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Ein Festival des Grauens Ein Serienmörder wütet im sommerlichen Franken, und er findet alle seine Opfer auf beliebten Festivals … Kommissar Charly Hermann und sein Team von der SOKO Franken müssen fieberhaft und unter dem Druck der Öffentlichkeit ermitteln, um den Psychopathen zu fassen. Ihr einziger Hinweis: Die grausige Visitenkarte des Killers, ein in die Haut der Opfer geritztes Haus vom Nikolaus. Als Herrmann verstörende Hinweise findet, das einer seiner Ex-Kollegen in den Fall involviert sein könnte, spitzt sich die Lage zu – bis »Nik the Ripper« sein nächstes Opfer auswählt: Seine Tochter Valerie ... So atemberaubend spannend wie Bernhard Aichner, so suchtgefährdend wie Frank Kodiak: »Nervenkitzel bis zur letzten Seite«, urteilt Franken Aktuell. Der packende Regio-Krimi »Das Haus vom Nikolaus« von Volker Backert ist der erste Band seiner Hardboiled-Krimi-Reihe um den SOKO-Franken-Chef Charly Herrmann, bei der alle Bände unabhängig voneinander gelesen werden können. Volker Backert ist mit »Das Haus vom Nikolaus« ein in höchstem Maße spannender Krimi von erstaunlichem Format gelungen, ein Thriller, der den Leser förmlich fesselt. Amazon-Leser Alle Bände der Reihe: Band 1: Das Haus vom Nikolaus Band 2: Todesfessel Band 3: Mordfieber Band 4: Rhein-Main-Bestie Die Bände sind unabhängig voneinander lesbar.
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Seitenzahl: 331
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ein Serienmörder wütet im sommerlichen Franken, und er findet alle seine Opfer auf beliebten Festivals … Kommissar Charly Hermann und sein Team von der SOKO Franken müssen fieberhaft und unter dem Druck der Öffentlichkeit ermitteln, um den Psychopathen zu fassen. Ihr einziger Hinweis: Die grausige Visitenkarte des Killers, ein in die Haut der Opfer geritztes Haus vom Nikolaus. Als Herrmann verstörende Hinweise findet, das einer seiner Ex-Kollegen in den Fall involviert sein könnte, spitzt sich die Lage zu – bis »Nik the Ripper« sein nächstes Opfer auswählt: Seine Tochter Valerie ...
eBook-Lizenzausgabe Dezember 2025
Copyright © der Originalausgabe 2010 by Hermann-Josef Emons Verlag
Copyright © der eBook-Lizenzausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/photolinc, STILLFX, klyaksun, Andreas von Mellinckrodt
eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (fb)
ISBN 978-3-69076-564-0
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Volker Backert
Kriminalroman
I know I’ve dreamed you a sin and a lie
I have my freedom but I don’t have much time
Faith has been broken, tears must be cried
Let’s do some living after we die
Wild wild horses
We’ll ride them someday
»Wild Horses« – Rolling Stones 1971
Franken sind keine Bayern.
(Bundesjustizminister a. D. Thomas Dehler, 1966)
Der Sex mit dir war auch schon mal besser, dachte Kriminalkommissar Charly Herrmann. Langsam zog er seine Unterhose hoch. Vielleicht sollten wir uns eine Zeit lang nicht mehr treffen.
Er spürte ihren Blick in seinem Rücken und trat, nur mit schwarzem Slip und dünnem Goldkettchen bekleidet, auf den kleinen Balkon des Apartments hinaus.
Flirrende Julihitze lag über Coburg.
Die Luft stand bleiern-schwül in der Senke zwischen Festungsberg und Fachhochschule. Immer wieder wehten einzelne Klangfetzen aus der Innenstadt herauf; kurze, ekstatische Trommelwirbel, akustische Vorboten des Coburger Samba-Festivals, das in wenigen Stunden auf dem Schlossplatz beginnen würde.
Hundert Sambagruppen aus aller Welt; zweihundertfünfzigtausend Besucher in Coburg an den nächsten drei Tagen.
»Schauen Sie sich diese Relation an!«, quäkte der Samba-Pressesprecher aus dem kleinen blauen Plastikradio auf dem Fensterbrett. »Zweihundertfünfzigtausend Besucher bei zweiundvierzigtausend Einwohnern, da müssten zur Loveparade nach Berlin glatt vierundzwanzig Millionen kommen!«
Provinzielles pr -Gelaber, dachte Charly, kein Wort über die enorme Belastung der Polizei: Überstunden, Extraschichten, zusätzliche Bereitschaftspolizei; in Coburg herrscht wieder für zweiundsiebzig Stunden Ausnahmezustand. Aber das interessiert keinen Schwanz, für die Arschlöcher in den vip -Pavillons ist Sicherheit genauso selbstverständlich wie das Gratisgläschen Caipirinha …
Er setzte sich. Sofort klebte der sommerlich aufgeheizte Plastikstuhl an seinen nackten Oberschenkeln. Angewidert erhob er sich, hielt inne und ließ sich mit einem mürrischen Seufzer wieder zurückfallen. Bloß nicht zurück ins Schlafzimmer, keine Diskussionen riskieren über »Zusammenziehen« oder »gemeinsame Zukunft«. Unwirsch griff er nach einem zerknitterten Lucky-Strike-Päckchen, das neben dem Boulevardblatt »fz – Frankenzeitung« auf dem runden Tischchen vor ihm lag.
Nur ein paar Züge paffen, kein echter Rückfall.
Es kam, wie er erwartet hatte.
»Ich dachte, du hast aufgehört?«
Lautlos war sie hinter ihn getreten, stützte sich mit warmen Händen auf seine Schultern. Er spürte ihre schweren, nackten Brüste an seinem kurz geschorenen Hinterkopf. Ein letzter, gieriger Zug, dann drückte er die halb gerauchte Lucky in den verwitterten roten Plastikaschenbecher.
»Du solltest hier nicht so nackt herumlaufen.«
»Auf meinem Balkon?« Sie lachte, presste sich neckisch-provozierend noch enger an ihn. »Wer soll mich denn hier sehen?«
»Bis zum Block dort drüben sind es keine hundert Meter. Es gibt Ferngläser – und es gibt genügend Psychopathen, auch bei uns in Franken.« Charly hielt ihr die »Frankenzeitung« vor die Nase:
»Erlangen: Noch keine Spur von der ›Berch-Bestie‹.«
»Ach … du meinst, wegen dem Mord auf der Berch-Kerwa neulich?«
Ihre Auffassungsgabe war deutlich schwächer entwickelt als ihre Oberweite, musste sich Charly, nicht zum ersten Mal, insgeheim eingestehen.
»Mord ist gut – der hat die Frau regelrecht zerfetzt, zwölf Messerstiche in Hals und Rücken!«
»Ach du Scheiße!« Schaudernd ging sie in die Knie, verbarg ihre Brüste hinter seiner Stuhllehne. Ihr Kinn wanderte auf seiner Schulter entlang.
