Das Haus meiner Väter - Jørn Riel - E-Book

Das Haus meiner Väter E-Book

Jørn Riel

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Beschreibung

Dies ist die Geschichte des Inuit-Jungen Agorajaq, seiner zwei weißen Väter, seiner drei Onkel und ihrem Haus am Fuß des Berges, der Miss Molly genannt wurde. Mit achtzehn Jahren brach Jørn Riel zum ersten Mal nach Grönland auf. Sechzehn Jahre lebte er dort, als Forscher und Abenteurer ganz auf sich gestellt, im unzugänglichen Nordosten. Als die Einsamkeit ihn zu überwältigen drohte, begann er, der nie an Literatur gedacht hatte, seinen Gefährten Geschichten zu erzählen. Jørn Riel spinnt seine Romane wie Seemannsgarn. Sie sind so wahr wie die unglaublichen Geschichten, die sich die Trapper, Jäger und Fischer, die Abenteurer, Ausgestoßenen und Ausgebrochenen in den ewigen Winternächten erzählen, um nicht in der Einsamkeit unterzugehen.

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Seitenzahl: 643

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Über dieses Buch

Mit achtzehn Jahren brach Jørn Riel nach Grönland auf. Sechzehn Jahre lebte er dort im unzugänglichen Nordosten. Als die Einsamkeit ihn zu überwältigen drohte, begann er, seinen Gefährten Geschichten zu erzählen. Dies ist die Geschichte des Inuit-Jungen Agorajaq, seiner zwei weißen Väter, seiner drei Onkel und ihrem Haus am Fuß des Berges Miss Molly.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Jørn Riel (1931–2023) kam im Alter von achtzehn Jahren als Mitglied einer Expedition in den Osten Grönlands und blieb dort. Von 1962 bis 1965 unternahm er Reisen nach Westindien, Nordafrika und Südostasien. Später arbeitete er im Dienst der UNO im Vorderen Orient, in Syrien und Jordanien.

Zur Webseite von Jørn Riel.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Jørn Riel

Das Haus meiner Väter

Roman

Aus dem Dänischen von Friedrich Waschnitius

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 2 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1970 unter dem Titel Mine fædres hus im Verlag Lademann, Kopenhagen.

Originaltitel: Mine faedres hus (1970)

Die vorliegende Ausgabe erscheint mit freundlicher Genehmigung der Leonhardt & Høier Literary Agency, Copenhagen.

© by Lindhardt & Ringhof Publishers, Copenhagen

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30439-0

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 18.05.2024, 05:50h

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Inhaltsverzeichnis

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Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

DAS HAUS MEINER VÄTER

Ein tolles Leben verspricht ein schönes GesichtOnkel Samuels ErklärungPete und Petes HausVon Onkel Gill, Small Johnson und SamPetes und Jeobalds Begegnung auf der Allen-EbeneMan findet AviajaMehr über AviajaJohn EhrlichNikodemusMr. Pickerins HundekaufVon Ivitaqs Trommelgesang und wie Onkel Gill sich verliebteVon Kinguk und was dann geschahUleroqs ZeheJohnny NinefingerDer Tag vor der AbreiseDownty CityDie AbreiseDes Herrgotts FuchsfalleWenn es auf dem Meer stürmt, verirren sich …Die Heimreise von Downty — Dad Matthew IDie »Civilisation« kommt nach UkusikFranzösisch-LouisDer Tempel I — Mr. Pickerin faßt einen EntschlußDie Botschaft — Aviaja faßt einen EntschlußDer Kreuzzug beginnt — Dad Matthew IIVon der Reise nach UkusikVater Brian — Die Kameraden werden unterrichtetDer Tempel IIVater Brians NiederlageSmall Johnsons Gespräch mit NikodemusDie Jungfrau Maria und JeobaldIvitaqs GeisterbeschwörungFranzösisch-Louis wird gefressenAviaja sucht abermals den TodAbschlußWieder daheimAnkunft in Downty CityDie Reise mit der »Komak II«Bei Nelly im BootZu Hause bei Miss MollyMr. Boompletons BriefMr. Pickerins BesuchAviajaVom Besuch in UkusikDas Mädchen AqaEine Unterredung mit PeteDie EntdeckungenWir verlassen UkusikDie RentierjagdAguajaralik und seine VerwandtenDie GeburtVon der Custer-ExpeditionDas neue Haus und die HeimkehrDas Fest

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Ein tolles Leben verspricht ein schönes Gesicht

Onkel Samuels Erklärung

Ich habe zwei Väter. In Wahrheit hätte ich fünf haben müssen, doch die Kameraden kamen überein, Pete und Jeobald als meine Väter anzuerkennen und mir Samuel, Gilbert und Small Johnson als eine Art Onkel beizugeben.

Meine Mutter war ein wankelmütiges Mädchen aus dem Volk der Tununerkiut, man könnte aber auch – wie Onkel Samuel es später auslegte – sagen, sie hätte ein großes und sehr warmes Herz gehabt, in dem es für die ganze Familie reichlich Platz gab.

Ich kam an einem Sommertag in den dreißiger Jahren zur Welt. Meine Mutter stillte mich sieben Wochen lang, dann nahm sie ihr großes, freigebiges Herz in beide Hände und schenkte es einem Fellhändler namens Mosise, der gerade zu diesem Zeitpunkt den Distrikt der Kameraden bereiste. Die Kamikpost berichtete, das Paar hätte sich in das Nordwestterritorium begeben, um mit den Netsilik-Eskimo weiterzuziehen, was gar nicht unwahrscheinlich klang, da Mosise von etlichen rechtschaffenen Männern der Handelsstation in Warwick-Bay gezeugt und von einer Netsilik-Frau geboren worden war.

Meine Mutter wurde in Petes Haus nie erwähnt, und ich, der keine Ahnung von der Notwendigkeit eines solchen Geschöpfes hatte, vermißte sie deshalb auch nicht. Mir genügte meine Pflegemutter Aviaja vollauf, eine freundliche alte Eskimofrau, die die Männer bald nach meiner Geburt in ihr Haus aufgenommen hatten. Erst als ich zehn Jahre alt war und unterhalb meines Hosenriemens lange schon etwas Neues wonnig verspüren konnte, fing ich an, mir über das Mysterium der Empfängnis Gedanken zu machen. Eines Abends ging ich zu Onkel Sam, um meine Neugier zu stillen.

Es war ein schöner Frühlingsabend. Sam saß am Fluß und wusch. Zu Aviajas großem Verdruß gehörte es seit je zu seinen Obliegenheiten, für die Reinigung der Wäsche zu sorgen, und er hatte, erfinderisch wie er war, eine Vorrichtung konstruiert, ein Verholsystem, bei dessen Verwendung die Wäsche zwar nicht ordentlich rein wurde, aber immerhin eine gewisse Frische bekam. Mitten im Flußbett befand sich, fest in den Boden eingelassen, ein alter Schiffsanker, den ein doppeltes Kupferdrahtseil mit dem Ufer verband. Dieses Seil hatte in Abständen von je einem halben Meter Schlingen, an denen die Hemden, Unterhosen, Socken und was sonst noch der Reinigung bedurfte, befestigt wurden. Dann hievte Sam die ganze Herrlichkeit in den Fluß hinaus, wo sie während der ganzen Nacht oder, falls Onkel Sam das für nötig befand, auch noch länger vom Wasser durchspült wurde. Nach einem solchen Reinigungsprozeß wurde alles patschnaß hinter dem Haus auf der Heide ausgebreitet, und die Mitternachtssonne sorgte für schnelles Trocknen. Im Winter jedoch ließ man Hosen und Hemden in voller Größe steif frieren und stellte sie dann an der Hauswand auf, damit der Wind sie allmählich trocknen konnte.

Onkel Sam verwendete für diese Reinigung stets nur Wasser. »Seife«, sagte er, »ist eine scheußliche Sache, mit der man nur die Haut und die Kleidung ruiniert.« Onkel Sam war ein gelehrter Mann. Er hatte an einer Universität studiert, war Doktor der Philosophie und benutzte eine Halbbrille mit sehr dicken Gläsern.

Ich setzte mich neben den Draht, stützte mein Hinterteil auf die Fersen und schlang meine Arme um die Knie. »Onkel Sam«, fragte ich. »Wie kriegen die Hündinnen ihre Welpen?«

»Von hinten, mein Junge. Immer von hinten.«

Diese Antwort ließ ich als befriedigend gelten, ich hatte ja schon mehrmals eine Hündin werfen sehen. »Aber Pete und Jeobald«, fuhr ich fort, »wie haben die mich denn gekriegt? Wie haben die das angestellt, Onkel Sam?«

Sam hievte mit einem erschrockenen Ruck die letzte Schlinge in die Strömung hinaus. Er sicherte das Seil sorgfältig, ehe er sich mir zuwandte und mich mit seinen blaßblauen Augen über die Halbbrille hinweg ansah.

