Ja. Die ganze Geschichte muss herausgeputzt werden ! Doch dann wird dieser Ort sein … wie das Paradies.

Auf der Suche nach Putzutensilien steige ich in den Keller hinunter. Da fällt mein Blick auf einen Lehnstuhl für den Garten. Nachdem ich ihn etwas entstaubt habe, schaffe ich ihn mit Begeisterung hinauf, setze mich damit erst einmal an den Bach in die Sonne und lasse meine Füße und Schuhe an der Wärme trocknen.

*

Da kommt ein Schmetterling geflogen und setzt sich auf meinen Arm, während ich dem Wasser des Baches zusehe, das still dahinfließt.

Ach … ein Schmetterling, denke ich mir. Der fliegt bestimmt gleich wieder davon.

Aber, nein.

Ruhig bleibt er sitzen !

Vorhin entdeckte ich doch einen kleinen Frosch im Grase, als ich den Lehnstuhl aufklappte, fällt mir gerade wieder ein.

Schmetterling und Frosch?

Das sind doch die zwei klassischen Bilder einer Verwandlung: Die Raupe wird zum Schmetterling, die Kaulquappe zum Frosch.

Fast im selben Augenblick?

Ein eigenartiger Zufall …

Unbeeindruckt von meinen Gedankengängen bleibt der Schmetter­ling ruhig auf meinem Arm sitzen, fast so, als hätte man ihn mit einer Stecknadel daran festgemacht, wie man die Falter und Insekten in den Museen in diese Schaukästen steckt.

Gespannt beginne ich ihn, leicht verwirrt über seine Beherztheit, zu betrachten.

Wirklich eine schöne Kreatur ! denke ich nach einer Weile.

Eigentlich schade, dass ich, all der Leute wegen, die ständig ein solches Theater um diese »wundersamen Bilder der Verwandlung« machen, bis anhin instinktiv alles Schmetterlingshafte gemieden habe.

Dabei ist ein solcher Schmetterling in der Tat … wunderschön !

Diese Farben, und das Muster !

Unglaublich !

Aber … auf unterschwellige Art und Weise wollten einem diese Leute doch nur zu verstehen geben, dass man sich gefälligst zu verwandeln, zu »metamorphosieren« hat, bis man ihrem Bild, ihren Vorstellungen und ihren Ansichten entspricht.

Obwohl es ja wirklich eine Lächerlichkeit ist zu meinen, man könnte einer Raupe vorschreiben, in welchen Schmetterling oder in welches Wesen sie sich zu verwandeln habe.

Dieser Schmetterling ist wirklich einzigartig schön !

Noch nie habe ich mir die Zeit genommen, einen Schmetterling aus solcher Nähe zu betrachten.

Auch dieser verwandelte sich doch einfach seiner Art gemäß.

Oder hätte man von ihm etwa erwarten sollen, dass er sich in ein Pferd verwandelt?

Oder hat jemals eine Menschenseele davon gehört, dass sich eine Kaulquappe in einen Kirschbaum verwandelt hat?

Ha … nein !

So weit reicht das Wunder der Verwandlung dann doch nicht.

Die Raupe wie auch die Kaulquappe können sich nur zu dem Geschöpf hin entwickeln, zu dem sie erschaffen worden sind.

Oder etwa doch nicht?

Könnten etwa bestimmte äußere Einflüsse aus der Raupe eines Pfauenauges in der Tat einen Pfau hervorbringen lassen?

Nein !

Die Transformation kann doch nur in das wahre Wesen verwandeln, denke ich mir wieder.

Da schlägt mein inzwischen lieb gewordener kleiner Freund auf einmal seine Flügel nach oben zusammen … und die Unterseiten kommen zum Vorschein.

Jetzt sind die wunderschönen satten Farben verschwunden und es scheint, als säße eine alte, gebeugte Witwe in Trauerkleidung auf meinem Arm.

Schwarzer Samt, aschgrauer und dunkelbrauner Flanell, mit schwarzen Stickereien umrahmt. Ja, in früheren Zeiten kleidete man sich noch in Schwarz, wenn man in Trauer war.

Aber weshalb sollte sich dieser Falter hier im Verborgenen in Trauer kleiden?

Wegen seiner verlorenen Raupenzeit?

Ja, vielleicht !

Er wurde zu einem Schmetterling. Der Preis dafür war jedoch die Aufgabe seines Raupendaseins. Die Verwandlung hinterließ Zeichen des Todes des alten Selbst und Narben des Kampfes um die Geburt des wahren Selbst, die noch immer verborgen unter den Flügeln des gewordenen Schmetterlings getragen werden !

Aber da schlägt mein »heimlicher Trauerfalter« seine Flügel auch schon wieder auseinander … und all das Leid und all der Schmerz scheinen wieder wie weggewischt zu sein … strahlende, leuchtende Farben schimmern aufs Neue im Sonnenschein.

Mit einem seiner langen, dünnen Ärmchen streicht er sich nun würdevoll über den Kopf, so als wollte er, wie ein großer Geiger, mit seinem Bogen zu einem getragenen, feierlichen Violinsolo ansetzen.

Doch da, mit dem Wind, beginnen sich plötzlich seine Flügel zu bewegen, und … ehe ich es gewahr werde … ist er weggeflogen !

