Lord Jim - Joseph Conrad - E-Book

Lord Jim E-Book

Joseph Conrad

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Beschreibung

Lord Jim ist ein Roman von Joseph Conrad, erstpubliziert in Blackwood's Magazine im Jahr 1900. Der Roman gliedert sich in zwei Teile, eine psychologische Erzählung über Jims moralischen Fehler an Bord des Pilgerschiffs "Patna" und in eine Abenteuer-Geschichte über Jims Aufstieg und Niedergang unter den Leuten von Patusan, einem Eingeborenenstaat irgendwo in Ostindien bzw. Südostasien.

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Lord Jim

Joseph Conrad

Inhalt:

Joseph Conrad – Biografie und Bibliografie

Lord Jim

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreissigstes Kapitel

Einunddreissigstes Kapitel

Zweiunddreissigstes Kapitel

Dreiunddreissigstes Kapitel

Vierunddreissigstes Kapitel

Fünfunddreissigstes Kapitel

Sechsunddreissigstes Kapitel

Siebenunddreissigstes Kapitel

Achtunddreissigstes Kapitel

Neununddreissigstes Kapitel

Vierzigstes Kapitel

Einundvierzigstes Kapitel

Zweiundvierzigstes Kapitel

Dreiundvierzigstes Kapitel

Vierundvierzigstes Kapitel

Fünfundvierzigstes Kapitel

Lord Jim, J. Conrad

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849607807

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Joseph Conrad – Biografie und Bibliografie

Britischer Schriftsteller, geboren am 3. Dezember 1857 in Berditschew (Polen), verstorben am 3. August 1924 in Bishopsbourne, England. Sohn des polnischen Adligen und Schriftstellers Apollo Korzeniowski. Dieser wurde 1861 wegen nationalistischer Tätigkeiten nach Wologda in Nordrußland verbannt. Seine Familie folgte ihm dorthin. Nach dem Tod der Mutter wurde der Vater begnadigt und zog mit seinem Sohn nach Krakau, wo C. das Gymnasium besuchte. Mit 16 Jahren, nach dem Tod des Vaters 1869, zieht es C. zur See und er heuert in Marseille als Seemann an. Nach einigen Besuchen auf der Insel zieht er nach England und erhält 1886 die britische Staatsbürgerschaft.  Ab 1890 beginnt C. zu schreiben, sein Durchbruch als einer der wichtigsten Autoren des frühen 20. Jahrhunderts erfolgt aber erst 1914. Er stirbt 1924 an Herzversagen.

Wichtige Werke:

Almayer's Folly: A story of an Eastern River (1895)An Outcast of the Islands (1895)The Nigger of the "Narcissus" (1897)Lord Jim (1900)Heart of darkness (1902)Nostromo: A Tale of the Seaboard (1904)The Secret Agent (1907)Under Western Eyes (1911)Chance (1914)Victory (1915)The Shadow-Line (1917)The Arrow of Gold (1919)The Rescue (1920)The Rover (1923)Suspense (1925)

Lord Jim

Erstes Kapitel

Es mochten ihm ein bis zwei Zoll zu sechs Fuß fehlen; er war ungewöhnlich kräftig gebaut und pflegte, den Kopf vorgestreckt, mit leicht eingezogenen Schultern und einem starren Blick von unten her schnurstracks auf einen loszukommen, was an einen Stier in Angriffsstellung gemahnte. Seine Stimme war tief, laut, und in seiner ganzen Art lag eine gewisse knurrige Selbstbehauptung, die doch nichts Feindseliges hatte. Sie schien notwendig zu seinem Wesen zu gehören und war offensichtlich ebensosehr gegen seine eigene Person wie gegen jeden anderen gerichtet. Er war makellos sauber, vom Kopf bis zum Fuß in blendendes Weiß gekleidet, und stand in allen Häfen des Orients, wo er schon als Wasserkommis eines Schiffslieferanten seinen Unterhalt gefunden hatte, in hohem Ansehn.

Ein Wasserkommis braucht in gar keinem Fach sein Examen abzulegen, doch muß er Geschicklichkeit in abstracto besitzen und sie praktisch beweisen können. Seine Arbeit besteht darin, andern Wasserkommis unter Segel, Dampf oder Ruder den Rang abzulaufen, wenn ein Schiff vor Anker gehen will, den Kapitän freudig zu begrüßen, indem er ihm eine Karte aufzwingt – die Geschäftskarte des Schiffslieferanten – und ihn bei seinem ersten Besuch an Land bestimmt, doch unauffällig, in einen umfangreichen, höhlenartigen Laden zu steuern, der alles enthält, was an Bord gegessen und getrunken wird, wo man alles bekommen kann, um das Schiff seetüchtig und schön zu machen, von einem Satz Kettenhaken für das Ankertau bis zu einem Heft Blattgold für das Schnitzwerk des Hecks, und wo der Kapitän von einem Schiffslieferanten, den er nie zuvor gesehen hat, wie ein Bruder aufgenommen wird. Da harren seiner ein behagliches Wohnzimmer, Fauteuils, Flaschen, Zigarren, Schreibzeug, die Statuten für den Hafenverkehr und eine Wärme der Begrüßung, die danach angetan ist, das Salz einer dreimonatigen Seefahrt aus dem Herzen eines Seemanns herauszuschmelzen. Die so begonnene Bekanntschaft wird, solange das Schiff im Hafen bleibt, durch die täglichen Besuche des Wasserkommis aufrechterhalten. Dieser bringt dem Kapitän die Treue eines Freundes, die Fürsorglichkeit eines Sohnes, die Geduld eines Hiob, die selbstlose Hingabe einer Frau und die fröhliche Stimmung eines Zechkumpans entgegen. Nach einiger Zeit kommt die Rechnung. Kurzum: es ist ein schöner, menschlicher Beruf. Daher sind gute Wasserkommis selten. Wenn ein Wasserkommis, der die Geschicklichkeit in abstracto besitzt, noch dazu den Vorzug hat, für die See herangebildet zu sein, dann wiegt ihn sein Dienstherr mit Gold auf und behandelt ihn mit großer Rücksicht. Jim bekam stets hohe Löhne und erfuhr so viel Rücksichtnahme, daß ein Stein sich davon hätte erweichen lassen. Trotzdem konnte er mit schwarzem Undank plötzlich alles hinwerfen und auf und davon gehn. Die Gründe, die er seinem jeweiligen Dienstherrn angab, waren keineswegs stichhaltig. Sie sagten »verflixter Narr«, sobald er ihnen den Rücken kehrte. Dies war ihr Urteil über seine hochgradige Empfindlichkeit.

Für die Weißen im Küstenhandel und die Schiffskapitäne war er schlankweg Jim – weiter nichts. Er hatte selbstverständlich noch einen andern Namen, doch war er ängstlich darauf bedacht, daß man ihn nicht aussprach. Sein Inkognito, das so löcherig war wie ein Sieb, sollte keine Persönlichkeit, sondern eine Tatsache verbergen. Wenn die Tatsache durch das Inkognito hindurchschimmerte, verließ er schleunigst den Seehafen, in dem er sich gerade befand, und ging nach einem andern – gewöhnlich weiter nach Osten. Er blieb in den Seehäfen, weil er ein Seemann war, der von der See verbannt war und die Geschicklichkeit in abstracto besaß, die für keinen andern als für einen Wasserkommis taugt. Er nahm seinen geordneten Rückzug der aufgehenden Sonne entgegen, und die Tatsache folgte ihm von ungefähr, doch unvermeidlich. So sah man ihn im Lauf der Jahre hintereinander in Bombay, Kalkutta, Rangun, Penang und Batavia – und in jedem dieser Anlegeplätze war er schlankweg Jim, der Wasserkommis. Späterhin, als ihn sein brennendes Gefühl für das Nicht-zu-Ertragende ein für allemal aus den Seehäfen und fort von den Weißen bis in den Urwald hinein trieb, fügten die Malaien des Dschungeldorfs, das er sich zum Versteck für seine beklagenswerte Anlage ausgesucht hatte, noch ein Wort zu dem Einsilber seines Inkognitos hinzu. Sie nannten ihn Tuan Jim, was soviel heißt wie Lord Jim.

Er stammte aus einem Pfarrhaus. Viele Befehlshaber großer Handelsschiffe stammen aus diesen Stätten der Frömmigkeit und des Friedens. Jims Vater besaß jene gewisse Kenntnis des Unerforschlichen, die sich besonders mit der Redlichkeit der Armen befaßt und die Gemütsruhe jener nicht stört, die eine unfehlbare Vorsehung in den Stand gesetzt hat, in Herrenhäusern zu wohnen. Die kleine Kirche auf einem Hügel war wie ein moosbewachsener, altersgrauer Fels, der durch eine zerrissene Blätterwand schimmert. Sie stand da seit Jahrhunderten, doch die Bäume, die sie umgaben, waren wohl schon Zeugen gewesen, als ihr Grundstein gelegt wurde. Unterhalb leuchtete die rote Fassade des Pfarrhauses mit warme Tönung mitten aus den Rasenplätzen, Blumenbeeten und Tannen hervor, mit einem Obstgarten an der Rückseite, einem gepflasterten Hof zur Linken und den schrägen Glasdächern der Treibhäuser, die sich längs der Backsteinmauer hinzogen. Der Wohnsitz hatte seit Generationen der Familie gehört; doch Jim war einer von fünf Söhnen, und als sich einmal nach einer Ferienzeit, während deren er sich mit Seegeschichten vollgepfropft hatte, seine Neigung zum Seemannsberuf offenbarte, tat man ihn sofort auf ein Schulschiff für Offiziere der Handelsmarine.