Charly schwieg. Er spürte, wie ihre Wange immer näher kam. Gleich würde das Thema »Viertagebart« hochkochen. Lässig spielte er seinen letzten Trumpf aus: »Die war fei auch Bedienung – genau wie du!«
Ärgerlich riss sie sich los und stapfte zurück in die Wohnung.
Charly unterdrückte ein kurzes, heftiges Gähnen.
Noch drei Stunden bis zur Samba-Eröffnung.
Der korpulente kleine Tankstellenkassierer ereiferte sich. In seinen grünen Overall gezwängt wie ein Presssack in die Pelle, trommelte er mit kurzen, dicken Wurstfingern ein Stakkato auf den wackligen weißen Bistrotisch. Schwitzend redete er auf sein Gegenüber ein, einen hageren, unrasierten Endfünfziger, dem die Beck’s-Dose in der Hand klebte.
»Und das Schönste ist ja, da stellt sich die Polizei hin und erklärt öffentlich, öf – fent – lich!, dass sie sowieso für nix garantieren kann, solange der Typ nicht hinter Schloss und Riegel ist; gerade Frauen und Mädchen müssten halt jetzt besonders aufpassen! Besonders aufpassen! Meister! Heute Abend geht in Coburg Samba los, ich hab vier Töchter zwischen zwölf und zwanzig, die alle da hinwollen, soll ich die jetzt vielleicht das ganze Wochenende in den Keller sperren?«
Neugierig drehte ein Tankstellenkunde den Kopf, stellte den Playboy wieder ins Regal und kam erwartungsvoll näher. Geschickt nutzte er die kurze Atempause vor dem nächsten drohenden Wortschwall.
»Gibt’s wohl was Neues von dem Mord in Erlangen?«
»Was Neues?« Verblüfft wandte sich der Kassierer dem Neuankömmling zu. »Von wegen, des is es ja! Da läuft so ein Geisteskranker frei herum, und die haben immer noch keine Spur von ihm!«
Zwei Schweißperlen rannen ihm über die puterrote Wange und den mächtigen Hals, versickerten in seinem schmuddelig-beigefarbenen Polokragen.
Ein schlecht unterdrücktes Aufstoßen des Beck’s-Dosen-Halters. »Ist bestimmt wieder so ein Perverser, den sie vorzeitig entlassen haben.«
Nachdenklich nickte der Playboy-Leser. »Schätze auch, dass da eine Zeitbombe tickt. Die meisten haben das noch gar nicht realisiert; der schlägt bestimmt wieder zu.«
Geistesabwesend nestelte er in seiner Hosentasche herum.
»I just wannafeeeeeeelreealloooove«, schmachtete Robbie Williams aus dem Deckenlautsprecher.
Der Tankwart war in seinem Element. »So einer schlägt freilich wieder zu! Und wenn sie ihn endlich haben, dann findet er schon den richtigen Gutachter: Kriegt lebenslänglich und ist nach zwölf Jahren wieder draußen; hört mir doch auf!«
Ärgerlich winkte er ab und walzte wieder hinter seine Kasse.
»Also bitte, Chef!« Der Playboy-Leser, der offenbar einen sehr kleinen Gegenstand in seiner Hosentasche suchte, schien brennend interessiert. »Das kann sich doch heutzutage kein Gutachter mehr leisten! Der Typ hat die Bedienung bei der Berch-Kerwa richtig abgeschlachtet! Die bild -Zeitung sagt, er hat ihr sogar noch einen Ohrring herausgeschlitzt und mitgenommen. So einer ist brutal, eiskalt, hochintelligent – so einen darfst du doch nie wieder rauslassen!«
»Freilich, Meister! Genauso isses! Du warst an der Fünf? Vierundsiebzig einunddreißig … Geheimzahl und bestätigen … Den darfst du freilich nimmer rauslassen, der ist eine Gefahr für die Menschheit …«
»Die Drecksau gehört gleich einen Kopf kürzer gemacht!« Beck’s – impulsiv, prägnant und schlicht.
Der Playboy-Leser verstaute langsam und sorgfältig seine ec -Karte wieder. »Aber anscheinend ist er ja viel zu clever für unsere Polizei, oder? Na ja, vielleicht läuft er dafür mal einem von uns vor die Motorhaube, ich fahr jetzt auch nach Coburg hoch … also servus, schönen Abend noch!«
Er grinste, als er sich in den Fahrersitz fallen ließ. Endlich schien er in seiner Hosentasche gefunden zu haben, wonach er die ganze Zeit gesucht hatte. Verstohlen musterte er auf der Handfläche das Objekt seiner Begierde.
Ein unscheinbares, kleines Schmuckstück.
Ein silberner Frauenohrring, bräunlich verkrustet.
Abendsonne tauchte die Türme und Giebel Coburgs in tiefes Orangerot. Erwartungsfroh schoben sich Menschenmassen über das Kopfsteinpflaster der Altstadt, magisch angezogen vom dumpfen Hämmern der Samba-Trommeln auf dem Schlossplatz und dem Markt. In den Engstellen der Theatergasse, der Herrngasse und der Großen Johannisgasse kam es immer wieder zum Stillstand. Zentimeterweise drückte man sich aneinander vorbei.
Was für ein Paradies für Frotteure und andere Kranke, dachte Charly. Direkt hinter dem Zeughaus wurde er heftig gegen den fülligen Po einer dauergewellten, blondierten Endvierzigerin, Typ Avon-Beraterin, gepresst. Als sie den Kopf drehte, hob er bedauernd die Brauen und mimte routiniert den leicht Verlegenen. Sie lachte aus einem unglaublich breiten, tiefrot angemalten Mund und setzte zu einer Erwiderung an, die sofort vom furiosen Intro der »Grupo Samba Total« verschluckt wurde, die wenige Schritte weiter eine spontane Session am Salzmarkt eröffnete.
Mit einem schnellen Sidestep nutzte Charly eine winzige Lücke und huschte über die Schwelle der »KostBar«. Er atmete tief durch, als er in das spärlich besetzte Lokal trat. Statt lauter, harter Samba-Rhythmen plötzlich Weichspülersound von Santana:
»Oye como va, mi vida, oye como va …«
Drei gelangweilte Muttis rund um einen Stehtisch; brave C&A-Blusen, eng gewordene Jeanshosen. Betont achtlos blickten sie sofort wieder an ihm vorbei, bliesen hingebungsvoll ihren Zigarettenrauch Richtung Zimmerdecke.
Am Tresen, direkt unter dem lautlos rotierenden Deckenventilator, ein südländischer Jungmacho, das pechschwarze Haar mit Gel gebändigt und zum Zopf gebunden. Leise, aber sichtlich erregt diskutierte er mit einem kleinen, untersetzten Bodybuildertyp: Ungesunde Blässe, breite Boxernase und hellgraues Muskelshirt mit schwarzem Puma-Aufdruck. Hohe Wangenknochen und auffallend schmale Augen, registrierte Charly. Typisch russisch.