Regungslos bleibe ich auf meinem Lehnstuhl sitzen.

Als wäre ich aus einem Traum erwacht, nehme ich erst nach einiger Zeit das Fließen des Baches und die durch die Bäume glitzernde Sonne wieder wahr.

Schmetterling und Frosch?

Tatsächlich … fast im selben Augenblick !

Als würden mich diese zwei Meister der Verwandlung hier oben willkommen heißen !

*

Nachdem ich das Häuschen geputzt und meine Sachen verstaut habe, setze ich mich wieder an den Bach.

An der Stelle, an der ich meinen Lehnstuhl hingestellt habe, ist das Ufer des Baches ganz flach. Fast scheint es, als wenn ich mich an einem kleinen Teich befinden würde.

Ganz still und langsam fließt das Wasser.

So still, dass ich mich kaum wage, in den Apfel zu beißen.

Dieser Ort ist wirklich paradiesisch !

Unfassbar.

Als wenn ich in einer anderen Welt angekommen wäre.

Wie diese Blumen dort wohl heißen?

Dunkelviolette Glocken, die sich zum Wasser hinneigen.

Und, ah … ein Rotkehlchen ! Es hüpft irgendwelchen Insekten nach, hebt dabei immer wieder seinen Kopf und pfeift leise vor sich hin.

Jetzt fliegt es auf einen Ast an der Sonne und putzt sich das Gefieder.

Wann habe ich eigentlich zum letzten Mal einen Vogel beobachtet?

Aber – ich räuspere mich – ich bin ja nicht hierhergekommen, um irgendwelche Feld-, Wald- und Wiesenstudien durchzuführen, sondern um Antworten auf meine Fragen zu finden !

»Auf welche Fragen denn?«, scheint mich der kleine freche Vogel mit dem roten Latz nun zu fragen, während er auf seinem erhöhten Ästchen an der Sonne in die Welt hinausblickt, als hätte er die Antworten auf alle Fragen des Lebens längst schon gefunden.

Auf welche Fragen?

Wenn ich dem Vogel nun antworte, wird auch er mich unter Umständen einen »Idioten« schelten.

Auf welche Fragen?

Auf viele Fragen ! denke ich nur und seufze still in mich hinein.

Doch … zuallererst auf die ganz große und letzte Frage: Gibt es Gott?

Nun fliegt der rotkehlige Großschnabel mit lautem Gezeter davon.

Aha … dacht ich’s mir doch.

Da muss auch er passen.

*

Nachdenklich setze ich mich auf den Rand des Lehnstuhls und blicke in das Wasser des Baches hinein.

Die Nonne hatte gut reden !

Einen »geistlichen Begleiter«?

Ha !

Jede Kirche, Religion und Glaubensgemeinschaft, alle behaupten doch, einzig und allein im Besitz der Wahrheit zu sein, und selbst die Wissenschaft gebärdet sich so, als hielte sie alleine die Schlüssel zum Verständnis der Welt und des Lebens in den Händen.

Und doch … widersprechen sich alle.

Selbst in den eigenen Lagern.

Wem oder was sollte man also überhaupt noch Glauben schenken?

Welchen, von all den »Begleitern«, sollte man sich zum Beistand erwählen?

Dieses Wasser !

Wirklich unfassbar.

So klar wie Glas.

Ah !

Da gibt es ja Krebse … ganz auf dem Grund !

Kleine, wahrscheinlich nicht einmal halb so groß wie meine Hand.

Ob das »Bachkrebse« oder »Flusskrebse« sind, oder wie die auch immer heißen mögen?

Langsam wandeln sie über die Steine, wie Astronauten sich auf dem Mars bewegen.

Und da zischt ein Schwarm kleiner Fische vorbei.

Eine solche Klarheit sollte man haben.

Bis auf den Grund sehen können.

Ja … eine solche Klarheit … das wünschte ich mir !

Dann bräuchte man auch keinen »geistlichen Begleiter« mehr.

Doch wie sollte dies geschehen?

Indem man der Wahrheit auf den Grund geht !

Indem man der Wahrheit auf den Grund geht?

Aber … wie?

*

Auf einmal werde ich gewahr, wie das still fließende Wasser des Baches durch die Spiegelung des sich rot färbenden Abendhimmels in den schönsten Farben zu leuchten beginnt. Nicht nur Schmetterling und Frosch, hier wird gar der ganze Bach verwandelt ! denke ich mir. Da kommt mir ein Gedicht Joseph von Eichendorffs in den Sinn:

Es wandelt, was wir schauen,Tag sinkt ins Abendrot,Die Lust hat eignes Grauen,Und alles hat den Tod.Ins Leben schleicht das LeidenSich heimlich wie ein Dieb,Wir alle müssen scheidenVon allem, was uns lieb.Was gäb es doch auf Erden,Wer hielt‘ den Jammer aus,Wer möcht geboren werden,Hieltst du nicht droben Haus !Du bist‘s, der, was wir bauen,Mild über uns zerbricht,Dass wir den Himmel schauen –Darum so klag ich nicht.

Ja, alles in dieser Welt befindet sich in der Tat in einem konstanten Wandel, in einer nie endenden Transformation, wenn man es genau betrachtet.

