Das Herz der Finsternis - Joseph Conrad - E-Book

Das Herz der Finsternis E-Book

Joseph Conrad

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Beschreibung

Dieses eBook: "Das Herz der Finsternis " ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Das Herz der Finsternis ist in eine Rahmenhandlung eingebettet: Auf der nächtlich an der Themsemündung in Gravesend stillliegenden Seeyacht Nellie erzählt der ehemalige Seemann Marlow seinen vier Freunden, die das Band der See eint, eine Episode aus seinem Leben. Er beschreibt seine Sehnsucht, die letzten weißen Flecken des Globus kennenzulernen, und wie sie nach einigen Mühen dazu führte, dass er Flusskapitän wurde. Der Leser kann unschwer erkennen, dass die Geschichte am Kongo zu Zeiten des Kongo-Freistaats spielt. Marlow, der den Indischen Ozean, den Pazifik, das Gelbe Meer bereits kennt, reist also entlang der Küste eines ihm unverständlichen Afrika zur Mündung des großen Stroms und übernimmt, flussaufwärts oberhalb der Stromschnellen, seinen Flussdampfer, der zwischenzeitlich auf Grund gelaufen und leckgeschlagen ist. Joseph Conrads Erzählung Heart of Darkness, in der Hochzeit des Imperialismus entstanden, beleuchtet Praxis und Wirkung der Kolonialpolitik auf Betroffene und Ausführende kolonialer Macht kritisch, bleibt aber selbst nicht frei von Vorurteilen. Die komplexe Thematik ist in Heart of Darkness erfahrbar. Handelnde Charaktere und Personen als Spiegel europäischer Kolonialpraxis am Ausgang des 19. Jahrhunderts geben der imperialen Idee ein Gesicht und sind weit über das Ende extremistischer Expansionsideologien zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Betrachtung neokolonialer Tendenzen immanent geblieben. Joseph Conrad (1857-1924) war ein Schriftsteller polnischer Herkunft, der seine Werke in englischer Sprache verfasste. Seine bekanntesten Werke sind die Romane Lord Jim, Nostromo und Herz der Finsternis. Letzteres ist bis heute der meistzitierte und wirkmächtigste Roman.

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Joseph Conrad

Das Herz der Finsternis

Eine Reise in die schwärzesten Abgründe des Kolonialismus

Übersetzer: Ernst Wolfgang Freißler

e-artnow, 2015
ISBN 978-80-268-3317-8

Inhaltsverzeichnis

I
II
III

I

Inhaltsverzeichnis

Die Nelly, eine seetüchtige Jolle, schwoite an ihrem Anker ohne die leiseste Regung in den Segeln und hielt Rast. Die Flut hatte begonnen, es war fast völlig windstill, und da wir stromabwärts wollten, so hatten wir weiter nichts zu tun, als liegenzubleiben, und das Kentern des Stromes abzuwarten.

Die Themsemündung dehnte sich vor uns wie der Anfang einer ungeheuren Wasserstraße. Draußen waren die See und der Himmel fugenlos zusammengeschweißt, und in dem leuchtenden Raum schienen die gegerbten Segel der Leichter, die mit der Flut herauftrieben, reglos still zu stehen, als scharf umrissene rote Leinwandstücke, vom Lackglanz der Spriete gehöht. Ein leichter Dunst lagerte über den niedrigen Ufern, die gegen die See zu ganz flach verliefen. Die Luft über Gravesend war dunkel und schien noch weiter zurück zu einer finsteren Wolke verdüstert, die unbeweglich über der größten Stadt der Erde lagerte.

Der Direktor der Handelsgesellschaft war unser Schiffer und Gastgeber. Wir vier betrachteten wohlwollend seinen Rücken, während er im Bug stand und seewärts Ausschau hielt. Auf dem ganzen Strom war sicher nichts zu finden, das halb so seemännisch ausgesehen hätte. Er erinnerte an einen Lotsen, der für einen Seemann der Inbegriff der Vertrauenswürdigkeit ist. Es war schwierig, sich vorzustellen, daß seine Berufsarbeit nicht dort vor ihm lag, in der leuchtenden Mündung, sondern hinter ihm, in der brütenden Dunstwolke.