»Hey, Charly, altes Haus!«
Bernhard Winter stand vor ihm, grinste übers ganze Gesicht.
»Servus, Bernie! Ewig nicht mehr gesehen!« Erfreut boxte ihn Charly auf den Oberarm.
Winter, ehemaliger Kriminaloberkommissar, war jahrelang im K 1 auf demselben Flur wie Charly tätig gewesen. Vor vier Jahren hatte er dann, mit einundvierzig, überraschend den Dienst quittiert. Im Kollegenkreis war damals gemunkelt worden, Winter, dessen gute Kontakte ins Coburger Rotlichtmilieu schon sprichwörtlich waren, sei damit nur einem drohenden Disziplinarverfahren zuvorgekommen. Bei seinem »Ausstand«, einer legendären Party im »Hotel Festungshof« an der Veste Coburg mit einhundertfünfzig Gästen, Go-go-Girls und der Saragossa Band, hatte er sich öffentlich über »eine größere Erbschaft« seiner Frau gefreut: Sie ermögliche es ihm, künftig auf eigenen Füßen zu stehen. In den letzten vier Jahren hatte Winter dann den größten privaten Sicherheitsdienst der Region Coburg, »SeCOrity«, aufgebaut.
»Wie geht’s, Alter? Laufen die Geschäfte?«
»Bestens, Junge, bestens!«, strahlte Winter. »Je mehr Polizisten München bei uns streicht, umso besser für uns Private!« Schneeweiße Jacketkronen, zerknitterte Turbobräune, frisch blondierte Strähnen.
»Du siehst langsam wirklich wie der Vater von Dieter Bohlen aus«, frotzelte Charly.
»Pass auf, wenn ich dich hier vorsingen lasse!«, konterte Winter in gespielter Entrüstung.
»Oye como va«, stimmte Charly ungeniert an, »mi ritmo, oye como va!«, fiel Winter sofort lauthals ein.
Indignierte Blicke aus der Damenecke.
»He, ihr Spaßbremsen da drüben! Kommt doch mal rüber!«
»Lass mal lieber«, beschwichtigte ihn Charly, »die sehen aus wie Elternbeiräte an der Grundschule, die brauchen noch zwei, drei Jahre, bis sie wieder richtig locker sind! Komm, wir gehen lieber mal rauf zum Schlossplatz!«
»Aye, aye, Sir!« Winter fingerte ein paar Münzen aus der Tasche und knallte sie auf den Tresen. »Hasta la vista, señoritas!«
Sie traten hinaus auf die abendschwüle Theatergasse, drängten sich an dem kleinen Caipirinha-Ausschank vorbei und ließen sich über den Salzmarkt treiben, wo die spontane Samba-Session ihrem atemlosen Höhepunkt entgegenjagte.
»Ey, nicht so hüftsteif, Alter!«
Ein gertenschlankes Girl mit endlos langen schwarzen Haaren, im orangefarbenen »Coburg SambaCity!«-Shirt und knallbunter Hippiehose, versperrte Charly tänzelnd den Weg. Ihre Pupillen waren merkwürdig groß und starr, in der Linken schwenkte sie eine halb leere Alcopopflasche.
»Wahnsinn, Lady!« Winter zwinkerte ihr verschmitzt von der Seite zu. »Du siehst ja aus wie Cher 1965!«
»Und sie ist voll wie Janis Joplin 1967«, unterbrach ihn Charly und zog ihn weiter. »Das war doch noch nie unsere Kragenweite, oder?«
Winter schüttelte amüsiert den Kopf und wandte sich bereitwillig neuen Zielen zu. »Mensch, schau dir das da drüben vor der Bühne an! Ausgelassene Lebensfreude, in unserem ehrbar-seriösen Coburg, bei steifen Residenzlern! Ich werd’s nie begreifen!« Er zeigte auf einen grauhaarigen Brillenträger mit sorgfältig gestutztem Bart, der, wie etliche andere Festivalbesucher, stolz ein gelbes Brasilientrikot trug und, mit Gürteltäschchen, Zip-Hose und Trekkingsandalen, inmitten anderer tanzender Fans verzückt dem Samba-Takt zu folgen versuchte.
»Der sieht doch aus wie der alte Kripo-Geyer! Gibt’s den eigentlich noch?«
»Längst pensioniert«, winkte Charly ab. »Den hat doch vor zwei Jahren der Löhlein beerbt.«
»Ausgerechnet Löhlein?«, feixte Winter ungläubig. »Unser Arschkriecher Heinz-Uwe ist jetzt Abteilungsleiter?«
Charly zuckte gelangweilt mit den Achseln. »Was hast du denn erwartet? Loyalität vor Qualität, du kennst doch den alten Führungsgrundsatz.«
»Hättest halt doch öfter mal deinen Mund halten sollen!« Winter klopfte ihm süffisant auf die Schulter. »Dann wärst du jetzt mit fünfundvierzig nicht bloß Kommissar! Wie hat der Alte immer gesagt? ›Kritik ist wichtig und erwünscht, aber bitte nicht jetzt und hier!‹«
»Hör bloß auf, die Zeiten sind Gott sei Dank vorbei! Und die große Reform der bayerischen Polizei hat man ja auch wieder zurückgenommen. – Da! Schau!«
Mit einer winzigen Handbewegung zeigte Charly in den atemberaubenden Ausschnitt einer Brasilianerin, die sich gerade gebückt hatte, um Steinchen aus ihren Schuhen zu schütteln. »Und das ist übrigens der wahre Grund, warum der Schlossplatz nie geteert wird und hier immer nur der Splittbelag erneuert wird!«
Winter ließ ein leises, anerkennendes Pfeifen hören.
»Du sagst, die alten Zeiten sind vorbei … wie macht sich denn der neue Polizeichef?«
»Ritter? Passt schon«, nickte Charly. »Ein paar moderne Führungsmätzchen natürlich, schließlich ist er ja ein Studienfreund von Staatssekretär Vöhringer, unserem nächsten bayerischen Innenminister. Ritter will vor allem Ergebnisse sehen, schnelle und gute Ergebnisse.« Er grinste. »Aber damit komme ich besser klar als ein Reichsbedenkenträger wie unser Heinz-Uwe Löhlein.«
Sie hatten den schwarz-rot-goldenen »Leikeim«-Bierausschank vor der Ehrenburg erreicht und schlossen sich, in wortloser Übereinstimmung, der Warteschlange an. In der sanft herannahenden Abenddämmerung hatten alle Gastro-Zelte, Verkaufsstände und vip -Pavillons mittlerweile ihre blauen, roten und gelben Lichterketten eingeschaltet. Am anderen Ende des Schlossplatzes, auf der taghell ausgeleuchteten Hauptbühne vor dem Landestheater, war der Moderator, ein kleinwüchsiger Berufsjugendlicher des Lokalradios, in seinem Element: In weißer Jeans, weißem Shirt und mit weißem Headset fegte er wie ein Irrwisch über die Bühne, um, mit heiser überkippender Stimme, den dreitausend Fans den Top-Act des Abends zu präsentieren: »Und hier sind sie; begrüßt mit mir, aus Pernambuco in Brasilien, welcome to Coburg-Samba-City, welcome the one and only Ba-te-ria do Sam-ba Bra-sil!«
Letzte Zugabe der »Bateria do Samba Brasil«: Aufpeitschend hämmerten die Samba-Rhythmen durch die schwülwarme Vollmondnacht. Trommeln und Tamburine rasten wie entfesselt, trieben Tänzerinnen und Zuschauer in einen infernalischen Wirbel purer Leidenschaft und Lebenslust; wie elektrisiert zuckten schweißnasse Leiber zum stampfenden Stakkato des Samba-Grooves – Ekstase …!