Er lernte dort ein wenig Trigonometrie und Bramrahen kaien. Er war allgemein beliebt. Er war Dritter in Schiffahrtskunde und Vormann im ersten Kutter. Da er einen ruhigen Kopf hatte und gut gebaut war, so war er sehr tüchtig in der Takelung. Sein Platz war auf dem Vormars, und oft blickte er von da mit der Verachtung eines Mannes, der bestimmt ist, sich in Gefahren auszuzeichnen, auf die friedlichen Dächer der Häuser hinab, die von der braunen Flut des Stromes durchschnitten wurden, während am Rande der umliegenden Ebene die Fabrikschlote senkrecht und schlank wie Stifte in den Himmel ragten und gleich Vulkanen ihren Rauch ausspien. Er konnte die großen Schiffe in See stechen, die wuchtigen Fähren auf und nieder fahren und tief unter sich die kleinen Boote dahingleiten sehen, während in der Ferne der dunstige Glanz der See winkte und die Hoffnung auf ein bewegtes Leben in der Welt der Abenteuer.

Auf dem Unterdeck, im Gewirr von zweihundert Stimmen, vergaß er sich selbst und genoß im Geiste im voraus das Seemannsleben, wie es sich in der Unterhaltungslektüre darstellt. Er sah sich auf untergehenden Schiffen Menschen das Leben retten, während eines Orkans die Masten kappen, mit einem dünnen Seil durch die Brandung schwimmen oder als einsamen Schiffbrüchigen barfuß und halbnackt auf den bloßen Riffen Schaltiere suchen, um dem Hungertode zu entgehen. Er maß sich mit den Wilden an den Tropenküsten im Kampf, machte Meutereien, die auf hoher See ausbrachen, ein Ende und richtete Verzweifelte auf, die er in einem kleinen Boot durch den Ozean ruderte – jederzeit ein Beispiel aufopfernder Pflichttreue und so unentwegt wie ein Held im Buch.

»Es ist etwas los! Rasch auf Deck!«

Er sprang auf die Füße. Die Schiffsjungen stürmten die Leitern hinauf. Oben hörte man ein furchtbares Getöse und Geschrei, und als er durch den Lukenweg hinaufkam, blieb er stehen – wie betäubt.

Es war die Dämmerung eines Wintertages. Der Sturm, der seit Mittag angewachsen war, hatte den Verkehr auf dem Fluß ins Stocken gebracht und tobte nun mit der Gewalt eines Orkans in stoßweisen Ausbrüchen, die wie schwere Geschützsalven über das Wasser donnerten. Der Regen ergoß sich in schrägen, klatschenden Strömen, und durch ihn hindurch sah Jim ab und zu die wilde, hochgehende Flut, das kleine Fahrzeug, das am Ufer hin und her geworfen wurde, die im ziehenden Nebel reglos dastehenden Gebäude, die großen verankerten Fähren, die schwer ans Ufer schlugen, die riesenhaften, von Güssen überfluteten, auf und nieder schaukelnden Landungsbrücken. Der nächste Schwall schien alles wegzublasen. Die Luft war voll Wasserstaub. Im schrillen Pfeifen des Windes, im rasenden Aufruhr des Himmels und der Erde lag etwas wie eine finstere Absicht, ein grimmiger Ernst, der sich gegen ihn zu richten schien und ihm den Atem in der Kehle zusammenpreßte. Er stand ganz still, doch mit einem Gefühl, als würde er im Kreise herumgewirbelt.

Man stieß ihn an. »Den Kutter bemannen!« Schiffsjungen stürmten an ihm vorbei. Ein Küstenfahrer, der sich unter Land retten wollte, war gegen einen vor Anker liegenden Schoner angerannt, und einer der Lehrer des Schulschiffs hatte den Unfall bemerkt. Ein Rudel Jungen kletterte an der Reling, hing in Klumpen um die Davits herum. »Zusammenstoß! Dicht vor uns. Herr Symons hat es gesehen!« Ein Stoß ließ ihn gegen den Besanmast stolpern. Er hielt sich an einem Tau fest. Das alte Schulschiff, das auf seinen Vertäuungen lag, bebte in allen Flanken. Sacht neigte es den Bug gegen den Wind, und sein spärliches Takelwerk summte in tiefem Baß das ächzende Lied von seiner Jugend zur See. »Boot niederlassen!« Er sah das Boot, bemannt, unverzüglich an der Reling hinuntergleiten und wollte ihm nach. Ein Klatschen scholl herauf. »Zurück! Werft die Fangleine los!« Er beugte sich vor. Längsseit brodelte der Fluß in schäumenden Streifen. In der sinkenden Dunkelheit lag der Kutter einen Augenblick wie gebannt unter dem Druck von Flut und Wind und schaukelte Seite an Seite neben dem Schiff. Ein gellender Ruf drang schwach bis zu ihm. »Takt halten, junge Brut, wenn ihr jemand retten wollt! Takt halten!« Und plötzlich hob sich der Bug des Boots, und es sprang, mit Riemen hoch, über einen Kamm, von dem Bann befreit, in dem Wind und Flut es gehalten hatten.

Jim fühlte einen festen Griff an seiner Schulter. »Zu spät, mein Junge!« Der Kapitän des Schiffs hielt den Knaben zurück, der im Begriffe schien, über Bord zu springen. Jim blickte auf, im schmerzlichen Bewußtsein einer Niederlage. Der Kapitän lächelte verständnisvoll. »Das nächste Mal wird es besser glücken. Dies wird dich lehren, rasch bei der Hand zu sein.«

Ein gellendes Hurra begrüßte den Kutter. Er kam tanzend zurück, bis zur Hälfte mit Wasser gefüllt, das um zwei halbtote, auf dem Boden liegende Männer spülte. Nunmehr kamen Jim der Tumult und die Drohung von Wind und See recht verächtlich vor, und sein Verdruß über das eigene Grauen vor ihren leeren Schrecknissen steigerte sich noch. Er wußte jetzt, was er davon zu halten hatte. Es schien ihm, daß er sich nichts aus dem Sturm machte. Er konnte größeren Gefahren trotzen. Und er wollte es tun – besser als jeder andere. Kein Tüttelchen Furcht war mehr übrig. Nichtsdestoweniger hielt er sich an diesem Abend in finsterem Brüten abseits, während der Buggast des Kutters, ein Knabe mit einem Mädchengesicht und großen grauen Augen, der Held des Unterdecks war. Neugierige Frager umdrängten ihn. Er erzählte: »Ich sah gerade noch seinen Kopf auftauchen und warf meinen Bootshaken ins Wasser. Der blieb in seinen Hosen sitzen, und ich wäre beinahe über Bord gegangen, wie ich mir's gleich gedacht hatte, doch der alte Symons ließ die Ruderpinne los und packte meine Beine. Das Boot schlug beinahe voll. Der alte Symons ist ein Prachtkerl. Ich verüble es ihm gar nicht, daß er uns manchmal anschnauzt. Er schimpfte fortwährend mit mir, während er mein Bein hielt, aber das war nur so seine Art, mir zu sagen, daß ich den Bootshaken nicht loslassen sollte. Der alte Symons ist schrecklich reizbar – nicht wahr? – Nein – nicht der kleine Blonde –, der andere, der Große mit dem Bart. Als wir ihn ins Boot hereinzogen, stöhnte er: ›Oh, mein Bein! oh, mein Bein!‹ und verdrehte die Augen. Unglaublich! Ein so großer Kerl fällt in Ohnmacht wie ein Mädchen! Würde einer von euch wegen eines Kratzers mit einem Bootshaken in Ohnmacht fallen? – Ich sicher nicht! Der Haken drang in sein Bein, so tief!« Er zeigte den Bootshaken, den er zu dem Zweck heruntergebracht hatte, und erzielte großen Eindruck damit. »Nicht doch, wie dumm! Er war doch nicht in sein Fleisch eingehakt, sondern in seine Hosen. Natürlich verlor er eine Menge Blut.«

Jim erschien dies als eine jämmerliche Prahlerei. Der Sturm hatte einem Heroismus zur Entfaltung verholfen, der ebenso nichtig war wie Jims eigene vorgebliche Schrecken. Jim zürnte dem wilden Aufruhr des Himmels und der Erde, weil er dadurch überrascht und weil seiner edlen Bereitwilligkeit, das Leben zu wagen, schnöde Halt geboten worden war. Andrerseits war er froh, nicht in den Kutter gegangen zu sein, da ja offenbar ein geringerer Grad der Vollendung ausgereicht hatte. Er war reicher an Erfahrung geworden als die andern, die die Sache ausgeführt hatten. Wenn alle zitterten, dann – das wußte er – würde er allein der nichtigen Drohung von Wind und Wellen zu trotzen wissen. Er wußte, was er davon zu halten hatte. Nüchtern betrachtet, erschien sie verächtlich. Er konnte nicht die Spur einer Erregung in sich entdecken, und das Endergebnis dieses aufregenden Vorfalls war, daß er, unbemerkt und abseits von der lärmenden Schülerschar, insgeheim frohlockte, neubestärkt in seiner Gier nach Abenteuern und im Bewußtsein vielseitigen Muts.

