Lord Jim - Joseph Conrad - E-Book

Lord Jim E-Book

Joseph Conrad

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Beschreibung

Joseph Conrads berühmtester Roman „Lord Jim“: eine mitreißende Abenteuererzählung, ein Klassiker

Jim zieht als Schiffsausrüster umher. Als Erster Offizier auf einem Pilgerschiff beging er einen schrecklichen Fehler, der ihn Ruf und Laufbahn kostete. Nach langen Reisen erreicht er die entlegene Insel Patusan im Indischen Ozean und erwirbt sich das Vertrauen der Einheimischen, die ihn als Friedensstifter hoch verehren. Aus Jim wird Lord Jim. Doch dann tauchen Piraten auf, und sie scheinen zu wissen, wer er wirklich ist. Joseph Conrads berühmtester Roman hat viele Facetten: eine psychologische Charakterstudie über einen, der vom Heldentum träumt und doch moralisch versagt; eine mitreißende Abenteuererzählung; und nicht zuletzt eine erschütternde Parabel auf die Zerstörungswut des Kolonialismus.

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Über das Buch

Joseph Conrads berühmtester Roman »Lord Jim«: eine mitreißende Abenteuererzählung, ein KlassikerJim zieht als Schiffsausrüster umher. Als Erster Offizier auf einem Pilgerschiff beging er einen schrecklichen Fehler, der ihn Ruf und Laufbahn kostete. Nach langen Reisen erreicht er die entlegene Insel Patusan im Indischen Ozean und erwirbt sich das Vertrauen der Einheimischen, die ihn als Friedensstifter hoch verehren. Aus Jim wird Lord Jim. Doch dann tauchen Piraten auf, und sie scheinen zu wissen, wer er wirklich ist. Joseph Conrads berühmtester Roman hat viele Facetten: eine psychologische Charakterstudie über einen, der vom Heldentum träumt und doch moralisch versagt; eine mitreißende Abenteuererzählung; und nicht zuletzt eine erschütternde Parabel auf die Zerstörungswut des Kolonialismus.

Joseph Conrad

Lord Jim

Roman

Aus dem Englischen von Michael Walter

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Daniel Göske

Hanser

»Ganz gewiss gewinnt meine Überzeugung unendlich in dem Moment, da eine andere Seele an sie glauben will.«

Novalis

Für

Mr. und Mrs. G. F. W. Hope

In dankbarer Zuneigung

nach vielen Jahren der Freundschaft

I

Er war vielleicht zwei Zoll kleiner als sechs Fuß, kräftig gebaut und hielt direkt auf einen zu, die Schultern leicht gebuckelt, den Kopf vorgestreckt, der feste Blick von unten emporstarrend wie der eines angreifenden Stiers. Seine Stimme war tief, laut, und sein ganzes Wesen offenbarte eine Art verbissener Selbstbehauptung, die nichts Aggressives hatte. Sie erschien als Notwendigkeit und richtete sich erkennbar ebenso gegen ihn selbst wie gegen jeden anderen. Er war wie aus dem Ei gepellt, in makelloses Weiß gekleidet von den Schuhen bis zur Mütze, und in den Häfen des Fernen Ostens, wo er sein Auskommen als Klarierer für Schiffsausstatter fand, war er überaus beliebt.

Ein Klarierer braucht für nichts unter der Sonne eine Prüfung abzulegen, aber er muss Geschick fürs Allgemeine besitzen und dies im Detail praktisch beweisen. Seine Arbeit besteht darin, unter Segel, Dampf oder Ruder andere Agenten auszustechen beim Wettrennen um jedes ankerbereite Schiff, dessen Kapitän fröhlich zu begrüßen, ihm eine Karte aufzudrängen — die Geschäftskarte des Schiffsausstatters — und ihn bei seinem ersten Landgang bestimmt, doch ohne viel Getue zu einem riesigen, höhlenartigen Laden zu lotsen, der voller Dinge ist, die an Bord eines Schiffes gegessen und getrunken werden, wo man alles bekommt, um das Schiff seetüchtig und schmuck zu machen, vom Satz Kettenhaken für die Ankertrosse bis zum Heftchen mit Blattgold für das Schnitzwerk am Heck, und wo der Kapitän von einem Schiffsausstatter, den er nie zuvor gesehen hat, wie ein Bruder empfangen wird. Dort gibt es einen kühlen Salon, Sessel, Flaschen, Zigarren, Schreibzeug, ein Exemplar der Hafenordnung und die Wärme eines Willkomms, die dem Herzen eines Seemanns das Salz einer dreimonatigen Überfahrt ausschmelzt. Die derart angesponnene Verbindung wird, solange das Schiff im Hafen liegt, durch die täglichen Besuche des Klarierers gepflegt. Dem Kapitän gegenüber ist er treu wie ein Freund und aufmerksam wie ein Sohn, mit der Geduld eines Hiob, der selbstlosen Hingabe einer Frau und der Lustigkeit eines Zechbruders. Später wird die Rechnung zugestellt. Es ist eine schöne und menschenfreundliche Tätigkeit. Deshalb sind gute Klarierer rar. Besitzt ein Agent neben dem Geschick fürs Allgemeine auch den Vorzug, ein ausgebildeter Seemann zu sein, ist er für seinen Dienstherrn eine Stange Geld und einige Konzessionen wert. Jim bekam immer einen guten Lohn und so viele Konzessionen, dass man damit die Treue eines Teufels hätte erkaufen können. Trotzdem gab er mit schwärzestem Undank urplötzlich seine Stellung auf und machte sich aus dem Staub. Seinen Dienstherren leuchteten die von ihm angeführten Gründe offenbar nicht ein: »Verfluchter Narr!«, knurrten sie, sobald er ihnen den Rücken kehrte. So missbilligten sie seine ungemeine Empfindlichkeit.

Für die Weißen, die ihre Geschäfte an der Küste machten, und für die Schiffskapitäne war er ganz einfach Jim — nichts weiter. Er hatte natürlich noch einen Namen, aber er hütete sich, ihn auszusprechen. Sein Inkognito, löchrig wie ein Sieb, sollte keine Person verschleiern, sondern ein Faktum. Durchbrach das Faktum das Inkognito, verließ er von heute auf morgen den Hafenort, wo er sich gerade befand, und zog in einen anderen — meist ostwärts. Er hielt sich an Hafenorte, weil er ein von der See verbannter Seemann war und ein Geschick fürs Allgemeine besaß, das für keine andere Arbeit taugt als die eines Schiffsklarierers. Er trat seinen geordneten Rückzug in Richtung der aufgehenden Sonne an, und das Faktum folgte ihm gemächlich, aber unaufhaltsam. So traf man ihn im Laufe der Jahre nacheinander in Bombay, in Kalkutta, in Rangun, in Penang, in Batavia, und an jedem dieser Rastplätze war er einfach Jim, der Klarierer. Später, als ihn die geschärfte Wahrnehmung des Unerträglichen endgültig aus den Hafenstädten und fort von den Weißen trieb, bis in den tiefen Urwald hinein, da fügten die Malaien des Dschungeldorfes, das er gewählt hatte, um seine beklagenswerte Veranlagung zu verbergen, seinem einsilbigen Inkognito ein Wort hinzu. Sie nannten ihn Tuan Jim: was so viel heißt wie — Lord Jim.

Ursprünglich kam er aus einem Pfarrhaus. Viele Kapitäne prächtiger Handelsschiffe entstammen dieser Heimstatt der Frömmigkeit und des Friedens. Jims Vater gebot über eine so gewisse Kenntnis des Unerkennbaren, wie sie der Rechtschaffenheit derer förderlich ist, die in Hütten hausen, ohne jenen die Seelenruhe zu rauben, denen eine unfehlbare Vorsehung erlaubt, Herrenhäuser zu bewohnen. Die kleine Kirche auf einem Hügel besaß die moosgraue Farbe eines Felsens, den man durch einen zerfransten Laubvorhang erspäht. Sie stand dort seit Jahrhunderten, doch die Bäume ringsum mochten sich der Grundsteinlegung wohl entsinnen. Unterhalb leuchtete inmitten von Rasenflächen, Blumenrabatten und Tannen die Fassade des Pfarrhauses in einem warmen Rotton, dahinter lag ein Obstgarten, linkerseits erstreckten sich ein gepflasterter Stallhof und die geneigten Glasdächer von Gewächshäusern, die an einer Ziegelmauer klebten. Die Pfründe befand sich seit Generationen in Familienbesitz; doch Jim war einer von fünf Söhnen, und als sich nach einer unterhaltsamen Ferienlektüre seine Berufung zur See kundgetan hatte, schickte man ihn unverzüglich auf ein »Schulschiff für Offiziere der Handelsmarine«.

Er lernte dort etwas Trigonometrie und wie man Bramrahen kreuzt. Er erfreute sich allgemeiner Beliebtheit. Er war Drittbester in Navigation und Schlagmann im ersten Kutter. Sein klarer Kopf und seine ausgezeichnete Konstitution machten ihn in der Takelage äußerst gewandt. Sein Posten war im Fockmars, und von dort blickte er, mit der Verachtung eines Mannes, dem es bestimmt war, inmitten von Fährnissen zu glänzen, oft hinunter auf die einträchtige Vielzahl der Dächer, entzweigeschnitten von der braunen Flut des Stroms, während sich verstreut an den Rändern der umliegenden Ebene die Fabrikschlote senkrecht in einen grauen Himmel reckten, jeder bleistiftdünn und rauchspeiend wie ein Vulkan. Er sah die großen Schiffe auslaufen, die breiten, immerfort betriebsamen Fähren, die tief unter ihm schwimmenden Boote und in der Ferne den dunstigen Glanz der See und die Hoffnung auf ein bewegtes Leben in der Welt des Abenteuers.