… Ekstase! dachte Jasmin Keller fasziniert, Samba ist die absolute Ekstase! Der pure Sex. Unfassbar, was in Coburg heute Nacht wieder abgeht – wir sind der Nabel der Welt!
Die dunkelblonde Studentin saß zwei Steinwürfe weiter im Hofgarten, dem Landschaftspark, der sich über den Schlossplatz-Arkaden an die Hänge des Festungsbergs schmiegt. Hingerissen lauschte sie zum Schlossplatz hinunter, der unter den brasilianischen Perkussionskaskaden förmlich zu vibrieren schien … oder war es nur der Caipirinha, der durch ihre Adern rauschte?
Entspannt ließ sie sich wieder ins warme Gras zurücksinken. Ihre Lippen schmeckten immer noch leicht salzig. Was für ein geiler Tag: von Alex im »Carrera« abgeholt, den ganzen Abend Samba-Party und jetzt den coolen Porschefahrer endlich mal ganz privat ins Schwitzen gebracht …
This … could be the first … day of my life …!
Wo Alex bloß so lang blieb?
»Muss mal kurz austreten«, hatte er ihr vorhin ins Ohr gewispert und war ein Stück weiter hinter den großen, dunklen Büschen verschwunden.
Jasmin blickte sich suchend um.
Das Wiesenstück, das sie von ihrem Platz aus überblicken konnte, hatte sich geleert. Auch das Hippiepärchen, das dort drüben unter der Douglasie gelegen und sich unter seiner Decke stundenlang wie in Zeitlupe bewegt hatte, war nicht mehr da. Weiter oben, wo die Milchgesichter in ihren Skatershorts und Basecaps zusammengesessen hatten, steckten jetzt nur noch leere Flaschen – auf Stöcken, die in den Rasen gespießt waren. Sogar Bocksbeutel waren dabei. Im blassen Mondlicht erinnerten sie Jasmin plötzlich an ein längst vergessen und verdrängt geglaubtes Bild: »Aufgespießte Schrumpfköpfe bei Indianern im Amazonasgebiet«.
Vor keinem anderen Bild im Lexikon ihres Großvaters hatte sie sich als kleines Mädchen so gefürchtet. Sie sah sich wieder auf seinen Knien sitzen, mit ihm das Lexikon durchblättern, hörte sein tiefes, gespielt überraschtes Lachen, wenn die Seite mit den Schrumpfköpfen kam und sie sich die Händchen vor die Augen schlug und trotzdem immer wieder wie gebannt durch ihre Finger linsen musste …
Aufgespießte Schrumpfköpfe – und aus dem Hintergrund der dumpfe Sound der Sambatrommeln … sie schauderte kurz und ärgerte sich gleich darauf über ihre absurden Assoziationen.
Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Auch ihre Blase machte sich jetzt bemerkbar.
Sie schlüpfte in ihre nagelneuen, strassbesetzten Pantoletten – »Dolle Schläbble, Marke ›Boxenluder‹?«, hatte Alex gefeixt – und erhob sich. Vom Festungsberg zog eine kühle Brise herab. Jasmin warf die lange blonde Mähne in perfekt einstudierter Pose nach hinten. Mit verschränkten Armen, die gläsernen Schrumpfköpfe keines Blickes würdigend, stakste sie vorsichtig über den Rasen, lugte um die große Buschreihe herum.
Nichts.
Kein Alex.
Weit und breit keine Menschenseele.
Irritiert und leicht verärgert blickte sie sich um.
Hatte sich Alex allen Ernstes aus dem Staub gemacht? Unten, auf dem Schlossplatz, tobte das Leben. Hier oben, hinter diesen großen, dunklen Büschen, schien alles düster, still und seltsam fremd.
Müsste dort hinten nicht eigentlich ein Spielplatz sein? Ich kenne mich hier einfach zu wenig aus, dachte Jasmin. Seit ihrem Studienbeginn in Coburg im letzten Wintersemester war sie nur ein einziges Mal im Hofgarten gewesen. Egal! Ihre Blase meldete sich immer heftiger. Sie kehrte dem Buschwerk den Rücken zu, knöpfte ihre Jeans auf, zog mit geübtem Griff Hose und Tanga unter die Knie herab und ging in die Hocke.
Urplötzlich ein scharfes, krachendes Knacken – direkt hinter ihr.
Zu Tode erschrocken fuhr Jasmin in die Höhe, stolperte fast, fing sich wieder, drehte sich entsetzt herum, versuchte, Slip und Hose nach oben zu reißen.
»Alex?? Bist du des? … Mach kan Blödsinn!«
Sie starrte angstvoll in das dunkle Gebüsch.
War ihnen doch der merkwürdige Russe vorhin gefolgt, hatte sich hier versteckt – und sie die ganze Zeit beobachtet?
Mit zitternden Fingern zerrte sie an ihren Jeans, den Blick atemlos auf das unheildrohend schwarze Buschwerk gerichtet.
Scheiß auf die Knöpfe, scheiß auf die Schläppchen, nichts wie rüber, dort drüben muss doch der Fußweg …
Zu spät!
Der ganze Busch krachte und zersplitterte.
Wie ein riesenhafter Panther sprang der Schatten sie an, warf sie wuchtig zu Boden. Brutal presste sich eine Hand auf ihren Mund, erstickte erbarmungslos ihren entsetzten Schrei. Voll wilder Todesangst bäumte Jasmin sich auf – und hatte doch nicht den Hauch einer Chance. Blitzartig, siedend heiß bohrte sich wahnsinniger Schmerz tief in ihren Brustkorb, immer wieder, immer heftiger; raubte jäh die Kraft zum Luftholen, die Kraft zum Schreien. Nur noch ein ängstliches Röcheln, ein schwaches, reflexartiges Zucken von Händen und Füßen. Blutige Schaumbläschen gurgelten hervor, als ein grauenhafter Schmerz ihr Kehle und Luftröhre spaltete. Sie spürte nicht mehr, was mit ihrem Unterleib geschah.
Zwei Steinwürfe weiter verabschiedete eine tobende, alkoholbefeuerte Menge die »Bateria do Samba Brasil« frenetisch von der Schlossplatzbühne.