Zwischen uns bestand, wie ich schon irgendwo gesagt habe, das Band der See. Das hatte nicht nur die Wirkung, unsere Herzen während langer Trennung einander zugetan zu halten, sondern auch die andere, daß wir einer für des anderen Geschichten – sogar Überzeugungen – Nachsicht aufbrachten. Der Rechtsanwalt – der feinste aller alten Knaben – hatte kraft der Zahl seiner Jahre wie auch seiner Tugenden das einzige Kissen auf Deck und lag auf der einzigen Decke. Der Buchhalter hatte schon eine Dominoschachtel heraufgebracht und führte nun mit den Steinen Kunstbauten auf. Marlow saß mit gekreuzten Beinen etwas weiter zurück und lehnte sich gegen den Besanmast. Er hatte eingefallene Wangen, eine gelbliche Hautfarbe, einen geraden Rücken und das Aussehen eines Asketen; wie er nun, die Handflächen auswärtsgekehrt, die Arme hängen ließ, erinnerte er an ein Götzenbild. Der Direktor, der sich mit Befriedigung überzeugt hatte, daß der Anker gut hielt, kam nun nach achtern und setzte sich zu uns. Wir tauschten träge einige Worte. Dann herrschte Schweigen an Bord der Jacht. Aus dem oder jenem Grunde begannen wir die Dominopartie nicht. Wir waren nachdenklich gestimmt und fühlten uns nur zu müßigem Schauen aufgelegt. Der Tag ging in stillem Glanz zu Ende. Die Wasserfläche leuchtete friedlich; der Himmel, fleckenlos, erweckte den Gedanken, an selige, strahlende Unendlichkeit; sogar noch der Dunst über der Essexmarsch erschien als ein lichtes Schleiertuch, das von den waldigen Höhen landeinwärts niederwallte und die flachen Ufer hinter durchsichtigen Falten verbarg. Nur der Dunst im Westen, über dem Oberlauf des Flusses, wurde mit jeder Minute düsterer, als erzürnte ihn das Nahen der Sonne.

Und schließlich sank die Sonne tief ans Ende ihrer Bahn, wechselte von blendendem Weiß zu tiefem Rot, ohne Strahlen und ohne Hitze, als wollte sie plötzlich verlöschen, zu Tode getroffen von der Berührung mit der Dunstwolke, die über einem Menschenhaufen brütete.

Die Sonne sank, die Dämmerung brach über den Strom herein, und längs der Ufer begannen Lichter aufzutauchen. Der Leuchtturm von Chapman, der auf seinen drei Beinen kerzengerade auf einer Morastbank stand, gab grelles Licht. Schiffslichter kreuzten durch das Fahrwasser – ein Gewimmel von Lichtern, die auf und ab wanderten. Und weiter weg, im Westen, gegen den Oberlauf des Flusses zu, war die ungeheure Stadt immer noch am Himmel zu merken; ein brütender Dunst im Sonnenschein, ein düsterer Glanz unter den Sternen.

»Und auch dies«, sagte Marlow plötzlich, »ist einmal einer der dunklen Orte der Erde gewesen.«

Er war der einzige unter uns, der immer noch zur See fuhr. Das Schlimmste, was man ihm nachsagen konnte, war, daß ihm sein Beruf nicht anzumerken war. Er war ein Seemann, aber auch ein Wanderer, während doch die meisten Seeleute, wenn man so sagen darf, ein seßhaftes Leben führen. Ihr Sinn ist auf Häuslichkeit gerichtet, und ihre Häuslichkeit ist überall um sie – das Schiff; und so auch ihre Heimat – die See. Ein Schiff gleicht dem anderen so ziemlich, und die See ist überall dieselbe. An der Unveränderlichkeit ihrer Umgebung gleiten die fremden Gestade, die fremden Gesichter, der endlos bunte Wechsel des Lebens vorbei; doch kein Geheimnis hält die Beschauer vom Eindringen ab, sondern nur die eigene geringschätzige Unwissenheit; denn nichts Geheimnisvolleres gibt es für einen Seemann als die See selbst, die die Herrin seines Daseins ist und unergründlich wie das Schicksal. Im übrigen genügt nach arbeitsreichen Tagen ein kurzer Streifzug oder eine kurze Zecherei an Land, um ihm das Geheimnis eines ganzen Kontinents zu erschließen, und meist findet er das Geheimnis wenig wissenswert. Die Geschichten der Seeleute sind von unendlicher Einfalt, und ihren ganzen Sinn könnte eine Nußschale fassen. Aber Marlow war, wie gesagt, kein typischer Vertreter seines Berufs (seine Leidenschaft, ein Garn zu spinnen, vielleicht ausgenommen), und für ihn lag der Sinn eines Begebnisses nicht innen wie ein Kern, sondern außen, rings um die Geschichte, die ihn hervorbrachte, wie eine Glutwelle einen Dunst hervorbringt, oder wie etwa einer der Nebelhöfe, die mitunter durch den Mondschein sichtbar gemacht werden.