Auf dem Unterdeck im babylonischen Sprachengewirr von zweihundert Stimmen vergaß er sich und führte in seiner Phantasie im Voraus das in Unterhaltungsromanen geschilderte Leben auf See. Er sah sich Menschen von sinkenden Schiffen retten, in einem Hurrikan Masten kappen, mit einem Tau durch die Brandung schwimmen oder als einsamen Schiffbrüchigen barfuß und halbnackt trockengefallene Riffe nach Schalentieren absuchen, um dem Hungertod zu entgehen. An tropischen Küsten trotzte er Wilden, erstickte Meutereien auf hoher See und sprach den verzweifelnden Männern in einer Nussschale auf dem Ozean Mut zu — ein stetes Muster an Pflichterfüllung und unverzagt wie der Held in einem Buch.

»Da ist was los. Komm.«

Er sprang auf. Die Jungen hasteten die Leitern hoch. Oben hörte man großes Getümmel und Geschrei, und als er aus der Luke stieg, blieb er stehen — wie betäubt.

Es herrschte das Zwielicht eines Wintertags. Die steife Brise hatte seit Mittag aufgefrischt, den Verkehr auf dem Fluss lahmgelegt und toste jetzt mit der Wucht eines Hurrikans, dessen stoßweise Ausbrüche dröhnten wie übers Meer abgefeuerte Salven schwerer Geschütze. Ebbten die schräg peitschenden Regenfluten kurz ab, dann erblickte Jim flüchtig den sich bedrohlich wälzenden Strom, das vor der Küste umhergeschleuderte, durchgerüttelte kleine Schiff, die reglosen Gebäude im treibenden Nebel, die vor Anker schwerfällig stampfenden breiten Fähren, die auf und ab schwankenden, gischtbedeckten riesigen Anlegebrücken. Die nächste Bö schien alles wegzufegen. Stiebendes Wasser erfüllte die Luft. Es hauste ein grimmiger Zweck in diesem Sturm, ein wütender Ernst im Kreischen des Windes und im brutalen Tumult von Erde und Himmel, die auf ihn zu zielen schienen, sodass es ihm vor Ehrfurcht den Atem verschlug. Er blieb stehen. Er fühlte sich im Kreis herumgewirbelt.

Er wurde beiseitegerempelt. »Kutter bemannen!« Jungen drängten an ihm vorbei. Ein schutzsuchender Küstenfahrer hatte beim Einlaufen einen ankernden Schoner gerammt, und einer der Ausbilder hatte die Havarie beobachtet. Eine Horde von Jungen kletterte auf die Reling, scharte sich um die Davits. »Eine Kollision. Direkt vor uns. Mr. Symons hat’s gesehen.« Ein Stoß ließ ihn gegen den Besanmast torkeln, und er bekam ein Tau zu fassen. Das an Ketten verankerte alte Schulschiff erbebte in allen Fugen, neigte sich sanft bugwärts und brummte im tiefsten Bass in der spärlichen Takelage das atemlose Lied von seiner Jugend auf See. »Wegfieren!« Er sah das bemannte Boot rasch unter der Reling verschwinden und stürzte hinterher. Er hörte ein Platschen. »Abfallen; Taljen klar!« Er beugte sich vor. Längsseits brodelten die Schaumstreifen des Flusses. In der einbrechenden Dunkelheit sah man den Kutter im Bann von Strom und Wind, der ihn für einen Moment fesselte und querab vom Schiff rollen ließ. Eine Stimme aus dem Kutter gellte undeutlich an sein Ohr: »Takt halten, ihr jungen Dachse, wenn ihr da jemand retten wollt! Takt halten!« Und plötzlich stieg der Bug hoch, und der Kutter schnellte mit gepikten Riemen über eine Welle, durchbrach den Bann, in den Wind und Strom ihn geschlagen hatten.

Jim fühlte einen festen Griff an der Schulter. »Zu spät, Youngster.« Die Hand des Schiffskapitäns zügelte den Jungen, der sich eben anschickte, über Bord zu springen, und als Jim hochsah, zeigte sein Blick den Schmerz einer klar erkannten Niederlage. Der Kapitän lächelte verständnisvoll. »Viel Glück beim nächsten Mal. Das wird dich lehren, auf Zack zu sein.«

Ein schriller Hurraruf empfing den Kutter. Er kam halb vollgeschlagen zurückgeschaukelt, und auf den Fußplanken dümpelten zwei erschöpfte Männer. Der Tumult und die Drohung von Wind und Meer erschienen Jim jetzt sehr verächtlich, was ihn noch heftiger bedauern ließ, dass er sich von ihrer kraftlosen Drohung hatte einschüchtern lassen. Jetzt wusste er, was davon zu halten war. Er glaubte, der Sturm kümmere ihn nicht. Er konnte größeren Gefahren trotzen. Er würde es tun — besser als irgendwer. Das letzte Fünkchen Furcht war verflogen. Trotzdem grübelte er an diesem Abend abseits, während der Bugmann des Kutters — ein Junge mit dem Gesicht eines Mädchens und großen grauen Augen — der Held des Unterdecks war. Ungeduldige Fragesteller umringten ihn. Er erzählte: »Ich hab seinen Kopf kurz in den Wellen auftauchen sehen und gleich meinen Bootshaken ins Wasser gestoßen. Der is in seinen Hosen hängengeblieben, und ich wär fast über Bord gegangen, hätte der alte Symons nicht die Pinne losgelassen und meine Beine gepackt, fast wär das Boot vollgeschlagen. Feiner Kerl, der alte Symons. Kratzt mich nich, dass er ein Griesgram ist. Als er mein Bein gepackt hielt, hat er mich in einer Tour beschimpft, aber das sollte nur heißen, dass ich den Bootshaken unbedingt festhalten muss. Der alte Symons is schrecklich reizbar — stimmt’s? Nein — nicht der kleine Blonde — der andere, der Große mit’m Bart. Wie wir ihn ins Boot gezogen ham, hatt’er gestöhnt: ›Oh, mein Bein! Oh, mein Bein!‹, und dabei die Augen verdreht. Kaum zu glauben, da kippt so’n Mordskerl um wie’n Mädchen. Tät einer von euch ohnmächtig werden wegen nem Pikser mit’m Bootshaken? — Ich nicht. Bis hier steckte der in seinem Bein.« Er demonstrierte es am Bootshaken, den er zu diesem Zweck mit nach unten genommen hatte, und sorgte damit für Furore. »Nein, du Dummkopf! Doch nicht im Fleisch — sondern in seinen Hosen. Massenhaft Blut, klar.«

Jim empfand es als eine erbärmlich zur Schau gestellte Eitelkeit. Der Sturm hatte ein Heldentum begünstigt, das ebenso fragwürdig war wie der angebliche Schrecken des Orkans. Er zürnte dem brutalen Tumult von Erde und Himmel, weil er ihn überrumpelt und die edelmütige Bereitschaft, sein Leben zu wagen, unfair sabotiert hatte. Im Übrigen freute er sich, nicht im Kutter gewesen zu sein, weil die Sache nur einer kleineren Heldentat bedurfte. Er hatte mehr dazugelernt als jene, die die Aufgabe erledigt hatten. Wenn alle Männer zurückschraken — er war sicher —, würde er allein es wissen, wie man der fragwürdigen Drohung von Wind und Meer begegnete. Er wusste, was davon zu halten war. Leidenschaftslos betrachtet, schien sie verächtlich. Er fand nicht die Spur eines Gefühls in sich, und als Quintessenz eines atemberaubenden Ereignisses frohlockte er, unbemerkt und abseits der lärmenden Jungenschar, ob der frischen Gewissheit seiner Abenteuergier und des Gefühls eines mannigfaltigen Mutes.

II

Nach zwei Ausbildungsjahren ging er zur See, und als er die seiner Phantasie so vertrauten Regionen bereiste, fand er sie seltsamerweise bar jeden Abenteuers. Er machte viele Fahrten. Er kannte die magische Monotonie einer Existenz zwischen Himmel und Wasser: er musste sich der Kritik von Männern stellen, den Anforderungen der See und der prosaischen Härte des Tagwerks, das wohl Brot beschert — dessen einziger Lohn jedoch in der vollkommenen Liebe zur Arbeit besteht. Dieser Lohn blieb ihm versagt. Doch es gab für ihn kein Zurück, denn nichts ist verlockender, desillusionierender und versklavender als das Leben auf See. Außerdem standen seine Chancen gut. Er war gentlemanlike, verlässlich, fügsam und mit seinen Pflichten gründlich vertraut. Und im Laufe der Zeit schaffte er es in noch jungen Jahren zum Ersten Offizier eines schmucken Schiffes, ohne jemals durch solche Ereignisse auf See erprobt worden zu sein, die den inneren Wert eines Mannes, die Kanten seines Charakters und den Stoff, aus dem er gemacht ist, ans Tageslicht bringen; die den Grad seiner Widerstandskraft und die geheime Wahrheit der Anforderungen enthüllen, die er nicht nur an andere stellt, sondern auch an sich selbst.

In all der Zeit bekam er nur noch einmal einen flüchtigen Eindruck vom Ernst der zornigen See. Jene Wahrheit offenbart sich nicht so häufig wie man vielleicht meint. Die Gefahr von Abenteuern und Stürmen kennt viele Schattierungen, und nur hin und wieder verrät die Oberfläche der Tatsachen einen finsteren, gewalttätigen Vorsatz — jenes undefinierbare Etwas, das dem Verstand und dem Herz eines Mannes drastisch klarmacht, dass diese Verkettung von Ereignissen oder Elementargewalten mit gezielter Bosheit gegen ihn loswütet, mit einer unkontrollierbaren Kraft, mit einer zügellosen Grausamkeit, die ihm die Hoffnung und die Furcht, den Schmerz der Erschöpfung und die Sehnsucht nach Ruhe ausreißen will; die alles zerschmettern, vernichten, auslöschen will, was er gesehen, gekannt, geliebt, genossen oder gehasst hat; alles, was unschätzbar und unabdingbar ist — den Sonnenschein, die Erinnerungen, die Zukunft — die seinem Blick die ganze kostbare Welt radikal entreißen will, durch den schlichten und entsetzlichen Akt, ihm das Leben zu rauben.