Nach von Eichendorff wäre dies alles Grund zum »Jammer«, »hieltst du nicht droben Haus !« Droben, das »Haus im Himmel«, scheint für ihn das Beständige, das Unwandelbare zu sein, das, wonach wir, gerade weil auf der Erde alles dem Wandel unterworfen ist, Ausschau halten sollten.

Aber … ein solcher Glaube an ein beständiges »Haus im Himmel« wurde in unserer Gesellschaft doch vor langer Zeit bereits begraben.

Noch gibt es Kirchen und Religionsgemeinschaften und noch gibt es einige religiöse Menschen, aber aus dem öffentlichen Leben ist der Glaube an Gott doch schlicht und einfach verschwunden.

Während ich beobachte, wie die Sonne hinter den Bergen langsam untergeht, beginne ich mich zu fragen, wer oder was denn eigentlich für den Untergang des Glaubens in unserer Zeit verantwortlich zu machen ist.

Von Eichendorff hat recht !

Der Glaube an ein beständiges »Haus im Himmel« kann in der Tat Kraft und Hoffnung geben, dem stetigen Wandel auf Erden nicht nur gelassen in die Augen zu blicken, sondern sich gar noch daran zu erfreuen !

Nun geht auch noch der letzte kleine Punkt der goldroten Abendsonne hinter den Bergen unter.

Lange Zeit bleibe ich noch in der anbrechenden Dunkelheit sitzen und höre dem Zirpen der Grillen und dem ruhig fließenden Wasser des Baches zu.

Vielleicht haben all die Menschen ja recht, die mich einen Idioten genannt haben. Wie sollte ich denn in der Tat hier oben in der Einsamkeit eine Antwort auf diese große Frage nach Gott finden können?

Und wäre ich überhaupt bereit dazu, unter Umständen auch Antworten gelten zu lassen, die meinem eigenen Standpunkt widersprechen? Wäre ich bereit dazu, unvoreingenommen … einfach der Wahrheit auf den Grund zu gehen?

Lange denke ich nach.

Einen solchen eigenen »Standpunkt« habe ich ja leider verloren.

Genau das ist mein großes Dilemma !

Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich noch glauben soll.

Alles ist trübe geworden.

Und keiner scheint Auskunft geben zu können.

Ob dieses »Haus im Himmel« existiert, ob alles nur ein Ammenmärchen ist … jeder behauptet etwas anderes, und selber sehe ich rein gar nichts mehr.

Nun ist es ganz dunkel geworden.

Ein »geistlicher Begleiter« wäre in der Tat hilfreich.

Jemand, der mir vorausgegangen ist und der den Weg durch die Nacht hindurch weisen könnte.

Aber … wo sollte man einen solchen finden?

*

In der Finsternis sehe ich auf einmal, in unendlich weiter Ferne, erst kaum wahrnehmbar, ein kleines Licht aufleuchten. Wie ein Stern, der zuerst nur schwach blinkt, der jedoch stärker und stärker zu leuchten beginnt und sich plötzlich wie eine Art flammende Wolke ausdehnt. Voller Faszination, aber auch mit Furcht, blicke ich auf diesen Lichtschein, der größer und größer zu werden beginnt und der näher und näher an mich herankommt.

Als dieses brennende Licht beinahe bis zu mir vorgedrungen ist, befällt mich auf einmal ein Zittern. Doch obwohl ich davonrennen möchte, bleibe ich stehen.

Da kommt dieses feuerlodernde Licht langsam näher und berührt schließlich mein Gesicht. Die wohlige Wärme beginnt meinen ganzen Körper zu durchströmen …

Da erwache ich plötzlich mit einem Schrecken und nehme halb benommen wahr, wie die Sonne durch das Fenster hindurch direkt auf mein Gesicht scheint.

Seit dem gestrigen Tage befinde ich mich ja in diesem Häuschen am Bach ! rufe ich mir schlaftrunken in Erinnerung und drehe mich dann auf die andere Seite.

*

Als ich am späten Nachmittag wieder auf meinem Lehnstuhl am Bach sitze und in den wolkenlosen Himmel blicke, frage ich mich auf einmal, ob dieser wundersame Traum der letzten Nacht wohl etwas zu bedeuten hat.

Da sehe ich plötzlich eine Gewitterwolke aufziehen und höre in der Ferne einen dumpfen Donnerschlag.

Wäre es unter Umständen möglich, dass die Finsternis meine Unwissenheit, das Licht die Antwort, die ich während dieser Zeit hier oben erhalten werde, bedeutet? Aber weshalb fürchtete ich mich so vor diesem Licht, vor dieser ›Antwort‹, obwohl ich ja auch fasziniert davon war?

Wie aus dem Nichts setzt nun ein starker Wind ein und der Himmel beginnt sich mit schweren Gewitterwolken zu verdunkeln.

Wäre es also tatsächlich möglich, dass Licht aufleuchten wird und meine Fragen beantwortet werden?

Das wäre ja … wunderbar !

Doch warum wollte ich vor diesem Licht, vor dieser »Antwort« … davonrennen?

Weil ich Angst hatte, dass mein Leben davon verzehrt würde?

Aber als das Licht mich schließlich berührte, war es … wie ein nach Hause kommen !