Seine Bemerkung wirkte durchaus nicht überraschend. Sie sah Marlow ganz ähnlich und wurde schweigend aufgenommen. Keiner nahm sich auch nur die Mühe, zu knurren; und nun fügte Marlow ganz langsam hinzu:

»Ich dachte an die uralten Zeiten, als die Römer zum ersten Male hierher kamen, neunzehnhundert Jahre ist es her – da neulich … Licht ist seither von diesem Fluß ausgegangen – Ritter sagt ihr? Ja; aber es ist nur wie ein wandernder Sonnenfleck auf einer Ebene, wie ein Blitz in Wolken. Wir leben in diesem Aufblitzen – mag es währen, solang die Erde rollt. Doch gestern noch herrschte Dunkelheit hier. Stellt euch die Gefühle des Befehlshabers einer – wie nennt ihr sie – Trireme im Mittelmeer vor, der plötzlich nach Norden versetzt wird; er durchquert die beiden Gallien in größter Eile; dann wird ihm eines der Fahrzeuge anvertraut, wie sie die Legionäre – fabelhaft geschickte Leute müssen es gewesen sein – zu bauen pflegten, hundertweise, wie es scheint, in ein oder zwei Monaten, wenn das, was wir lesen, zu glauben ist. Stellt ihn euch hier vor – wahrhaft am Ende der Welt, vor einer bleifarbenen See unter einem rauchfarbenen Himmel, auf einem Schiff, gebrechlich wie eine Harmonika – wie er diesen Strom hier hinaufgeht, mit Vorräten oder Befehlen oder sonst etwas. Sandbänke, Marschen, Urwälder und Wilde – verteufelt wenig zu essen für einen zivilisierten Menschen, nichts als Themsewasser zu trinken, kein Falerner Wein hier, keine Ausflüge an Land. Da und dort ein Militärlager, in der Wildnis verloren, wie eine Nadel in einem Heuhaufen – Kälte, Nebel, Ungewitter, Krankheit, Verbannung und Tod – Tod, der in der Luft, im Wasser, im Busch lauert. Sie müssen hier wie Fliegen gestorben sein. O gewiß, der Mann tat seine Pflicht. Tat sie gut, ganz ohne Frage, und ohne viel darüber nachzudenken, höchstens, daß er später einmal mit alledem prahlte, was er zu seiner Zeit durchgemacht hatte. Sie waren Manns genug, der Finsternis ins Auge zu sehen, und vielleicht hielt ihn die Aussicht aufrecht, nach und nach zur Flotte von Ravenna versetzt zu werden, wenn er gute Freunde in Rom hatte und das schauerliche Klima überlebte. Oder denkt euch einen wohlerzogenen jungen Bürger in einer Toga – ein bißchen zu viel Würfelspiel vielleicht –, der im Gefolge eines Präfekten, eines Steuereinnehmers oder sogar eines Händlers hier herauskam, um seine Finanzen aufzubessern. In einem Morast landen, durch die Wälder marschieren und dann an irgendeinem Posten landeinwärts fühlen, daß die Wildnis, die völlige Wildnis sich um einen geschlossen hat. – Dazu all das geheimnisvolle Leben der Wildnis, das im Wald, im Dickicht und in den Herzen der wilden Männer atmet. Es führt auch kein Weg zu diesen Geheimnissen. Man hat inmitten des Unverständlichen, das im gleichen Maße verhaßt ist, weiterzuleben. Allerdings hat es auch seinen Reiz, dem er sich nicht entziehen kann. Den Reiz des Grauens, wenn ihr das versteht. Stellt euch vor, wie die Reue wächst, zugleich mit der Sehnsucht, zu entrinnen, dem ohnmächtigen Widerwillen der Ergebung, dem Haß.«

Er brach ab.

