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Nach dem Tod ihrer Eltern durch einen Angriff der letzten Seelenvampire, die den Krieg überlebt haben, wächst Yu bei den geheimnisvollen Schattenkriegern auf - den Shan Quai. Als sie 16 wird, verliebt sie sich in Shing, einen ihrer Ausbilder. Als sie sich heimlich mit ihm trifft, nutzen ihre Feinde innerhalb der Gemeinschaft der Shan Quai dies, um sie unter Druck zu setzen. Doch dieses Problem verblasst angesichts der Bedrohung durch die zurückgekehrten Seelenvampire - die Sholo'Sa, Die Stadt Sang Dei droht wieder unter die Herrschaft der Untoten zu fallen. Yu kämpft um ihre Liebe und gegen die Bedrohung durch die Seelenvampire. Wie sich schon bald herausstellt, ist es nicht nur die Bedrohung von außen, die Yu gefährlich wird... Dies ist die spannende Geschichte ihres Aufwachsens und ihres Lebens als Junge Frau in der geteilten Stadt: Sang Dei. Sie begegnet sowohl dem Shogun als auch dem Kaiser und nimmt Einfluss auf das Schicksal des Städtebundes. Ein Muss für alle Aetheris-Fans.
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Seitenzahl: 362
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Alec J. Archer
Das Herz der Schatten
Ein Aetheris-Roman
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Widmung
Landkarten
Schreibweisen und Aussprache
Autorenblog
Prolog
1 Schatten und Licht
2 Der Weg des Herzens
3 Der Niedergang
4 Neubeginn
5 Der Widerstand
6 Das Tribunal
7 Hetzjagd
Glossar
Impressum neobooks
Dieses Buch ist besonders meiner Frau Andrea gewidmet.
Ich liebe Dich!
Du bist frei, die Dinge zu lesen und (auch in Gedanken) auszusprechen, wie Du möchtest.
Wenn Du gern denselben Klang verwenden möchtest, den der Autor dafür vorgesehen hat, findest Du hier eine kurze Übersicht zur Aussprache.
“Th” in Eigennamen von Landschaften und Persönlichkeiten (z. B. Thororn) wird wie im Englischen oder Griechischen als scharfer Laut gesprochen, wie in “Bathroom”.
“Dh” wird wie das weiche englische “Th” ausgesprochen, wie im Wort “The” (z. B. Ladhar)
“Dj” oder “dj” wird wie “Dsch” ausgesprochen, wie Dschungel. Beispielsweise bei “Sei-Dje” oder “Sei-Djar”.
Ein “ë” wie in “Noë” wird als “e” ausgesprochen.
Und nun viel Spaß mit Ætheris!
Alec J. Archer
http://archer.neyfisch.de/
(ohne„www“davor)
Der Kontinent Elestria: Genauer gesagt, der Städtebund, in dem die Menschen der Welt leben. Sechs Städte, die für sich stehen und untereinander Handel treiben.
Lange waren es fünf. Doch mit dem Ende der Sholo’Sa-Kriege - dem fünfjährigen Kampf gegen die Herrschaft der Seelenvampire - entstand die sechste: Dantyr. Doch dies ist eine andere Geschichte.
Es hieß, die Sholo’Sa seien ausgerottet worden, am Ende des Krieges. Verschwommen kann ich mich noch heute an die jubelnden Menschen - und auch Zayao - erinnern. Damals war ich acht. Eine der Katzenmenschen mit violettem Fell hatte mich auf ihre Schultern gesetzt. Als mein Vater mich mit ernstem Gesicht wieder herunternehmen wollte, hielt er inne. “Luritri”, hauchte er ehrfürchtig. “Segnet meine Tochter.” Die Zayao hatte fauchend gelacht. Sie legte mir, die ich auf ihren Schultern hockte, die Hand auf das Herz. “Möge Lamasti dich segnen und dir ein erfülltes Leben zuteilwerden lassen.” Ich sah, wie meinem Vater die Tränen herabliefen. Er war so stolz. Auch ich hatte von Luritri gehört. Jeder hatte das. “Ich werde dir deine Tochter zurückbringen”, versprach die Zayao. “Ich habe den Eindruck, fürs Erste gefällt es ihr dort oben.” Xoman, mein Vater nickte. “Es ist der Familie Lauming eine Ehre. Ihr seid immer in unserem Hause willkommen.” Er verbeugte sich.