Zweites Kapitel

Nach zweijähriger Ausbildung ging er zur See, und als er in die Regionen eintrat, die seiner Phantasie so vertraut waren, fand er sie seltsam leer und unfruchtbar an Abenteuern. Er machte viele Seereisen. Er lernte die zauberhafte Eintönigkeit des Daseins zwischen Himmel und Wasser kennen; er hatte die Kritik der Menschen, die Anforderungen des Meeres und die prosaische Strenge des Tagewerks zu ertragen, das einem wohl Brot gibt – dessen einziger wirklicher Lohn aber in der vollkommenen Liebe zur Arbeit besteht. Dieser Lohn blieb aus. Dennoch konnte Jim nicht zurück, weil es nichts gibt, was verlockender ist, was mehr enttäuscht und zum Sklaven macht als das Leben zur See. überdies waren seine Aussichten gut. Er hatte gute Manieren, war zuverlässig, umgänglich und war sich in hohem Grade seiner Verantwortlichkeit bewußt; und in noch recht jungen Jahren wurde er Erster Offizier auf einem großen Schiff, ohne daß er sich je vorher bei Vorfällen bewährt hätte, die erst den inneren Wert eines Mannes, seinen wahren Kern und Halt, bei Tageslicht zeigen und nicht bloß vor andern, sondern auch vor dem eigenen Selbst den Grad der Widerstandskraft und die geheime Berechtigung des Eigendünkels dartun. Nur ein einziges Mal in der ganzen Zeit hatte er wieder einen flüchtigen Eindruck von dem Ernst, der im Zürnen des Meeres waltet. Diese Wahrheit wird einem nicht so häufig offenbar, wie man leichthin glauben möchte. Die Gefahren der Abenteuer und Stürme sind reich an Schattierungen, und nur ab und zu erscheint auf dem Antlitz der Ereignisse jener schicksalsvolle Zug gewaltsamer Absicht, jenes unbeschreibliche Etwas, das dem Menschen die Überzeugung aufzwingt, es läge in der Verkettung der Zufälligkeiten, dem Rasen der Elemente etwas Bösartiges, das auf ihn abziele, um mit einer Wucht ohnegleichen, einer maßlosen Grausamkeit alles Hoffen und Bangen, jedes Sehnen und Wünschen aus seinem Herzen zu tilgen; alles, was er gekannt, geliebt, genossen oder gehaßt hat, was unschätzbar und notwendig ist – den Sonnenschein, die Erinnerungen, die Zukunft—, zu zerschmettern, zu zerstören, auszulöschen; einfach dadurch, daß es ihm das Leben nimmt, diese ganze kostbare Welt seinen Augen zu entrücken.

Jim, der zu Anfang einer Woche, von der sein schottischer Kapitän späterhin immer sagte: »Mensch, es ist mir ganz unbegreiflich, wie wir da durchgekommen sind!« von einer herunterfallenden Spiere dienstunfähig gemacht worden war, verbrachte viele Tage auf dem Rücken ausgestreckt, betäubt, zerschlagen, mutlos und gepeinigt, wie in einen Abgrund der Unrast versunken. Das Ende kümmerte ihn nicht, und in seinen klaren Augenblicken überschätzte er seine Gleichgültigkeit. Die Gefahr hat, wenn man sie nicht mit Augen sieht, die ganze Unbestimmtheit des menschlichen Gedankens. Die Furcht wird wesenlos; und die Phantasie, die Erzeugerin aller Schrecknisse und den Menschen feind, sinkt, wenn sie nicht wachgehalten wird, in der Öde zusammen, die die Erschöpfung verbreitet. Jim sah nichts als die Unordnung in seiner durchgeschüttelten Kabine. Er lag da, eingeschient, inmitten des Durcheinanders seiner engen Umgebung, und war insgeheim froh, daß er nicht auf Deck zu gehen brauchte. Aber zuweilen schnürte ihn ein unerklärliches Angstgefühl zusammen, daß er nach Luft schnappte und sich unter seinen Decken hin und her wälzte; und dann erfüllte ihn die sinnlose Qual, die ihm diese Vergewaltigung verursachte, mit dem verzweifelten Wunsch, um jeden Preis zu entkommen. Endlich kam wieder schönes Wetter, und er dachte nicht mehr daran.

Seine Lahmheit dauerte jedoch fort, und als das Schiff einen Hafen des Ostens anlief, mußte er sich in ein Hospital begeben. Seine Genesung ging langsam vonstatten, und er wurde zurückgelassen.

Außer ihm waren nur noch zwei Kranke in dem Spital für Weiße: der Zahlmeister eines Kanonenboots, der eine Lukenleiter hinuntergefallen war und sich dabei den Fuß gebrochen hatte, und eine Art Eisenbahnunternehmer aus einer benachbarten Provinz, der von einer geheimnisvollen Tropenkrankheit befallen war, den Doktor für einen Esel hielt und hinter dessen Rücken Geheimmittel nahm, die sein tamilischer Diener ihm mit unermüdlicher Ergebenheit verschaffte. Sie erzählten sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten, spielten ein bißchen Karten oder lagen gähnend und in Pyjamas den Tag über im Lehnstuhl, ohne ein Wort zu reden. Das Spital stand auf einem Hügel, und eine sanfte Brise, die durch das stets weitgeöffnete Fenster hereinwehte, trug den milden Glanz des Himmels, die schmachtende Trägheit der Erde, den bestrickenden Hauch der Gewässer des Orients in den kahlen Raum. Da waren Wohlgerüche, die der Seele ein Gefühl unbegrenzten Ausruhens gaben, sie in endlose Träumereien einspannen. Jim blickte Tag für Tag über die dichten Gebüsche der Gärten jenseits der Dächer der Stadt, über die Palmenwedel am Ufer hinweg auf die Reede, die eine Durchfahrt zum Osten bildet – die Reede mit ihren grünumrankten, von Sonnenschein strahlenden Inselchen, ihren kleinen, spielzeugartigen Schiffen, ihrer glitzernden Bewegtheit, die einem Festtagsaufzug glich, in der ewigen Bläue des morgenländischen Himmels und dem lächelnden Frieden der morgenländischen Meere, die, so weit das Auge reichte, den Raum beherrschten.

Sobald er ohne Stock gehen konnte, machte er sich in die Stadt auf, um ein Schiff nach der Heimat zu erkunden. Es war gerade keines da, und während des Wartens verkehrte er natürlich mit seinen Berufsgenossen im Hafen. Die waren von zweierlei Art. Die einen, gering an Zahl und nur selten zu sehen, führten ein geheimnisvolles Dasein, hatten sich eine ungeschwächte Tatkraft, das rasche Temperament von Freibeutern bewahrt und die Augen von Träumern. Sie schienen in einem wirren Durcheinander von Plänen, Hoffnungen, Gefahren und Unternehmungen zu leben, in den dunklen Schlupfwinkeln der See, abseits der Zivilisation, und ihr Tod war das einzige Ereignis ihres phantastischen Daseins, dessen Eintreffen mit einiger Bestimmtheit anzunehmen war. Die meisten waren, gleich ihm, durch irgendein Mißgeschick dorthin verschlagen worden und dann als Offiziere von Küstenfahrern dort geblieben. Sie hatten nun ein Grauen vor dem heimischen Dienst mit seinen härteren Bedingungen, seiner strengeren Pflichtauffassung und den Fährnissen der stürmischen See. Sie waren auf den ewigen Frieden des morgenländischen Himmels und Meeres gestimmt. Sie liebten kurze Fahrten, bequeme Deckstühle, zahlreiche Mannschaften von Eingeborenen und den Genuß des Vorzugs, der weißen Rasse anzugehören. Sie schauderten bei dem Gedanken an schwere Arbeit, wollten lieber ein leichtes, wenn auch unsicheres Leben führen, immer auf dem Sprung, entlassen zu werden; dienten Chinesen, Arabern, Mischlingen und hätten dem Teufel gedient, wenn er ihnen das Leben leicht gemacht hätte. Sie sprachen unaufhörlich von Glückszufällen: wie der und der das Kommando auf einem chinesischen Küstenfahrer bekommen hätte – eine feine Sache; wie jener irgendwo in Japan einen leichten Posten habe und ein anderer sein gutes Fortkommen in der siamesischen Marine fände; und in allem, was sie sagten, in ihren Handlungen, ihren Blicken, ihrer Erscheinung entdeckte man die weiche Stelle, den faulen Fleck, das Bemühen, sich ohne Anstrengung und Gefahr durchs Leben hindurchzuwinden.

Jim fand diese Schar von Schwatzbrüdern anfangs, wenn er sie als Seeleute betrachtete, so wesenlos wie Schatten. Mit der Zeit aber fand er etwas Anziehendes im Anblick dieser Männer, denen es bei so geringem Aufwand an Mut und Kraft doch anscheinend so gut ging. Allmählich kam neben der ursprünglichen Verachtung ein anderes Gefühl hoch; und plötzlich gab er den Plan, nach Hause zurückzukehren, auf und nahm einen Posten als Erster Offizier der Patna an.

Die Patna war ein Lokaldampfer, so alt wie die Berge, so dürr wie ein Windhund und so rostzerfressen wie ein ausgemusterter Wassertank. Sie gehörte einem Chinesen, war von einem Araber gechartert und von einem Deutschen aus Neusüdwales, einer Art Überläufer, befehligt, der sehr darauf erpicht war, sein Geburtsland öffentlich zu verfluchen, dabei aber, wahrscheinlich kraft Bismarcks siegreicher Politik, gegen alle, die er nicht fürchtete, den Herrn herauskehrte und eine Berserkermiene zur Schau trug zugleich mit einer purpurroten Nase und einem roten Schnurrbart. Nachdem die Patna außen frisch bemalt und innen weiß getüncht worden war, bekam sie ungefähr achthundert Pilger (es können mehr oder weniger gewesen sein) an Bord, während sie schnaubend an einem hölzernen Landungssteg lag.