Jetzt beginnt es plötzlich, wie auf einen Schlag, zu regnen und zu stürmen, so dass ich nicht einmal mehr in mein Häuschen zurückrennen kann, ohne vollständig durchnässt zu werden.

*

Gebannt sitze ich an dem Tisch vor dem Fenster und beobachte den Sturm, der draußen tobt.

Unfassbar !

Von einer Minute auf die andere sitzt man in einer anderen Welt.

Von wo kommt nur auf einmal dieser Wind und Regen und diese unglaubliche Finsternis her? Bis vor Kurzem herrschte doch noch das wunderbarste Sommerwetter !

Jetzt ist alles düster geworden.

Mitten am Nachmittag.

Da reißt der Wind plötzlich mit einem heftigen Stoß das Fenster vor mir auf und Regen und Wind peitschen über den Tisch in mein Häuschen hinein. Da es mir gegen die Kraft des Windes nicht gelingen will, das Fenster wieder zu schließen, eile ich in einer Aufwallung aus Wut und Enttäuschung nach draußen und verriegle im Kampf gegen den Sturm die Fensterläden.

Zurück im Häuschen zünde ich einige Kerzen an und setze mich vor den Kamin.

Wunderbar !

Da bin ich nun also.

Mit geschlossenen Fensterläden kriegt man gleich das Gefühl, in einem Gefängnis zu sitzen.

Und … frisch ist es auch geworden …

Ich nehme einige Holzscheite und beginne ein Feuer im Kamin zu entfachen.

Dann setze ich mich wieder auf den Lehnstuhl.

Hoffentlich endet dieser Sturm so schnell wieder, wie er begonnen hat.

Aber … ist nicht genau ein solcher Sturm dafür verantwortlich zu machen, dass der Glaube an ein »Haus im Himmel« in unserer Gesellschaft weggefegt worden ist? frage ich mich nach einer Weile.

Wer hat den Glauben an ein »Haus im Himmel« zerstört?

Es gab eine Zeit, da spielte ich Harfe im Hause des Himmels. Da wurden meine Klänge gleich Weihrauch im Scheine des ewigen Lichts. Doch vergessen ward ich geheißen die Sprache, in der ich gebor’n. Nun hängt meine Harfe an einer Weide beim Bach, und nur der Wind entlockt den Saiten noch die Klänge der Herrlichkeit. Wie sollte ich spielen das Lied des Himmels auf einer Erde, die den Himmel nicht will? Doch es gab eine Zeit, da spielte ich Harfe im Hause des Himmels.

Ja, es gab eine Zeit, da spielte ich Harfe im Hause des Himmels. Ja, es gab eine Zeit, da habe ich geglaubt. Und dieser Glaube war die Kraft, die Freude und die Beständigkeit meines Lebens. Ja, es gab eine Zeit, da war alles … klar !

Doch nun, seit der Sturm vor einigen Tagen über das Land hinweggefegt ist, ist die Welt um mich herum im Regen und dichten Nebel versunken !

Mit meinen mitgeschleppten Büchern und einigen, die ich im Häuschen gefunden habe, habe ich es mir vor dem Kamin gemütlich gemacht.

Doch zum Lesen komme ich nicht.

Ich fühle mich immer unwohler an diesem Ort.

Der dicke Nebel und der nicht enden wollende Regen scheinen mich zu erdrücken.

Plötzlich schieße ich hoch, ziehe Jacke und Schuhe an und gehe nach draußen, einige Schritte den Weg zum Bach hinunter, bleibe jedoch auf halber Strecke stehen.

Der Nebel ist so undurchdringbar dicht, dass ich kaum meine eigene Hand vor Augen sehen kann.

Unschlüssig halte ich inne.

Ich kann nicht mehr …

Ich muss hier weg …

Aber durch diesen Nebel? denke ich mir dann.

Wie sollte ich den Weg zurück ins Dorf finden?

Da kommt mir plötzlich diese Nonne wieder in den Sinn.

Sie nahm zur Verabschiedung meine Hände, wie eine Mutter, und betete für mich. Früher oder später würde ich davonrennen wollen, wenn ich mich für eine solch lange Zeit in die Abgeschiedenheit zurückziehe, sagte sie mit stockender Stimme … Ich hatte es fast vergessen ! Ich müsse dann, wenn dieser Augenblick eintreffe, unbedingt die Ruhe bewahren und in aller Stille herauszufinden suchen, ob ich den Ort oder zumindest die Art, wie ich die Zeit verbringe, verändern müsse, oder ob mich etwas aus der Stille herausreißen wolle.

Ob mich etwas aus der Stille herausreißen wolle? denke ich verwirrt.

Lange Zeit bleibe ich unschlüssig stehen.

Wenn ich jetzt davonlaufe, dann habe ich mein so freudig erwartetes Projekt nach nur wenigen Tagen abgebrochen.

Einen anderen Ort zu finden könnte schwierig werden. Ich müsste die Besitzerin ja auch fragen, ob sie mir das Geld für das restliche Jahr zurückzahlen würde. Und ob ich mich an einem anderen Ort dann überhaupt wohler fühlen würde?

Ziellos stolpere ich auf der Wiese umher …

Aber dieser Nebel macht mir zu schaffen !