»Du hattest eine Mutter, mein Junge.«

»Was hatte ich?«

»Eine Mutter. Eine, aus der du herauskamst.«

»Wie denn das, Onkel Sam?«

»Tja, das läßt sich nicht so einfach erklären.« Er neigte den Kopf zur Seite und saß eine Weile da, als wollte er sich Wasser aus den Ohren schütteln. »Hör mal, Junge, frag lieber einen deiner Väter. ’mit Jeobald, er kann dir solche Sachen sicher besser erklären als ich.«

»Den habe ich schon gefragt«, sagte ich, »aber er wollte nichts sagen. Er streckte nur die Arme in die Höhe in Richtung auf Miss Molly und schrie: ›Mein Gott, gib mir die Kraft dazu!‹ Dann rannte er wie wild den Berg hinauf und bewarf seinen eigenen Kopf mit Steinen. Wahrscheinlich weiß er nichts von solchen Sachen. Glaubst du nicht auch, Onkel Sam?« Ich rückte näher an ihn heran. »Und als ich Pete fragte, hat der gesagt, daß du einer bist, der alles weiß. Er sagte, du bist imstande, mir, wenn es sein muß, auch eine Jungfrauengeburt – so ein komisches Wort hat er gebraucht – zu erklären. Was ist also eine Mutter?«

Onkel Sam seufzte tief. »So? Wirklich? Das hat Pete also gesagt? Ja, dann muß ich es wohl versuchen.« Er legte einen Arm um meine Schultern und zog mich zu sich heran. »Sieh mal, mein Junge, wir Menschen sind gar nicht so sehr verschieden von den übrigen Säugetieren, wie wir so gern glauben möchten. Letzten Endes haben wir uns, weiß Gott, auch nur ein paar kleine Schritte von den Urwaldbäumen entfernt. Du hast doch sicher schon gesehen, wie Angut ab und zu auf Qaqataq springt, nicht wahr?« Angut und Qaqataq waren zwei von unseren Schlittenhunden, die wegen ihrer guten Nachkommenschaft oft gepaart wurden.

»Die spielen ja bloß, sagt Pete. Aviaja aber sagt, daß sie zusammen lachen. Das ist sicher dasselbe, wie wenn ich über Small Johnson bockspringe.«

Onkel Sam nahm den Arm von meiner Schulter und fing an, seine Brillengläser zu putzen. Ich hockte mich vor ihn hin und fuhr triumphierend fort: »Aber ich bin viel tüchtiger als Angut. Der steht nur immer hinter Qaqataq und bringt es nicht fertig, über sie hinwegzuspringen. Aber ich, ich komme immer über Small Johnson, sogar wenn er mit gestreckten Knien dasteht.«

Onkel Sam schüttelte den Kopf. »Das sieht zwar so aus wie deine Bockspringerei, aber es ist doch ganz was anderes. Die Hunde, weißt du, haben nämlich gar keine Lust, übereinander wegzuspringen. Die erwachsenen Menschen übrigens auch nicht. Wenn du aber Angut und Qaqataq genau beobachtest und gut aufpaßt, wenn er das nächste Mal hinter ihr her ist, dann wirst du sehen, was sie miteinander treiben. Und wenn du von da an die Tage zählst, bis Qaqatoq Welpen kriegt, wirst du auch verstehen, wie Pete und Jeobald es anstellten, damit deine Mutter dich kriegen konnte.«

»Ach so«, sagte ich, einigermaßen enttäuscht. »Das habe ich schon längst gewußt. Pete und Jeobald sind also auch nur so auf diese komische Art über dieselbe Hündin gesprungen, und ich bin dann nach einiger Zeit dort aus ihr herausgekommen, wo sie auch pinkelt, nicht wahr?«

»Ja, mein Junge, gewissermaßen. So etwa war es wohl.«

»Und wo ist die Hündin jetzt, die meine Mutter wurde?« fragte ich.

»Tja, die ist mit einem jungen Mann davongezogen, weil sie lieber mit ihm bockspringen wollte.«

»Und glaubst du, Onkel Sam, daß sie immer noch Welpen kriegt?«

»Sicherlich, mein Freund, sicherlich. Sie ist ja noch eine junge Frau.« Onkel Sam schwitzte, obwohl der Abend recht kühl war.

»Bist du auch bockgesprungen, Onkel Sam?«

»Ja, freilich habe ich das auch getan. Aber das ist schon recht lange her.«

»Eigentlich habe ich nichts dagegen, es auch einmal zu probieren«, sagte ich.

Wir saßen da und schauten still auf den Fluß hinaus. Die Wäsche schaukelte in der Strömung hin und her, und das Seil war so straff gespannt, daß ich aus ihm Töne hervorzaubern konnte, wenn ich mit dem Finger daran zupfte. Die Abendsonne kroch an den Bergspitzen entlang, und vom Fjord hörte man das scharfe Knallen des Eises, das seinen Kampf mit den Gezeiten ausfocht.

»Onkel Sam«, flüsterte ich. »Konnte meine Mutter auch ordentliche Bogen spucken?«

»Sie hat, soweit ich mich erinnere, nicht gepriemt.«

»Aber konnte sie es?«

»Das glaube ich nicht.«

»Aviaja kanns aber«, verkündete ich ihm glückstrahlend.

Pete und Petes Haus

Hundert Meter vom Fluß lag das Haus auf einem Stück Heideland am Fuß des Berges, der Miss Molly genannt wurde, weil ihn niemand besteigen mochte.

Es war ein gutes Haus, ein Haus mit schöner Stimme und vertrautem Geruch. Es war warm und trocken, ein Haus des Friedens, ein Tempel der Liebe und Freundschaft, ein Haus vereinter Nationen – oder richtiger: ein Haus, das etliche Nationen vereinte –, ein Haus für Bacchus, ein Gerichtsgebäude und Regierungssitz, ein Haus für Wissenschaft und allerhand Künste, ein Lagerhaus für Fang und Fanggeräte, ein Haus des Herrn, Petes und der Kameraden Haus, vor allem aber das Haus des seligen Patric McHuges.

Patric McHuges war ein schwermütiger Mann aus Downty City, der Stadt, die vor nicht allzu vielen Jahren noch der nördliche Vorposten der Zivilisation war. Aus Gründen, die längst schon Vergangenheit sind, war McHuges genötigt, sich über jene Grenze zu begeben, bis zu der der lange Arm des Gesetzes reicht. Als er auf der Suche nach guten Fangmöglichkeiten in das Tal am Fynes-Fjord kam, durch den Gänsepaß zog und schließlich am Fuß von Miss Molly stand, offenbarte sich ihm die Natur in einer Pracht, die er nicht fassen konnte, die er aber in der Tiefe seiner Seele empfand, einer Tiefe, von der er bislang nichts bemerkt hatte. Er kniff die Augen zusammen, um diese Schönheitseindrücke in kleinen Portionen in sich aufzunehmen: das sonnenfunkelnde Wasser mit den blauvioletten Eisbergen, im Osten die heidebestandene Ebene, das weite Gewoge des wilden Mohns rings um die fünf kleinen Seen und den Fluß, der sich sommerträge durch das sonnenbraune Heidekraut schlängelte. Patric McHuges fühlte, wie ihm diese überwältigende Schönheit sein schweres Gemüt öffnete und in ihm eine so helle und freundliche Stimmung wachrief, als hätte er eine halbe Flasche Whisky getrunken. Es mußte wohl des Schöpfers Absicht sein, daß er sich hier niederließ.

McHuges begab sich wieder nach Downty, wo er in aller Stille seine wenigen Habseligkeiten in Proviant, Geräte und einen schön angefertigten Destillierapparat umsetzte. Er feierte mit guten Freunden Abschied und zog voll Erwartung wieder gen Miss Molly und den Fynes-Fjord. Außer einem Zugkarren mit seinen Siebensachen führte er vier interessante Hunde – verschiedener Rasse, denn sie waren in aller Eile auf den Straßen Downtys eingefangen worden –, einen Remington Hinterlader mit Hahn und eine Frau mit sich.

In der Arktis erlebte er glückliche Jahre. Er liebte seine Hunde, sein selbsterbautes Haus und das Getränk, das regelmäßig wie das Ticken einer Uhr Tag und Nacht in den Kolben des Destillierapparates tropfte.

Patric McHuges starb im Jahr 1897. Seine Leber war nicht widerstandsfähig. Die Frau, die sein enormes Lager an hausgebranntem Whisky erbte, folgte ihm nach wenigen Monaten. Ihre Leber war ganz in Ordnung, aber sie wußte nicht, was Maßhalten hieß.

Jäger aus der Umgebung begruben die Toten, teilten den häuslichen Vorrat an Flaschen unter sich, töteten McHuges’ sonderbare Hunde und verschlossen sorgfältig Fenster und Türen des Hauses, das in malerischem Verfall dastand, bis sich 1915 neue Bewohner dort einfanden.