Sie strömten über drei Laufplanken an Bord, strömten herein, getrieben vom Glauben und der Hoffnung aufs Paradies, strömten herein mit dem ununterbrochenen Trappeln und Schlurren ihrer bloßen Füße, ohne ein Wort, ein Gemurmel oder einen Rückblick, und verbreiteten sich, als das abschließende Geländer weggenommen war, über das ganze Deck, fluteten nach vorn und achtern, überfluteten die gähnenden Niedergänge, füllten die inneren Schlupfwinkel des Schiffs – wie Wasser eine Zisterne füllt, wie Wasser, das in alle Spalten und Risse dringt, wie Wasser, das lautlos bis zu Deckhöhe steigt. Achthundert Männer und Frauen mit ihrem Glauben und ihren Hoffnungen, ihrer Liebe und ihren Erinnerungen hatten sich da gesammelt, zusammengeweht aus Nord und Süd und von den äußersten Grenzen des Ostens; nachdem sie durch die Dschungel gewatet, die Flüsse herunter, in Praus das Flachwasser der Küsten entlang gefahren, in kleinen Borkenkähnen von Insel zu Insel übergesetzt, durch Leiden hindurchgegangen waren, seltsame Schauspiele erblickt und seltsame Schrecken durchlebt hatten, von einer einzigen Sehnsucht aufrechterhalten. Sie kamen aus einzelstehenden Hütten in der Wildnis, aus volkreichen malaiischen Ansiedlungen, aus Dörfern am Meer. Dem Ruf einer Idee folgend, hatten sie ihre Wälder, ihre Lichtungen, den Schutz ihrer Herrscher, ihren Wohlstand, ihre Armut, die Welt ihrer Jugend und die Gräber ihrer Väter verlassen. Sie kamen mit Staub, Schweiß, Schmutz bedeckt, die starken Männer an der Spitze von Familienverbänden, die hageren Alten vorwärtsdrängend, ohne Hoffnung auf Wiederkehr; Knaben mit furchtlosen Augen, die neugierig um sich blickten; scheue kleine Mädchen mit zerzaustem langem Haar; schüchterne, eingemummte Frauen, die ihre schlafenden Säuglinge, die unbewußten Pilger eines gebieterischen Glaubens, in die schmutzigen Enden ihrer Kopftücher eingewickelt, an ihrer Brust hielten.

»Da, sehen Sie sich das Viehzeug an!« sagte der deutsche Kapitän zu seinem neuen Ersten Offizier.

Ein Araber, der Anführer dieser frommen Pilgerfahrt, kam zuletzt. Er schritt langsam an Bord, schön und ernst in seinem weißen Gewand und dem großen Turban. Ein Rudel Diener, mit seinem Gepäck beladen, folgte; die Patna machte los und stieß vom Landungssteg ab.

Sie nahm ihren Kurs auf zwei kleine Inselchen, kreuzte den Ankergrund einiger Segelschiffe, beschrieb einen Halbkreis im Schatten eines Vorgebirges und fuhr dann dicht an einer Kette schaumbedeckter Riffe entlang. Der Araber erhob sich achtern und sprach laut das Gebet der Reisenden auf See. Er erflehte die Gnade des Höchsten für diese Reise, seinen Segen für die harte Fron der Menschen und ihre geheimen Ziele. Der Dampfer durchpflügte in der Dämmerung schwerfällig das stille Wasser der Meerenge; und weit achteraus schien ein Leuchtfeuer, das Ungläubige an einer gefährlichen Untiefe errichtet hatten, mit seinem Flammenauge dem Pilgerschiff zuzuzwinkern, als wollte es der frommen Reise spotten.

Das Schiff lief aus der Meerenge hinaus, kreuzte die Bai und hielt geradewegs auf das Rote Meer zu, unter einem heiteren, wolkenlosen, sengenden Himmel, in eine Sonnenglut gehüllt, die jeden Gedanken tötete, sich schwer aufs Herz legte, jede Regung von Kraft und Tatfreude erstickte. Und unter dem tödlichen Glanz dieses Himmels blieb die See blau, tief und still, ohne Regung, ohne ein Wellchen – dickflüssig, stockend, ohne Leben. Die Patna fuhr mit leisem Zischen über die glatte, glänzende Fläche, entrollte am Himmel ein schwarzes Band von Rauch und hinterließ auf dem Wasser ein weißes Band von Schaum, das sofort wieder verging, wie das Phantom einer Spur, auf leblosem Meer von dem Phantom eines Dampfers gezogen.

Jeden Morgen tauchte die Sonne mit ihrer stumm ausbrechenden Lichtflut genau an derselben Stelle hinter dem Schiff empor, als wollte sie in ihrer Reise mit der Pilgerfahrt Schritt halten; stand am Mittag über dem Schiff und schüttete das gesammelte Feuer ihrer Strahlen auf die frommen Vorsätze der Menschen aus, glitt im Niedergehen daran vorbei und sank Abend für Abend geheimnisvoll ins Meer, immer in der gleichen Entfernung von dem vorwärtsstrebenden Bug. Die fünf Weißen lebten an Bord mittschiffs, von der Menschenfracht abgeschlossen. Das Sonnensegel breitete ein weißes Dach über das Deck vom Vorder- zum Hintersteven, und nur ein schwaches Gesumm, ein leises Gemurmel verriet das Dasein einer Volksmenge auf der weiten Glutfläche des Ozeans. So schwanden die Tage, still, glühend, schwer, einer nach dem andern in die Vergangenheit, wie von einem immer offenen Abgrund im Kielwasser des Schiffs verschlungen. Und das Schiff zog, schwarz und qualmend, unentwegt seine Bahn, ausgedörrt von den Flammen, mit denen ein erbarmungsloser Himmel es geißelte.

Drittes Kapitel

Eine wunderbare Stille lag über der Welt, und die Sterne schienen mit der Klarheit ihrer Strahlen die Gewähr ewiger Sicherheit über die Erde auszubreiten. Der junge, aufwärts gebogene Mond stand tief im Westen und schien der leichte Abfall von einer Goldstange; das Arabische Meer, glatt und kühl wie eine Eisfläche anzusehen, dehnte seine gewaltige Ebene dem gewaltigen Kreisrund eines dunklen Horizonts entgegen. Die Schraube drehte sich ohne Hemmnis, als hätte jeder ihrer Schläge zum System eines sicheren Weltgebäudes gehört; und zwei tiefe Wasserfalten zu beiden Seiten der Patna, die sich dunkel und bleibend von dem furchenlosen Glanz abhoben, schlossen in ihre geraden, waagerechten Kämme ein paar weiße, leis zischende Schaumwirbel ein, ein leichtes Gekräusel, ein paar Wellchen, die noch eine Weile die Fläche bewegten, nachdem das Schiff vorübergezogen war, sanft plätschernd auseinanderliefen und dann wieder in das stille Rund von Wasser und Himmel übergingen, in dessen Mittelpunkt der schwarze Fleck des Schiffsrumpfs sich vorwärtsbewegte. Jim auf der Kommandobrücke war von dem großen Gefühl unbegrenzter Sicherheit und dem Frieden durchdrungen, den das ruhige Antlitz der Natur gewährte, wie man die Gewißheit zärtlicher Liebe aus den Zügen einer Mutter empfängt. Unter dem Zeltdach schliefen, der Weisheit und dem Mut der Weißen anheimgegeben und der Macht ihres Unglaubens und dem eisernen Gehäuse ihres Feuerschiffs vertrauend, die Pilger eines anspruchsvollen Glaubens auf Matten, auf Decken, auf bloßen Brettern, auf jedem Deck, in allen dunklen Winkeln, eingehüllt in farbige Tücher, in schmutzige Lumpen gewickelt, den Kopf auf kleine Bündel, das Gesicht auf den eingebogenen Vorderarm gedrückt: die Männer, Frauen, Kinder; die Alten mit den Jungen, die Altersschwachen mit den Rüstigen – sie alle gleich vor dem Schlaf, dem Bruder des Todes.