Jim, den zu Beginn einer Woche, von der sein schottischer Kapitän später sagen würde: »Menschenskind! Das reinste Wunder, wie das Schiff das ausgehalten hat!« eine herabfallende Spiere arbeitsunfähig gemacht hatte, verbrachte viele Tage ausgestreckt auf dem Rücken, benommen, übel zugerichtet, hoffnungslos und gepeinigt, als läge er am Grunde eines Abgrunds der Unrast. Das Ende kümmerte ihn nicht, und in seinen lichten Momenten überschätzte er seine Gleichgültigkeit. Der nicht erkannten Gefahr eignet die Verschwommenheit menschlichen Denkens. Die Angst wird schemenhaft; und ohne Anreiz erschlafft die Phantasie, die Widersacherin des Menschen, die Mutter allen Schreckens, in der Mattheit erschöpfter Gefühle. Jim sah nur das Chaos in seiner schlingernden Kajüte. Er lag dort verschalkt inmitten einer kleinen Verwüstung und freute sich insgeheim, nicht an Deck zu müssen. Doch manchmal packte ihn ein unbezähmbarer Anfall körperlicher Pein, und er keuchte und krümmte sich unter den Decken, und dann erfüllte ihn die geistlose Brutalität einer derart quälenden Empfindungen ausgesetzten Existenz mit dem verzweifelten Wunsch zu entkommen, koste es, was es wolle. Dann kehrte das Schönwetter zurück, und er dachte nicht länger daran.

Aber die Lahmheit blieb, und als das Schiff einen östlichen Hafen erreichte, musste er ins Spital. Er genas nur langsam, und man ließ ihn zurück.

In der Station für Weiße gab es bloß noch zwei andere Patienten: den Zahlmeister eines Kanonenboots, der sich beim Sturz durch eine Luke das Bein gebrochen hatte, sowie eine Art Eisenbahnunternehmer aus einer benachbarten Provinz, der an einer mysteriösen Tropenkrankheit litt, den Arzt für einen Trottel hielt und heimlich der ausschweifenden Einnahme einer Patentmedizin frönte, die sein tamilischer Diener mit unermüdlicher Ergebenheit einschmuggelte. Sie erzählten sich ihre Lebensgeschichten, spielten ab und zu Karten oder vertrödelten den Tag im Pyjama in Lehnsesseln, gähnend und schweigend. Das Krankenhaus stand auf einem Hügel, und eine durch die immer weit geöffneten Fenster einströmende sanfte Brise trug in den kahlen Raum die Milde des Himmels, die Trägheit der Erde, den betörenden Atem östlicher Gewässer. Sein Wohlgeruch verhieß unbegrenzte Ruhe, das Geschenk endloser Träume. Jim ließ jeden Tag den Blick über das Dickicht der Gärten schweifen, hinaus über die Dächer der Stadt, hinweg über die Wedel der am Ufer wachsenden Palmen, nach jener Reede, die ein großes Tor in den Osten bildet — nach der von kleinen Inselchen getüpfelten und vom Sonnenschein festlich erhellten Reede, deren Schiffe wie Spielzeuge wirkten, deren funkelnde Betriebsamkeit einem Festumzug glich mit dem ewig heiteren östlichen Himmel oben und dem lächelnden Frieden der östlichen See, die sich bis an den Horizont dehnte.

Sobald er ohne Stock laufen konnte, ging er hinunter in die Stadt, um eine Möglichkeit zu finden, nach Hause zu kommen. Eben jetzt bot sich keine, und während er wartete, gesellte er sich naturgemäß zu seinen Berufsgenossen im Hafen. Es gab zwei Arten von Männern. Ein paar, sehr wenige nur, die selten dort auftauchten, führten ein geheimnisvolles Leben, besaßen eine ungebrochene Energie, das Temperament von Piraten und die Augen von Träumern. Sie lebten anscheinend in einem wirren Labyrinth aus Plänen, Hoffnungen, Gefahren und Wagnissen jenseits aller Zivilisation an den finsteren Orten des Meeres, und ihr Tod war das einzige Ereignis ihrer phantastischen Existenz, dessen Vollbringung mit einiger Gewissheit festzustehen schien. Die meisten der Männer, die es, so wie ihn, irgendwie dorthin verschlagen hatte, waren als Offiziere auf einheimischen Schiffen geblieben. Ihnen graute jetzt vor dem Heimatdienst mit seinen härteren Bedingungen, dem rigideren Pflichtverständnis und dem Risiko stürmischer Ozeane. Sie waren eingestimmt auf die ewige Stille des östlichen Himmels und der See. Sie liebten kurze Überfahrten, gute Deckstühle, eine große einheimische Mannschaft und den Vorzug, weiß zu sein. Sie erschauerten beim Gedanken an harte Arbeit und führten ein prekär bequemes Leben, stets auf der Kippe zur Abmusterung, stets auf der Kippe zur Anheuerung dienten sie Chinesen, Arabern, Mischlingen — und würden sich sogar beim Teufel verdingt haben, hätte er es ihnen nur schön behaglich eingerichtet. Sie redeten unablässig von Glücksgriffen: Soundso hätte das Kommando über ein Schiff an der Küste Chinas ergattert — ein leichtes Geschäft; dieser schöbe irgendwo in Japan eine ruhige Kugel und jener lasse sich’s in der Siamesischen Marine wohl sein; und in allem, was sie sagten — in ihrem Verhalten, ihren Blicken, ihrem Äußeren —, fand sich der wunde Punkt, der faulige Fleck, der feste Vorsatz, ihre Existenz lang unbehelligt auf der Bärenhaut zu liegen.

Als Seeleute genommen, wirkte diese schwatzhafte Schar auf Jim zunächst so wesenlos wie eine Ansammlung von Schatten. Doch schließlich faszinierte ihn der Anblick dieser Männer, denen es bei so geringer Gefahr und Plackerei anscheinend so gut ging. Mit der Zeit reifte neben der ursprünglichen Missachtung langsam ein anderes Gefühl heran; und plötzlich entsagte er dem Gedanken, nach Hause zurückzukehren, und akzeptierte die Stelle des Ersten Offiziers auf der Patna.

Die Patna war ein einheimischer Dampfer, steinalt, schmal wie ein Windhund und ärger von Rost zerfressen als ein ausrangierter Wassertank. Sie gehörte einem Chinesen, ein Araber hatte sie gechartert, und sie fuhr unter dem Kommando eines deutschen Renegaten aus New South Wales, der zwar keine Gelegenheit ausließ, sein Geburtsland öffentlich zu verfluchen, aber offenbar aufgrund von Bismarcks siegreicher Politik alle drangsalierte, die er nicht fürchtete, und zu seinem »Blut und Eisen«-Gebaren eine dunkelviolette Nase und einen roten Schnauzbart spazieren trug. Als der Kahn außen gestrichen und innen getüncht worden war und unter Dampf an einem Holzsteg lag, trieb man (in etwa) achthundert Pilger aufs Schiff.

Sie strömten über drei Gangways an Bord, angestachelt vom Glauben und von der Hoffnung auf das Paradies, unter unablässigem Trampeln und Schlurfen nackter Füße, ohne ein Wort, ein Murmeln oder einen Blick zurück, und jenseits der eindämmenden Geländer verteilten sie sich nach allen Seiten über das Deck, fluteten nach vorn und nach hinten, fluteten durch die gähnenden Luken nach unten, füllten die hintersten Winkel des Schiffes — wie Wasser eine Zisterne füllt, wie Wasser in Ritzen und Risse dringt, wie Wasser geräuschlos bis zum Rand steigt. Achthundert Männer und Frauen voller Glauben und Hoffnungen, voller Leidenschaften und Erinnerungen hatten sich dort versammelt, sie kamen aus Nord und Süd und von den äußersten Rändern des Ostens, nachdem sie auf Dschungelpfaden gewandert, Flüsse hinuntergefahren, in Prauen über die Küstenuntiefen gesegelt waren, in kleinen Kanus von Insel zu Insel übergesetzt hatten, Leiden erdulden und Befremdliches erblicken mussten, heimgesucht von sonderbaren Ängsten, aufrecht gehalten von einem einzigen Wunsch. Sie kamen aus abgelegenen Hütten in der Wildnis, aus dichtbevölkerten Kampongs, aus Dörfern am Meer. Sie waren dem Ruf einer Idee gefolgt und hatten ihre Wälder, ihre Lichtungen, den Schutz ihrer Herrscher, ihren Wohlstand, ihre Armut, die Stätten ihrer Jugend und die Gräber ihrer Väter verlassen. Sie kamen staubbedeckt, schweißüberströmt, schmutzstarrend, zerlumpt — die kräftigen Männer an der Spitze von Familienclans, die sehnigen alten Männer vorandrängend ohne Aussicht auf Rückkehr, junge Burschen mit unerschrockenem Blick, in dem die Neugier funkelte, scheue kleine Mädchen mit strähnigen langen Haaren, verhüllte schüchterne Frauen drückten ihre in schmutzige Kopftuchzipfel gewickelten, schlafenden Babys an die Brust, unfreiwillige Pilger eines anspruchsvollen Glaubens.