Pete kam von der Totenmännerbucht über die Willsonhills und durch den schmalen Gänsepaß hierher. Als er auf dem kleinen heidebewachsenen Fleck zwischen dem Fluß und dem Haus stand, ging es ihm genauso wie seinerzeit McHuges. Das Blut pulste ihm gewaltig durch die Adern, und ein seltsames Gefühl machte sich in seiner Kehle breit, so daß er nicht wußte, ob er weinen oder lachen sollte. Und er hatte ein unbändiges Verlangen, etwas Passendes, etwas Geistvolles von sich zu geben. Nach langem Überlegen drückte er seine Gefühle folgendermaßen aus: »Man muß schon sagen: Verdammt noch mal!«

Pete nahm den Ort in Besitz. Da das Haus allem Anschein nach seit vielen Jahren nicht mehr bewohnt wurde, ließ er sich ohne Skrupel darin nieder. Die Fänger der benachbarten Distrikte, von denen etliche mitgeholfen hatten, McHuges’ Anwesen abzuschließen, akzeptierten Pete schnell. Sie fanden, daß sich der ehemalige und der gegenwärtige Besitzer des Hauses in vielem glichen, etwa in ihrer Liebe zu Hunden, zur Jagd, zum Selbstdestillierten und zu Frauen. Überdies war Pete immer bereit, sein Recht auf diesen Ort mit überaus schlagenden Argumenten zu behaupten.

Als die Fensterläden wieder geöffnet waren und abermals Rauch im Schornstein bullerte, begannen Eskimo und Halbblutjäger sich bald in Mengen einzufinden. Pete nahm sie herzlich auf und bewirtete sie überwältigend. Diese vielen Freunde führten dem Haus Frauen zu, die sie mit der ihnen eigentümlichen Freigebigkeit Pete überließen. Die Frauen hielten sich nach einem komplizierten Bedarfs- und Umstandsturnus in seinem Hause auf.

Die ersten zehn Jahre waren Petes Reisejahre. Das Haus war der Ausgangspunkt seiner weiten Streifzüge in dem wilden Land, die er bald mit Netsiliks, dann wieder mit Baffinländern unternahm, meistens aber mit Odoniarssuaq, einem Vollbluteskimo und Vetter Aviajas, der Haushälterin der Kameraden, von der noch manchmal die Rede sein wird.

Erst als er Mitte Dreißig war, nahm Petes Interesse für lange Schlittenreisen und reizvolle Frauenaffären ab, was Tränenströme bei den gastfreien Mädchen auslöste und Odoniarssuaq solchen Kummer bereitete, daß er sich ins Karibuland begab, um mit seinem Volk wieder umherzuwandern.

Um diese Zeit hatten sich Freunde zu Pete gesellt, die zum festen Bestand seines Hauses gehörten, treue Kameraden, mit denen er die mannigfaltigen Freuden des Alltags teilen konnte. Pete war der Älteste unter ihnen, was man respektierte, und er war der Stärkste, was die Hausgenossen in noch höherem Grad anzuerkennen wußten. Sie hießen Gilbert, Jeobald, Samuel und Small Johnson, und Freunde wie sie gab es in diesem Teil der Welt kein zweites Mal. Mitte der dreißiger Jahre wurde auch ich diesem Hausstand einverleibt und bald darauf auch noch die Eskimofrau Aviaja.

Im folgenden Kapitel will ich von meinen Onkeln Gill, Small Johnson und Samuel berichten.

Von Onkel Gill, Small Johnson und Sam

Von meinen drei Onkeln war Gilbert ohne allen Zweifel der empfindsamste. Er war ein Träumer und setzte seine Träume in Musik und Poesie um. Als ich ihn zum Beispiel einmal nach meiner Entstehung fragte, richtete er seinen Blick himmelwärts und antwortete mit fester Stimme:

»Noch ungeboren,

noch in den Lenden

ein Brennen,

noch eine Umarmung,

ein Zittern,

ein Kreisen,

eine Glut!

Noch ein Plasma

aus Lust …«

Welche Antwort natürlich ein Wohllaut fürs Ohr, mir aber durchaus unverständlich war. Onkel Gill drückte sich übrigens besser im spätromantischen Stil aus, und seine Gedichte waren nur selten von so moderner Machart wie das oben angeführte.

Onkel Gill wurde in San Francisco als Sohn eines arbeitsscheuen Schlachthausarbeiters geboren, der seine Mannesjahre im Wirtshaus »Zum munteren Albatros« verbrachte. Die Mutter war ein wortkarges, starkes Weib, das seine Zeit gleicherweise zwischen dem Reinemachen »für die Feinen« und dem Biertrinken mit dem Ehegespons im »Albatros« teilte. Das Elternpaar betrachtete den Sohn Gilbert als einen ausgesprochenen Mißwuchs, einen jener unausrottbaren Wildtriebe, die die Natur bisweilen in den Gärten rechtschaffener Leute hervorsprießen läßt und mit denen zusammen zu leben es viel Demut braucht.

Der Vater drückte dies unter Freunden so aus: es gebe in seinem Leben nur zwei Dinge, die ihn wirklich plagten – Hämorrhoiden und Gill.

Der Junge hatte nur höchst selten verbalen Umgang mit seinen Eltern. Kam es indessen doch dazu, dann geschah dies nur mit Worten und Sätzen, die ihnen ebenso unverständlich waren wie Hebräisch oder die Sprache der Bantu. Der Junge lebte in einer Traumwelt, die voll von Fabeltieren, guten Feen, unwirklichen Farben und seltsamsten Tönen war. Noch ehe er schreiben gelernt hatte, dichtete er lange Balladen, die er sich murmelnd selber vortrug. War er nicht mit Poesie beschäftigt, dann spielte er auf selbstverfertigten Flöten nach einem Notensystem, das er sich mittels eines karierten Rechenheftes und der Zahlen von eins bis zwölf zurechtgelegt hatte. Er wurde zur großen Erleichterung seiner Lehrer frühzeitig aus der Schule genommen. Der Vater, der – wie so viele Väter vor ihm – die literarischen und musikalischen Talente des Jungen nicht beachtete, hielt Schulbesuch für eine lächerliche Zeitvergeudung und konnte dank seiner Verbindungen im »Albatros« seinen seltsamen Sohn in einer Fabrik unterbringen, wo man für die Frontsoldaten in Europa Frühstückskonserven herstellte.

Gill, den die Natur mit einem freundlichen und umgänglichen Gemüt beschenkt hatte, fand sich geduldig in sein Geschick und bediente seine stationäre Gulaschkanone fast mit dem gleichen Enthusiasmus, wie andere junge Amerikaner in der Fremde ihre Waffen bedienten. Seine Freizeit brachte er mit den Eltern im »Albatros« zu, wo er auf dem verstimmten Klavier Getränke für die Familie zusammenspielte. An einem solchen Abend begegnete er Small Johnson. Der Krieg war vorüber, und die Neue Welt wurde wie die Alte nach dem gewaltigen Siegesrausch vom Katzenjammer heimgesucht. Drei Jahre lang hatte Gill Konservendosen mit einer unbestimmbaren Substanz gefüllt, drei Jahre hatte er an dem gleichen Platz gestanden, hatte den gleichen sauren Dunst eingeatmet, die gleichen Handgriffe ausgeführt – drei tote Jahre. Gill war reif zum Aufbruch.

Small Johnsons Start vollzog sich in umgekehrter Richtung. Er begann oben auf der sozialen Stufenleiter mit einem adeligen Vater. Dieser vornehme Vater vermachte Small Johnsons Mutter, einer sogenannten Kuchenjungfer im Hotel »Longfeather«, eine erkleckliche Summe Geld, die es ihr ermöglichte, außer Small Johnson eine wachsende Kinderschar und noch einen oder zwei Liebhaber zu versorgen.

Der adelige Einschlag sicherte Small Johnson unter den vielen Geschwistern einen gewissen Vorrang. Schon als Kind war er sich darüber im klaren, daß es seine Umgebung war, die ihm zu dienen hatte, und nicht umgekehrt. Als er fünfzehn war, zog die Mutter mit der Geschwisterschar und einem französischen Prediger in den Süden, weil nach dessen Ansicht die mexikanische Grenzstadt Derio der Ort war, wo Jesu bevorstehende Wiederkunft vollzogen würde. Während also Small Johnsons Familie und der Prediger in heiliger Geduld den großen Tag abwarteten, versuchte er sich als Lebemann, doch hatte er nicht das Format seines Vaters. Zweimal stattete er dem Gefängnis des Ortes einen Besuch ab, bis er schließlich als Tellerwäscher an seinem Startplatz, dem Hotel »Longfeather«, einigermaßen zur Ruhe kam. Hier begegnete er der Liebe seines Lebens. Sie arbeitete untertags als Hilfskraft in einem Spital und verdiente sich nachts das Nötige zur Würze des Lebens. Leider zog sich das Mädchen eine Krankheit zu, deren Erwähnung ihre vielen Freunde nicht eben schätzten. Small Johnson und ein halbes Hundert anderer ehrwürdiger Bürger hatten ihr eine recht schmerzhafte Verarztung und ein fiebervolles Krankenlager zu verdanken.