Ein Luftzug, von dem eilenden Schiff zurückgefächelt, wehte beständig durch die Dunkelheit zwischen dem hohen Schanzkleid, fuhr über die Reihen der hingestreckten Leiber; ein paar trüb brennende Kugellampen waren hie und da an den Stützen kurz aufgehängt, und in den undeutlichen Lichtkreisen, die herniederfielen und in der stetigen Bewegung des Schiffes mitzitterten, tauchten ein aufwärts gerichtetes Kinn auf, zwei geschlossene Augenlider, eine dunkle Hand mit Silberringen, ein magerer Arm, in zerrissenes Zeug gehüllt, ein zurückgebogener Kopf, ein nackter Fuß, eine bloße Kehle, die sich hinstreckte, als böte sie sich dem Messer dar. Die Wohlhabenderen hatten ihre Familien mit einem Gehege von schweren Kisten und staubigen Matten umgeben; die Armen lagen Seite an Seite und hatten alles, was sie auf Erden besaßen, in ein Bündel unter ihrem Kopf zusammengeschnürt; die einsamen alten Männer schliefen mit hochgezogenen Beinen auf ihren Gebetteppichen, die Hände auf den Ohren und die Ellbogen zu beiden Seiten des Gesichts, ein Vater schlummerte in verkrümmter Haltung neben einem Knaben mit zerzaustem Haar, der auf dem Rücken lag und einen Arm gebieterisch ausgestreckt hielt; eine Frau, von Kopf bis Fuß in ein weißes Laken gehüllt wie ein Leichnam, hatte ein nacktes Kind auf jedem Arm; hinter der Habe des Arabers, die wie ein aufgeworfener Erdhügel hochgetürmt dastand, mit einer Schiffslaterne obenauf, wurden allerhand undeutliche Umrisse sichtbar: Reflexe von bauchigen Messingkannen, die Fußbank eines Deckstuhls, Speerblätter, die gerade Scheide eines alten Schwerts gegen einen Haufen Kissen gelehnt, die Schnauze einer zinnernen Kaffeekanne. Das Log achtern gab jedesmal ein Klingelzeichen, wenn das Schiff eine Meile auf seiner Pilgerfahrt zurückgelegt hatte, über den schlafenden Haufen hin schwebte von Zeit zu Zeit ein schwacher, geduldiger Seufzer, das Aufatmen aus einem angstvollen Traum; und aus dem untern Schiffsraum drangen ab und zu harte, klirrende Töne, das schrille Scharren einer Schaufel, das heftige Zuschlagen einer Feuertür, als hätten die Menschen, die da unten mit den geheimnisvollen Dingen umgingen, das Herz voll finsterer Wut gehabt, und derweil glitt das schlanke, hohe Schiff ruhig voran, zerteilte das Wasser ohne das leiseste Schwanken seiner Masten, unter dem makellos klaren Himmel.

Jim ging auf und ab, und in der weiten Stille hallten ihm seine Schritte aufdringlich ins Ohr; sein Blick, der bis an die Grenzlinie des Horizonts schweifte, schien vorwitzig ins Unergründliche dringen zu wollen, sah aber den Schatten des kommenden Ereignisses nicht. – Der einzige Schatten auf dem Meere war der des schwarzen Rauchs, dessen endloses Banner aus dem Schornstein des Dampfers flatterte und sich beständig in der Luft auflöste. Zwei Malaien bedienten ohne Laut und fast ohne eine Bewegung das Ruder, jeder an einer Seite des Rades, dessen Messingrand in dem Lichtschein aus dem Kompaßhaus aufblitzte. Hin und wieder tauchte im Hellen eine Hand mit schwarzen Fingern auf, die die kreisenden Speichen faßte und wieder losließ; die Glieder der Steuerkette knirschten schwer in den Hohlkehlen der Trommel. Jim sah nach dem Kompaß, sah in die grenzenlose Weite und streckte und rekelte sich in einem Gefühl äußersten Wohlbehagens, bis seine Gelenke knackten; angesichts des unerschütterlichen Friedens fühlte er eine Verwegenheit, als kümmerte ihn nichts, was ihm bis ans Ende seiner Tage zustoßen konnte. Von Zeit zu Zeit warf er einen müßigen Blick auf eine Karte, die mit vier Reißnägeln auf einem niederen, dreibeinigen Tisch hinter dem Verschlag des Steuergeräts befestigt war. Der Bogen Papier, der die Meerestiefen angab, lag im Schein einer Blendlaterne, die an einer Seitenstütze angebunden war, gleich glatt und eben da wie die schimmernde Wasserfläche. Parallellineale mit einem Teilzirkel lagen darauf; die Position des Schiffs am Mittag des vorigen Tages war mit einem kleinen schwarzen Kreuz bezeichnet, und die bis Perim gezogene gerade Bleistiftlinie deutete den Kurs des Schiffs an – den Pfad der Seelen nach dem heiligen Ort, dem Versprechen des Heils, dem Lohn des ewigen Lebens –, während der Bleistift, rund und regungslos wie eine Schiffsspiere, die in einem stillen Hafenbecken treibt, mit seiner Spitze die Somaliküste berührte. Wie gleichmäßig es fährt, dachte Jim staunend, mit etwas wie Dankbarkeit für diesen großen Frieden von Himmel und Meer. Zu solchen Zeiten waren seine Gedanken ganz bei herzhaften Taten: er liebte diese Träume und das Gelingen seiner eingebildeten Handlungen. Sie waren das Beste vom Leben, seine geheime Wahrheit, seine verborgene Wirklichkeit. Sie waren ungeheuer mannhaft, hatten den Reiz des Ungewissen und zogen mit heroischem Glanz an ihm vorüber; sie nahmen seine Seele mit sich fort und berauschten sie mit dem Trank schrankenlosen Selbstvertrauens. Es gab nichts, dem er nicht Trotz geboten hätte. Er lächelte wohlgefällig bei diesem Gedanken, indem er den Blick achtlos voraus gerichtet hielt; und wenn er zufällig zurückblickte, sah er den weißen Strich des Kielwassers, den der Kiel auf dem Wasser ebenso geradlinig zog, wie ihn der Bleistift auf der Karte gezogen hatte.

Die Ascheneimer rasselten in den Heizraumventilatoren auf und nieder, und dies Geklapper mahnte ihn, daß seine Wache zu Ende ging. Er seufzte vor Befriedigung, in die sich das Bedauern mischte, sich von dieser vollkommenen Klarheit trennen zu müssen, die den abenteuerlichen Flug seiner Gedanken begünstigt hatte. Gleichzeitig war er ein wenig schläfrig und fühlte eine wohlige Mattigkeit in den Gliedern, als hätte sich alles Blut in seinen Adern in lauwarme Milch verwandelt. Sein Kapitän war im Pyjama und seiner weitoffenen Schlafjacke geräuschlos heraufgekommen. Hochrot im Gesicht und noch ganz schlaftrunken, das linke Auge eingekniffen, das rechte blöd und glasig starrend, beugte er seinen großen Kopf über die Karte und kratzte schläfrig seine Rippen. Es war etwas Obszönes in dem Anblick seines nackten Fleisches. Seine bloße Brust glänzte weich und ölig, als hätte er im Schlaf sein ganzes Fett ausgeschwitzt. Er machte eine berufliche Bemerkung, mit harter, tonloser Stimme, die klang, wie wenn eine Säge durch Holz fährt; die Falte seines Doppelkinnes hing wie ein aufgebundener Sack unter seiner Kinnlade. Jim fuhr in die Höhe, und seine Antwort war voll Ehrerbietung; aber die widerlich fleischige Gestalt—als hätte er sie in diesem überwachen Augenblick zum erstenmal gesehen – prägte sich seiner Erinnerung als der Inbegriff alles Gemeinen und Niedrigen ein, das in der Welt lauert, die wir lieben: in unseren eigenen Herzen, auf die wir unser Heil bauen, in den Menschen unserer Umgebung, in allem, was unser Auge sieht, unser Ohr hört, und in der Luft, die unsere Lungen atmen.

Das dünne goldene Stückchen Mond war sacht hinabgeglitten und hatte sich auf der verdunkelten Oberfläche des Wassers verloren; und als wäre die Unendlichkeit jenseits des Himmels der Erde näher gekommen, bedeckte die halb durchsichtige Kuppel mit dem erhöhten Glanz ihrer Sterne und dem tieferen Glanz ihres Dunkels die undurchsichtige, flache Scheibe des Meeres. Das Schiff glitt so ebenmäßig dahin, daß seine Vorwärtsbewegung den Sinnen kaum wahrnehmbar war; wie ein im dunklen Ätherraum hinter dem Schwärm der Sonnen dahinschwebender Planet, der in der entsetzlichen Einsamkeit auf den Hauch künftiger Schöpfungen wartet.

»Heiß ist kein Wort für da unten«, sagte eine Stimme.