Und … ich beginne bald selber von mir zu denken, dass ich ein Idiot bin ! Vergeude ich nicht in der Tat meine Zeit hier oben?

Auf eine solch große Frage eine Antwort finden zu wollen, das ist doch wirklich … lächerlich ! Viele, viele Menschen vor mir haben diese Frage doch bereits zu beantworten versucht und sind zum selben Schluss gekommen wie der Busfahrer: Unbeantwortbar !

Ich halte inne.

Dieser Nebel ist einfach schrecklich …

Und im Haus fühle ich mich wie eingesperrt.

Abgeschnitten von allem … !

Tief atme ich durch und gehe dann einige Schritte auf und ab.

Andererseits … denke ich mir wieder …

Ein Jahr.

Nur ein Jahr !

Was ist schon ein Jahr, auf ein ganzes Leben !

Und was heißt schon »seine Zeit vergeuden«?

Habe ich nicht Jahre mit sinnloser Arbeit und vollkommen unwichtigem »Zeitvertreib« vergeudet …?

Nein … so schnell darf ich nicht aufgeben.

Der Nebel wird sich bestimmt wieder auflösen.

Ja … bestimmt !

Zaghaft schreite ich zurück und setze mich auf die Bank vor das Häuschen.

Tief seufze ich auf und lege meinen Kopf in die Hände.

Auf einmal lässt der Regen nach. Alles wird still. Nur von der Dachrinne her hört man noch Tropfen in das Regenfass fallen.

Der Abend scheint einzukehren. Langsam wird es dunkel, und der weiße Nebel umstreift die Bäume und das Häuschen … leise und wunderbar …

Der Mond ist aufgegangen,die goldnen Sternlein prangenam Himmel hell und klar.Der Wald steht schwarz und schweigetund aus den Wiesen steiget,der weiße Nebel wunderbar.

Dieses Lied von Matthias Claudius habe ich als Kind gesungen, als die Welt noch in Ordnung war, als das »Haus im Himmel« noch stand.

Seht ihr den Mond dort stehen?Er ist nur halb zu sehenund ist doch rund und schön.So sind wohl manche Sachen,die wir getrost belachen,weil unsre Augen sie nicht sehn.

Nein, einen Mond kann ich leider nicht sehen ! Nicht einmal einen halben Mond ! Nur Nebel und Dunkelheit.

Und doch glaube ich ja, dass irgendwo dort oben noch immer ein Mond am Himmel steht !

Ja … wer immer in der Frage nach Gott recht haben mag, ob man die Frage überhaupt beantworten kann, ob ich die Frage überhaupt werde beantworten können: Wenn Gott ist, dann ist er, egal in welchem Nebel und welcher Dunkelheit ich gerade sitze. Mein Glaube an Gott bringt Gott so wenig in Existenz, wie meine Zweifel ihn in Luft auflösen !

Ich kann die Sache ja eigentlich … gelassen angehen !

Wie ist die Welt so stilleund in der Dämmrung Hülleso traulich und so holdals eine stille Kammer,wo ihr des Tages Jammerverschlafen und vergessen sollt.

Ja … wie still dieser Ort in der Tat ist. Und wie einzigartig schön !

Auch ich will still werden.

Einen Schritt zurückgehen. »Schlafen und vergessen«.

Ausruhen.

Ja, einfach vorerst mal ausruhen !

Der Nebel wird sich bestimmt wieder auflösen.

Ich kann die ganze Sache wirklich gelassen angehen.

*

Seit dem frühen Morgen spalte ich Holz. Gestern Abend hatte ich die letzten Scheite verbrannt.

Der Nebel hat sich noch kein bisschen aufgelöst und auch der Regen hat noch nicht nachgelassen. Doch seit meinem Gefühlsausbruch vor einigen Tagen scheint es mir nun egal zu sein.

Ich habe fast nur geschlafen diese letzten Tage … ich wusste gar nicht, wie erschöpft ich war !

Jetzt setze ich alles daran – ohne Uhr ist man ohnehin fast dazu gezwungen –, mich in den Rhythmus der Natur einzuklinken. In den stillen und bedächtigen Rhythmus der Natur.

Ja, was man sich in der Stadt unten doch nicht alles antut.

Und keiner hat Zeit !

Dieses Fichtenholz riecht einfach wunderbar … und es brennt ausgezeichnet.

Holz spalten hilft beim Nachdenken.

Ich werde diesen Stapel noch spalten und danach alles schön aufschichten, dann werde ich Vorrat für eine lange Zeit haben.

Wenn sich der Nebel aufgelöst hat, werde ich mit Lesen beginnen.

Mit dem Beil hat man früher den Hühnern den Kopf abgeschlagen. Und dann rannten diese ohne Kopf noch im ganzen Hof umher. Die Großmütter haben sie schließlich gerupft, in aller Ruhe, auf dem Schoß.

In der Französischen Revolution hat man dann den Menschen den Kopf abgeschlagen, mit dem ganz großen Beil, mit der Guillotine.

Ja … die Aufklärung !

Hat nicht die Aufklärung den Glauben an ein »Haus im Himmel« zerstört?

Das erklärte Ziel der Aufklärung war es doch, den Menschen mündig zu machen, ihn zu befreien von bevormundenden und unterdrückenden Autoritäten, vor allem auch von der bevormundenden und unterdrückenden Autorität der Kirche.