Nach solchem Kummer streifte Small Johnson ein paar Jahre im Land umher. Er erwarb sich gründliche Kenntnisse in der schwierigen Kunst des häuslichen Branntweinbrennens und entwickelte im Laufe dieser Zeit seine Geschmacksnerven zu wahrer Vollkommenheit. Seine Kunst reichte vom Agavenschnaps, von Tequila und Mescal über den aus Rosinen destillierten Imiaq bis zu dem sinnbetörenden chinesischen Sam-Su. Diese seine Begabung führte ihn nach San Francisco, wo gerade in jenen Tagen großer Bedarf an tüchtigen Leuten war. Das Zusammentreffen mit Gill entsprang einer Sauferei im »Albatros«, einem Gelage, von dem man noch heute spricht, wenn die Sonne im Sacramento-Tal die Zungen zu Sandpapier brennt.

Gill und Small Johnson kamen überein, sich auf Reise durch das durstende Amerika zu begeben. Es ging durch die Wüsten Nevadas, den toten Salzsee entlang, über die Berge von Montana und weiter nach Norden. Gill spielte, und Small Johnson brannte. Sie überschritten die Grenze südlich von Medicinhill und folgten dem Saskatchewan-River nach Prince Albert. Hier begann die lange Reise durch das Nordwestterritorium.

Ein Zufall brachte sie zu Petes Haus. Soweit erinnerlich, handelte es sich dabei um eine kleinere Meinungsverschiedenheit mit dem Polizisten in Downty City nach einer munteren Zecherei in Ernesto Whitecooks Bar »Singapore«. Um die Behörde zu beruhigen und Ernesto Gelegenheit zu geben, sein Etablissement sozusagen von Grund auf neu zu erstellen, zogen sie, wie so manche Männer vor ihnen, weiter nordwärts.

Hier endete mit einem Schlag ihre Reise, sie waren von Patric McHuges’ Hütte, von Pete und von dem wundervollen Frieden, den dieser Erdenfleck ausstrahlte, zutiefst angetan. Vor allem das letzte empfanden sie nach den unruhigen Wanderjahren wie heilenden Balsam. Sie fügten sich schnell in den täglichen Turnus ein, der einem so wenig abverlangte, dafür aber alles Erdenkliche gab.

Von Onkel Sams Herkunft weiß ich erstaunlich wenig. Er kam irgendwo in Polen zur Welt, legte an der Warschauer Universität sein Staatsexamen in Anthropologie ab und emigrierte aus seinem Vaterland, fünfzehn Jahre bevor ein gewisser Anstreicher sich im Nachbarstaat zu rühren begann. Seine Wissenschaft führte ihn weit umher. Er entschied sich bald für die Eskimologie als Spezialgebiet und bereiste, von freundlichen Eskimo unterstützt, große Gebiete der Arktis. Er besuchte auch Teile Süd- und Mittelamerikas, da er dies als wichtig für seine Studien ansah. Er war nämlich ein begeisterter Anhänger einer neuen Theorie, derzufolge die Eskimo als ein stabilisiertes Mischvolk, eine Kreuzung der Lagao-Santa-Rasse mit asiatischen Mongolen, angesehen wurden. Onkel Sam hat von Brasilien im Süden über Mittelamerika und die USA bis weit hinauf in die arktischen Einöden schwer gebaute Schädel mit hohen, schmalen Scheitelpartien gemessen.

Man kann wohl sagen, daß Onkel Sam sich voll und ganz mit seiner Wissenschaft und seinen Studienobjekten identifiziert hat. Er ist weitgehend vertraut mit der Sprache und der Lebensweise der Eskimo und hat ganz wie ein echter Eskimo das lebendigste Interesse an der Sagen- und Mythenwelt der Polarländer. Ausdrucksformen der Eskimo haben seine Redeweise nicht wenig beeinflußt, so daß seine Alltagssprache oft etwas konstruiert oder gekünstelt klingt.

Onkel Sam kam vor das Haus gerollt. Das geschah ein paar Jahre vor meiner Geburt. Er war über die steilen Hänge der Willsonhills, durch den Gänsepaß und über das kleine Plateau gestapft und landete jäh an der Südwand unseres Hauses. Hinter ihm trafen ein stumpfnäsiger Zugschlitten, ein vom Wind zerfranstes Zelt und schließlich eine Kiste voller Landkarten und anthropologischer Handbücher ein. Er kam zusammen mit einem Unwetter angefegt, was seiner Natur durchaus nicht entsprach. Er hätte eigentlich an einem freundlichen, windstillen Abend im Licht der niedrig stehenden rotgoldenen Sonne leicht vor sich hin murmelnd den Berg herabkommen müssen.

Pete und Small Johnson hörten den Bums, als er an die Wand knallte. Sie liefen hinaus, um zu sehen, was los war. In dem heftigen Schneegestöber erkannten sie einen kleinen, stämmigen Mann, der halb betäubt dalag und nach etwas umhertastete.

Pete fand das Gesuchte, die Brille, half dem Fremden auf die Beine und forderte ihn auf, ins warme Haus hineinzukommen. Small Johnson nahm sich der Sachen des Mannes an, die er nach sorgfältiger Untersuchung in einem der angebauten Schuppen unterbrachte.

Man ließ Sam an dem langen Tisch Platz nehmen, wo er mit einem Zipfel seines Hemdes seine Brille zu putzen begann.

»Man hat wohl zu weit oben gezeltet.« Er lachte leicht verlegen. »Man hatte ja eine ordentliche Rutschpartie!«

»Und ob! Die muß verdammt hoch oben angefangen haben«, nickte SmalI Johnson. »Wo hattest du denn dein Zelt aufgeschlagen?«

Sam setzte die Brille auf die Nase. »In einem kleinen Einschnitt zwischen den ›Jungfernbrüsten‹, wie es auf der Landkarte heißt.«

Erstauntes Gemurmel erhob sich von den Männern am Tisch, die ihn mit großen, verblüfften Augen ansahen. Die »Jungfernbrüste« oder »Geltings Arsch«, wie die Kuppen zur Erinnerung an einen übergewichtigen Trapper auch genannt wurden, waren zwei sanfte Rundungen auf den Höhen der Willsonhills. Jedermann wußte, daß diese zwei Buckel im Herbst eisblank wurden, und kein Fänger, der seine fünf Sinne beisammen hatte, würde es sich auch nur im Traum einfallen lassen, dort zu zelten. Nicht einmal bei ruhigem Wetter. Pete räusperte sich verlegen. Es war verdammt schwer, bei dieser Lage der Dinge etwas Gescheites zu sagen.

»Soso … hm … hm. Sagtest du ›Jungfernbrüste‹? Wir nennen sie ›Geltings Arsch‹, aber das ist sicher der gleiche Ort, möchte ich annehmen. Und du hast da oben kampiert, sagst du? Hm. Du warst vielleicht krank«, schlug er vor, »oder konntest vor Erschöpfung nicht weiter? Davon, Kamerad, können wir ein Lied singen. Die Augen voller Schnee und die Stiefel schwerer als Blei. Jaja, dann ist es einem ganz gleich, wo man sein Lager aufschlägt … Aber auf ›Geltings Arsch‹…?«

Sam betrachtete seinen Wirt mit erstauntem Gesicht. »Ich möchte nicht behaupten, daß ich besonders müde war, und es ging auch kaum ein Wind, als ich das Zelt aufschlug. Aber ich wollte oben bleiben, weil ich dort seltene Fossilien sah. Ich stellte mein Zelt über ihnen auf und wollte sie dann im Lauf der Nacht heraushauen.«

Gill, der mit dem Wort »fossil« nicht vertraut war, rückte unmerkbar ein Stück von Samuel ab. Vorsicht war in diesem Falle wohl angebracht. »Fossilien?« fragte er. »Von solchen Tieren habe ich noch nie was gehört. Haben sie langes oder kurzes Fell?«

»Sie haben überhaupt kein Fell«, antwortete Sam. »Fossilien sind urweltliche Tiere oder Pflanzen, von denen jetzt nur noch Versteinerungen geblieben sind.«

Gill nickte beruhigt. »Ich hab auch nicht begriffen, was du meintest, daß du sie heraushauen wolltest«, sagte er, um seine Frage zu beschönigen. »Hatte ja nie was gehört, daß man Fangtiere aus dem Felsen haut. Deshalb hab ich gefragt.«

Small Johnson blinzelte den Kameraden zu. »Sagtest du was von urweltlich, Sam?« Der Fremde schien eine Fundgrube seltsamster Geschichten zu sein. »Sag mal, wenn man Schwein hat, kann man dann auch urweltliche Füchse und Bären aus Stein finden?«

»Natürlich, mein Freund. Es gibt Versteinerungen von Füchsen und Bären und vielen anderen Landsäugetieren. Das ist höchst interessant, die Versteinerungen beweisen nämlich unter anderem, daß viele dieser Tiere in mehreren Erdteilen gelebt haben. So hat man zum Beispiel Moschusochsen als Fossilien in europäischen Diluvialschichten gefunden, und man hat Versteinerungen von Riesenechsen gefunden, die viel größer waren als der größte Wal, den ihr kennt.«

Dieser Vergleich machte die Kameraden verlegen. Sie waren großsprecherische Leute gewohnt. Die gewaltige Natur hier oben, die wilde Landschaft aus Felsen und Eismassen, die endlosen Tundren und die himmelhohen Berge forderten die Menschen gleichsam auf, in doppelten oder dreifachen Größenordnungen zu reden. Aber von Tieren zu erzählen, die größer als Wale waren, hieß denn doch, die Grenzen des Schicklichen zu überschreiten. Andererseits aber mußten sie zugeben, daß Samuel ein einmaliger Erzähler war.