So verfolgte ich die Ansprache der Siegesfeierlichkeiten in Sang Wan Yao, der westlichen Hälfte der Stadt, auf den Schultern der Zayao. Alle Welt kannte mich. Damals dachte ich, dass Sang Dei die ganze Welt wäre. Ich wurde bekannt, als das Mädchen auf Luritris Schultern. Zum Glück kannte niemand meinen Namen. Meine Freunde und die meiner Eltern standen nicht nahe genug, um mich zu erkennen. Mein Vater verbot mir, anderen davon zu berichten, so stolz ich auch war, auf den Schultern der Heldin der Sholo’Sa-Kriege gesessen zu haben, der Befreierin der Stadt. Ich hielt mein Versprechen. Heute ist es nur noch eine der schönen Erinnerungen an den glücklichen Teil meiner Kindheit.
Einen geliebten Menschen zu verlieren ist immer schrecklich. Gleich zwei zu verlieren unsäglich.
Wenn Borin beide Eltern zu sich holt, ist dies das Schlimmste, das einem Kind passieren kann.
Wer von uns vermag es schon, die Wege der Urdrachen zu verstehen?
Uns alle erschüttert die unfassbare Tatsache, dass Yu, die Tochter der Familie, bis heute vermisst wird. Mögen die Sieben ihr gnädig sein. Mögen sie dafür sorgen, dass Naruls Brut uns nie wieder heimsucht.
— aus der Grabrede für die Familie Lauming
Die Vergangenheit: Sang Dei, drei Jahre nach dem Ende der Sholo’Sa-Kriege Der 8. Tag im 3. Mond des 70. Ceonslaufs des Bundes
Ich kann mich genau erinnern, wie ich den Wohnraum unseres großzügigen Anwesens, mitten in Sang Wan Yao, betrat. Jener Tag veränderte alles.
Alles begann freundlich und harmlos: Ich war ganze elf Ceonsläufe alt. Das Frühjahr setzte ein, sodass ich ohne dicke Jacke und Handschuhe zum Spielen hinaus konnte. Raureif zeigte sich nur noch in den Gärten, die das niedrig stehende feurige Auge Caliopés noch nicht erreichte.
In einem dieser Gärten der anderen Stadthälfte - in Dei Nawa, wo der Shogun herrschte, klaubte ich mit meiner Freundin Yanai alte Kastanien auf; zusammen mit anderen Dingen, die der Schnee wieder freigab. Wir vernahmen panische Schreie. Rauch stieg über der Stadt auf. Häuser brannten. Menschen riefen durcheinander. Ein durchgegangenes Pferd galoppierte vorbei. Wir hörten die wilden Hufschläge über das steinerne Pflaster donnern. Kurz darauf setzten bleiche Gestalten mit schwarzen Augen und widerwärtig gespaltenen Zungen über den niedrigen Zaun des Gartens. Ich versteckte mich hinter dem kleinen Misthaufen, der in der hinteren Ecke des Gartens stand, wo ich ein paar welke Blätter vom vorigen Herbst entsorgte. Als ich die Gestalten erblickte, duckte ich mich ängstlich hinter dem dampfenden Sichtschutz. Sie nahmen Yanai mit sich. Ihr Vater stürzte aus dem Haus und verschwand ebenso. Yanais Mutter überlebte als Einzige. Ich habe Ceonsläufe Später das Haus aufgesucht. Sie weiß, dass es mich gibt. Dass ich eine Shan Quai bin. Seit ich sie hin und wieder besuche, ist ein wenig von der Traurigkeit gewichen, die ihr Gesicht beherrscht.
Doch damals verfiel ich in helle Panik. Es war, als hätten die Sholo’Sa-Kriege nie aufgehört. Als hätte Thororn, der Anführer der Seelenvampire, sich aus seinem dunklen Grab erhoben und wäre zurückgekehrt.
Auf dem Heimweg stolperte ich über eine Leiche, was mir blutige Handflächen bescherte. Der tote Mann lag mitten auf der Straße. Ich konnte meine Augen nicht von seinem Gesicht abwenden: Seine Haut war grau und brüchig. Risse durchzogen das Gesicht, als bestünde die Haut aus altem Reispapier. Sein Hals war an der Seite aufgerissen. Blut rann daraus zu Boden. Das meiste war bereits angetrocknet. Nie zuvor während der fünf Jahre der Sholo’Sa-Kriege hatte ich ein Opfer der Seelenvampire selbst erblickt. Die Wirklichkeit war grausamer, als jede der Schilderungen, die meine Eltern versucht hatten, von mir fernzuhalten.