Aber ist nicht zuallererst die Wissenschaft für den Niedergang des Glaubens verantwortlich zu machen?

Die Wissenschaft hat doch bewiesen, dass der Glaube an Gott ein Hirngespinst ist. Dies sagen zumindest die Atheisten.

Ob dem tatsächlich so ist?

Und die Evolutionstheorie?

Die ganze Geschichte einer »Schöpfung durch Gott« sei mit den Erkenntnissen der Evolutionstheorie ad acta gelegt, heißt es, und damit auch gleich die ganze Bibel, die ja davon spricht.

Das wird nun mein letzter Holzstoß sein für heute ! Danach werde ich alles schön aufschichten.

Aber der Glaube an Gott wurde zu einem großen Teil doch auch von der Kirche selbst zerstört !

So etwas nur zu denken grenzt natürlich fast schon an Gottes­­lästerung.

Aber wenn die Kirche nicht jahrhundertelang die Menschen bevormundet und unterdrückt hätte, dann hätten doch auch keine Aufklärer aufstehen müssen, die sich dagegen zur Wehr setzten.

Ja, all die Konfessionskriege ! Die sich bekämpfenden Kirchen ! Die Doppelmoral ! Die Skandale !

»Die Leute in der Kirche sind halt auch nur Menschen«, heißt es dann immer. Ja, gewiss. Doch die Botschaft, die die Kirche gepredigt hat, und ihr Verhalten, haben häufig nicht zusammengepasst. Die Kirche hat Erlösung gepredigt, sich aber, so schien es zumindest, unerlöster verhalten als der ganze Rest der Welt.

Und all diese Reden über Gott …

Und doch hat der suchende Mensch damit kaum Klarheit in dieser Frage nach Gott gewonnen.

Die Sache trug …, wenn ich es mir so recht überlege … eher noch zur Verwirrung bei.

Die Menschen über Gott belehren zu wollen, ist doch eigentlich ohnehin … eine leichte Arroganz.

Und wer kann sich dieses Recht überhaupt herausnehmen?

Häufig wird man das Gefühl nicht los, dass diejenigen, die von Gott reden … im Grunde genommen keine Ahnung haben, von was sie reden.

Ich schüttle den Kopf und setze mich auf einen der Holzklötze. Wenn die ganze Sache nicht so tragisch wäre, dann müsste man geradezu darüber lachen !

Aber das Kind mit dem Bade ausschütten, das wäre zu einfach ! Zu billig !

Nun sucht sich das Wasser seinen Weg durch das Sägemehl hindurch. Das wird ein kleines Bächlein werden.

Dieser Regen ist einfach unglaublich !

Nein, das Kind mit dem Bade ausschütten, das geht nicht.

Wenn Gott existieren sollte, dann könnte man diesem Gott am Ende des Lebens doch nicht sagen: »Ich konnte leider nicht an dich glauben, weil die Kirche versagt hat.«

Das wäre ja lächerlich !

Aber die Kirche sollte die Menschen doch zu Gott führen … begleiten ! Es ist ja wirklich eine Tragödie, wenn man der Kirche nicht mehr vertrauen kann.

Aber vielleicht bin ich halt schlicht und einfach nur an die falschen Leute geraten …

Ich muss die Bibel lesen !

Mir selber ein Bild machen.

Das war doch auch das Bestreben der Reformatoren. Dem Menschen die Möglichkeit geben, die Bibel selber zu lesen, in der eigenen Muttersprache.

Aber falls die Wissenschaft bewiesen haben sollte, dass Gott ein Ammenmärchen ist, dann wäre es ja völlig egal, ob ich an die falschen Leute geraten bin, ob die Kirche versagt hat oder nicht …

Dann wäre es auch egal, was in der Bibel steht. Dann hätte sich die Sache erledigt.

Wenn sich doch nur dieser Nebel endlich auflösen würde, dann könnte ich mit Lesen beginnen.

Ich muss mich mit der Wissenschaft befassen.

Und beten?

Ja … bin ich nicht auch hier in die Einsamkeit gekommen, weil ich mir insgeheim erhofft habe, entfernt von allen Augen und Ohren der Welt, zu Gott beten und … wenn es ihn denn geben sollte … eine Antwort, ein Zeichen, einen Beweis seiner Existenz erhalten zu können?

Aber die Fragen betreffend die Wissenschaft sollte ich trotz allem zuerst klären.

Ich bin verwirrt !

Haben nicht unter Umständen …, wenn ich so recht nachdenke … vielleicht auch diejenigen den Glauben an Gott zu Fall gebracht, die den Menschen aus dem stillen und bedächtigen Rhythmus der Natur »ausgeklinkt« haben?

Die Wirtschaft?

Das Geld?

Ja, der Glaube an Gott wirft nichts ab. Arbeiten soll der Mensch, und arbeiten will er ! Geld verdienen ! Und sich ausruhen, um wieder arbeiten zu können. Zeit für die Frage nach Gott bleibt keine. Man muss ja schließlich vorsorgen.

Und wehe dem Menschen, der dies nicht tut ! Ein Idiot wird er postwendend genannt !

Ja … beten möchte ich.