Small Johnson unterbrach als erster die allgemeine Stille. Etwas taktlos fragte er: »Ist es dein Job, Sam, Steintiere und solches Zeug aufzukaufen?«

»Nee, ich bin ein schlichter Anthropologe«, antwortete Sam. Die Brille kam wieder von der Nase und wurde abermals mit dem Hemdzipfel bearbeitet. »Geologie ist bloß ein kleines Hobby von mir, mit dem ich mich gelegentlich abgebe.«

Pete legte seine großen Hände vor sich auf den Tisch und kehrte ihre Innenseite nach oben. »Na ja, so hat eben ein jeder seinen Job. Die Kameraden und ich interessieren uns aber mehr für das Lebende. Wir jagen See- und Landtiere, verstehst du. Aber die Menschen haben ja, Gott sei Dank, die verschiedensten Interessen. Darf man fragen, um Small Johnsons Neugier zu befriedigen, was dich in diese Gegenden geführt hat?«

Sam hauchte die Brillengläser an und rieb fleißig an ihnen herum. »Anthropologische Studien, mein Freund. Diesmal sollen die Netsilik-Eskimo untersucht werden. Außerdem hat man die Absicht, nach Spuren der Sadlermiutter zu suchen, die um die Jahrhundertwende ausstarben. Ich will noch vor Einsetzen des Winters bis an die Nordspitze von Baffin kommen.«

Pete sah nachdenklich auf seine Handteller. »Ach so. Ja, so was kann man hier im Haus verstehen. Aber anthropologische Studien? Ich hab schon mal von so was läuten hören, aber man wird zu alt, als daß man sich merken könnte, was alle diese schwierigen Worte bedeuten.«

Sam antwortete taktvoll: »Die Anthropologie beschäftigt sich, wie du weißt, mit der Abstammung der Menschen und mit ihren verschiedenen Arten.«

»Ja, da haben wir’s«, erwiderte Pete lebhaft. »Mir war’s ja gleich so, als hätte ich von solchem Zeug schon gehört. Wart mal, du bist also einer von denen, die man Anthropophagen nennt, ja?«

Sam nickte und lächelte in die Runde. »In geistiger und auch übertragener Bedeutung bin ich das wohl, aber im täglichen Umgang wird man einfach Anthropologe genannt.«

Small Johnson lehnte sich über den Tisch und tippte mit einem Finger an Sams Schulter. »Du, Sam, davon weiß ich eine Menge«, sagte er. »Das hat was mit Schädeln zu tun, nicht wahr?«

»Richtig.« Sam brachte seine Brille auf der unteren Hälfte der Nase unter. »Schädel sind in meinem Fach unentbehrlich.«

»Ich hab mal einen Aufkäufer aus Brasilien gekannt«, fuhr Small Johnson fort, »der war das gleiche wie du. Er war auch ganz verrückt nach Köpfen, und zwar von Tucano-Indianern. Die hättest du sehen sollen, Sam. Das war Arbeit, kann ich dir sagen. Direkt Kunsthandwerk. Und die waren echt. In dem Fach wird ja, das mußt du doch zugeben, Sam, so viel geschwindelt, mit Affenköpfen und schlechtem Absud und all dem Kram.«

»Jaja, es ist sicher so«, stimmte Sam ihm bei, »aber ich möchte meinen, daß die Wissenschaft deines Freundes anderer Art war als die meine.«

Small Johnson ballte eine Faust und hielt sie Sam unter die Nase. »Die waren ungefähr so groß«, erklärte er, »und an den Augen und Lippen verdammt fein zusammengenäht. Das war bestimmt die gleiche Wissenschaft wie die deine, Sam. Ich kannte den Burschen recht gut, muß ich schon sagen. Wir haben zusammen eine Menge Geschäfte gemacht. Und«, Small Johnson trumpfte mit einem unumstößlichen Beweis auf, »er hatte genau die gleiche Brille wie du.«

»Ich will nicht leugnen, daß dein Freund gewisse anthropologische Interessen hatte«, räumte Sam freundlich ein, »aber man muß doch vermuten, daß sein Hauptinteresse der Handel war.«

»Du hasts erfaßt, Sam. Er schmuggelte die Köpfe über Kuba ein und verkaufte sie in Florida an reiche Touristen.«

Alle waren sich also einig, und eine behagliche Atmosphäre breitete sich unter den Männern am Tisch aus. Gill kochte Robbenfleisch, und Small Johnson servierte Sam-Su. Sam wurde so eifrig zum Essen genötigt, daß seine Zunge, wie er sich ausdrückte, fast hochkant stand. Als sie nach der Mahlzeit beim Abendtrunk saßen, fragte Gill: »Sag mal, Sam, hast du wirklich die Absicht, in diesem Jahr noch bis an die Nordspitze der Insel zu reisen?«

Sam stellte sein Glas behutsam auf den Tisch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Man wünscht, etwas über die Sadlermiutter zu erfahren, die, wie man gehört hat, ein ganz unwahrscheinliches Volk waren. Sie sollen außerordentlich dreckig, wahrscheinlich die größten Schweine der Arktis gewesen sein. Ihre Häuser waren angeblich schwarz vor Ruß, weil ihre Frauen die Lampen nicht in Ordnung halten konnten, und ihre Wände und Pritschen klebten und stanken vor Speck. Ein sonderbares Volk mit sonderbaren Gewohnheiten. Es wird erzählt, daß sie den Speck von den Fangplätzen auf die Weise transportierten, daß sie mitten im Speck ein Loch ausschnitten und die Speckstücke dann wie eine Halskrause über den Kopf stülpten. Aber wenn sie inzwischen auch verschwunden sind, so muß es doch Baffinländer geben, die sich noch an dieses Volk erinnern können.«

Pete schaute voll Bewunderung auf diesen kleinen, klobigen Kerl. »Du weißt sicher eine ganze Menge und bist schon viel herumgereist. Mir könnte es nicht im Traum einfallen, mich jetzt im Herbst so weit nach Norden zu begeben. Ist es nicht riskant, in diesen Breitengraden um die Zeit und mit der Ausrüstung, die du hast, allein zu reisen?«

»In meinem Fall geht es nicht so sehr um Ausrüstung wie um Reisegefährten«, antwortete Sam. »Ich habe, wie ihr richtig bemerkt habt, eine armselige Ausrüstung und bin in jeder Weise ein kümmerlicher Reisender. Aber man spricht vier Eskimosprachen und hat ja ein ganz freundliches Wesen.«

Pete nickte: »Es ist natürlich ganz was anderes, wenn man mit Eskimo reist. Es gibt keine besseren Reisegefährten. Man muß sie bloß aufspüren, das ist die Schwierigkeit. Ich meine, du hättest schon früher starten müssen, Sam. Die nächste Station liegt viele Tagesreisen von hier, und der Herrgott mag wissen, wo sich die Nomaden um diese Zeit aufhalten. Jetzt ist schon Herbst, Sam, und du hast das ja selbst zu spüren bekommen, als du von ›Geltings Arsch‹ heruntergeweht wurdest.« Petes Zeigefinger zeichnete auf der Tischplatte Figuren, und Small Johnson konnte merken, daß er gehemmt war und nicht die rechten Worte finden konnte. Schließlich brachte er sie aber doch zuwege: »Wir haben hier im Haus ja nicht übermäßig viel Platz, und ich kann es gut verstehen, daß du mit deinen Aufgaben möglichst schnell in Gang kommen möchtest. Und unsere Gesellschaft muß für dich sicher recht langweilig sein, denn man kann ja nicht gerade behaupten, daß wir von Wissenschaft viel verstehen, wenn wir auch über das eine oder andere Bescheid wissen. Aber falls du Lust hast, eine Pause einzuschalten und in aller Ruhe die Fossilien hier in der Gegend zu studieren, dann möchten wir dich sehr gern bei uns behalten. Sowie es ordentliches Eis gibt, können wir dich dann nach Ukusik, dem nächsten Wohnplatz von hier, bringen.«

Sam schüttelte den Kopf. »Das ist sehr freundlich von euch, aber es würde bloß zu große Ungelegenheiten bereiten. Es würde euch bald verdrießen, einen alten Dummkopf, der zu nichts taugt, in eurem Haus zu haben. Ich kann ja weder fangen noch Häute bearbeiten.«

»Du würdest uns einen Dienst erweisen, wenn du bleibst«, sagte Pete beinahe flehentlich. Er dachte daran, welchen gesellschaftlichen Gewinn Sams Anwesenheit bedeuten würde und wie schrecklich es wäre, wenn einer der Nachbarn sich Sam für längere Zeit sichern könnte. Er starrte gespannt den Gast an.