Ich rannte über eine der hoch über dem Drachenfluss gespannten Hängebrücken, die Sang Wan Yao und Dei Nawa miteinander verbanden. Einhundert Schritt tiefer trieben die Wassermassen dahin, nachdem sie den Virkahirfall herabgestürzt waren, genau an der Nordmauer der Stadt.
Gefrorener Nebel machte die Brücken glatt. Jeder unbedachte Tritt konnte den Tod bedeuten. Doch ich rannte hinüber, ohne ein einziges Mal auszugleiten.
Ich erreichte sicher das Gebiet des Kaisers. Den Westen der Stadt - meine Heimat. Völlig außer Atem bog ich in die Straße der Händler ein, in der unser Haus lag.
Weinend wollte ich meinen Eltern von dem verstörenden Erlebnis berichten. Mich auf dem Schoß meiner Mutter sitzend an ihrer Brust ausweinen. Die tröstende Stimme meines Vaters dazu vernehmen. Stattdessen sah ich auf ihre Körper hinab; die Gesichter und das Haar grau, als hätte sie jemand geschminkt, wie zum jährlichen Ceonsfestspiel: Risse in der Haut. An den Seiten ihrer Hälse zeichneten sich dünne Spuren getrockneten Blutes ab, wie auf jenen der Schausteller, die bei den Festspielen die Opfer des Krieges darstellten. Opfer der Seelenvampire. Ich wusste, was geschehen war: Die Sholo’Sa hatten den Dorn ihres Seelenstachels, der aus der linken Handfläche ragte, hineingebohrt. Ihnen zuerst das Leben und dann die Seele entrissen. Meine Eltern traten nicht vor Borin, den Urdrachen des Todes und des Lebens, den Herrn der Erde. Ihre Seelen waren fort - für immer. So sagten es die Priester der Sieben Urdrachen.
Nun - im Alter von elf Ceonsläufen - erfuhr ich auf bitterste Art und Weise, dass die Soldaten sich geirrt hatten. Nicht alle Sholo’Sa waren vernichtet worden.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich weinend und zitternd über den bleichen entstellten Körpern meiner Eltern gelegen hatte. Ich bemerkte nicht, wie Soldaten des Kaisers das Haus betraten. Ich weiß nur noch, dass mich jemand hoch hob. Ein Gesicht. Männlich. Schulterlange braune Haare unter dem Gardehelm. Ein junger Soldat. “Das Mädchen lebt noch, Herr Hauptmann.”
“Bringt sie zum Waisenhaus”, befahl der Offizier des Soldatentrupps. Der Mann, der mich im Arm hielt, nickte. Ich begann zu weinen. Der Soldat verfiel in Laufschritt und trug mich durch das Gewirr der Straßen der geteilten Stadt.
Er brachte mich nicht zu den Waisen. Stattdessen suchte er ein altes Lagerhaus auf. Er zog sich aus. Meine Mutter hatte mich vor bösen Männern gewarnt, die kleine Mädchen entführten und ihnen schlimme Dinge antaten. Ich sollte nie mit einem Fremden mitgehen. Doch welche Wahl war mir heute geblieben? Er entledigte sich der Uniform. Als er meine ängstlichen Blicke bemerkte, lächelte er. “Du musst keine Angst haben”, raunte er mir zu und schlüpfte in einen schwarzgrauen unregelmäßig gemusterten Anzug. Perfekt, um mit den Häusern der Stadt zu verschmelzen. “Mein Name ist Shing.” Zaghaft ergriff ich die Hand, die er mir hinstreckte. Er lächelte traurig. “Auch wenn es zu spät für dich kommt: Wir haben die Sholo’Sa aus der Stadt vertrieben. Die Gefahr ist gebannt. Fürs Erste.” Auch mir legte er eine Decke mit einem ähnlichen Muster über. Dann nahm er mich wieder in seine kräftigen Arme. Ich hatte keine Angst. Irgendwie spürte ich, dass er mir nichts tun würde. Der Schrecken lag bereits hinter mir. Meine Mutter, meine geliebte Mutter. Jian würde mich nie wieder in ihren Armen halten. Ebenso wenig, wie Xoman, mein Vater. Wir waren eine wohlhabende Kaufmannsfamilie gewesen, die mit Porzellan und Seide handelte; dem Gold Sang Wan Yaos. Jetzt gab es nur noch zwei bleiche tote Hüllen. Und mich.