»Macht endlich die Scheißabsperrung dicht!«, brüllte Kommissar Charly Herrmann heiser. »Bei St. Augustin muss noch was offen sein, da trampelt doch schon der erste Pressefuzzi über den Rasen!«
Eilig setzte sich ein beleibter Polizeihauptmeister in Bewegung und querte beflissenen Schrittes die Wiese im Hofgarten. Charlys Blick wanderte wieder hinüber zu den weiß gewandeten Spurensicherern der K 2, die jeden Quadratzentimeter am Fundort penibel durchkämmten.
Wird schwierig werden, Kollegen, dachte er. Die Männer vom städtischen Grünflächenamt haben ganze Arbeit geleistet. Wie jeden Morgen während des Samba-Festivals große Hofgartensäuberung seit sechs Uhr dreißig; da dürfte nicht mehr viel zu finden sein.
Hinter seinen Schläfen dröhnte und pochte es wie auf der Großbaustelle der Coburger Stadthalle. Nach nicht einmal vier Stunden Schlaf hatte ihn die Zentrale um sechs Uhr neununddreißig zu Hause aus dem Bett gerissen. »Komm sofort raus, im Hofgarten haben sie eine abgeschlachtet!«
Kopf unter die eiskalte Brause, trocken rubbeln, Deo, ein doppelter Espresso – Punkt sieben war er an der Südseite des Hofgartens, hinter dem endlos langen Marstallgebäude des Vermessungsamtes, aus seinem schwarzen 78er Alfa Spider gestiegen.
Die Glocke von St. Augustin schlug einmal, dicht gefolgt von ihren Kolleginnen Schloss Ehrenburg und Morizkirche. Klänge wie aus ferner Kindheit: geborgen und behütet, vertraut und unvergänglich …
»Charly, hier wartet immer noch der Mann, der die Leiche entdeckt hat! Kommst du endlich rüber?«
Löhlein. Erwartungsgemäß verfiel er wieder als Erster in hektischen Aktionismus. Egal.
»Gleich, Heinz-Uwe, gleich …«
Charly dachte nicht im Traum daran, sich von seiner ureigenen Vorgehensweise abbringen zu lassen.
Bewusst langsame Annäherung an den Tatort.
Keine vorschnelle Fokussierung.
Den Blick weit lassen.
Für Tat- und Täterperspektiven offen bleiben.
Bedächtig drehte er sich einmal um die eigene Achse. Die weiträumige Absperrung war jetzt geschlossen. Polizeihauptmeister Welsch, genannt »Fässla«, hatte den unwillig gestikulierenden Pressevertreter hinter das gelbe Flatterband komplimentiert.
Weiter unten der Schlossplatz, am Sonntagmorgen ein vornehm-verschlafenes Vakuum zwischen dem neoklassizistischen Schloss Ehrenburg, dem Landestheater und der malerischen Altstadtkulisse mit Salzmarkt und Grafengasse. Ein einsames Radfahrerlein strebte dort emsig Richtung Theaterplatz.
Charlys Blick verließ das trügerische Idyll und schweifte wieder nach oben, vorbei am Marstall und der »Alten Reithalle«, zu den Baumriesen und den sauber asphaltierten Fußwegen des Hofgartens. Wo sonst seit Jahrhunderten ehrbare Coburger Bürger lustwandelten, fuhr jetzt, nahezu lautlos, ein Leichenwagen der »gbg -Bestattungen« hoch.
Der Ort des Todes schließlich; umringt von Spurensicherern und Uniformierten. Weicher englischer Parkrasen, hufeisenförmig umrahmt von spät blühenden Sträuchern und Büschen. Was für ein lauschiges Plätzchen für eine warme Sommernacht, dachte Charly.
Langsam schritt er auf einen untersetzten Mann zu, der in seiner grünen Arbeitermontur etwas abseits stand und nervös an einer Zigarette saugte.
»Ich bin Kommissar Herrmann«, sagte er leise. »Sie haben die Tote gefunden?«
»Ja … ich bin Klaus Wanske, ich arbeite im städtischen Grünflächenamt.« Er räusperte sich übertrieben heftig. Sein unrasiertes Gesicht war aschfahl.
»Wann war das genau?«
»So gegen halb sieben. Wir haben ja schon kurz nach sechs heute angefangen. Mein Revier geht hier lang, bis zum Reiterdenkmal runter …« Er stockte unsicher. Sein rechtes Augenlid zuckte.
»Erzählen Sie ruhig weiter.«
Wieder räusperte sich Wanske, bevor er fortfuhr.
»Mein Müllsack war ja schon fast voll; bei Samba ist doch immer eine Riesensauerei im Hofgarten, lauter Dosen, Flaschen und der ganze Abfall halt. Wie ich dann ums Eck bin …«
»Wo genau?«
»Da, um die Sträucher herum … da sind mir erst die komischen rostroten Flecken im Gras aufgefallen … das war dann wie ‘ne Schleifspur fast, ins Gebüsch hinüber … und dort drüben ist sie dann gelegen!« Seine Stimme kippte, ruckartig wandte er sich ab und versuchte vergeblich, sein Schluchzen zu unterdrücken.
Schweigend drückte Charly ihn kurz am Oberarm und ging zu den anderen hinüber. Schnell noch einmal tief durchatmen – auch nach zwanzig Jahren Mordkommission stellte sich, angesichts des zu erwartenden Anblicks, immer noch der altbekannte Abwehrreflex seines Körpers ein: flachere Atmung, Anspannung der Bauchmuskulatur. Er war bereit zur Fokussierung; konzentriert und hellwach.
Jetzt.
Sie lag auf dem Rücken, beide Arme weit ausgebreitet. Das blutig-zerfetzte T-Shirt war über ihr Gesicht gezogen, Jeans und Slip bis zu den Knöcheln herabgezogen. Kein bh . Brust und Hals waren blutverschmiert zerstochen. Doch Charlys Blick wurde geradezu magisch angezogen vom Bauch der Toten: fast makellos weiß und unversehrt; zwischen Rippenbogen und Scham gab es nur eine einzige Verletzung – mit scharfem, zügigem Schnitt war dort ein Symbol eingeritzt: ein blutigrotes »Haus vom Nikolaus«.
Lass das nicht wahr sein, lieber Gott, durchfuhr es Charly.
Bitte nicht bei uns in Coburg!
Bitte keine Signatur; bitte keinen Serienmörder …!
Angespannte Stille herrschte unter den zwölf Kripobeamten. Nur Charly klapperte ungeniert mit der Kaffeetasse, während Polizeidirektor Frank Ritter an einem pc die Tatortfotos studierte.