Da breitete sich ein großes Lächeln über Samuels faltenreiches Gesicht. »Es kommt manchmal vor, daß ein Mensch von freudigen Gefühlen überwältigt wird und deshalb dumm dasitzt und keine Worte findet«, sagte er. »Aber jedenfalls schönen Dank! Man bleibt!«

Sam kam nie an die Nordspitze von Baffinland. Der Ordnung halber und um nicht völlig am Fuß von Miss Molly festzuwachsen, sprach er aber jedes Jahr davon, daß er sich auf den Weg machen müsse. Er achtete jedoch sehr sorgfältig darauf, seine Reiseabsichten zu einem Zeitpunkt vorzubringen, wo der im Anzug befindliche Winter einem derartigen Unternehmen einen Riegel vorschob. Samuel fand hier gute Freunde, einen Ort, wo er in Ruhe studieren konnte, und schließlich, als ich zur Welt kam – auch eine Familie.

Im folgenden will ich von Jeobald und von seiner Begegnung mit Pete auf der Allen-Ebene im Sommer 1933 erzählen.

Petes und Jeobalds Begegnung auf der Allen-Ebene

Jeobald wurde während einer Reise geboren. Auf einer Schute mit dem Namen »Onze Lieve Vrouwes Wil« irgendwo zwischen Brügge und Gent. Alle seine Verwandten waren schon seit Generationen Flußschiffer gewesen, und er selbst verlebte seine Kindheit und erste Jugend auf den Wasserstraßen Europas.

Jeobald ist religiös, fühlt sich aber keiner Kirche oder Sekte zugehörig. Er ist, wie wohl die meisten Menschen, eine Mischung aus Gut und Böse, und er hat versucht, seinen Glauben mit dieser Tatsache in Einklang zu bringen. Sein Glaube stimmt im großen und ganzen mit dem der Eskimo überein, jedoch mit dem kleinen Unterschied, daß der Eskimo sich auf die vielen allgegenwärtigen Seelen einstellt, während Jeobald dies nur mit einer einzigen, seiner eigenen, Seele versucht. Wie der Eskimo schenkt er dem Guten wenig Beachtung. Es ist nun einmal da, und man soll es nicht ändern wollen. Dagegen hat er ein wachsames Auge für die weniger erfreulichen Seiten seiner Seele, und wenn sich ihm eine der dunklen Taten seiner Vergangenheit aus der Tiefe der Erinnerung auch nur andeutungsweise ins Bewußtsein drängt, dann beginnt er unverzüglich einen oft schmerzvollen Kampf, um sich zu reinigen. Er hält sich selbst für einen überaus großen Sünder, und sein Reinigungsprozeß könnte Fremden grotesk, vielleicht sogar lächerlich vorkommen.

Seine Bekehrung fand an einem regnerischen Wintertag in einer kleinen Kapelle des Grubenortes Jumet statt. Die vom schmalen Gehsteig bescheiden zurückliegende Kapelle war eingeklemmt zwischen zwei stattlichen Bürgerhäusern. Jeobald fühlte sich von einem schwachen gelben Lichtschein angezogen, der durch das Fenster der Eingangstür sickerte, und er ging, auch um nicht ganz durchnäßt zu werden, hinein.

Was ihn dort so ergriff, ist nicht zu sagen. Vielleicht war es einfach die Stimmung in dem halbdunklen Raum, der bloß von zwei Wachskerzen am Altar erleuchtet wurde, vielleicht war es der herabströmende Regen, der auf dem Blechdach das Donnergetöse des Jüngsten Gerichtes zuwege brachte, vielleicht aber war es auch nur ein zufälliger Gedanke, der ihm kam und sich verzweigte und zu Reflexionen über das Dasein entwickelte. Das ist, wie gesagt, schwer auszumachen. Das eine ist jedoch sicher: Als er nach vielen Stunden die Kapelle verließ und der Regen längst aufgehört hatte, war er von irgend etwas tief ergriffen. Er verstand sich selbst als großen Sünder und baute auf diesem Fundament eine neue und beschwerliche Lebensform für sich auf. Die vielen Sünden, an die seinerzeit nicht viele Gedanken verschwendet worden waren, wurden nun groß und nahmen ungeheure Dimensionen an. Es soll jedoch der Ordnung halber bemerkt werden, daß sich Jeobald um die Sünden anderer nicht kümmerte.

In dem Jahr nach seiner Bekehrung ließ er sich von einem holländischen Schiff, der »Hoop van Scheveningen«, anheuern und war zu diesem Zeitpunkt in seiner Einbildung der größte lebende Sünder der Welt, ein Gedanke, der ihn manchmal begeistert nach Luft schnappen ließ.

Mit der »Hoop van Scheveningen« kam er zu den riesigen Wäldern, die weit südlich des Fynes-Fjords liegen. Er riß von der »Scheveninger Hoffnung« aus und drang durch die Wälder immer weiter nordwärts. Bei dieser Wanderung schwebte ihm kein eigentliches Ziel vor, er wollte nur einen ruhigen Ort finden, wo er seinen verwirrten Gedanken nachgehen konnte.

Pete traf ihn auf der Allen-Ebene. Seit jener denkwürdigen Begegnung meiner beiden Väter sind nun fünfundzwanzig Jahre vergangen. Während seiner Wanderung über die Ebene fiel Jeobald wieder eine Episode ein, die sich zugetragen hatte, als er noch an Bord der Familienschute war. Damals, in seiner Kindheit, gab es auf den Booten noch keine Aborte. Man beförderte alles von der Reling aus direkt in den Fluß. Jeobald und seine Schwester Gerd saßen eines Abends auf dem Lukendeckel und sahen, wie sich die Schiffersfrau von der benachbarten Schute prustend zurechtsetzte, um ein reichlich genossenes Abendessen in den Fluß zu leiten. Der riesige Hintern erschien leuchtend wie der aufgehende Mond, und Gerd, die Verführerin, stichelte flüsternd, daß er sich wohl nicht traute. Aber er traute sich. Blitzschnell holte er aus seiner Hosentasche die Schleuder hervor, in deren Leder schon ein schöner, runder Stein bereitlag – und, tsch, schon schnellte dieser wie ein pfeifendes Geschoß davon.

Oh, wie die Getroffene aufschrie und heulte! Sie schlug mit den Armen um sich und fiel hintenüber. Und erst als das Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug, verstummte ihr gräßliches Geschrei. Diese unmenschlichen Laute tauchten damals, als Jeobald die Allen-Ebene überquerte, in seiner Erinnerung mit voller Stärke wieder auf. Und weil ihm schon lange keine ordentliche schwarze Sünde einfallen wollte, nahm er diese kleine Untat aus der Kindheit zum willkommenen Vorwand, um sich einer exorzierenden Bußübung hinzugeben. Er fand einen passend großen Stein, ergriff ihn mit beiden Händen, schleuderte ihn hoch in die Luft und begab sich in größter Eile an die Stelle, wo er vermutlich herabfallen würde. Dort wartete er dann mit zugekniffenen Augen und bis an die Ohren hochgezogenen Schultern auf das erhoffte Ereignis. Jedoch mußte dieses Manöver mehrere Male wiederholt werden, bis der Brocken endlich mit lautem Klatsch auf seinem Kopf landete.

Leider erwies sich der Stein gewichtiger, als Jeobald es in seinem heiligen Wahnsinn angenommen hatte, und er fiel, vom Zorn des Herrn schwer getroffen, der Länge nach ins Heidekraut. Dort fand Pete den Schwerverletzten.

Es kommt nicht oft vor, daß man in dem Distrikt der Kameraden Fremde antrifft, und es ist ganz ungewöhnlich, daß man sie bewußtlos auffindet. Pete beeilte sich, aus einem Schmelzwassersee kaltes Wasser zu holen und es dem Fremden übers Gesicht zu gießen. Dann bearbeitete er mit leichtem Tätscheln die bleichen Wangen und legte ein saftiges Mooskissen auf die blutende Stirn.

Jeobald schlug nach kurzer Zeit die Augen auf, sah über sich ein großes, bärtiges Gesicht mit einem Paar sehr blauer, verwunderter Augen und flüsterte: »Jesus! Bist du Jesus?«

»Nicht gerade Jesus«, antwortete Pete geschmeichelt. »Hier oben nennt man mich Pete.«

»Natürlich bist du Jesus«, sagte der Verletzte gereizt. Er stemmte sich stöhnend auf einem Ellbogen hoch. »Geh mal ein paar Schritte von mir weg, damit ich dich ordentlich ansehen kann.«

Pete in seiner Langmut tat wie geheißen. Er stand auf und entfernte sich ein Stück weit.

Jeobald betrachtete ihn forschend und sah eine grobschlächtige Gestalt in Segeltuchhosen und einem Pelzanorak. Er setzte sich vollends auf und rieb sich seine große Nase. Was er da sah, war nun nicht gerade eine Kopie jenes Jesus, der in der engen Kajüte der Kindheitsschute an einem Holzkreuz gehangen hatte. Und es war ihm auch jetzt, wo seine Augen wieder so weit funktionierten, daß er klar mit ihnen sehen konnte, völlig unmöglich, sich vorzustellen, daß dieses Wesen einmal ein kleines, süß duftendes Jesuskind auf Marias Schoß gewesen sein sollte.