Ab jetzt war ich weder arm noch reich. Ich war eineQuai-Lam. Eine Schülerin der Schatten. Anfangs verstand ich selbst nicht recht, was das sein sollte. Ich lernte zunächst, mich zu verstecken. In Räumen mit den Schatten zu verschmelzen; während unserer Ausflüge zum Übungsgelände außerhalb der Stadt, tarnten wir uns zwischen Bambusstangen, im Gras und zwischen Felsen. Wenn unsere Ausbilder uns allzu leicht entdeckten, ermahnten sie uns streng. Mehr als einmal bekam ich mit der Bambusrute eins auf die Finger, wenn meine Tarnung zu offensichtlich war. Sie waren unerbittlich.
Geborgenheit erfuhr ich nur, wenn ich mir die Decke in unserem Mehrbettraum über den Kopf zog — und zwar genau so lange, bis einer meiner Mitschüler sie mir entriss. Einer von ihnen war dreizehn. Zwei Jahre älter, kräftig und bösartig. Er hieß Chul. Ein Junge mit igelkurzen borstigen schwarzen Haaren. Grinsend warf er meine Decke auf sein Bett und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ich verbrachte meine Nächte zitternd ohne Decke. Bis eines Abends Shing nach mir sah. Seitdem musste ich mir um meine Decke keine Sorgen mehr machen. Chul bekam Latrinendienst aufgebrummt. Einen Mond lang jeden Tag.
Der Vorfall stachelte Chul nur noch weiter an. Er fuhr fort, mir das Leben zur Hölle zu machen. Ich war verzweifelt. Was hatte ich ihm nur getan? Wenige wochen Später passte er mich an der Essensausgabe ab. Er spuckte auf meinen gefüllten Teller. “Na, wo ist jetzt dein großer Beschützer?” fragte er hämisch. “Hinter dir”, antwortete ich, da ich mir nicht anmerken lassen wollte, wie eingeschüchtert ich war. Er sah sich tatsächlich um. Er war dumm wie polierter Reis. Und nun auch noch blass um die Nase. Als klar wurde, dass ich log, drehte er mir wieder seinen Kopf zu. “Sehr witzig”, äffte er. Chul zog die Nase hoch, nur um einen Moment später den Finger an einen Nasenflügel zu legen und auf meinen Teller zu rotzen. Shing klopfte ihm auf die Schulter. Er erschien, wie aus dem Nichts. Mein Retter. “Das Essen ist würzig, Junge Das solltest du dir nicht entgehen lassen. Iss, bevor es kalt wird.” Shing nahm mir den Teller aus der Hand und begleitete den Jungen an einen der Tische. Wir sahen alle verstohlen zu, wie er wartete, bis Chul den Teller mit Eintopf blitzblank gelöffelt hatte. Seit diesem Tag war Schluss mit der Hänselei. Zumindest für eine Weile. Ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er es wieder wagte, mich zu tyrannisieren. Unterdessen nährte er seinen Zorn im Stillen.
Als Chul ein Jahr Später in denMerotoeintrat, den zweiten Teil unserer Ausbildung, begann er wieder, mich zu piesacken. Ich war zwölf Ceonsläufe alt. Während meiner Stunden in der Kampfklasse, die Shing gemeinsam mit einigen anderen derQuai-Djar -der fertig ausgebildeten Schattenkämpfer - unterrichtete, nahm er mich beiseite. “Ich werde dir diesmal nicht helfen. Du musst allein mit ihm fertig werden.” Ich schniefte. Er lächelte. “Sei kreativ. Wende dein Wissen an. Eine Shan Quai muss mit jeder Situation zurechtkommen.”
Eine Woche später, nach mehr oder weniger erträglichen Attacken, reihte ich mich wie jeden Tag müde von der fordernden Ausbildung in die lange Schlange an der Essensausgabe ein. Jemand rempelte mich an. Ich stürzte und fiel mit den Händen voran in die auf dem Holzboden verteilte Reisbrühe. Das Essen war so heiß, dass ich meine Hände an meiner Kleidung abwischte und mir auf die Finger blies. Einer der Ausbilder schlug mir mit einer Bambusgerte auf die Hände und schrie mich an, ich solle gefälligst besser aufpassen. Ich verkniff mir die Tränen. Chul grinste boshaft. Seine stachelige Frisur unterstrich sein fieses Auftreten. Er trug jetzt nicht mehr den gelben Saum an der allgegenwärtigen Übungsbekleidung, sondern den roten Saum derMeroto -derjenigen, die sich nach den ersten zwei Jahren der Ausbildung auf eine der vier Sektionen des Unterrichts spezialisierten. Wie ich hörte, hatte er die Sektion Kampf gewählt.