»Schau dir mal dies Viehzeuch an«, sagte der deutsche Skipper zu seinem neuen Ersten Offizier.

Ein Araber, Leiter dieser frommen Reise, erschien zuletzt. Er schritt langsam an Bord, imposant und gravitätisch in seinem weißen Gewand und mit dem großen Turban. Eine Schlange von Dienern schleppte ihm das Gepäck hinterher; die Patna machte die Leinen los und legte achteraus vom Kai ab.

Sie steuerte zwischen zwei kleinen Inseln hindurch, querte den Ankergrund der Segelschiffe, schlug einen Halbkreis im Schatten eines Berges, glitt dann dicht an einem Band schäumender Riffe vorbei. Der Araber stand achtern und rezitierte laut das Gebet von Reisenden auf dem Meer. Er erflehte die Gunst des Höchsten für diese Reise, erbat Seinen Segen für der Menschen Mühsal und das heimliche Trachten ihrer Herzen. Der Dampfer stampfte in der Dämmerung durch die stillen Fluten der Meerenge, und weit achtern schien das Flammenauge des Leuchtturms, den die Ungläubigen auf eine trügerische Sandbank gebaut hatten, dem Pilgerschiff zuzuzwinkern, wie im Hohn über seinen frommen Auftrag.

Die Patna ließ die Meerenge hinter sich, querte die Bucht, verfolgte ihren Weg durch den »Ein-Grad«-Kanal. Sie hielt direkten Kurs aufs Rote Meer unter einem heiteren Himmel, unter einem sengenden und wolkenlosen Himmel, eingehüllt in einen Sonnenglast, der jeden Gedanken tötete, das Herz beklemmte, jeden Impuls der Kraft und Energie welken ließ. Und unter der unheilvollen Herrlichkeit dieses Himmels blieb das blaue, tiefe Meer still, ohne Bewegung, ohne Kabbelsee, ohne Kräuselwelle — seimig, stockend, tot. Mit einem leisen Zischen glitt die Patna über diese leuchtende und glatte Fläche, entrollte am Himmel ein Band aus schwarzem Rauch, hinterließ auf dem Wasser ein Band aus weißer Gischt, die sofort zerrann wie das Trugbild einer Spur, die das Trugbild eines Dampfers auf einem leblosen Meer malt.

Als halte sie in ihrem Umlauf Schritt mit dem Fortgang der Wallfahrt, tauchte die Sonne jeden Morgen mit einem stummen Lichtausbruch in genau der gleichen Entfernung achtern vom Schiff auf, hatte es am Mittag eingeholt und goss über dem frommen Vorhaben der Menschen ihr geballtes Strahlenfeuer aus, glitt beim Untergehen vorbei, versank Abend für Abend geheimnisvoll im Meer und wahrte den immer gleichen Abstand zum vordringenden Bug. Die fünf Weißen an Bord lebten mittschiffs, isoliert von der menschlichen Fracht. Die Sonnensegel schirmten das Deck vom Vor- bis zum Achtersteven mit einem weißen Dach, und nur ein undeutliches Summen, ein leises trauriges Stimmengemurmel offenbarte die Anwesenheit einer Menschenmenge auf der großen Lohe des Ozeans. So gingen die Tage dahin, bleiern, heiß, drückend, einer nach dem anderen entschwanden sie in der Vergangenheit, als stürzten sie in einen immerzu offenen Abgrund im Kielwasser des Schiffs; und das Schiff, einsam unter einer Rauchfeder, hielt stabilen Kurs, schwarz und schwelend in einer lichten Unermesslichkeit, als sei es von einer Flamme versengt worden, die ein unbarmherziger Himmel geschleudert hatte.

Die Nächte senkten sich über das Schiff hernieder wie ein Segen.

III

Eine wunderbare Ruhe durchwaltete die Welt, und das klare Flimmern der Sterne schien die Erde mit dem Versprechen grenzenloser Sicherheit zu überströmen. Die Sichel des tief im Westen stehenden jungen Monds glich einem schmalen, von einem Goldbarren emporgesplitterten Span, und das Arabische Meer, das sich dem Blick glatt und kühl darbot wie eine Eisfläche, spannte seine makellose Ebene bis an das makellose Rund eines finsteren Horizonts. Die Schiffsschraube rotierte reibungslos, als sei ihr Takt Teil des Entwurfs für ein sicheres Universum; und auf dem faltenlosen Schimmer säumten beiderseits der Patna zwei tiefe, dauerhaft dunkle Wasserfurchen zwischen ihren geraden und auseinanderstrebenden Kammlinien ein paar leise zischend hochsprudelnde weiße Schaumstrudel, kleine Wogen, Kräuselwellen und Wasseraufwallungen, die für einen Moment die Meeresoberfläche hinter dem Schiff aufwühlten, sanft plätschernd niedersanken und sich schließlich glätteten in der kreisrunden Ruhe von Wasser und Himmel mit dem schwarzen Fleckchen des dahingleitenden Schiffsrumpfs als immerwährenden Mittelpunkt.

Oben auf der Brücke wurde Jim von der großen Gewissheit einer grenzenlosen Sicherheit durchdrungen, eines Friedens, der sich vom ruhigen Anblick der Natur ablesen ließ wie die Gewissheit sorgsamer Liebe von dem milden, zärtlichen Gesicht einer Mutter. Unter dem Dach der Sonnensegel, der Klugheit weißer Männer und ihrem Mut preisgegeben, im Vertrauen auf die Macht ihres Unglaubens und die eiserne Hülle ihres Feuerschiffs, schliefen die Pilger eines anspruchsvollen Glaubens auf Matten, Laken, nackten Planken, auf jedem Deck, in jedem dunklen Winkel, eingewickelt in bunte Tücher, in schmutzige Lumpen gehüllt, mit kleinen Bündeln unter dem Kopf, das Gesicht in die Armbeuge gedrückt: Männer, Frauen, Kinder; Alte neben Jungen; Hinfällige neben Kräftigen — alle gleich vor dem Schlaf, des Todes Bruder.

Vom Bug her wehte ein von der Fahrt des Schiffes erzeugter Luftzug durch die weit ausgedehnte Düsternis zwischen den hohen Schanzkleiden, glitt über die Reihen der ausgestreckten Leiber; hier und dort glommen ein paar trübe, dicht unter dem Sonnensegel festgebundene Kugellaternen, und in den schummrigen Lichtkegeln, die von der unablässigen Vibration des Schiffs leicht zitterten, erkannte man ein hochgerecktes Kinn, zwei geschlossene Augenlider, eine dunkle Hand mit Silberringen, ein dürres Bein in einem löchrigen Fetzen, einen in den Nacken gelegten Kopf, einen nackten Fuß, eine entblößt hingestreckte Kehle, die sich dem Messer darzubieten schien. Die Wohlhabenden hatten aus schweren Kisten und staubigen Matten Unterkünfte für ihre Familien gezimmert; die Armen lagerten Seite an Seite, ihre in Lumpen eingeknotete irdische Habe unter dem Kopf; die einsamen alten Männer schliefen mit angezogenen Beinen auf ihren Gebetsteppichen, die Hände an den Ohren und das Gesicht zwischen den Ellbogen; mit hochgezogenen Schultern, die Stirn auf die Knie gebettet, döste ein bedrückter Vater neben einem auf dem Rücken liegenden zerzausten Jungen, der fordernd einen Arm ausstreckte; eine von Kopf bis Fuß wie eine Leiche mit einem weißen Laken zugedeckte Frau hielt in jeder Armbeuge ein nacktes Kind; die achtern aufgestapelten Besitztümer des Arabers zeigten die gebrochene Silhouette eines wuchtigen Hügels, über dem eine Cargo-Lampe baumelte, dahinter ein gewaltiger Wirrwarr schemenhafter Gebilde: schimmernde, bauchige Kupferkrüge, die Fußstütze eines Deckstuhls, Lanzenblätter, die an einen Kissenberg gelehnte, gerade Scheide eines alten Schwerts, die Tülle einer blechernen Kaffeekanne. Das Patentlog an der Heckreling markierte regelmäßig mit einem einzelnen Klingelsignal jede auf dieser frommen Mission zurückgelegte Meile. Über dem Heer der Schläfer schwebte zuweilen ein leises und geduldiges Seufzen, Aushauch eines unruhigen Traums; und die im Schiffsbauch jäh loskrachenden kurzen metallischen Schläge, das scharrende Schrappen einer Schaufel, das gewaltsame Zuknallen einer Feuerungstür glichen heftigen Explosionen als wüte in der Brust der Männer, die unten diese geheimnisvollen Dinge handhabten, ein furchtbarer Zorn; der schlanke hohe Rumpf des Dampfers drang unterdessen gleichmäßig vor und zerschnitt ohne ein Schwanken der kahlen Masten stetig die große Meerstille unter der unnahbaren Ruhe des Himmels.