»Bedenkt«, begann er von neuem, und hob dabei einen Arm mit nach außen gekehrter Handfläche im Ellbogengelenk hoch, so daß er, auf gekreuzten Beinen sitzend, wie ein predigender Buddha wirkte, ein Buddha allerdings in europäischen Kleidern und ohne Lotosblume – »bedenkt, keiner von uns würde genauso empfinden. Was uns rettet, ist die Leistungsfälligkeit. – Das Interesse am Nutzwert. Das nämlich fehlte den Burschen von damals völlig. Sie waren keine Kolonisatoren. Ihre Verwaltung war nichts als eine große Steuerschraube – so scheint es mir wenigstens. Sie waren Eroberer, und dazu brauchte es nichts als rohe Kraft – nichts, dessen man sich zu rühmen hätte, wenn man es besitzt, denn unsere Kraft ist ja immer nur ein Gefühl, das sich aus der Schwäche der anderen ergibt. Sie rafften zusammen, was zu kriegen war, und waren immer auf noch mehr aus. Es war richtiger Raubmord unter erschwerenden Umständen, in größerem Maßstabe, und die Leute gingen blind daran – wie es sich ja auch für die schickt, die sich in die Finsternis vorwagen. Die Eroberung der Erde (ein Wort, das meistens die Bedeutung hat, daß man Leuten, die eine andere Hautfarbe oder flachere Nasen als wir selbst haben, ihr Land wegnimmt), diese Eroberung ist nichts Allzuschönes, wenn man sie sich aus der Nähe betrachtet. Was sie versöhnlich erscheinen läßt, ist nur die Idee, die Idee hinter ihr; kein gefühlsmäßiger Vorwand, sondern die Idee; und ein selbstloser Glaube an diese Idee – etwas, das man hochhalten, vor dem man sich neigen und dem man ein Opfer bringen kann …«

Er brach ab. Flammen glitten durch den Fluß, kleine grüne Flammen, rote Flammen, weiße Flammen. Verfolgten, überholten einander, vereinigten sich, um gleich wieder langsam oder hastig sich zu trennen. Das Leben der großen Stadt ging in der sinkenden Nacht auf dem schlaflosen Strom seinen Gang. Wir sahen zu und warteten geduldig – nichts anderes war zu tun bis zum Ablaufen der Flut; doch erst nach einem langen Schweigen sagte Marlow leicht zögernd: »Ich denke, ihr erinnert euch ja, daß ich einmal eine Zeitlang Flußschiffer war«, und da wußten wir auch, daß wir, noch bevor die Ebbe einsetzte, eine von Marlows eigenartigen Geschichten anzuhören haben würden.

»Ich will euch nicht viel mit dem langweilen, was mir selbst geschah«, begann er und bewies damit die Schwäche so vieler Geschichtenerzähler, die häufig gar nicht zu wissen scheinen, was ihre Zuhörer am liebsten hören würden. »Um aber die Wirkung der Ereignisse auf mich zu verstehen, müßt ihr natürlich wissen, wie ich dort hinauskam, was ich sah und wie ich den Fluß bis zu dem Punkt hinauffuhr, wo ich den armen Kerl zum erstenmal traf. Es war der Endpunkt der Schiffahrt und der Gipfelpunkt meiner Erfahrung. Es schien ein Licht auf alles um mich zu werfen – und noch in meine Gedanken hinein. Dabei war es trübe genug und erbarmenswürdig – keineswegs bemerkenswert und auch nicht sonderlich klar. Nein, gewiß nicht sonderlich klar. Und doch schien es Licht auszustrahlen.

Ich war damals, wie ihr euch erinnert, eben nach London heimgekehrt, nachdem ich den Osten reichlich gesehen und mich etwa sechs Jahre lang im Indischen und Stillen Ozean und im Chinesischen Meer herumgetrieben hatte; nun bummelte ich herum, hinderte euch Burschen in eurer Arbeit, drang in eure Häuser ein, als hätte mich der Himmel zu der Aufgabe berufen, euch zur Gesittung zu bekehren. Eine Zeitlang schien es recht nett, aber dann wurde ich des Faulenzens müde. Ich begann nach einem Schiff Ausschau zu halten, was mir die härteste Arbeit auf Erden zu sein scheint. Doch die Schiffe sahen nicht nach mir und so wurde ich auch dieses Spieles müde.