»Grausam … so was haben wir hier in der Region seit Wittmann in den Sechzigern nicht mehr erlebt …«
Er schüttelte sich kaum merklich und streckte dann seine hundertneunzig Zentimeter durchtrainierter Kahlköpfigkeit zu voller Größe. Die Uniform saß wie immer perfekt, nur sein Zweitagebart verriet den Kollegen sofort, wie überstürzt er an diesem Sonntagmorgen ins Büro gekommen sein musste. Ritter (Lieblingsfloskel »erstenszweitensdrittens«) war bekannt für sein akribisches, bisweilen nervig systematisches Vorgehen. Er forderte viel, aber hinter aller Führungsgestik und -rhetorik war er in den knapp zwei Jahren als Coburger Polizeichef bisher doch relativ berechenbar und verlässlich geblieben, dachte Charly. Allerdings gab’s in dieser Zeit keinen wirklich großen, überregionalen Kracher. Dieser Fall würde auch für ihn zur echten Bewährungsprobe werden.
»Guten Morgen, meine Herren! Zum Mord im Hofgarten eins vorab: Gerade hat Oberstaatsanwalt Dr. Stein angerufen. Der Fall bekommt selbstverständlich äußerste Priorität! Dr. Stein erwartet täglichen Bericht, das Bayerische Landeskriminalamt hat dreitausend Euro Belohnung ausgesetzt. Schauen wir uns jetzt zunächst mal die Fakten an, die aktuelle Tatsituation: Löhlein, bitte!«
Routiniert spulte Löhlein, wie immer aufrecht auf der vordersten Stuhlkante sitzend, seinen Rapport ab:
»Jasmin Keller, zwanzig Jahre, Studentin der Medau-Fachhochschule. Tod durch multiple Stich- und Schnittverletzungen in Brust und Hals, die Tat geschah allem Anschein nach am Auffindeort im Hofgarten. Kein Raubmord, die Geldbörse mit Ausweispapieren befand sich noch in ihrer Gesäßtasche. Gefunden wurde sie heute früh um sechsfünfunddreißig von einem Arbeiter des städtischen Grünflächenamtes. Mutmaßliche Tatzeit gestern Abend zwischen zwoundzwanzig und zwonullnull, genaueres nach der Obduktion, die …«, er blickte rasch zur Uhr auf der nussbaumfurnierten Wandtäfelung »… ja, die jetzt schon in vollem Gang sein dürfte. Die Spusi war, zumindest im größeren Umkreis, wegen der Generalreinigung des Hofgartens auf verlorenem Posten: nur ein paar Zigarettenkippen, zwei Kaugummis und ein Kinderpflaster. Größte Hoffnung sind momentan die Blutspuren; ob sich im Gras auch Blut befindet, das nicht vom Opfer stammt, werden die Untersuchungen der nächsten Stunden …«
»Löhlein, bitte!« Ritter fuhr ungeduldig dazwischen. »Wir sind hier nicht im Fernsehkrimi! Sind eigentlich die Angehörigen schon verständigt?«
»Selbstverständlich. Die Eltern wohnen in Hof, die Kollegen dort kümmern sich darum. Betreuung läuft.«
Erleichtert streckte Charly die Beine aus. Die Eltern eines Mordopfers zu benachrichtigen war für jeden Polizisten ein Alptraum, erst recht in Fällen wie diesem. Den »Todesengel« spielen zu müssen war nicht nur für die jüngeren Kolleginnen und Kollegen eine enorme psychische Belastung. Sie konnte tage- und nächtelang das Unterbewusstsein blockieren und damit auch die persönliche Ermittlungsarbeit massiv erschweren. Höchst ungern dachte er an eigene Erfahrungen zurück.
»Was wissen wir über dieses ›Haus vom Nikolaus‹?«, fragte Ritter. Seine breiten Finger trommelten einen nervösen Beat auf die Tischplatte.
Löhlein räusperte sich unruhig: »Bisher noch nichts Näheres dazu bekannt …«
»Es ist eindeutig eine Signatur«, warf Charly mit ruhiger Stimme ein. »Ich war gerade in der ViCLAS-Datenbank: Die Frauenleiche neulich, bei der Erlanger Berch-Kerwa, war ebenfalls mit einem ›Haus vom Nikolaus‹ verziert.«
Sekundenlang hätte man eine Stecknadel fallen hören können.
Alle Augen waren auf Charly gerichtet.
Ritter fasste sich als Erster wieder. »An den Mord in Erlangen erinnere ich mich natürlich. Wir lesen ja täglich von der ›Berch-Bestie‹. Aber von einem eingeritzten Nikolaushaus war doch bisher keine Rede?«
»Stimmt. Die Erlanger Kollegen haben dieses Detail damals bewusst nicht veröffentlicht, sondern, als Täterwissen, nur in die polizeiinterne Datenbank gestellt. Außerhalb der Polizei wusste also niemand davon. Und genau deshalb kann es sich bei unserem Mann im Hofgarten nicht um einen bloßen Nachahmer handeln.«
»Das heißt aber umgekehrt …«
»Genau – das heißt umgekehrt, wir haben höchstwahrscheinlich einen Serientäter!«
Totenstille.
Ritters Blick fixierte Charly, schien ihn mitsamt der dahinterliegenden Wand durchbohren zu wollen. Ein winziges rhythmisches Zucken seiner Kaumuskulatur schien die einzige Bewegung im Raum zu sein. Wieder war es der Polizeichef selbst, der das Schweigen brach.