Jim ging hin und her, und in der maßlosen Stille klangen ihm die eigenen Schritte so laut im Ohr, als gäben die wachsamen Sterne ein Echo; sein über den Horizont schweifender Blick schien hungrig ins Unerreichbare gerichtet und erkannte den Schatten des Kommenden nicht. Der einzige Schatten auf dem Meer war der Schatten des schwarzen Qualms, dessen gewaltige Fahne träge aus dem Schornstein quoll und am äußersten Ende unablässig in Luft zerfloss. Stumm, fast reglos umstanden zwei Malaien das Steuerrad, dessen Messingkranz im vom Kompasshaus ausgestrahlten Lichtoval bruchstückhaft aufleuchtete. Ab und an erschien in dem Lichtfleck eine Hand, deren schwarze Finger den Umlauf der Spaken zuließen oder hemmten; die Glieder der Ruderketten knirschten schwer in den Rillen der Trommel. Gelegentlich warf Jim einen Blick auf den Kompass, dann auf den unerreichbaren Horizont, reckte sich wohlig und streckte gemächlich den ganzen Körper, bis die Gelenke knackten; und als hätte ihn der unverrückbare Eindruck dieses Friedens tollkühn gemacht, glaubte er, nichts auf der Welt könne ihm mehr etwas anhaben bis ans Ende seiner Tage. Dann und wann betrachtete er müßig eine Karte, die auf einem niedrigen dreibeinigen Tisch achtern vom Steuerhaus mit vier Reißzwecken festgepinnt war. Im Schein der an einer Deckstütze festgezurrten Blendlaterne zeigte das Blatt, das die Meerestiefen abbildete, eine glänzende Oberfläche, eine Oberfläche so glatt und eben wie die schimmernde Oberfläche des Wassers. Parallellineal und Teilzirkel lagen darauf; ein kleines, schwarzes Kreuz markierte die Schiffsposition vom letzten Mittag, und der bis Perim entschlossen gezogene gerade Bleistiftstrich versinnbildlichte den Kurs des Schiffs — die Bahn der Seelen hin zur heiligen Stätte, zum verheißenen Heil, zum Lohn des ewigen Lebens —, während der Bleistift, dessen Spitze die somalische Küste berührte, rund und reglos ruhte wie eine in einem geschützten Hafenbecken treibende nackte Schiffsspiere. »Wie ruhig unsere Fahrt geht«, dachte Jim staunend und mit einer gewissen Dankbarkeit für diesen hohen Frieden von Meer und Himmel. In solchen Augenblicken bevölkerten tollkühne Unternehmungen seine Gedanken; er liebte diese Träume und den Erfolg seiner eingebildeten Heldentaten. Sie waren das Beste in seinem Leben, dessen geheime Wahrheit und verborgene Realität. Diese Träume besprachen eine glanzvolle Männlichkeit, den Reiz des Unbestimmten; sie zogen mit heroischen Schritten an ihm vorüber; sie rissen seine Seele mit sich fort und machten ihn trunken mit dem göttlichen Zaubertrank eines grenzenlosen Selbstvertrauens. Es gab nichts, dem er nicht trotzen konnte. Diese Vorstellung gefiel ihm so sehr, dass er lächelte und wie abwesend nach vorn blickte; und sooft er sich zufällig einmal umwandte, sah er den weißen Kielwasserstreifen ebenso gerade auf dem Meer gezogen wie den schwarzen Bleistiftstrich auf der Karte.

Die Aschkübel lärmten, als sie die Kesselraumlüfter auf- und niederklapperten, und das Blechgeschepper mahnte Jim an das baldige Ende seiner Wache. Er seufzte zufrieden und bedauerte zugleich, Abschied nehmen zu müssen von der heiteren Ruhe, die der abenteuerlustigen Freiheit seiner Gedanken förderlich war. Er fühlte sich auch ein wenig schläfrig und verspürte eine wohlige Ermattung, die ihm durch alle Glieder rann, als habe sich das Blut in seinem Körper in warme Milch verwandelt. Sein Skipper war lautlos an Deck gekommen, im Pyjama, mit weit aufklaffendem Schlafhemd. Rotgesichtig, nicht ganz wach, das linke Auge halb geschlossen, während das rechte blöde und glasig glotzte, beugte er den massigen Schädel über die Karte und kratzte sich verschlafen den Brustkorb. Der Anblick seines nackten Fleisches hatte etwas Obszönes. Seine entblößte Brust glänzte feucht und glitschig, als hätte er im Schlaf sein Fett ausgeschwitzt. Er machte eine dienstliche Bemerkung, und der rauhe und emotionslose Klang seiner Stimme glich dem Raspeln einer Holzfeile am Grat einer Planke; die Falte seines Doppelkinns baumelte dicht unter der Kinnlade wie ein aufgeholter Sack. Jim fuhr zusammen, und seine Antwort drückte großen Respekt aus; doch die abstoßende, fleischige Gestalt brannte sich ihm, als habe er sie in einem verräterischen Moment zum ersten Mal gesehen, für immer ins Gedächtnis ein, als Inkarnation alles Abstoßenden und Gemeinen, das in der Welt, die wir lieben, lauert; in unserem eigenen Herzen, von dem wir uns Rettung erhoffen, in den Menschen, die uns umgeben, in jedweder Erscheinung, die unsere Augen erfüllt, in jedwedem Klang, der unsere Ohren erfüllt, in der Luft, die unsere Lungen erfüllt.

Der dünne Goldspan des langsam sinkenden Mondes hatte sich auf der verfinsterten Wasseroberfläche verloren, und mit dem vermehrten Glitzern der Sterne und dem tieferen Dunkel im Schimmer der halb durchsichtigen Kuppel, die die flache Scheibe der opaken See überwölbte, schien die Ewigkeit jenseits des Firmaments der Erde näher zu kommen. Das Schiff fuhr so glatt dahin, dass die menschlichen Sinne seine Fahrt nicht mehr wahrnahmen, als wäre es ein übervölkerter Planet, der die dunklen Weiten des Äthers hinter den Sonnenschwärmen durcheilt in der schaurigen und stillen Einsamkeit, die den Hauch künftiger Schöpfung noch erwartet.

»Heiß is gar kein Ausdruck für das da unten«, sagte eine Stimme.

Jim lächelte, ohne sich umzudrehen. Der Skipper präsentierte reglos den Anblick seines breiten Rückens; der Renegat benutzte absichtlich den Trick, so zu tun, als sei man Luft, außer es passte ihm gerade, mit einem vernichtenden Blick herumzufahren und eine schäumende, beleidigende Schimpfkanonade vom Stapel zu lassen, die sich wie ein Schwall aus einer Kloake über einen ergoss. Jetzt ließ er nur ein mürrisches Raunzen hören; der Zweite Maschinist, der oben am Brückenaufgang zwischen feuchten Händen ein dreckiges Schweißtuch walkte, setzte dreist sein Klagelied fort. Die Seeleute, die seien fein raus hier oben, und er wolle sich hängen lassen, wenn er wüsste, zu was man die überhaupt brauche. Die Maschinisten, die armen Schweine, die jedenfalls müssten das Schiff voranbringen, und da könnten sie den Rest eigentlich gleich mit erledigen; verdammt noch mal, sie — »Klappe halten!« knurrte der Deutsche phlegmatisch. »Ja! Klappe halten — und wenn dann irgendwas schiefläuft, kommen Sie bei uns angetanzt, oder?« fuhr der andere fort. Er sei vermutlich beduselt; jedenfalls sei es ihm jetzt schnurz, wie viel er sündige, er hätte nämlich die letzten drei Tage einen tollen Lehrgang für den Ort absolviert, wo die bösen Jungs hinkämen, wenn sie sterben — jawoll, Mann —, außerdem hätte ihn der verfluchte Krach da unten halbtaub gemacht. Dies elende Wrack einer verrotteten Verbundmaschine mit Oberflächenkondensation klappere und kreische wie eine alte Ankerwinde, nur schlimmer; und wie er überhaupt auf die Idee komme, jede Nacht und jeden Tag, die Gott werden ließ, zwischen dem Müll eines mit siebenundfünfzig Umdrehungen rotierenden Schrottplatzes sein Leben zu riskieren, da sei er überfragt. Er sei wohl schon als Draufgänger zur Welt gekommen, Mann. Er … »Wo kommt der Schnaps her?« fragte der Deutsche wutschnaubend, blieb jedoch im Licht vom Kompasshaus reglos stehen wie die aus einem Fettblock geschnitzte plumpe Statue eines Menschen. Jim lächelte weiter dem zurückweichenden Horizont zu; edelmütige Regungen erfüllten sein Herz, und sein Denken kreiste um die eigene Überlegenheit. »Der Schnaps!« wiederholte der Maschinist mit freundlichen Spott; er klammerte sich mit beiden Händen ans Geländer, eine schattenhafte Gestalt mit biegsamen Beinen. »Nich von Ihnen, Kapitän. Da sind Sie zu geizig für, Mann. Sie lassen einen wackeren Kerl doch eher verrecken, als ihm einen Tropfen Schnaps zu gönnen. Das nennt ihr Deutschen Sparsamkeit. Immer am falschen Ende auf den Penny sehen.« Er wurde rührselig. Vom Ersten hätte er gegen zehn Uhr vier Fingerbreit Schnaps bekommen — »bloß einen Schluck, so wahr mir Gott helfe!« — guter Erster; den alten Halunken aber jetzt aus der Koje zu hieven — das würde nicht mal ein Fünf-Tonnen-Kran schaffen. Das nicht. Jedenfalls nicht heute Nacht. Der schliefe so selig wie ein Baby mit einer Pulle besten Brandys unterm Kopfkissen. Aus dem dicken Hals des Kapitäns der Patna drang ein dumpfes Grollen, über dem der Schall des Wortes Schwein auf und nieder flatterte wie eine launische Feder in einem leichten Luftzug. Er und der Erste Maschinist waren seit etlichen Jahren Busenfreunde — im Dienst desselben leutseligen und gerissenen alten Chinesen, der eine Hornbrille trug und in das ehrwürdig graue Haar seines Zopfs rote Seidenbänder flocht. An den Kais des Heimathafens der Patna regierte die Meinung, gemeinsam hätten diese zwei durch dreiste Unterschlagung »alle möglichen Dinger gedreht«. Äußerlich harmonierten sie schlecht: der eine trübäugig, boshaft und mit weichen, fleischigen Rundungen; der andere dürr, ausgemergelt, mit dem langen, knochigen Schädel eines alten Gauls, eingefallenen Wangen, eingefallenen Schläfen und glasig-gleichgültig blickenden eingefallenen Augen. Er war irgendwo im Fernen Osten gestrandet — in Kanton, in Shanghai oder vielleicht in Yokohama; er vermied es wohl selber, sich des genauen Orts oder der Ursache seines Schiffbruchs zu erinnern. Man hatte ihn vor zwanzig oder mehr Jahren sang- und klanglos — aus Erbarmen mit seiner Jugend — von seinem Schiff gejagt, und vielleicht wurde die Sache für ihn noch schlimmer dadurch, dass der Erinnerung an diese Episode kaum der Hauch eines Missgeschicks anhaftete. Da sich die Dampfschifffahrt in diesen Gewässern verbreitete und Männer seiner Zunft anfangs rar blieben, war er dann gewissermaßen »vorwärtsgekommen«. Fremde ließ er mit einem tristen Murmeln begierig wissen, er sei »ein alter Praktikus hier draußen«. Bewegte er sich, schien in seinen Kleidern ein Skelett zu schlottern; sein Gang war ein bloßes Umherwandern, und während er ohne Behagen aus einem messingnen Pfeifenkopf am Ende eines vier Fuß langen Kirschholzrohrs Tabakverschnitt paffte, schlenderte er gern um das Oberlicht des Maschinenraums mit dem idiotischen Ernst eines Denkers, der aus einer flüchtig und verschwommen geschauten Wahrheit ein philosophisches System entwickelt. Sonst zeigte er sich mit seinem privaten Schnapsvorrat alles andere als freigebig; doch in dieser Nacht war er von seinen Prinzipien abgerückt, sodass sein Zweiter, ein beschränkter Bengel aus Wapping, durch die unerwartete und hochprozentige Spende sehr fröhlich, frech und redselig geworden war. Der Deutsche aus New South Wales kochte vor Wut; er fauchte wie ein Ausblaserohr, und Jim, der diese Szene mäßig amüsant fand, sehnte den Moment herbei, wo er unter Deck gehen konnte: die letzten zehn Minuten der Wache waren quälend wie ein Schuss, der sich nicht löst; diese Männer gehörten nicht zur Welt heroischer Abenteuer; üble Burschen waren sie trotzdem nicht. Sogar der Skipper … Es drehte ihm den Magen um angesichts des keuchenden Fleischbergs, dem ein murmelndes Gurgeln entkam, ein trübes Rinnsal unflätiger Worte; aber er fühlte eine zu wohlige Mattigkeit, um noch irgendetwas lebhaft zu verabscheuen. Die Natur dieser Männer zählte nicht; er kam ihnen nahe, doch sie reichten nicht an ihn heran; er atmete die gleiche Luft wie sie, doch er war anders. … Würde der Skipper auf den Maschinisten losgehen? … Das Leben war leicht, und er war zu überzeugt von sich — zu überzeugt, um … Die Linie, die seine Betrachtungen von einem verstohlenen Halbschlaf im Stehen trennte, war dünner als der Faden eines Spinnennetzes.