Nun hatte ich schon als ganz kleiner Junge eine Leidenschaft für Landkarten gehabt. Ich konnte mir stundenlang Südamerika, oder Afrika, oder Australien betrachten und mich in die Wonnen der Erforschung versenken. Damals gab es noch viele weiße Flecke auf der Erde, und wenn ich auf einen stieß, der auf der Karte einladend aussah (aber das tun sie ja alle), dann legte ich den Finger darauf und sagte: ›Wenn ich groß bin, will ich dahin gehen.‹ Der Nordpol war einer dieser Orte, wie ich mich erinnere: ich bin nicht dort gewesen und will es auch jetzt nicht versuchen. Der Zauber ist verflogen. Andere Flecke waren um den Äquator herum verstreut und über alle Breiten, über beide Halbkugeln. An einigen davon bin ich gewesen und … nun, wir wollen nicht davon reden. Aber einen gab es noch, den größten, den weißesten sozusagen, nach dem mir der Sinn stand.

Tatsächlich war es damals kein weißer Fleck mehr. Seit meiner Knabenzeit war er mit Strömen, Seen und Namen angefüllt worden. Er hatte aufgehört, ein Raum voll köstlicher Geheimnisse zu sein, ein weißer Fleck, von dem ein Knabe Ruhm erträumen konnte. Er war zu einem Ort der Finsternis geworden. Doch gab es darin einen Flußlauf, einen mächtig großen Strom, den man auf der Karte sehen konnte und der einer langgestreckten Schlange ähnelte, deren Kopf im Meere lag, während der ruhende Körper sich weit weg über weite Ländereien ringelte und der Schwanz sich tief im Innern verlor. Als ich mir in einem Auslagefenster diese Karte betrachtete, fühlte ich mich gebannt wie ein Vogel, ein ganz dummer kleiner Vogel, vom Blick einer Schlange. Dann erinnerte ich mich, daß es eine große Gesellschaft, eine Handelsgesellschaft an dem Flusse gab. Zum Teufel, dachte ich mir, sie können doch auf der Menge Süßwasser dort nicht Handel treiben ohne irgendeine Art von Fahrzeugen – Dampfbooten! Warum sollte ich nicht versuchen, eines davon in die Finger zu bekommen; Ich ging weiter durch Fleet Street, konnte aber den Gedanken nicht loswerden. Die Schlange hatte mich berückt.

Ihr müßt wissen, daß die Handelsgesellschaft ein Festland-Konzern war; aber ich habe eine Menge Verwandte, die auf dem Festland wohnen, weil es dort, soviel man hört, billiger und nicht gar so schlimm ist, wie es aussieht.

Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich den Leuten auf den Hals rückte. Für mich war es schon der zweite Schritt ins Leben. Doch war ich es nicht gewohnt, Dinge auf diese Weise zu erreichen. Ich war immer auf meinen eigenen Wegen und auf meinen eigenen Beinen dahin gegangen, wohin ich hatte gehen wollen. Ich hätte es mir selbst gar nicht zugetraut; aber dann, seht ihr, fühlte ich plötzlich, daß ich krumm oder gerade dorthin kommen mußte. So lief ich also den Leuten die Türen ein. Die Männer sagten: ›Mein lieber Junge‹ und taten nichts. Dann, würdet ihr es glauben, versuchte ich es bei den Frauen. Ich, Charlie Marlow, setzte die Frauen in Bewegung – um eine Stelle zu bekommen. Himmel noch mal! Ja, seht ihr, mich peinigte meine fixe Idee. Ich hatte eine Tante, eine liebe überschwengliche Seele. Sie schrieb: ›Es wird entzückend. Ich bin bereit, alles, alles für Dich zu tun. Es ist eine gottvolle Idee. Ich kenne die Gemahlin einer sehr hochgestellten Persönlichkeit in der Verwaltung und auch einen Mann, der großen Einfluß hat‹, und so weiter und so weiter. Sie war entschlossen, kein Mittel unversucht zu lassen, um mir die Bestallung als Kapitän eines Flußdampfers zu verschaffen, wenn mir daran gelegen wäre.