Doch alles scheint miteinander verknüpft zu sein.

Ein »geistlicher Begleiter« wäre in der Tat hilfreich.

Aber wo sollte man einen solchen finden, hier in der Einöde?

Erstaunlich, wie viel Holz ich in so kurzer Zeit gespalten habe ! Und viel ist noch vorhanden. In der Tat massenweise.

*

Heute Abend donnert und blitzt es wieder. Während der letzten Tage war es ruhig, nur der Regen und der dichte Nebel umhüllten mich. Doch jetzt scheint der Sturm wieder von Neuem loszubrechen.

Nach dem Essen möchte ich beten.

Aber ich habe seit meiner Kindheit nie mehr gebetet. Und … müsste ich nicht doch die ganze Sache mit Wissenschaft und Aufklärung und all dem zuerst klären?

Andererseits … was, wenn die Wissenschaft sich irrt? Hat sie das nicht schon oft getan?

Aber … nein ! Die Wissenschaft muss angehört werden, wenn nicht, besteht doch die Gefahr, ins Sektiererische abzugleiten.

Man könnte ja beides tun: beten und studieren !

Mein Essen hier oben ist einfach.

Ich koche mehr oder weniger jeden Tag dasselbe.

Wie und warum auch sollte man Nahrungsmittel für aufwändige Gerichte hier heraufschleppen?

Zurück zur Einfachheit !

Genau, weniger ist mehr.

Ja … nach dem Essen möchte ich beten.

Aber … wie soll man beten können, wenn man nicht einmal weiß, zu wem oder zu was man beten soll?

Wie soll man beten können, wenn man nicht einmal weiß, ob Gott überhaupt existiert?

Andererseits … vielleicht kann man ja gerade erst durch das Gebet diese Frage nach Gott klären !

Aber wenn die Wissenschaft bewiesen hat, dass Gott ein Hirngespinst ist, dann hilft auch beten nicht mehr weiter !

Seit ich mich in den Rhythmus der Natur einzuklinken versuche, bin ich ruhiger geworden.

Erstaunlich.

Ich könnte mich ja einfach hinsetzen oder hinknien und still werden, wenn ich nicht weiß, wie man beten soll.

Da fällt mir ein, dass ich in dieser wunderschönen Kirche, in der ich diese Nonne getroffen habe, aus einem alten, großen Gebetsbuch ein Gebet abgeschrieben habe.

Ich löffle schnell mein restliches Essen aus, hole mein Notizbuch hervor, lege etwas Holz in das Feuer und setze mich dann auf den Lehnstuhl.

»Gesang an Gott« heißt das Gebet, von »Gregor von Nazianz«.

Nach einem kurzen Moment der Stille beginne ich aufmerksam zu lesen.

Gesang an Gott

Mit welchem Namen soll ich Dich anrufen,der Du über allen Namen bist?

DU, der Über-Alles, welchen Namen soll ich Dir geben?Welcher Hymnus kann Dein Lob singen?Welches Wort von Dir sprechen?

Kein Geist kann in Dein Geheimnis eindringen,Kein Verstand Dich verstehen.

Von Dir geht alles Sprechen aus, aber Du bist über alle Sprache.Von Dir stammt alles Denken, aber Du bist über alle Gedanken.

Alle Dinge rufen Dich aus, die stummenund die mit Sprache begabten.Alle Dinge vereinen sich, Dich zu feiern,das Unbewusste und das, was bewusst ist.

Du bist das Ende aller Sehnsüchteund allen schweigenden Strebens.Du bist das Ende allen Seufzens.Alle, die Deine Welt zu deuten wissen,vereinen sich, Dein Lob zu singen.

Du bist beides – alles und nichts,nicht ein Teil, auch nicht das Ganze.

Alle Namen werden Dir gegeben,und doch kann keiner Dich fassen.Wie soll ich Dich also nennen,Du, der Du über allen Namen bist?

Diese Worte haben mich bereits dort in der Kirche auf eigenartige Weise getroffen.

»Alle, die Deine Welt zu deuten wissen, vereinen sich, Dein Lob zu singen.«

Diese Aussage trifft mich fast am meisten.

Behaupten nicht alle – Wissenschaft, Kirche, Religion, Philosophie usw. –, nicht nur im Besitz der Wahrheit zu sein, sondern vor allem auch, die Welt deuten zu können?

Nach diesem Gregor von Nazianz werden diejenigen, die sie in Wahrheit zu deuten wissen, Gott Lob darbringen.

Was für eine Aussage !

Wer die Welt zu deuten weiß, wird Gott Lob darbringen?

Das würde ja heißen, die Welt deute auf Gott hin.

Wenn man sie deuten kann, dann wird man auch zu Gott finden, und dann wird man Gott Lob darbringen?

Aber …, wenn man Gott nicht kennt, dann kann man doch auch die Andeutung nicht deuten. Wenn man vom Bezeichnenden nichts weiß, dann versteht man doch auch das Zeichen nicht.

»Mit welchem Namen soll ich Dich anrufen?«

Ja, wie soll man Gott anrufen, wie soll man zu Gott beten können, wenn man nicht weiß, zu wem oder zu was man beten soll?

Wie soll man die Andeutung deuten können, wenn man von dem Angedeuteten nichts weiß?