Der Zweite Maschinist wechselte mühelos zur Betrachtung seiner Einkünfte und seiner Furchtlosigkeit.

»Wer’s betrunken? Ich? Nee, nee, Käpt’n! So geht’s nich! Sie müssten doch wissen, von dem bisschen, was einem der Erste spendiert, kriegt nicht mal ’n Spatz nen Rausch, Mann. Von Alkohol hab ich nie Schlagseite bekomm; das Zeug, das mich betrunken macht, das muss erst noch erfunden werden. Für jedes Glas Whisky, das Sie kippen, könnt ich genauso viel flüssiges Feuer schlucken, Mensch, und ich hätt immer noch einen kühlen Kopf. Wenn ich glauben würd, ich sei betrunken, würd ich über Bord springen — mich umbringen, Mann. Das tät ich! Auf der Stelle. Von der Brücke geh ich nicht runter. Wo soll ich denn sonst frische Luft schnappen an so nem Abend, eh? Auf Deck zwischen dem Ungeziefer da unten? Von wegen! Bange machen gilt nich.«

Der Deutsche reckte zwei schwere Fäuste in den Himmel und schüttelte sie wortlos.

»So was wie Angst kenn ich nich«, ereiferte sich der Maschinist ehrlich überzeugt. »Mich schreckt diese verfluchte Arbeit auf dem elenden alten Kahn nich, Mann! Sie ham echt Schwein, dass es auf der Welt ein paar Kerle wie uns gibt, die keine Angst um ihr Leben haben, denn was würd sonst aus Ihnen — aus Ihnen und dem alten Kasten hier mit seinen Platten dünn wie Packpapier — wie Packpapier, so wahr mir Gott helfe? Sie ham gut lachen, für Sie springt dabei so oder so ein dicker Batzen raus; aber was is mit mir — was krieg ich? Mickrige hundertfünfzig Dollar pro Monat und muss für alle Bedürfnisse selber sorgen. Ich möcht Sie mit allem Respekt fragen — mit allem Respekt, wohlgemerkt —, wer tät so eine verfluchte Arbeit nich hinschmeißen? Kopf und Kragen riskiert man, so wahr mir Gott helfe, Kopf und Kragen! Aber ich bin eben einer von der furchtlosen Sorte …«

Er ließ das Geländer los und fuchtelte wild gestikulierend in der Luft, als wollte er Form und Ausmaß seiner Tapferkeit demonstrieren; seine dünne Stimme flog mit langgezogenen Quieksern aufs Meer hinaus; er wippte auf den Ballen, um seinen Auslassungen mehr Nachdruck zu verleihen, und stürzte plötzlich kopfüber hinunter, als hätte ihm jemand hinterrücks einen Schlag mit der Keule verpasst. »Verdammt!« sagte er im Fallen; auf seinen gellenden Schrei folgte ein Moment Stille; Jim und der Skipper torkelten wie auf Verabredung vorwärts, und als sie sich gefangen hatten, blieben sie stocksteif stehen und starrten verblüfft auf den unbewegten Meeresspiegel. Dann blickten sie zu den Sternen empor.

Was war passiert? Die Maschinen stampften keuchend weiter. War die Erde in ihrem Lauf gehemmt worden? Sie verstanden es nicht; und plötzlich wirkten das stille Meer, der wolkenlose Himmel in ihrer Unbewegtheit äußerst prekär, als balancierten sie am gähnenden Abgrund der Vernichtung. Der Maschinist rappelte sich wieder zu voller Länge auf und sank erneut zu einem unansehnlichen Häuflein zusammen. Dieses Häuflein sagte mit erstickter, tief besorgter Stimme: »Was is das?« Ein leises Rumpeln wie von einem Donner, einem unendlich fernen Donner, weniger als ein Geräusch, kaum mehr als ein Vibrieren, rollte langsam vorüber, und im Nachhall erbebte das Schiff, als hätte der Donner tief unten im Wasser gegrollt. Die glitzernden Blicke der beiden Malaien am Ruder hefteten sich auf die weißen Männer, doch ihre dunklen Hände umklammerten die Speichen fest. Der rasch dahingleitende schmale Schiffsrumpf schien sich der Länge nach um einige Zoll zu heben, als wäre er biegsam geworden, und tauchte dann starr wieder ein, um rüstig die glatte Meeresoberfläche zu spalten. Das Beben schwand, und das leise Donnern erstarb mit einem Mal, als sei das Schiff durch eine schmale Zone vibrierenden Wassers und summender Luft gedampft.

IV

Als Jim etwa einen Monat später versuchte, dieses Erlebnis auf präzise Fragen hin wahrheitsgetreu zu schildern, sagte er über das Schiff: »Was immer es war, die Patna glitt so glatt darüber hinweg wie eine Schlange über einen Stock.« Das Bild war gut gewählt; die Fragen zielten auf Fakten, und die offizielle Untersuchung erfolgte im Polizeigericht eines Hafens im Fernen Osten. Er stand im erhöhten Zeugenstand mit brennenden Wangen in dem kühlen, luftigen Raum; die großen Deckenfächer schwangen weit über seinem Kopf sacht hin und her, und von unten blickten viele Augen zu ihm hoch aus dunklen Gesichtern, aus weißen, aus roten, aus aufmerksamen Gesichtern, gebannt, als hätte die Faszination seiner Stimme all die auf schmalen Bänken ordentlich aufgereihten Menschen willenlos gemacht. Sie schallte überlaut, gellte ihm selber erschreckend in den Ohren, es war das einzig hörbare Geräusch auf der Welt, denn die entsetzlich klaren Fragen, die seine Antworten erzwangen, schienen sich qualvoll und peinigend in seiner Brust zu formen; bedrängten ihn bitter und stumm wie das entsetzliche Nagen des eigenen Gewissens. Draußen vor dem Gericht loderte die Sonne — innen war der Wind großer Punkahs, der einen frösteln, die Schmach, die einen brennen ließ, die durchbohrenden Blicke der aufmerksamen Augen. Zwischen den roten Gesichtern der beiden seemännisch erfahrenen Beisitzer musterte ihn totenbleich das glattrasierte und gleichgültige Gesicht des Vorsitzenden Richters. Von oben fiel das Licht eines breiten Fensters unter der Decke auf die Köpfe und Schultern der drei Männer, und sie stachen deutlich hervor aus dem Halbdunkel des großen Gerichtssaals, wo das Publikum gaffenden Schatten glich. Sie wollten Tatsachen. Fakten! Sie forderten Fakten von ihm, als könnten Fakten irgendetwas erklären!