»Du hast sicher recht, Kamerad«, sagte er schließlich. »Jesus bist du nicht. Aber dieser Steinbrocken muß verdammt groß gewesen sein.«

Pete lächelte. »Ein ganzes Gebirge, Kamerad. Kein Wunder, daß du leicht benebelt bist. Und in gewisser Weise, rein theoretisch, hätte ich schon Jesus sein können. Aber wenn wir uns an die Tatsachen halten, dann bin ich also Pete von Miss Molly. Wenn du aus dem Süden kommst, hast du sicher eine Menge über mich und die Kameraden gehört.«

Jeobald befühlte vorsichtig seine anschwellende Beule. »Verdammt noch mal, wie die wächst!« murmelte er. Dann richtete er seinen schmerzgequälten Blick auf Pete. »Ich heiße Jeobald, aber von dir habe ich nie jemanden erzählen gehört. Wahrscheinlich, weil ich den Menschen soviel wie möglich aus dem Weg gehe.«

»Ach so.« Pete zupfte sich an einem Ohrläppchen. »An der Bananenküste unten gibts nämlich ’ne Menge lustiger Burschen. Aber ein jeder hat natürlich seine Gründe, weshalb er so lebt, wie er eben lebt, und ich bin keiner von denen, die fragen.«

Jeobald wies mit einem steifen Zeigefinger auf seine Brust. »Hier, Pete, siehst du einen Menschen, der keine Zeit für lustige Saufereien hat. Ich bin nämlich ganz schwarz vor Sünde. Wahrscheinlich bin ich der größte Sünder unserer Zeit.«

»Teufel noch mal, da bleibt einem ja die Spucke weg!« meinte Pete. »Mitten auf der Allen-Ebene über den größten Sünder unserer Zeit zu stolpern, dazu muß man schon Riesenschwein haben. Es geht mich zwar nichts an, Jeobald, aber was hast du denn bloß angestellt?«

»Frag mich lieber, was ich nicht verbrochen habe, das könnte ich dir viel leichter sagen«, antwortete Jeobald finster. »Eine verdammte innere Stimme hört nicht auf, in einem fort neue Sünden, die ich begangen und vergessen habe, auszugraben und mir vorzuhalten.«

»Da mußt du aber allerhand unglaubliche Sachen ausgefressen haben, wenn deine Stimme einfach so weitermachen kann«, fand Pete. »Bei uns oben kenne ich zum Beispiel manche Mörder, aber die haben nie was von einer inneren Stimme gesagt. Vielleicht ist Mord aber auch keine richtige Sünde, unter Umständen kann er ja sogar eine Wohltat sein. Und ich selbst habe mehr Lumpereien begangen, als das Leben eines Greises Tage zählt, aber auch mir ist von einer inneren Stimme nichts bekannt.«

»Wie viele Sünden man begangen hat, spielt keine Rolle«, erklärte Jeobald. »Die Sünden allein machen ja nicht den Sünder. Um ein rechter Sünder zu werden, muß man sich lange anstrengen. So einfach geht das nicht. Fleiß und gute Gesundheit sind dafür zwei wichtige Voraussetzungen, und dabei ist es nicht einmal sicher, daß es dann auch gelingt. Es muß sozusagen in einem liegen, und man muß lange suchen, bis man findet.«

»So wie du das erzählst, scheint es nicht gerade leicht zu sein«, mußte Pete zugeben. »Man braucht dazu sicher verdammt viel Geduld.« Er legte sich hin, lehnte sich an seinen Ranzen und richtete sich auf eine lange und nutzbringende Diskussion ein. »Und was hast du gefunden, Jeobald?«

»Ja, siehst du, ich habe eben gefunden, daß Jeobald Gerrit Oegeest der größte Sünder ist, der jetzt auf Erden lebt. Ich bin so weit gekommen, daß ich mich zu jeder Sünde bekenne, wie sie mir, eine nach der andern, aus der Tiefe meiner Seele hervorgeholt werden. Ich gebe mich ernstlich mit ihnen ab und pflege sie, wie man in einem Garten kleine Blumen pflegt. Und sie entfalten sich, werden groß und stark, bis ich zupacke und sie mit der Wurzel ausreiße.«

»Das mit den Blumen habe ich nicht ganz kapiert, Kamerad. Das ist mir zu hoch«, sagte Pete. »Aber ich hab so ’ne Ahnung, wo du hinauswillst. Sagen wir mal, daß ich mir aus der Falle meines Nachbarn einen Fuchs hole und daß ich mich dann auch so richtig eingehend mit dieser Sünde beschäftige, glaubst du, daß sie dann auch bei mir in einem fort weiterwächst und am Ende ebenso groß wird, wie wenn ich ihm einen Hund gestohlen hätte?«

»Absolut«, sagte Jeobald entschieden. »Und sie kann sogar noch größer werden als die anderen, wenn du dich ganz dafür einsetzt.«

»Hunde stehlen ist aber das Allerärgste«, sagte Pete voll Ernst.

»Schön, dann begnügen wir uns halt mit den Hunden«, sagte Jeobald fügsam. »Ich glaube ohnehin, daß es dir schwer genug fallen würde, die Sünde bis zu solcher Hundegröße wachsen zu lassen. Aber ich will dir bloß das eine sagen, Pete, es gibt nichts Schwierigeres als die Arbeit an einer Sünde. Wir Menschen haben ja immer so viele Entschuldigungen parat. Aber halte dich bloß einzig und allein an die Tat. Versuche, in Bildern zu denken, dir alles ganz lebendig vorzustellen: wie du dich an die Falle heranschleichst, wie du vorsichtig den Fuchs aus der Steingrube herausholst, wie du dich mit der Beute davonmachst und dabei schmunzelst, weil es schneit und die Spuren deiner Schneeschuhe schnell verwischt sein werden. Stell dir das alles nur immer wieder vor, und du wirst sehen, wie die Sünde wächst, so daß dein Gehirn zu guter Letzt von ihr bis zum Platzen voll ist und nichts mehr sonst darin Platz hat. Das ist schön, sag ich dir, wunderbar schön. Jetzt kannst du nämlich mit der Reinigung anfangen, Pete. Du hast jetzt ein Gleichheitszeichen zwischen Tat und Sünde gesetzt, du bist jetzt mit Sünde ganz schwanger, und du mußt erlöst werden. Manche Leute sind stark und können sich durch die Anrufung des guten Gottes selbst erlösen. Andere müssen beim Schlimmen und Schmerzvollen Hilfe suchen. Ich kann die Sünde allein nicht tragen, darum ist das Schlimme wohl eher mein Gott als das Gute. Dort finde ich Hilfe. Und du wirst sehen, daß es zu mehreren leichter ist, das Kreuz zu tragen, das so schwer ist, daß man gar nicht darauf achtet, von welcher Sorte die Kameraden sind, die einem da helfen. Versuch es selbst, Pete, stell dir so einen Fuchsdiebstahl ganz lebhaft vor. Leg dich bequem hin, und denke dann ausschließlich an den Fuchs, den du gestohlen hast.«

Pete rückte sich auf seinem Ranzen zurecht. Er starrte auf die grauweißen Stratuswolken, die wie fette Zigarren in dem saphirblauen Himmel lagen. »Stell dir den Fuchs jetzt ganz lebhaft vor«, sagte Jeobald leise. »Der Kerl liegt dort unterm Fallbrett mit zermalmtem Rücken. Kannst du seine Rute sehen, die dort hervorschaut? Ja, und jetzt nimmst du den Stein weg, aber vorsichtig, Pete. Und dann hebst du das Fallbrett auf, ja, so, und jetzt den Kerl herausgeholt. Sieh ihn dir nur ordentlich an, du hast genügend Zeit. Ein feines Fell, was? Die Raben hatten noch keine Gelegenheit, an ihm herumzuhacken. Er ist ja eben erst in die Falle gegangen. Und nun machst du deinen Rucksack auf und läßt ihn dort im Dunkeln verschwinden. Und jetzt muß die Falle wieder aufgestellt werden. Die Stutzen müssen wieder an ihren Platz und die Steine obendrauf. Aber so, wie sie gelegen haben, alle Steine, Pete, keine Hudelei. Und vergiß nicht, am Köderarm wieder Fleisch anzubringen. Schön. Jetzt ist alles genauso wie früher, ehe der Fuchs in die Falle ging. Siehst du das alles vor dir? Wachsen die Bilder? Konzentriere dich nur richtig, führ dir das Ganze einmal, zweimal, immer wieder vor Augen. Spürst du die Sünde jetzt? Merkst du, wie sie durch dich hinkriecht, wie eine Giftschlange? Wie sie dich beißt, und wie sie mit ihrem Gift deinen Widerstand gegen den Diebstahl lähmt? Und jetzt hörst du die innere Stimme. Jetzt spricht sie zu dir, Pete! Hörst du sie?«

»Ja, ich höre sie«, sagte Pete abwesend.

Jeobald wagte vor lauter Spannung kaum zu atmen. »Und was sagt sie dir?« flüsterte er leise.