Jim lächelte, ohne sich umzublicken. Der Kapitän bot seine breite Rückseite bewegungslos dar: es war der Trick dieses Überläufers, daß er einen geflissentlich übersah, bis es ihm genehm war, sich einem mit durchdringendem Blick zuzuwenden und dann erst einen Strom geifernder Schmähreden loszulassen, die wie ein Guß aus einem Abzugskanal hervorbrachen. Diesmal gab er nur ein übellauniges Grunzen von sich. Der Zweite Maschinist, der oben auf der Brückentreppe stand und mit feuchten Händen einen schmutzigen Schweißlappen knetete, setzte, nicht im mindesten aus der Fassung gebracht, seine Klagen fort. Die Matrosen hatten ein schönes Leben hier oben, und der Teufel sollte ihn holen, wenn er einsehen könnte, wozu sie eigentlich nutz wären. Die armen Teufel von Maschinisten müßten dafür sorgen, daß das Schiff weiterkäme, und sie könnten alles übrige auch noch tun, wenn's drauf ankäme, weiß der Teufel – – »Maul halten!« knurrte der Deutsche patzig. – »Jawohl! Maul halten! Und wenn irgendwas nicht klappt, dann fallen sie über uns her, nicht wahr?« fuhr der andere fort. Er sei mehr als nur halb gesotten, könne er sagen; es sei ihm jetzt ganz egal, wieviel er sündige, denn in diesen letzten drei Tagen habe er einen feinen Vorbereitungskurs für den Ort durchgemacht, wo die Bösen hinkommen, wenn sie abdampfen – zum Teufel, ja –, überdies sei er von dem verdammten Eimergerassel da unten beinahe taub geworden. Die verfluchte, elende alte Dampfmaschine poltere und klappere da unten wie eine alte rostige Deckwinde, nur noch weit schlimmer; und warum er jeden Tag und jede Nacht, die Gott werden ließ, in dem Rumpelkasten, der sich mit siebenundfünfzig Umdrehungen hinschleppe, sein Leben riskiere, könne er nicht sagen. Er müsse wohl tollkühn geboren sein. Teufel, ja, er... »Wer gab dir zu trinken?« forschte der Deutsche, sehr wütend, blieb aber reglos stehen, wie ein aus einem Fettklumpen geschnitztes Standbild. Jim lächelte immer noch dem zurückweichenden Horizont zu; sein Herz war voll großmütiger Regungen, und er bedachte die eigene Überlegenheit. »Zu trinken!« wiederholte der Maschinist mit freundlichem Hohn: er hielt sich mit beiden Händen an der Reling, eine schattengleiche Gestalt mit kautschukartigen Beinen. »Sie nicht, Kapitän. Sie sind viel zu knauserig, weiß der Teufel. Sie würden einen armen Mann lieber krepieren lassen, als daß Sie ihm einen Tropfen Schnaps gäben. Das ist's, was ihr Deutschen Sparsamkeit nennt. Um Pfennige knausert ihr, und einen Taler werft ihr weg.« Er wurde sentimental. Der Obermaschinist habe ihm um zehn Uhr einen Schluck Ale gegeben – »nicht mehr, bei Gott!« –, die gute alte Haut; aber den alten Heuchler aus seinem Bettkasten herauszukriegen, das bringe kein Fünf-Tonnen-Kran zuwege. Wahrhaftig nicht. Heut nacht einmal nicht. Er schlafe sanft wie ein kleines Kind mit einer Flasche prima Branntwein unter seinem Kopfkissen. Aus der dicken Kehle des Befehlshabers der Patna ließ sich ein dumpfes Rollen vernehmen, in dessen Abstufungen von hoch zu tief das Wort »Schwein« tanzte, wie eine Feder in einem launischen Luftzug. Er und der Obermaschinist waren durch lange Jahre Gefährten gewesen, in Diensten des gleichen jovialen, pfiffigen alten Chinesen, der eine Hornbrille trug und in seinen ehrwürdigen grauen Zopf rote Seidensträhnen eingeflochten hatte. Es war kein Geheimnis in dem Heimathafen der Patna, daß diese beiden, was das »In-die-eigene-Tasche-Wirtschaften« angeht, einfach vor nichts zurückgeschreckt waren. Äußerlich waren sie sich sehr unähnlich: der eine glotzäugig, mißgünstig, mit weichen, fleischigen Linien; der andere hager, überall hohl, mit einem langen, knochigen Gesicht, wie ein alter Pferdekopf, mit eingefallenen Backen, eingefallenen Schläfen und leerem, glasigem Blick der eingefallenen Augen. Er war da irgendwo im Osten gestrandet – in Kanton, Schanghai oder, kann sein, in Yokohama; wahrscheinlich lag ihm nichts daran, sich an die genaue Örtlichkeit oder an die Ursache seines Schiffbruchs zu erinnern. Er war vor etlichen zwanzig Jahren, aus Rücksicht auf seine Jugend, ohne viel Aufsehen aus seinem Schiff hinausgeworfen worden, und es muß schlimm um ihn bestellt gewesen sein, da sich diese Episode in seinem Gedächtnis kaum als ein Unglück darstellte. Da es gerade die Zeit war, wo in jenen Meeren die Dampfschiffahrt zunahm und Männer seines Kalibers zunächst selten waren, so hatte er gewissermaßen »Glück gehabt«. Er war stets bereit, Fremde mit düsterem Gebrumme wissen zu lassen, daß er »hier draußen ein alter Praktikus« sei. Wenn er sich bewegte, so meinte man, ein Skelett schwanke in Kleidern einher. Sein Gang war unstet, und er pflegte mit der albernen Wichtigkeit eines Denkers, der aus einem armseligen Gedankenfetzchen ein philosophisches System entwickelt, um das Oberlicht des Maschinenraums herumzuwandern und dabei aus einem messingnen Pfeifenkopf, der am Ende eines vier Fuß langen Stiels aus Kirschholz steckte, opiumgetränkten Tabak zu rauchen. Er war für gewöhnlich alles eher als freigebig mit seinem Privatvorrat an Getränken; aber an diesem Abend war er seinen Grundsätzen untreu geworden, so daß sein Gehilfe, ein geistesschwaches Kind des Ostends von London, durch die unerwartete Behandlung sowohl wie durch die Stärke des Stoffs sehr glücklich, herausfordernd und redselig geworden war. Die Wut des Deutschen aus Neusüdwales war ungeheuer; er schnaufte wie ein Dampfablaßrohr, und Jim, den diese Szene nur wenig belustigte, war ungeduldig, hinunterzukommen: die letzten zehn Minuten der Wache waren aufreizend wie eine Flinte, die nicht losgeht; diese Männer gehörten nicht zu der Welt heroischer Abenteuer; sie waren zwar nicht allzu schlimm. Selbst der Kapitän ... Ein Ekel überkam ihn vor diesem keuchenden Fleischkoloß, aus dem sich ein gurgelndes Gepolter, ein Sturzbach unflätiger Ausdrücke ergoß; doch war er zu angenehm müde, um dies oder sonst etwas ausdrücklich abzulehnen. Es tat gar nichts zur Sache, wie diese Männer wirklich waren; er hielt Kameradschaft mit ihnen, doch sie kamen ihm nicht nahe, er atmete die gleiche Luft mit ihnen, doch er war anders... Würde der Kapitän den Maschinisten anpacken?... Das Leben war leicht, und er war seiner selbst viel zu sicher – viel zu sicher, um... Die Linie, die seine Gedanken noch von einem verstohlenen Einschlafen im Stehen trennte, war dünner als der Faden eines Spinngewebes.

Der Zweite Maschinist kam nun in leichten Übergängen zu der Betrachtung seiner Finanzen und seines Mutes.

»Wer ist betrunken? Ich? O nein, nein, Kapitän! Wo denken Sie hin? Das könnten Sie doch schon wissen, daß der Erste nicht soviel hergibt, um einen Spatzen betrunken zu machen, zum Teufel ja. Mir hat das Trinken in meinem ganzen Leben noch nichts geschadet. Das Zeug ist noch nicht gebraut, das mich betrunken machen könnte. Ich könnte flüssiges Feuer trinken anstatt eures Whisky, kübelweise, und kühl bleiben wie eine Gurke. Wenn ich mich für betrunken halten müßte, dann würde ich über Bord springen – wie ich dastehe, beim Teufel ja. Wahrhaftig! Schnurstracks! Und ich gehe nicht weg von der Brücke. Wo soll ich denn Luft schnappen, in einer Nacht wie dieser, was? Auf Deck, unter all dem Geschmeiß da unten? Jawohl – da können Sie lange warten! Und ich fürchte mich nicht die Bohne vor Ihnen.«

Der Deutsche hob zwei schwere Fäuste zum Himmel und schüttelte sie ein wenig, ohne ein Wort.

»Ich weiß nicht, was Furcht ist«, fuhr der andere mit der Inbrunst wahrer Überzeugung fort. »Ich fürchte mich nicht davor, all die verdammte Arbeit in diesem morschen Kasten zu tun, weiß der Teufel! Und Sie können sich freuen, daß da in der Welt ein paar von uns herumlaufen, denen nicht bange um ihr Leben ist, was sollten Sie sonst anfangen – Sie und dies alte Ding mit seinen Platten wie Packpapier – wie Packpapier, hol' mich der Teufel? Sie können lachen – Sie kommen auf Ihre Kosten, so oder so. Aber ich, was bekomme ich? Schäbige hundertfünfzig Dollar im Monat, und Prost die Mahlzeit. Ich möchte Sie respektvoll fragen – wohlverstanden, respektvoll: wer möchte sich so ein verfluchtes Stück Arbeit nicht vom Halse schaffen? 's ist nicht geheuer, sag' ich Ihnen, nicht geheuer! Aber ich bin einer von den furchtlosen Kerlen...«

Er ließ die Reling los und fuchtelte mit weitausgreifenden Gesten in der Luft herum, als ob er damit die Form und Ausdehnung seiner Tapferkeit veranschaulichen wollte; seine dünne Stimme überschlug sich in langgezogenen Quietschtönen, er wiegte sich auf den Zehen vor- und rückwärts, um seiner Rede mehr Nachdruck zu verleihen, und plötzlich schlug er mit dem Kopfe voran der Länge nach hin, als ob ihn jemand von hinten mit einer Keule niedergeschlagen hätte. Er sagte »Verflucht!« während er umfiel. Ein Moment des Schweigens folgte seinem Geschrei. Jim und der Kapitän schwankten beide zugleich nach vorn und standen dann, sich aufraffend, sehr steif und ruhig da, den erstaunten Blick auf die unbewegte Fläche des Wassers gerichtet. Dann sahen sie zu den Sternen empor.

Was war geschehen? Das schnaubende Stampfen der Maschine dauerte fort. War die Erde in ihrem Lauf gehemmt worden? Sie konnten nicht begreifen; und plötzlich erschienen das ruhige Meer, der wolkenlose Himmel fürchterlich unsicher in ihrer Unbeweglichkeit, hinter der das Grauen der Zerstörung lag. Der Maschinist schnellte senkrecht zu voller Länge empor und sank wieder in ein kümmerliches Häuflein zusammen. Dieses Häuflein sagte: »Was ist das?« in den erstickten Lauten tiefer Bekümmernis. Ein schwaches Geräusch wie von unendlich fernem Donner, weniger als ein Ton, kaum mehr als ein Zittern, zog langsam vorbei, und das Schiff erbebte als Antwort, als wäre das Donnergrollen tief unter Wasser erklungen. Die Augen der beiden Malaien am Rade glänzten zu den Weißen auf, aber ihre dunklen Hände blieben um die Speichen geschlossen. Der rasch dahingleitende Schiffskörper schien sich der Länge nach um ein paar Zoll über das Wasser zu erheben, als wäre er biegsam geworden, und machte sich dann wieder an seine Arbeit, die glatte Wasserfläche zu spalten. Sein Beben hörte auf, und der schwache Donner verstummte plötzlich, als wäre das Schiff über einen schmalen Streifen vibrierenden Wassers und schwingender Luft gefahren.