»Nachdem Sie geschlossen hatten, dass Sie mit etwas kollidiert waren, das unter Wasser trieb, ein vollgesogenes Wrack, zum Beispiel, bekamen Sie vom Kapitän den Befehl, nach vorn zu gehen und sich zu vergewissern, ob ein Schaden entstanden war. Hielten Sie das bei der Gewalt des Stoßes für wahrscheinlich?« fragte der linke Beisitzer. Er hatte einen dünnen, hufeisenförmigen Bart und vorspringende Wangenknochen — die Ellbogen auf den Tisch gestemmt, die derben Hände vor dem Gesicht verschränkt, musterte er Jim aus nachdenklichen blauen Augen; der andere, ein massiger, verächtlich wirkender Mann, hatte den linken Arm ausgestreckt und trommelte mit den Fingerspitzen sacht auf einem Löschblock; in der Mitte hatte der Richter, aufrecht im geräumigen Sessel sitzend, den Kopf leicht zur Schulter geneigt, die Arme vor der Brust gekreuzt; und neben seinem Tintenzeug standen in einer Glasvase ein paar Blumen.

»Das tat ich nicht«, sagte Jim. »Um eine Panik zu vermeiden, sollte ich niemand rufen und keinen Lärm schlagen. Diese Vorsicht schien mir angebracht. Ich nahm eine der unter den Sonnensegeln aufgehängten Lampen und ging zum Bug. Nach dem Öffnen des Vorpiekluks hörte ich ein Plätschern. Ich ließ die Lampe die ganze Leinenlänge hinunter und sah, dass das Vorpiek schon über die Hälfte voll Wasser gelaufen war. Da wusste ich, dass unter der Wasserlinie ein großes Leck sein musste.« Er hielt inne.

»Ja«, sagte der wuchtige Beisitzer und gönnte dem Löschblock ein versonnenes Lächeln; seine Finger spielten unablässig, tupften lautlos aufs Papier.

»In diesem Moment dachte ich an keine Gefahr. Mag sein, ich war etwas überrascht; alles passierte so leise und plötzlich. Ich wusste, dass es im Schiff kein weiteres Schott gab, außer dem Kollisionsschott, das das Vorpiek vom vorderen Laderaum trennt. Ich ging zurück, um den Kapitän zu unterrichten. Ich stieß auf den Zweiten Maschinisten, der sich am Fuß der Brückenleiter aufrappelte; er wirkte benommen und sagte mir, er glaube, sein linker Arm sei gebrochen; während ich am Bug war, sei er beim Hinuntersteigen auf der obersten Sprosse ausgerutscht. Er schrie: ›Mein Gott! Das verrottete Schott hält keine Minute, und der verdammte Kahn säuft mit uns ab wie ein Klumpen Blei.‹ Er stieß mich mit dem rechten Arm beiseite, kletterte vor mir die Leiter hoch und brüllte beim Hinaufsteigen. Der linke Arm baumelte an seiner Seite. Ich folgte ihm so dicht, dass ich sah, wie der Kapitän sich auf ihn stürzte und ihn glatt umhieb. Er schlug ihn kein zweites Mal; er beugte sich über ihn und sprach wütend, aber ziemlich leise. Vermutlich fragte er ihn, warum, zum Teufel, er nicht schleunigst die Maschinen stoppte, anstatt auf Deck einen solchen Krawall zu machen. Ich hörte, wie er sagte: ›Aufstehen! Marsch! Zack, zack!‹ Er fluchte dazu. Der Maschinist rutschte die Steuerbordleiter hinunter und rannte ums Oberlicht zum backbords gelegenen Niedergang, der zum Maschinenraum führte. Er stöhnte im Laufen …«

Er sprach langsam; er erinnerte sich prompt und mit äußerster Lebhaftigkeit; er hätte zur besseren Unterrichtung dieser Männer, die Fakten forderten, das Stöhnen des Maschinisten echogleich wiedergeben können. Nach seiner anfänglichen Empörung hatte er eingesehen, dass nur eine pedantisch präzise Aussage das wahre Entsetzen hinter dem schrecklichen Anschein der Dinge enthüllen würde. Die Fakten, nach denen diese Männer gierten, waren offensichtlich, greifbar, den Sinnen zugänglich, sie beanspruchten ihren Platz in Raum und Zeit, benötigten für ihre Existenz ein 1400-Tonnen-Dampfschiff und 27 Minuten auf der Uhr; sie bildeten ein Ganzes mit Besonderheiten, gewissen Ausprägungen, einem komplizierten Aspekt, an den sich das Auge erinnern konnte und außerdem noch etwas, etwas Unsichtbares, einen lenkenden Geist des Verderbens, der dem allem innewohnte wie eine bösartige Seele einem widerwärtigen Leib. Das wollte er unbedingt klarstellen. Das war keine gewöhnliche Sache gewesen, allem dabei kam äußerste Wichtigkeit zu, und glücklicherweise erinnerte er sich an alles. Er wollte um der Wahrheit willen weitersprechen, vielleicht auch um seiner selbst willen; und während seiner besonnenen Aussage rotierte sein Denken förmlich um die dichte Reihe der Fakten, die rings um ihn emporgeschossen waren und ihn von seinesgleichen isolierten; sein Verstand glich einem in einer Koppel mit hohen Pfählen eingepferchten Wesen, das in der Nacht verstört im Kreis rennt und eine Schwachstelle sucht, eine Lücke, einen Spalt, einen zu erklimmenden Punkt, irgendeine Öffnung, durch die es sich zwängen und flüchten kann. Diese schreckliche Gedankenarbeit hemmte manchmal seine Rede. …

»Der Kapitän lief kreuz und quer über die Brücke; er wirkte ganz ruhig, stolperte nur ab und zu; und als ich dann dastand und mit ihm sprach, prallte er einmal gegen mich, als sei er stockblind. Er antwortete nicht konkret auf meine Meldung. Er murmelte vor sich hin; ich verstand bloß etwas wie ›verfluchter Dampf!‹ und ›elender Dampf!‹ — irgendwas mit Dampf. Ich dachte …«

Er schweifte ab; wie ein jäher, stechender Schmerz fuhr ihm eine präzise Frage in die Rede, und er fühlte sich ungeheuer entmutigt und erschöpft. Er wollte es doch ausführen, er wollte es doch eben ausführen — und jetzt, brutal unterbrochen, musste er mit Ja oder Nein antworten. Er antwortete wahrheitsgemäß mit einem knappen »Ja, das tat ich«; offenen Gesichts, stattlich von Gestalt und mit jungen, schwermütigen Augen hielt er sich aufrecht im Zeugenstand, während sich seine Seele krümmte. Er musste eine weitere, ebenso präzise wie unnütze Frage beantworten, dann wartete er wieder. Er spürte einen faden, trockenen Geschmack im Mund, als hätte er Staub gegessen, dann schmeckte es salzig und bitter wie nach einem Schluck Meerwasser. Er wischte sich die feuchte Stirn, leckte sich mit der Zunge über die ausgedörrten Lippen, fühlte einen Schauer über den Rücken rieseln. Der massige Beisitzer hatte die Lider gesenkt und trommelte lautlos weiter, unbeteiligt und düster; der andere schien ihn über die braungebrannten, verschränkten Finger hinweg freundlich anzublicken; der Richter saß vorgebeugt; sein blasses Gesicht schwebte über den Blumen, dann sank er seitwärts auf die Stuhllehne, stützte die Schläfe in den Handteller. Der Luftzug der Punkahs wirbelte über den Köpfen der dunkelgesichtigen, in wallende Gewänder gewickelten Einheimischen, der Europäer, die erhitzt in hautengen Drillichanzügen zusammenhockten, ihre runden Tropenhelme auf den Knien; während die in lange weiße Mäntel stramm eingeknöpften Gerichtsdiener flink die Wände entlanghuschten, auf bloßen Zehen, mit roter Schärpe und rotem Turban, lautlos wie Gespenster und wachsam wie Jagdhunde.

Jims Blick, der in den Pausen zwischen den Antworten im Raum umher schweifte, ruhte auf einem abseits sitzenden Weißen mit müden und umwölkten Gesicht, aber ruhigen Augen, die offen, interessiert und klar blickten. Jim beantwortete die nächste Frage und war versucht zu rufen: »Was bringt das denn! Was!« Er tappte leicht mit dem Fuß, biss sich auf die Lippen und sah über die Köpfe hinweg. Er begegnete den Augen des Weißen. Der auf ihn gerichtete Blick glich nicht dem faszinierten Gaffen der übrigen. Es war ein ganz bewusster Willensakt. Zwischen zwei Fragen vergaß sich Jim so sehr, dass er Muße für einen Gedanken fand. Der Kerl — so seine Überlegung — schaut mich an, als könnte er irgendjemand oder irgendetwas hinter meiner Schulter sehen. Er war dem Mann schon vorher begegnet — auf der Straße vielleicht. Er war sicher, nie mit ihm gesprochen zu haben. Tagelang, viele Tage lang hatte er mit keinem geredet, sondern stumme, wirre und endlose Selbstgespräche geführt, wie ein Gefangener allein in seiner Zelle oder ein in der Wildnis verirrter Wanderer. Derzeit beantwortete er Fragen, die belanglos waren, obwohl eine Absicht dahintersteckte, doch bezweifelte er, zeit seines Lebens je wieder den Mund aufzumachen. Der Klang der eigenen wahrheitsgetreuen Aussagen bestärkte seine gut überlegte Meinung, dass Reden ihm nichts mehr nutzte. Dieser Mann dort schien über seine heillosen Schwierigkeiten Bescheid zu wissen. Jim schaute ihn an, wandte sich dann resolut weg, wie nach einem endgültigen Abschied.

Später dann, in entlegenen Weltecken, erinnerte sich Marlow oft und bereitwillig an Jim, erinnerte sich lang und breit, bis ins Detail und vernehmbar.