Ich bekam den Posten – wie nicht anders zu erwarten; und überdies noch sehr schnell. Wie sich dann herausstellte, hatte die Gesellschaft die Nachricht bekommen, daß einer ihrer Kapitäne in einem Scharmützel mit den Eingeborenen getötet worden war. Das war mein Glück, und es machte mich noch versessener darauf, hinzugehen. Erst viele Monate später, bei dem Versuch, die Überreste des Leichnams zu retten, hörte ich, daß der ganze Streit durch ein Mißverständnis wegen einiger Hühner entstanden war. Jawohl, wegen zwei schwarzer Hennen. Fresleven – so hieß der Bursche, ein Däne – glaubte sich in dem Handel irgendwie benachteiligt, ging also an Land und begann den Häuptling des Dorfes mit einem Stocke durchzubläuen. Es überraschte mich nicht im geringsten, das zu hören und gleichzeitig auch die Versicherung zu erhalten, daß Fresleven das höflichste, ruhigste Geschöpf gewesen sei, das je auf zwei Beinen dahingegangen war. Das war ganz fraglos richtig; nur war er schon einige Jahre dort draußen gewesen, im Dienst der guten Sache, und hatte also wohl schließlich das Bedürfnis empfunden, vor sich selbst seine Selbstachtung auf irgendeine Weise zu bestätigen. Darum verprügelte er den alten Neger erbarmungslos, während eine große Menge Volkes wie betäubt zusah, schließlich führte ein Mann – der Sohn des Häuptlings, wie man mir sagte – in heller Verzweiflung über das Geschrei des Alten versuchsweise einen Speerstoß nach dem weißen Mann – und natürlich drang die Spitze ganz leicht zwischen den Schulterblättern ein. Dann verschwand die gesamte Bevölkerung in den Wald, in der Befürchtung alles erdenklichen Unheils, während andererseits der Dampfer, den Fresleven befehligt hatte, gleicherweise von Panik ergriffen, unter dem Befehl eines Ingenieurs abfuhr. Hinterher schien sich niemand um Freslevens sterbliche Reste sonderliche Gedanken zu machen, bis ich hinauskam und an seine Stelle trat. Ich konnte es nicht auf sich beruhen lassen; als sich mir aber endlich die Gelegenheit bot, mit meinem Vorgänger zusammenzutreffen, da war das Gras hoch genug durch seinen Körper gewachsen, um seine Knochen zu verbergen. Sie waren vollzählig da. Das übernatürliche Wesen war nach seinem Fall nicht mehr angerührt worden. Und das Dorf war verlassen, die Hütten gähnten schwarz, verfault, ganz windschief hinter den eingefallenen Zäunen. Ein Unheil war in der Tat über sie hereingebrochen. Die Einwohner waren verschwunden. Blindes Entsetzen hatte sie, Männer, Weiber und Kinder, durch den Busch gejagt, und sie waren nie wiedergekehrt. Was aus den Hennen geworden war, konnte ich auch nicht feststellen. Ich möchte aber glauben, daß sie der Sache des Fortschrittes anheimfielen. Doch so oder so, infolge dieser glorreichen Angelegenheit bekam ich meine Anstellung, bevor ich sie noch richtig zu erhoffen begonnen hatte.

Ich flog wie verrückt herum, um fertig zu werden, und noch vor Ablauf von achtundvierzig Stunden fuhr ich über den Kanal, um mich meinen Arbeitgebern vorzustellen und den Vertrag zu unterschreiben. Nach ganz wenigen Stunden kam ich in einer Stadt an, die mich immer an ein getünchtes Grab erinnert. Ein Vorurteil, ohne Frage. Ich hatte keine Schwierigkeiten, das Kontor der Gesellschaft zu finden. Es war die größte Unternehmung in der Stadt und ihr Name auf jedermanns Lippen. Die Leute waren eben dabei, ein überseeisches Reich zu errichten und im Handel ungeheuer viel Geld zu machen.