Viertes Kapitel

Als Jim etwa einen Monat später, da man ihm mit spitzen Fragen hart auf den Leib rückte, sich bemühte, über diese Begebenheit die strikte Wahrheit zu berichten, sagte er von dem Schiff: »Was das Ding auch gewesen sein mag – die Patna fuhr so leicht darüber weg, wie eine Schlange über einen Stock kriecht.« Die Erklärung war gut. Die Fragen zielten auf bestimmte Tatsachen, und die amtliche Untersuchung wurde auf dem Polizeibüro eines morgenländischen Hafens abgehalten. Jim stand hoch aufgerichtet, mit brennenden Backen, in der Zeugenbank, in einem kühlen, hohen Raum. Die großen Fächer der Punkahs bewegten sich sachte hoch über seinem Kopf, und von unten waren viele Augen aus dunklen, aus weißen, aus roten Gesichtern mit gespannter Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet, als hätte alle diese Leute, die auf engen Bänken in geordneten Reihen da saßen, der Klang seiner Stimme im Bann gehalten. Diese Stimme war sehr laut und gellte hart in seinen eigenen Ohren, er hörte nichts anderes als sie allein, denn die furchtbar eindringlichen Fragen, die ihm Antworten erpreßten, schienen sich unter Angst und Qualen in seiner eigenen Brust zu bilden – bohrten sich scharf in ihn hinein wie die Fragen des eigenen Gewissens. Draußen der glühende Sonnenbrand – drinnen der Wind der großen Punkahs, der einem ein Frösteln über den Leib jagte, die brennende Scham, die Blicke, die einen durchbohrten. Das kalte, glattrasierte Gesicht des Vorsitzenden erschien totenbleich zwischen den roten Gesichtern der beiden nautischen Beisitzer. Aus einem breiten Fenster unter der Decke fiel das Licht auf die Köpfe und Schultern der drei Männer, hob sie mit beklemmender Deutlichkeit aus dem Helldunkel des Gerichtssaals hervor, dessen Auditorium aus gaffenden Schatten zu bestehen schien. Sie wollten den Tatbestand wissen. Den Tatbestand! Sie fragten ihn nach dem Tatbestand, als hätte der irgend etwas erklären können.

»Nachdem Sie nun zu dem Schluß gekommen waren, daß Sie mit etwas unter Wasser, sagen wir mit einem auf seiner Ladung treibenden Wrack zusammengestoßen waren, erhielten Sie von Ihrem Kapitän den Befehl, nach vorne zu gehen und sich zu vergewissern, ob das Schiff einen Schaden erlitten habe. Hielten Sie dies nach der Stärke des Stoßes für wahrscheinlich?« fragte der Beisitzer zur Linken. Er hatte einen dünnen, hufeisenförmigen Bart, vorstehende Backenknochen; die Ellenbogen aufgestützt, die wetterharten Hände vors Gesicht gedrückt, blickte er Jim aus nachdenklichen blauen Augen an; der andere, ein massiger, verächtlich dreinschauender Mann, saß, den linken Arm lang ausgestreckt, in seinem Stuhl zurückgelehnt und trommelte sacht mit den Fingerspitzen auf einer Schreibunterlage; in der Mitte hielt der Vorsitzende, aufrecht in seinem breiten Lehnstuhl und mit seitwärts geneigtem Kopf, die Arme über der Brust gekreuzt. Neben seinem Tintenfaß stand eine gläserne Vase mit ein paar Blumen.

»Nein«, sagte Jim. »Mir war befohlen, niemand zu rufen und keinen Lärm zu machen, damit keine Panik entstünde. Ich fand diese Vorsicht richtig. Ich nahm eine der Lampen, die unter dem Sonnensegel hingen, und ging nach vorn, Als ich die Vorderstevenluke öffnete, hörte ich da drin ein Plätschern. Ich ließ die Lampe an ihrem Bändsel ganz hinunter und sah, daß der Vordersteven schon mehr als zur Hälfte voll Wasser war. Nun war mir klar, daß unter der Wasserlinie ein großes Leck sein mußte.« Er hielt inne.

»Ja«, sagte der dicke Beisitzer, mit einem träumerischen Lächeln gegen die Schreibunterlage; seine Finger spielten unaufhörlich lautlos auf dem Papier.

»Ich dachte dabei noch nicht an Gefahr. Ich war wohl ein wenig erschrocken; es war alles so ruhig und so sehr plötzlich geschehen. Ich wußte, daß kein anderes Schott in dem Schiff war außer dem Kollisionsschott, das den Vordersteven vom Vorderraum trennte. Ich ging zurück, um dem Kapitän Meldung zu machen. Ich stieß auf den Zweiten Maschinisten, der sich am Fuß der Brückentreppe aufrichtete: er schien verstört und sagte, er glaube, sein linker Arm sei gebrochen; er war, während ich vorn war, beim Heruntersteigen auf der obersten Stufe ausgerutscht. Er rief aus: ›Mein Gott! das elende Schott wird im nächsten Augenblick nachgeben, und dann sinkt das alte Ding unter uns wie ein Klumpen Blei.‹ Er stieß mich mit seinem rechten Arm weg und kletterte vor mir schreiend die Leiter hinauf; sein linker Arm hing an der Seite herunter. Ich kam rechtzeitig hinauf, um zu sehen, wie sich der Kapitän auf ihn stürzte und ihn flach auf den Rücken warf. Er schlug ihn nicht zum zweitenmal: er stand über ihn gebeugt und sprach zornig, aber ganz leise. Wahrscheinlich fragte er ihn, warum zum Teufel er nicht die Maschine abstellte, anstatt auf Deck ein solches Geschrei zu machen. Ich hörte, wie er sagte: ›Stehn Sie auf! Laufen Sie, fliegen Sie!‹ Er fluchte auch. Der Maschinist glitt die Steuerbordleiter hinunter und rannte um das Oberlicht herum zum Maschinenraum-Niedergang, der sich an Backbord befand. Er stöhnte laut, während er lief...«,

Er sprach langsam; er erinnerte sich mühelos und außerordentlich genau; er hätte zur besseren Belehrung dieser Männer, die Tatsachen wissen wollten, das Stöhnen des Maschinisten nachmachen können. Nach seinem ersten Gefühl der Auflehnung war er zu der Ansicht gekommen, daß nur eine peinlich genaue Darlegung des Tatbestandes das Grauenvolle, das sich hinter der furchtbaren Außenseite der Dinge barg, an den Tag bringen konnte. Die Tatsachen, auf die diese Männer so erpicht schienen, waren sichtbar, fühlbar, den Sinnen wahrnehmbar gewesen, hatten ihren Platz in Zeit und Raum innegehabt, zu ihrer Verwirklichung einen Vierzehnhundert-Tonnen-Dampfer und siebenundzwanzig Minuten nach der Uhr gebraucht; sie bildeten ein Ganzes, das ein Gesicht hatte, ein Gesicht mit sorgfältig wechselndem Ausdruck, das man sich vor Augen rufen konnte, mit noch etwas, einem Unsichtbaren, das darin hauste, wie eine schwarze Seele in einem wüsten Leib. Er war eifrig bemüht, dies klarzustellen. Dies war kein gewöhnliches Vorkommnis, alles darin war von äußerster Wichtigkeit, und glücklicherweise erinnerte er sich an alles. Er hatte das Bedürfnis, weiterzureden, um der Wahrheit willen, vielleicht auch um seiner selbst willen; und während er sich bedachtsam äußerte, schossen seine Gedanken hartnäckig rundherum in dem geschlossenen Zirkel von Tatsachen, die sich um ihn aufgerichtet hatten und ihn von allen übrigen seiner Gattung abschnitten; er war wie einer, der hinter einem hohen Eisengitter gefangen sitzt und in der Nacht verzweifelt hin und her rennt, einen schwachen Punkt, eine Lücke zu entdecken sucht, ein Fleckchen, wo er hinüberklettern, eine Öffnung, durch die er sich durchzwängen und entrinnen könnte. Diese fürchterliche innere Spannung ließ ihn manchmal in seiner Rede zaudern...