»Herrmann, Sie sind unser einziger Kriminalist, der bereits mit der Aufklärung von Serienverbrechen befasst war. Der einzige, der früher schon mal mit der ›Operativen Fallanalyse‹ gearbeitet hat. Richtig?«
Charly nickte. »Ich durfte damals, in meiner Münchner Zeit, am Polizeipräsidium die ›Operative Fallanalyse‹ mit aufbauen.«
Ritter überlegte kurz. »Dann dürften Sie auch unser bester Mann für diesen Fall sein. Oder spricht aus Ihrer Sicht im K 1 irgendwas dagegen, Löhlein?«
»Nein – selbstverständlich nicht!«
»Gut! Dann werden wir in der Pressekonferenz Kriminalkommissar Charly Herrmann als Chefermittler vorstellen!«
Moser, der Pressesprecher, warf sich rasch dazwischen: »pk um zwölf? Bei mir glühen schon alle Leitungen!«
»Wer ist dran an der Sache?«
»Unsere üblichen Verdächtigen: Neue Presse, Coburger Tageblatt und Radio 1; aber wegen des Samba-Festivals sind auch die Überregionalen schon am Drücker, Bayerischer Rundfunk, Antenne Bayern, zdf , und, ganz besonders lästig, bild , az und Frankenzeitung.«
»Wir bleiben bei zwölf Uhr. Einstieg wie üblich, dann übergebe ich an Sie, Herrmann: Tatsituation, Fahndungssituation, erstenszweitensdrittens. Belohnung, wie gesagt, dreitausend Euro.«
»Eine Frage noch, Chef …«
»Bitte, Herrmann.«
»Stichwort Täterwissen: Wie sinnvoll ist es, der Presse und der Öffentlichkeit das Nikolaushaus zu verschweigen? Wir müssen schließlich davon ausgehen, dass ein Serientäter frei herumläuft.«
Ritter schob das Kinn nach vorn, seine graublauen Augen blitzten angriffslustig. »Sie wollen doch nicht im Ernst schon öffentlich von einer Mordserie sprechen, von einem mutmaßlichen Wiederholungstäter?«
Charly hob die Schultern. »Warum nicht, Chef?« Er legte seinen Stift weg und faltete die Hände. »Natürlich schlagen die Medien Purzelbäume. Und der Druck steigt erst mal. Aber das halten wir aus. Außerdem bringt uns diese Strategie doch drei ganz entscheidende Vorteile: Erstens, die Bevölkerung ist gewarnt und von Anfang an maximal sensibilisiert. Zweitens bringen wir die Polizei aus der Schusslinie: Keiner kann uns vorwerfen, wir hätten irgendwas verheimlicht. Und drittens, für die Fahndung selbst bringt es auch keinen Nachteil.«
»Mmhmm.« Kritisches Stirnrunzeln des Polizeichefs, dann ein entschiedenes Kopfschütteln. »Klingt bloß gut – überzeugt mich aber nicht! Sensibilisiert sind die Leute bei Gewaltverbrechen schließlich immer, nicht erst, wenn es um Serienmord geht. Im Übrigen spricht auch das bka erst ab drei Opfern von Serienmord. Wenn wir eine möglichst seriöse Berichterstattung erreichen, vermeiden wir Hysterie und verschaffen diesem Wahnsinnigen kein Podium … Was meinen Sie, Löhlein?«
Umständliches Räuspern. »Ja, gut … wenn ich das Für und Wider so abwäge … bin ich im Endeffekt schon der Meinung … äh, dass wir … äh, jeden Hype vermeiden sollten … das ›Haus vom Nikolaus‹ gehört auch für mich nicht zwingend in die Presse …«
Typisch Löhlein. Im Zweifel immer an der Seite des Chefs, der den Ball sofort wieder aufnahm.
»Genau. Intensive Fahndung in alle Richtungen, aber ohne jede Panikmache. Täterwissen bleibt Täterwissen, unseren Informationsvorsprung sollten wir nicht leichtfertig aus der Hand geben. Zumindest nicht so schnell. Herrmann, wir machen die pk ohne Serienkiller und möglichst ohne Nikolaushaus.«
Sinnlos, jetzt noch einen Streit vom Zaun zu brechen. Charly spürte wieder das dröhnende Pochen hinter den Schläfen: zu viel Kaffee, zu wenig Schlaf und frisch unterdrückter Frust; das klassische Polizistensyndrom.
Er beschränkte sich auf eine kurze, neutrale Handbewegung Richtung Chef und überließ es diesem, sie als Zustimmung zu deuten.
Nachdenklich kehrte er in sein Büro zurück. Noch zwei Stunden bis zur pk , noch zwei Stunden bis zum »Männchen machen« an der Seite des Chefs. Pressekontakte waren eine seltene, aber durchaus reizvolle Abwechslung zur Routinearbeit. Vielen Kollegen behagte der Rollentausch vom Fragesteller zum Befragten überhaupt nicht; Charly dagegen genoss den sanften Nervenkitzel journalistischer Frage-Antwort-Spielchen, die Sekunden prickelnder Ungewissheit, aus welcher Ecke der nächste Pfeil abgefeuert würde, welche Argumentationslücke es jetzt blitzartig zu erkennen und zu schließen galt.
Kurz nach seiner Rückkehr aus München hatte er sich sogar um die Nachfolge des Pressesprechers beworben, war aber am Veto des damaligen Polizeidirektors gescheitert. »Ihre kriminalistischen Erfahrungen mit der Operativen Fallanalyse sind für uns unbezahlbar, Herrmann! Presse kann doch jeder machen!«
So kam damals Moser zum Zug, während Charlys kriminalistische Erfahrungen aus der Operativen Fallanalyse, der Suche nach Mehrfachtätern, im fränkisch-idyllischen Coburg brachlagen und überwuchert wurden von Nullachtfünfzehn-Fällen, Statistikkram und dem üblichen Büroalltag. Umso ärgerlicher, dass jetzt seine Ermittlungen im Mordfall Jasmin Keller von Anfang an dirigiert und eingeengt wurden: Der Fall schrie geradezu nach operativ-analytischer Bearbeitung und Informationsstrategie. Weshalb sollte der Hinweis auf einen möglichen Mehrfachtäter unterbleiben? Warum sollte die Öffentlichkeit nicht gleich erfahren, dass der Verrückte, der da draußen herumlief, vermutlich noch gefährlicher war als befürchtet? Und wie glaubwürdig würde er selbst in der Pressekonferenz auftreten, wenn er gegen seine innerste Überzeugung handeln sollte …?
Das Telefon riss ihn aus seinen Grübeleien.
Moser, der Pressesprecher. Wegen diverser privater Blechschäden für alle Kollegen »Quax, der Bruchpilot«.
»Quax, was gibt’s?«
»Charly, ich hab den Pressesprecher des Samba-Festivals dran, der braucht dringend eine kompetente, persönliche Einschätzung der Sache im Hofgarten. Du warst ja selbst vor Ort; hör dir den Kollegen bitte mal an!«
Klack. Aufgelegt und durchgestellt.
Nur mühsam unterdrückte Charly seine spontane Zornesaufwallung und richtete rasch den Blick ins Weite. Der Himmel über der Stadt hatte sich zugezogen, war jetzt fast schmutzig weiß. Während er den Festungsberg mit der geduckt-wuchtigen Westfront der Veste Coburg musterte, lauschte er widerwillig dem Anrufer.
»… weil doch traditionell um vierzehn Uhr der große Samba-Umzug startet, aber keiner bei uns weiß, was da heute Nacht wirklich im Hofgarten passiert ist. Uns geht es darum, wie wir angemessen reagieren, ob wir unser großes Finale heute, den Samba-Umzug durch die Stadt, vielleicht sogar absagen müssen und das Festival jetzt vorzeitig abbrechen … das wäre natürlich ein Umsatzeinbruch für alle Beteiligten und die heimische Gastronomie. Ein solcher Schritt müsste deshalb wirklich wohlüberlegt sein …«
Ungeduldig unterbrach Charly den Redeschwall. »Ja, was wollen Sie da eigentlich von mir?«
»Für uns wäre es enorm wichtig, zu erfahren, was tatsächlich passiert ist und wie Sie persönlich den Vorfall bewerten. Wir möchten nicht, dass das Image unseres Coburger Samba-Festivals Schaden nimmt, aber wir möchten natürlich auch keinesfalls überreagieren …«
»Guter Mann«, brüllte Charly los, »glauben Sie wirklich, dass ich oder irgendjemand anders bei der Polizei Ihnen diese Entscheidung abnimmt? Gestern Nacht ist eine Zwanzigjährige im Hofgarten brutal erstochen worden, ihr Samba-Bändchen am Handgelenk war so blutverschmiert, dass es kaum noch zu erkennen war! Und jetzt stehlen Sie mir bitte nicht länger meine Zeit, um zwölf ist Pressekonferenz!«
Er knallte den Hörer auf den Apparat und atmete tief durch. Endlich löste sich die Anspannung wieder etwas.