*

Nun sitze ich bereits seit bestimmt mehr als drei Wochen hier oben im Nebel fest. Zum Lesen ist es zu düster, und selbst wenn ich Licht hätte, könnte ich mich kaum auf das Lesen konzentrieren.

Ich schlafe viel, gehe im Häuschen auf und ab, mache Feuer, koche … doch … mehr und mehr wird mir bewusst, dass mir in dieser vollkommenen Stille und Einsamkeit meine ganze Vergangenheit hochkommt. Ich mache mir auf einmal Gedanken über Dinge, die ich als längst vergangen angesehen habe. Zudem vermisse ich plötzlich meine Familie, meine Freunde, mein Zuhause.

Es ist zum Verzweifeln.

Auf einmal beginne ich zu weinen.

Im Bestreben, meine weinerliche Stimmung von mir zu schütteln, erhebe ich mich nach einer Weile, ziehe Jacke und Schuhe an und umkreise meine noch immer im tiefen Nebel versunkene Bleibe. Dann setze ich mich auf die Bank vor dem Häuschen und starre in die weiße Nebelwand hinein.

Seufzend schüttle ich den Kopf.

Seit meiner Kindheit habe ich nie mehr geweint.

Diese Einöde hier oben ist herausfordernder als ich gedacht habe.

Wenn sich doch nur dieser Nebel endlich auflösen würde !

Ich fühle mich wie in Watte gehüllt.

Ja, ja … ich solle nicht einfach davonrennen, wenn ich mich unwohl zu fühlen beginne, meinte die Nonne.

Aber ich sitze nun bereits seit mehreren Wochen – seit mehreren Wochen ! – hier oben ganz alleine im Nebel und Regen fest ! Und in der Frage nach Gott bin ich noch keinen Schritt weitergekommen !

Vielleicht habe ich mir die ganze Sache einfach wirklich zu einfach vorgestellt.

Abbrechen wäre ja im Grunde genommen keine Tragik !

Ja, irgendeinmal muss man vielleicht einfach realistisch werden. Wer weiß denn, ob sich dieser Nebel jemals wieder auflösen wird …

Da höre ich auf einmal Laute vor mir !

Irgendwo knackt und raschelt es.

Erschrocken blicke ich in alle Richtungen, doch durch den Nebel hindurch kann ich, begreiflicherweise, überhaupt nichts sehen.

Langsam ziehe ich meine Beine auf die Bank und drücke mich angespannt an die Wand des Häuschens.

Die Geräusche kommen immer näher.

Wie versteinert bleibe ich sitzen.

Da taucht auf einmal ein Hirsch aus dem Nebel auf !

Ruhig bleibt er vor mir stehen.

Ich kann es kaum fassen.

Ob er mich nicht sieht?

Langsam kommt er näher, bis an den Tisch vor mir, und schnuppert, wie in Zeitlupe, an dem Holz. So nah von mir, dass sein Geweih fast meine Stirn berührt.

Jetzt hebt er auf einmal seinen Kopf, und wir starren uns direkt in die Augen !

In Bruchteilen von Sekunden spielt sich ein Schlagabtausch zwischen unseren Blicken ab.

Freund oder Feind?

Davonrennen?

Nein ! Bitte … bleib stehen ! denke ich ergriffen …

Da entspannt sich die Situation auf einmal.

Ruhig wendet er seinen Kopf von mir ab, bleibt aber noch eine lange Zeit vor mir stehen.

Was für ein Tier ! denke ich mir.

Ich kann es kaum fassen !

Die vollendete Balance zwischen Anmut und Kraft.

Ich möchte ihn berühren … aber da schreitet er bedächtig zurück, bleibt halb im Nebel versunken wieder stehen und hebt majestätisch sein gekröntes Haupt in die Höhe. Als würde er sagen: »Mir kann dieser Nebel nichts anhaben ! Ich kenne meinen Wald !«

Dann wendet er sich ganz von mir ab und verschwindet wieder, wie er gekommen ist, im weißen Nebel.

Noch knackt und raschelt es vor mir, dann wird alles wieder still.

Tief atme ich auf, lege meinen Kopf in die Hände und weine.

Was für eine Begegnung !

*

Heute Nachmittag habe ich in einem Schrank im Keller eine Petroleumlampe gefunden.

Endlich habe ich Licht zum Lesen und Schreiben !

Ich schreibe nun meine Gedanken zu meinem Leben nieder.

Alles, was mir gerade durch den Kopf geht.

Papier ist geduldig.

Und ich ordne die Bücher. Meine eigenen, die ich mitgebracht habe, und diejenigen, die ich im Häuschen gefunden habe. Auf dem Tisch staple ich dann all jene auf, die ich unbedingt lesen möchte.

Und dann ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich, wie versteinert, aus dem Fenster in den Nebel hinausstarre.

Dort ! denke ich mir dann.

Dort tauchte der Hirsch plötzlich aus dem Nebel auf.

Ob ich ihn wiedersehen werde?

*

Noch immer ist alles um mich herum im tiefsten Nebel und Regen versunken. Ab und zu blitzt und donnert es, dann herrscht für lange Zeit wieder völlige Stille.

Die Petroleumlampe gibt ein wunderbar warmes Licht ab.