Ohne die Augen von den Wolken am Himmel abzuwenden, sagte Pete mit ergriffener Stimme: »Sie sagt, bei der Frühjahrsauktion wird dieses Fell einen Spitzenpreis erzielen. Es ist ja verdammt fein, dieses Fell.«

Jeobald seufzte tief. Er legte sich schwer neben Pete. »Du bist unbegabt«, sagte er enttäuscht. »Aus dir wird nie etwas, nicht einmal ein mittelmäßiger Sünder, Pete. Du hast dazu keine Anlage.«

»Ich habe mich aber wirklich angestrengt«, antwortete Pete. Seine Gedanken hielten sich noch bei dem schönen Fuchsfell auf. »Jeder hat halt nicht so reiche Anlagen wie du.«

Jeobald seufzte abermals. »Ja, zum größten lebenden Sünder der Welt«, murmelte er, und es lief ihm vor Ergriffenheit kalt über den Rücken.

»Es muß ein schweres Kreuz sein«, sagte Pete voll Mitgefühl.

»Enorm schwer.« Jeobald befühlte vorsichtig seine Beule. »Und es kann so verflucht weh tun.«

Meine Väter in spe blickten von ihrem Lager auf die weite Ebene hinaus. Sie stützten ihre Nacken auf die Ranzen und hielten die Hände über dem Bauch gefaltet. So lagen sie lange, ohne ein Wort zu wechseln, und ein jeder befühlte sozusagen des anderen Schweigen. Dann und wann sah der eine nach dem andern hin, und wenn sich ihre Blicke dabei trafen, lächelten beide leicht verlegen.

Plötzlich sagte Pete: »Ich wohne mit ein paar Jungs hinter den Willsonhills. Wir haben uns dort zusammengefunden.« Er deutete mit einem Daumen über die Schulter in Richtung des Gänsepasses. »Am Fuß von Miss Molly«, fügte er hinzu.

»Miss Molly?« Jeobald sah ihn fragend an.

»Ja, so heißt der Berg. Den Namen hat er nach einer Frauensperson aus Downty, die in den neunziger Jahren herkam, als unten alle hinterm Gold herliefen. Sie hatte mächtig viel Mut, du verstehst schon. Das hatte aber bloß den Haken, daß es in diesem Teil des Landes keinen einzigen Mann gab, der Lust hatte, sie zu besteigen.«

»Traurig, traurig!« sagte Jeobald. »Es ist ja immer schade, wenn ein Frauenzimmer mit Mut und Lust keinen kriegt und sitzenbleibt. Ich werde den Berg zu Ehren von Miss Molly einmal besteigen.«

»Das wird der Seele des alten Mädchens, ob sie nun im Himmel oder in der Hölle steckt, guttun. Bisher hat sicher noch kein Mann etwas zu ihren Ehren getan.«

»Eine solche Besteigung muß natürlich sorgfältig vorbereitet werden«, erklärte Jeobald. »Man kann den Berg ja wohl nicht einfach hinauflaufen?«

»Nein, das geht nicht. Er ist durch und durch verrottet«, erklärte Pete. »Und es ist auch kein so schöner Berg, daß sich das Hinaufklettern lohnen würde.«

»Was die Schönheit anlangt«, sagte Jeobald, »so hat sie nichts zu bedeuten, solange man mit dem Besteigen beschäftigt ist. Und ich bin überzeugt, daß die Aussicht von Miss Molly aus nicht zu verachten ist. In dieser Hinsicht gibts, glaube ich, bei Bergen und bei Weibern kaum einen Unterschied. Ist man erst mal ganz oben, kriegt man seine Belohnung und alles Schöne, was man sich wünschen kann.«

»Du hast da, meine ich, mehr Erfahrung als ich.« Pete deutete wieder über die Schulter. »Wenn du wirklich vorhast, die Besteigung von Miss Molly vorzubereiten, dann kannst du gern so lange bei uns wohnen. Wir werden dich dabei genausowenig stören, wie wenn du mit dem Sündenaustreiben oder anderen schwierigen Aufgaben beschäftigt bist.«

Jeobald wandte den Kopf und sah in Richtung von Miss Molly. »Ich könnte mir schon denken, euch eine Zeitlang zu besuchen«, antwortete er. »Ich glaube, ich habe etwas Ruhe nötig, und ich muß auch wieder mal Freunde finden. Außerdem habe ich ja jetzt versprochen, Miss Molly zu besteigen.«

Und so geschah es auch. Zur großen Freude der Bewohner des Hauses und zu Nutz und Frommen des seltsamen Gastes, der am Fuß von Miss Molly – die er nach einjähriger Vorbereitung im Frühjahr 1934 bestieg – einen Ruheplatz für seine vielen sündhaften Gedanken fand. Seit dem oben geschilderten Tag auf der Allen-Ebene teilte Jeobald das Leben seiner Freunde, von der täglichen Gemeinschaft bis zur halben Vaterschaft, als ich geboren wurde.

Im folgenden will ich erzählen, wie Aviaja ins Haus kam.

Man findet Aviaja

In den ersten paar Monaten nach meiner Geburt wurde ich recht kümmerlich von meinen Vätern und von Onkel Sam betreut. Small Johnson behauptete, gegen Kleinkinder allergisch zu sein, ich bin aber der Meinung, daß ihm vor allem die Exkremente der Säuglinge Atemnot und Brechreiz bereiteten. Auch Onkel Sam nahm nur unwesentlich an der Babypflege teil. Er stellte sich dabei, nach dem Urteil meiner Väter, zu wissenschaftlich an und durfte erst nach dem Einzug Aviajas seine Talente entfalten. Er hatte jedoch an mir und besonders an der überwältigenden Blutmischung, die sich in meinen Adern vorfand, außerordentliches Interesse und sprach entzückt von den anthropologischen Untersuchungen, die er, wenn ich einmal drei Jahre alt wäre, durchzuführen beabsichtigte.

Aviaja war ein Fund. In der buchstäblichsten Bedeutung des Wortes. Sie wurde an einem höllisch kalten Wintertag von Jeobald und Onkel Sam gefunden, als sich beide nach einer Inspektion der Fuchsfallen auf dem Heimweg befanden. Sie saß auf einem schon fast haarlosen Hundefell weit draußen auf dem Eis und erwartete geduldig den Tod.

Jeobald erblickte als erster die einsame Gestalt. Er hielt die Hunde in passender Entfernung an, damit ihnen nicht plötzlich der Gedanke an eine kleine warme Mahlzeit kommen sollte. Onkel Sam stieg vom Schlitten und stelzte über das Eis zu der alten Frau hin. »Tigutitau? Wie geht es dir?« fragte er auf baffinländisch.

Aviaja blickte auf, antwortete aber nicht. Sie hatte sich die Kapuze des Anoraks fest vor den Mund gebunden, wie es die Sitte verlangt, wenn man den Tod im Eis sucht. Samuel kniete vor sie hin und befühlte ihre kalten Hände, die nackt und steif gefroren an den Kamikschäften herabhingen. Er löste die Kapuze von ihrem Mund und wiederholte seine Frage.

Aviaja sah verlegen auf ihre abgetragenen Seehundhosen. »Nakoravit«, antwortete sie. »Mich friert. Ein alter Mensch hat die Einsamkeit gesucht, friert dabei aber sehr.«

Sam nickte mitfühlend. Er wußte, daß ihre Kamikken ohne Stroh waren, denn sie hatte es aus den Stiefeln entfernen müssen, wie Sitte und Brauch es vorschrieben, wenn man auf diese Art zu sterben wünschte.

»Wie heißt du, und zu welchem Volk gehörst du?« fragte er.

Aviaja sah ihn verwundert an. »Kommt es wirklich einer armseligen Frau, die Aviaja heißt, zu, einem wissenden Mann auf Fragen zu antworten, die er selbst schon beantwortet hat? Wie kann es sein, daß man einen fremden Mann gerade jetzt, wo man unterwegs nach dem Wohnplatz der Hängeköpfe ist, die Sprache der Menschen reden hört?«

»Wer sind denn aber deine Verwandten?« fragte Sam.

»Odoniarssuaq hieß der Familienversorger.«

»Dann sind wir ja beinahe verwandt, denn Odoniarssuaq ist der Ziehbruder meines Freundes Pete.«

»Odoniarssuaq wurde vor zehnmal Schlafen vom Eis geholt«, sagte die Alte still. »Man selbst wünscht nicht, den Jungen und Unerfahrenen zur Last zu fallen.«

Sam rieb, ohne recht bei der Sache zu sein, die kalten Hände der Frau. Eine Idee war in ihm aufgetaucht, und nun saß er eine Weile da und ließ ihr Zeit, sich zu entfalten. Und als sie sich erholt hatte und zu sich gekommen war, sagte er: »Man wünscht Odoniarssuaq dort, wo er jetzt ist, viel Fangglück. Und dich wird man in vielen Häusern rühmen, weil du niemandem zur Last fallen willst.« Er holte ein paarmal tief Atem und setzte dann seine Idee in Worte um. »Nun ist es aber so, daß man sich ein wenig Frauenhilfe in Petes Haus wünschen könnte.«