»Der Kapitän ging immer noch auf der Brücke hin und her; er schien ziemlich ruhig, nur stolperte er mehrmals, und einmal, als ich zu ihm sprach, rannte er gegen mich an, als wäre er stockblind gewesen. Er gab keine bestimmte Antwort auf das, was ich ihm sagte. Er murmelte in sich hinein; alles, was ich davon vernahm, waren ein paar Worte, die so klangen wie ›verfluchter Dampf!‹ und ›höllischer Dampf!‹ – irgend etwas von Dampf. Ich glaubte...«,

Er fing an, Belangloses zu sagen. Eine Frage zur Sache schnitt seine Rede ab wie ein plötzlicher körperlicher Schmerz, und es überkam ihn eine hoffnungslose Verzagtheit. Er wollte noch dies und jenes erwähnen – doch nun, mitten im Zug aufgehalten, mußte er mit Ja und Nein antworten. Er antwortete wahrheitsgemäß mit einem kurzen »Ja, das tat ich«,. Und wie er so dastand, hoch aufgerichtet, mit seiner kräftigen Gestalt, den gefälligen Gesichtszügen und den jungen, finster blickenden Augen, wand sich seine Seele in ihm vor Pein. Er hatte noch eine andere Frage zur Sache, die ebenso gleichgültig war, zu beantworten, dann wartete er wieder. Seine Zunge war ausgedorrt, als ob er Staub gegessen hätte, hernach hatte er einen salzigen, bitteren Geschmack im Munde wie nach einem Trunk Seewasser. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen und fühlte einen Schauer den Rücken hinunterlaufen. Der dicke Beisitzer hatte die Augen geschlossen und trommelte lautlos weiter, unablässig und mit düsterer Miene; die Augen des andern schienen über den sonnverbrannten, geschlossenen Händen vor Wohlwollen zu leuchten; der Richter hatte sich vorgebeugt und sein blasses Gesicht den Blumen genähert; dann neigte er sich seitlich gegen die Armlehne seines Stuhls und stützte die Schläfe in die Handfläche. Der Wind von den Fächern wehte um die Köpfe, um die dunklen, von weiten Schals umwundenen der Eingeborenen, um die der dicht nebeneinander sitzenden, mit enganliegenden Drellanzügen bekleideten, sehr erhitzten Europäer, die ihre Korkhelme auf den Knien hielten; während die eingeborenen Polizeidiener in langen weißen, bis oben zugeknöpften Kitteln an der Mauer entlang glitten, barfuß, mit roten Schärpen, den roten Turban auf dem Kopf, hurtig hin und her flitzten, geräuschlos wie Geister und immer auf dem Sprung wie Apportierhunde.

Jims Augen, die in den Pausen zwischen seinen Antworten umherirrten, blieben an einem Weißen haften, der von den andern abseits saß; er sah düster und verhärmt aus, doch seine Augen blickten ruhig, klar und voll Anteilnahme geradeaus. Jim beantwortete eine andere Frage und konnte sich kaum enthalten auszurufen: »Was soll das alles, um Gottes willen!« Er stampfte leicht mit dem Fuß auf, nagte an der Lippe und sah über die Köpfe weg. Er begegnete den Augen des Weißen. Der Blick, der sich auf ihn richtete, war verschieden von dem gierigen Anstarren der andern. Eine verständnisvolle Anteilnahme sprach daraus. Zwischen zwei Fragen vergaß sich Jim so weit, einem Gedanken Raum zu geben. Dieser Mensch – so fuhr es ihm durch den Sinn – sieht mich an, als ob er jemand oder etwas über meine Schulter weg entdeckte. Er war diesem Menschen schon begegnet – vielleicht auf der Straße. Er wußte bestimmt, daß er nie mit ihm gesprochen hatte. Seit Tagen, seit vielen Tagen hatte er mit niemand gesprochen, sondern hatte, wie ein Gefangener in seiner Zelle oder ein in der Wildnis verlorener Wanderer, endlose, stumme, unzusammenhängende Selbstgespräche geführt. Nunmehr beantwortete er Fragen, auf die es nicht ankam, obwohl sie einen Zweck hatten; doch er zweifelte, ob er jemals wieder in seinem Leben freiheraus sprechen würde. Der Ton seiner eigenen, der Wahrheit entsprechenden Aussagen bestätigte ihm seine Erkenntnis, daß Reden fürderhin keinen Wert für ihn habe. Jener Mann dort schien seine hoffnungslose Lage zu begreifen. Jim richtete seinen Blick auf ihn und wandte sich dann, wie nach einem Abschied, entschlossen weg.

Und späterhin, in entfernten Ländern, zeigte sich Marlow oft geneigt, sich Jims zu erinnern, ausführlich, mit allen Einzelheiten und vernehmlich.

O ja! Ich wohnte der Untersuchung bei, pflegte er zu sagen, und bis auf den heutigen Tag habe ich nicht aufgehört mich zu wundern, warum ich hinging. Ich bin geneigt zu glauben, daß jeder von uns einen Schutzengel hat, wenn ihr mir zugeben wollt, daß jeder desgleichen einen Teufel hat. Ich brauche eure Zustimmung, weil ich mich nicht als Ausnahme betrachten mag und weil ich weiß, daß ich ihn habe – den Teufel nämlich. Ich habe ihn allerdings nicht gesehen, doch habe ich schlüssige Beweise für sein Dasein. Er ist ganz fraglos da, und da er boshaft ist, verlockt er mich zu solchen Sachen. Zu was für Sachen, fragt ihr? Nun, eben zu so was wie diese Untersuchung, wie diese Geschichte mit dem gelben Hund... Oder würdet ihr es für möglich halten, daß ein räudiger Eingeborenenköter imstande sein sollte, Leute in der Veranda eines Gerichtsgebäudes aneinanderzubringen? Na, also – auf allerlei krummen, unerwarteten, wahrhaft diabolischen Wegen weiß er es zu deichseln, daß ich gegen gewisse Subjekte anrenne, die eine weiche, oder eine harte, oder auch eine faule Stelle haben, beim Henker! löst ihnen die Zunge bei meinem Anblick, daß sie sich mir anvertrauen, als ob ich mir nicht selber genug anzuvertrauen hätte, als wüßte ich nicht – Gott helfe mir! – über mich selbst Dinge genug, daß ich bis ans Ende meiner Tage genug haben könnte. Und was habe ich bloß getan, möchte ich gerne wissen, daß man mich so auszeichnet? Ich erkläre, daß ich so voll von meinen eigenen Angelegenheiten bin wie irgendwer und daß mein Gedächtnis nicht schlechter ist als das jedes Durchschnittspilgers in diesem Jammertal – und demnach eigne ich mich nicht besonders dazu, Beichtgeheimnisse zu empfangen. Warum also? Ich kann's nicht sagen, es sei denn, um die Zeit nach Tisch vertreiben zu können. Charley, mein Lieber, dein Diner war glänzend, und die Folge davon ist, daß diese Männer einen stillen Robber für eine anstrengende Sache halten. Sie rekeln sich in deinen guten Stühlen und denken bei sich selbst: ›Zum Teufel mit allen Anstrengungen. Lassen wir diesen Marlow reden!‹

Reden! Gut denn. Es spricht sich leicht genug von Junker Jim, nach einer ausgesuchten Mahlzeit, zweihundert Fuß überm Meer, mit einer Kiste annehmbarer Zigarren zur Seite, an einem himmlisch kühlen, sternklaren Abend wie diesem, der auch die Besten unter uns vergessen machen kann, daß wir nur zum Leiden da sind und uns im Dunkel durch dieses Jammertal tasten müssen, immer auf der Hut, daß uns keine kostbare Minute entgehe und wir keinen Fehltritt tun, damit wir uns so einigermaßen anständig durchstümpern – mit verdammt wenig Aussicht auf Hilfe von den Nachbarn zur Rechten und zur Linken. Allerdings gibt es überall Menschen, für die das ganze Leben nur so eine behagliche Verdauungsstunde mit einer Zigarre ist; leicht, angenehm, leer, vielleicht noch von einer spannenden Erzählung belebt, die man vergißt, bevor das Ende erzählt ist – bevor das Ende erzählt ist, wenn sie zufällig überhaupt ein Ende haben sollte.

Meine Augen begegneten den seinen zum erstenmal während dieser Untersuchung. Ihr müßt wissen, daß jeder, der irgend mit der See zu tun hatte, da war, denn die Geschichte war seit Tagen bekannt, seit das geheimnisvolle Kabeltelegramm aus Aden eingetroffen war, das unser aller Zungen in Bewegung gesetzt hatte. Ich sage geheimnisvoll, denn das war es in einem gewissen Sinne, obgleich es eine nackte Tatsache enthielt, so nackt und widerwärtig, wie eine Tatsache nur sein kann. An der ganzen Küste sprach man von nichts anderm. Das erste, was ich am Morgen durch das Schott hörte, wenn ich mich in meiner Schlafkabine ankleidete, war das Geplapper meines Parsen-Dolmetschers mit dem Steward über die Patna, während er mit besonderer Erlaubnis in der Bottlerei eine Tasse Tee trank. Kaum war ich an Land, so traf ich schon Bekannte, deren erstes Wort war: »Haben Sie jemals etwas Ähnliches gehört?« – und je nachdem lächelten sie dabei zynisch oder sahen traurig aus oder machten sich mit einem Fluch Luft. Völlig Fremde redeten einander vertraulich an, bloß um sich über diese Sache auszusprechen: jeder versoffene Landstreicher in der Stadt wußte ein langes und breites zu erzählen; man hörte im Hafenkontor davon sprechen, bei jedem Schiffsmakler, beim Agenten, von Weißen, von Eingeborenen, von Mischlingen, ja von den Bootsleuten, die halbnackt auf den Steintreppen kauerten, wenn man hinaufstieg – wahrhaftig! Es gab Entrüstung, Späße und endlose Diskussionen darüber, was aus ihnen geworden sein mochte. Dies ging eine Weile so fort, und die Meinung, daß das Geheimnisvolle in der Sache sich zugleich als sehr tragisch erweisen würde, begann vorzuherrschen, als ich eines schönen Morgens, während ich im Schatten neben den Stufen stand, die zum Hafenkontor führten, am Kai vier Männer auf mich zukommen sah. Ich wunderte mich zuerst, wo diese sonderbare Gesellschaft herkommen mochte, und plötzlich schrie ich mir sozusagen zu: »Da sind sie!«,