Eine enge, einsame Gasse im tiefen Schatten hoher Häuser, zahllose Fenster mit Jalousien, ein totes Schweigen, Gras zwischen den Pflasterfugen, mächtige Torbogen links und rechts, ungeheure zweiflügelige Tore, die wuchtig offen standen. Ich schlüpfte durch eines hinein, ging ein sauberes und schmuckloses Treppenhaus, kahl wie eine Wüste, hinauf und öffnete die erste Tür, an die ich kam. Zwei Frauen, die eine fett und die andere mager, saßen auf strohgeflochtenen Stühlen und strickten schwarze Wolle. Die schwarze stand auf und kam gerade auf mich zu – wobei sie immer noch mit niedergeschlagenen Augen weiterstrickte –, und erst als ich zu erwägen begann, ob ich ihr würde aus dem Wege gehen müssen wie einer Traumwandlerin, blieb sie stehen und sah auf. Ihr Gewand war schlicht wie der Überzug eines Regenschirmes; sie drehte ohne ein Wort um und ging mir in ein Wartezimmer voran. Ich nannte meinen Namen und sah mich um. Ein Tisch aus weichem Holz in der Mitte, einfache Stühle längs der Wand, an einem Ende eine leuchtende Landkarte, mit allen Farben des Regenbogens bemalt. Es gab viel Rot darauf – gut anzusehen, weil man weiß, daß dort nützliche Arbeit geleistet wird; verteufelt viel Blau, ein wenig Grün, ein paar Streifen Orange und, an der Ostküste einen Fleck Purpur. Doch ich wollte ja in keines davon. Ich würde ins Gelbe gehen. Gerade in den Mittelpunkt. Und auch der Strom war da, berückend, toddrohend, wie eine Schlange. Uff! Eine Tür ging auf, der weißhaarige Kopf eines Sekretärs mit dem Ausdruck unverkennbaren Mitleids erschien, und ein knochiger Zeigefinger winkte mich ins Heiligtum. Die Beleuchtung darin war düster. Ein wuchtiger Schreibtisch nahm die ganze Mitte ein. Hinter dem Prunkbau war in Umrissen eine bleiche, unförmige Leiblichkeit in einem Gehrock zu erkennen. Der große Mann in Person. Er war fast sechs Fuß hoch, glaube ich, und hielt die Hand auf vielen Millionen. Er schüttelte mir die Hand, murmelte etwas, schien mit meinem Französisch zufrieden. Bon voyage!

Nach etwa fünfundvierzig Sekunden fand ich mich wieder im Wartezimmer neben dem mitleidigen Sekretär, der mich voll fassungslosen Erbarmens ein Dokument unterschreiben ließ. Soviel ich weiß, verpflichtete ich mich darin unter anderem, keine Geschäftsgeheimnisse zu verraten. Nun gut. Ich habe auch nicht die Absicht.

Ich begann, mich ein wenig ungemütlich zu fühlen; ihr wißt ja, daß ich an solche feierliche Umstände nicht gewöhnt bin, und überdies lag etwas wie die Vorahnung von Unheil in der Luft. Es war, als hätte man mich in eine Verschwörung aufgenommen – wie soll ich sagen – in irgend etwas Unerlaubtes; und ich war froh, wieder herauszukommen. In dem Vorzimmer strickten die beiden Frauen fieberhaft schwarze Wolle. Leute kamen an, und die Jüngere ging hin und her, um sie einzulassen. Die Alte saß auf ihrem Stuhl fest. Ihre flachen Tuchpantoffel waren fest auf einen Fußwärmer gestemmt, und eine Katze ruhte in ihrem Schoß. Sie trug eine weiße gestärkte Sache auf ihrem Kopf, hatte eine Warze auf einer Wange und eine silbergefaßte Brille auf der Nasenspitze sitzen. Sie warf mir über die Gläser weg einen Blick zu. Die Seelenruhe in diesem flüchtigen und gleichgültigen Blick verwirrte mich. Zwei junge Leute von munterem und leicht närrischem Aussehen wurden eben vorbeigelotst, und auch ihnen warf sie den gleichen Blick zu, voll unbeteiligten Wissens. Sie schien alles über die beiden, wie auch über mich zu wissen. Ein unbehagliches Gefühl begann in mir aufzusteigen. Sie wirkte unheimlich und schicksalhaft. Oft dachte ich weit dort draußen an diese beiden, die die Tür zur Finsternis hüteten und schwarze Wolle dazu strickten wie für ein warmes Leichentuch; die eine ließ ein, ließ unaufhörlich ein ins Unbekannte, die andere prüfte die munteren, närrischen Gesichter mit ihren teilnahmslosen alten Augen. Ave! Alte Strickerin, mit deinem schwarzen Wollknäuel. Morituri te salutant! Nicht viele von ihnen, die sie so angeblickt hat, haben sie jemals wiedergesehen. – Lange nicht die Hälfte.