Vielleicht geschah es nach dem Abendessen auf einer mit reglosem Blattwerk behängten, blumenbekränzten Veranda in der starken, von feurigen Zigarrenenden gefleckten Dämmerung. Die ausladenden Rohrsessel beherbergten je einen stummen Zuhörer. Hin und wieder zuckte ein rotes Glutpünktchen, dehnte sich aus und erhellte die Finger einer trägen Hand, die Partie eines zutiefst entspannten Gesichts oder ließ ein blutrotes Funkeln aufflammen in einem versonnenen, von einer glatten Stirn verschatteten Augenpaar; und beim allerersten gesprochenen Wort wurde Marlows im Sessel ruhend hingelagerter Körper ganz still, als wäre sein Geist über die Zeitspanne zurückgeflogen und spräche mit seinen Lippen aus der Vergangenheit.

V

»Oh ja. Ich war bei der Ermittlung anwesend«, sagte er dann, »und bis zum heutigen Tag frage ich mich, warum ich hinmarschiert bin. Gern will ich glauben, dass jeder von uns einen Schutzengel besitzt, wenn ihr Burschen mir zugebt, dass jeder von uns auch seinen persönlichen Teufel hat. Dies Zugeständnis verlange ich, denn ich mag nicht als Ausnahme dastehen, und ich weiß, ich habe ihn — den Teufel. Gesehen natürlich nicht, aber ich setze auf Indizien. Es gibt ihn sehr wohl, und boshaft wie er ist, brockt er mir solche Sachen ein. Was für Sachen? Na, die mit der Untersuchung, die mit dem gelben Hund — wer rechnet schon damit, dass er auf der Veranda vom Untersuchungsgericht über nen räudigen einheimischen Köter stolpert? — solche Sachen, die mich auf hinterhältige, unerwartete, wahrhaft diabolische Weise kollidieren lassen mit zartbesaiteten Männern, mit hartgesottenen Männern, mit Männern, die verborgene Pestbeulen haben, bei Gott! und mein Anblick löst ihnen dann die Zunge für ihre verdammten Vertraulichkeiten, als — Gott schütze mich — als besäße ich nicht genug vertrauliche Informationen über mich selbst, die meine Seele quälen bis ans Ende der mir bestimmten Frist. Und womit ich diese Gunst verdiene, möchte ich wahrlich wissen. Ich schleppe genauso viele Sorgen mit mir rum wie andere Menschen und habe kein besseres Gedächtnis als der durchschnittliche Pilger in diesem Jammertal, darum tauge ich nicht sonderlich als Gefäß für Beichten. Warum dann also? Keine Ahnung — vielleicht, um nach Tisch für Unterhaltung zu sorgen. Charley, mein Lieber, das Dinner war vorzüglich, und darum empfinden diese Männer hier einen gepflegten Robber als turbulenten Zeitvertreib. Sie fläzen sich in deine guten Sessel und denken ›Zum Henker mit jeder Anstrengung. Soll dieser Marlow doch was erzählen.‹

Erzählen! Sei’s drum. Nichts leichter, als von Master Jim zu erzählen, nach einem fürstlichen Mahl, zweihundert Fuß über dem Meer, mit einer Kiste anständiger Zigarren parat, an einem wohltuend frischen Abend und bei Sternenlicht, wo selbst die Besten von uns vergessen, dass wir hier nur geduldet sind und unseren Weg in wechselhafter Beleuchtung suchen, jede kostbare Minute und jeden unwiderruflichen Schritt genau erwägen und hoffen, am Ende doch einen anständigen Abgang hinzulegen — obwohl wir da so unsere Zweifel haben — und dabei blutwenig Hilfe erwarten dürfen von unseren Mitmenschen. Klar gibt es hier und da Männer, für die gleicht das ganze Leben einer wohligen Stunde nach Tisch mit einer Zigarre; bequem, angenehm, leer, aufgeputscht vielleicht durch die Geschichte eines verzweifelten Ringens, die schon wieder vergessen ist, bevor sie zu Ende erzählt wurde, sofern sie überhaupt ein Ende hat.

Zum ersten Mal trafen sich unsere Blicke bei dieser Untersuchung. Ihr müsst wissen, dass alle, die auch nur irgendwie mit dem Meer zu tun hatten, erschienen waren, weil über die Sache schon tagelang gemunkelt wurde, seit dem Augenblick nämlich, als diese mysteriöse Kabelnachricht aus Aden kam und das allgemeine Geschwätz losging. Ich sage mysteriöse Nachricht, weil sie das in gewisser Hinsicht war, obwohl sie eine nackte Tatsache enthielt, so nackt und hässlich wie eine Tatsache nur sein kann. Die ganze Küste kannte kein anderes Thema mehr. Am frühen Morgen, als ich mich in meiner Kabine anzog, hörte ich durchs Schott, wie mein parsischer Dubash, der gütigerweise in der Pantry eine Tasse Tee trinken durfte, mit dem Steward über die Patna quasselte. Kaum an Land, laufen mir etliche Bekannte übern Weg, und das Erste, was sie sagen, ist: ›Hat man so was schon gehört?‹, und je nach Typ lächelten sie zynisch, guckten traurig oder ließen ein paar Flüche vom Stapel. Wildfremde Menschen sprachen einander plump-vertraulich an, bloß um sich über die Sache auszulassen; jeder verdammte Tagedieb in der Stadt kam angetrabt, um bei dieser Gelegenheit jede Menge Drinks abzustauben; man hörte davon im Hafenamt, bei jedem Schiffsmakler, beim eigenen Agenten, von Weißen, von Eingeborenen, von Mischlingen, sogar von den Bootsführern, die halbnackt auf den Steinstufen hockten, die man gerade hochstieg — beim Allmächtigen! Es gab einige Entrüstung, nicht wenige Witze und endlose Diskussionen darüber, was aus ihnen wohl geworden sei. Das ging einige Wochen so oder noch länger, und allmählich herrschte die Ansicht vor, dass was immer an dieser Sache mysteriös war, am Ende auch tragisch sein würde, und wie ich eines schönen Morgens gerade im Schatten bei der Treppe zum Hafenamt stehe, da sehe ich doch vier Männer den Kai entlang auf mich zumarschieren. Ich rätselte eine Weile, wo dieser komische Haufen wohl herkam, und plötzlich, so möcht ich mal sagen, rief ich mir zu: ›Da sind sie!‹

Das waren sie, ganz klar, drei davon in voller Lebensgröße und einer mit einem stattlicheren Leibesumfang als die Polizei erlaubt, frisch an Land gegangen nach einem üppigen Frühstück auf einem auslaufenden Dale Line Steamer, der etwa eine Stunde nach Sonnenaufgang eingelaufen war. Kein Irrtum möglich; ich erkannte den fidelen Skipper der Patna auf einen Blick: der dickste Mann im ganzen verfluchten Tropengürtel einmal rundherum um unsere gute alte Erde. Obendrein war ich ihm vor etwa neun Monaten in Semarang über den Weg gelaufen. Sein Steamer bekam in der Reede Ladung, und er schimpfte über die tyrannischen Einrichtungen des Deutschen Reichs und tankte tagein tagaus von früh bis spät Bier in De Jonghs Hinterzimmer, bis De Jongh, der ohne mit der Wimper zu zucken pro Flasche einen holländischen Gulden kassierte, mich beiseitenahm und mir mit seinem kleinen, ledernen Gesicht privatim erklärte: ›Geschäft ist Geschäft, aber bei diesem Mann, Kapitän, da wird’s mir richtig schlecht. Pfui!‹

Ich beobachtete ihn aus dem Schatten. Er lief ein Stück vorneweg, und die pralle Sonne hob seine massige Gestalt krass hervor. Ich musste an ein dressiertes Elefantenbaby denken, das auf den Hinterbeinen ging. Auch sein Aufzug war von umwerfender Extravaganz — ein schmuddeliger Schlafanzug mit grellgrünen und dunkelorangen Längsstreifen, an den nackten Füßen zerfetzte Strohschlappen, dazu ein ausrangierter, dreckstarrender, zwei Nummern zu kleiner Tropenhelm, der auf seinem Mordsschädel mit einem Hanfseilgarn festgezurrt war. Ein solcher Mensch besitzt natürlich nicht den Hauch einer Chance, wenn er sich Kleider borgen möchte. Na gut. Er kam mit Windeseile angestürmt ohne rechts oder links zu schauen, lief drei Fuß entfernt an mir vorbei und rannte in aller Unschuld die Stufen zum Hafenamt hoch, um seine eidesstattliche Aussage oder Meldung zu machen oder wie immer man es nennen will.

Er hat sich offenbar zunächst an den Ersten Heuerbaas gewandt. Archie Ruthvel war gerade reingekommen und wollte, so erzählt er wenigstens, sein mühvolles Tagwerk damit beginnen, seinem Bürovorsteher eine Standpauke zu halten. Ein paar von euch haben ihn vielleicht gekannt — ein zuvorkommender, kleiner portugiesischer Mischling mit einem erbarmungswürdig dürren Hals und stets drauf aus, den Kapitänen irgendetwas Essbares abzuluchsen: ein Stück gepökeltes Schweinefleisch, eine Tüte Schiffszwieback, eine Handvoll Kartoffeln oder sonst was. Auf einer Fahrt, ich erinnere mich, da hab ich ihm von den Restbeständen meiner Schiffsvorräte heimlich ein lebendiges Schaf zukommen lassen; nicht damit er mir einen Gefallen tut — das hätte er gar nicht gekonnt —, sondern weil sein kindlicher Glaube an das heilige Recht auf Nebeneinkünfte mein Herz rührte. Dieser Glaube war so stark, dass er fast schon wieder schön war. Die Rasse — vielmehr die beiden Rassen — und das Klima … Egal, spielt keine Rolle. Ich weiß, wo ich einen Freund fürs Leben habe.