Das lebhafte Stimmengewirr erstarb schlagartig, als Ritter mit Moser, Löhlein und Charly im Schlepptau einmarschierte. Rasch überflog Charly die zynisch-erwartungsfrohen Gesichter: Stiefel, der übergewichtige Raucher vom Tageblatt; Ahles, die dünne Dunkelhaarige von der Neuen Presse, Frisur und Brille seit zwei Jahrzehnten unverändert; »Handball-Kraus« von Radio 1 mit seiner Saison-Blondine (»Praktikantin«). Zwei Kaugummi kauende, braun gebrannte Sonnyboys für den br und Antenne Bayern. Für die bild ein blasser Dreitagebart mit großen Schweißflecken unter den Achseln. Seltsam bekannt schließlich ein drahtig-untersetzter Bürstenhaarschnitt mit randloser Brille und mokantem Grinsen.
»Moser, wer ist der Grinser dahinten? Woher kenn ich den?«
»Senger … Ronald Senger.«
»Ach – der Giftzwerg von der Frankenzeitung?«
»Genau.«
Routiniert spulten Moser und Ritter ihren Part herunter und übergaben an Charly.
Das leichte Lampenfieber fiel, wie immer, schon mit den ersten Sätzen von ihm ab. Betont ruhig und gelassen sprechen. Stimme tief und fest. Pausen machen. Wie einfach doch alles war, wenn man gleich die richtigen Schalter umlegte.
Tatsituation beschreiben, Fahndungssituation umreißen.
»… mit wem war Jasmin Keller gestern Abend während des Samba-Festivals zusammen, wer hat sie im Hofgarten zuletzt gesehen? Wer hat im Hofgarten etwas Verdächtiges beobachtet? Wir gehen von etwa dreiundzwanzig Uhr als Tatzeit aus. Der Mörder muss Blutspuren an Händen und Kleidung davongetragen haben: Wo ist gestern Nacht jemand aufgefallen, weil er plötzlich seine Kleidung gewechselt hat? Wir appellieren an alle Samba-Gäste und Hofgartenbesucher: Bitte melden Sie uns alle verdächtigen Beobachtungen, auch wenn Sie Ihnen noch so unbedeutend erscheinen mögen. Wir haben eine kostenfreie Hotline geschaltet, 0800 …«, er blickte kurz auf sein Stichwortkärtchen, von dem er die Nummer betont langsam zweimal ablas, »… für sachdienliche Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen, hat das Bayerische Landeskriminalamt eine Belohnung in Höhe von dreitausend Euro ausgesetzt … so viel von meiner Seite. Haben Sie Fragen dazu?«
Sofort entspann sich ein lebhaftes Frage-Antwort-Pingpong, aber ohne echte Aufreger. Stiefel vom Tageblatt war immer noch beleidigt wegen seines harschen Platzverweises im Hofgarten durch »Fässla« Welsch. Er wurde von Ritter persönlich besänftigt.
»Eine Frage noch, Herr Hauptkommissar.«
Senger.
Der Chefreporter der Frankenzeitung fläzte lässig auf seinem Stuhl, klopfte mit dem Stift spielerisch-rhythmisch auf seinen linken Daumennagel. »Der Täter soll Jasmin Keller ein Symbol eingeritzt haben, ein ›Haus vom Nikolaus‹. Was hat das zu bedeuten, können Sie das bestätigen?«
Bingo.
Sofort erregtes Gemurmel. Aus den Augenwinkeln sah Charly, dass Ritter sich kurz straffte, sein Kinn nach vorn schob – aber die Lippen fest zusammenpresste.
Keine Unterstützung.
Jetzt bloß den Ball flach halten, Tempo aus dem Spiel nehmen … und fang endlich zu sprechen an, beim Sprechen kannst du immer noch zu Ende denken …!
»Sie können sich … sicher vorstellen … dass … bei multiplen Stich- und Schnittverletzungen … viel Blut austritt … und auf der Haut dann manchmal durchaus der Eindruck eines Musters entstehen kann … dabei kommt es natürlich auch immer auf die Phantasie des Betrachters an …«
Kurzes, bekräftigendes Kopfnicken von Ritter.
Senger blieb penetrant. »Haben Sie ein ›Haus vom Nikolaus‹ entdecken können oder nicht?«
Arschloch. Auch Löhlein und Ritter, die reglos, mit ausdrucklosen Mienen, danebensaßen. Es reichte. Es war sein Fall, er ließ sich hier von niemandem vorführen und verheizen.
»Natürlich … nach zwanzig Jahren Mordkommission haben Sie einen geschärften Blick … Sie registrieren tatsächliche oder vermeintliche Ornamente. Und hier lag die Assoziation eines ›Haus vom Nikolaus‹ nahe … für die aktuelle Täterfahndung ist das allerdings momentan ohne jede Bedeutung, es hilft uns nicht wirklich weiter.«
Überraschtes, allgemeines Gemurmel im Raum.
»Ist dieses Symbol schon einmal aufgetaucht?«
»Zuletzt bin ich vor etwa zehn Jahren darauf gestoßen – in einem Schulheft meiner Tochter …«
Allgemeines Gelächter; zumindest Senger war damit erst einmal ausgebremst. Da auch die anderen Fragesteller routiniert verarztet werden konnten, schloss Ritter keine zehn Minuten später die Pressekonferenz.
»Ooohh, the wheel in the sky keeps on turning …«, plärrte »Journey«-Sänger Steve Perry aus den Boxen eines Roadsters, der in der Sommersonne langsam die Mohrenstraße hochrollte. »… don’t know where I’ll be tomorrow …«
Das wusste auch Jasmin Keller nicht, das weiß keiner von uns, dachte Charly, der auf dem breiten Bürgersteig, am Juweliergeschäft Schwahn vorbei, Richtung Stadtcafé schlenderte und das quirlige Treiben um sich her genoss: die obere Mohrenstraße, schnurgerade und sanft ansteigend, ins Zentrum der Stadt führend, eigentlich eine wahre Prachtstraße. Coburgs Fifth Avenue – und doch, ein Stück weit, auch ein städtebaulicher Boulevard of Broken Dreams, seit Anfang der Siebziger der Kaufhof-Neubau wie ein abgestürztes ufo eingeschlagen war. Zwischen Banken und Juwelieren hatten sich längst auch hier Dönerstände, Chinesen und Jeansshops eingenistet. Fressen und Klamotten – es war der international längst übliche Preis für die dauerhafte Belebung einer Geschäftsstraße, sinnierte Charly. Er hatte den schüchtern vor sich hinplätschernden Gerberbrunnen am Gräfsblock erreicht und hielt zügigen Schrittes auf das Stadtcafé zu.
»Hey – guten Morgen!«