Zum Glück hatte er mittlerweile ein anderes Quartier bezogen, da sich die Unterkünfte derMeroto-Schüler in einem anderen Bereich der unterirdischen Anlage befanden.
Nach dem dritten Essen, das ich vom Boden wischen durfte — ganz zu schweigen davon, dass ich hinterher alleine den Speisesaal reinigen musste, beschloss ich, zum Gegenangriff überzugehen.
Kimiko, eine der älteren Schülerinnen, war mir nach der zweiten Attacke Chuls zur Hand gegangen und half mir, den Reis wieder aufzusammeln, der am Boden verstreut lag. Kimiko hatte freundliche jadegrüne Augen und helles, kastanienfarbenes Haar. Sie war eine der Wenigen, die andere Merkmale aufwies, als die typisch sangdeijanischen: dunkle Mandelaugen und schwarze glatte Haare. Nicht nur körperlich war sie eine Ausnahmeerscheinung unter den Schülern der Shan Quai. Sie erzählte mir Geschichten von anderen Schülern. Sie hatte ähnliches erduldet, bis sie gelernt hatte, sich zu wehren. Ich fragte Kimiko, wie sie es geschafft hatte, die Übergriffe zu beenden. Wie sie mir verriet, verfügte sie über das Wissen, Tränke zu brauen. Alchimie war eines der weniger frequentierten Fächer, zudem es während der Grundausbildung noch nicht unterrichtet wurde. Nur die wenigen Schüler, die auf die Idee kamen, sich auf die Sektion Täuschung zu spezialisieren, lernten den Umgang mit Chemikalien; so wie Kimiko.
Einen Tag später war Chul wieder da. Er patsche genüsslich mit seiner Pranke auf meinen Tellerrand, so dass die Nudelsuppe überschwappte. Kimiko hatte an diesem Abend Dienst an der Essensausgabe. Unbemerkt tröpfelte sie das Elixier in sein Essen. Keine zwei Minuten später rannte Chul mit blassem Gesicht in Richtung Latrine. Er musste an diesem Abend wesentlich mehr Zeit auf dem Abort verbringen, als ich im Speisesaal zur Reinigung. Auch wenn Kimiko mit ihren langen nussbraunen Haaren und dem hübschen Gesicht mit der zarten Nase eher aussah, wie ein unschuldiges verwöhntes Mädchen, hatte sie es doch faustdick hinter den Ohren. Von diesem Tag an waren Kimiko und ich Freundinnen. Oft unterhielten wir uns und machten Pläne, wie wir uns die übelsten unserer Mitschüler am besten vom Leib halten konnten.
Die Übergriffe Chuls nahmen für längere Zeit ein Ende. Es tat gut, nicht mehr allein zu sein. Kimiko stellte mir Yoshi vor, ihre beste Freundin. Ein weiteres Mädchen ihrer Altersstufe. Auch sie war mehr als schön: Apart. Zarter Knochenbau, hohe Wangenknochen, bildhübsche dunkle Mandelaugen. Sie hatte sich auf die Sektion Spionage spezialisiert. Besonders auf die Disziplin, die schlicht “gesellschaftliches Parkett” genannt wurde. Von ihr erfuhr ich einiges darüber, wie ich mir die weniger hartnäckigen Jungs - und manchmal auch Mädchen - vom Leib halten konnte. Drohungen, Schmeicheleien und andere Techniken leisteten gute Arbeit, auch wenn mir ein ehrlicher Kampf allemal lieber war.
Shing sah ich nur noch selten, während weniger Unterrichtsstunden. Immer häufiger traf ich mich mit Kimiko und Yoshi, bis es ihnen ihre Ausbildung kaum noch ermöglichte.
Ich durchlief die Grundausbildung der Shan Quai - der geheimen Gemeinschaft, die dafür sorgte, dass keiner der beiden Herrscher, weder der Shogun in Dei Nawa, noch der Kaiser in Sang Wan Yao, eine Herrschaft der Willkür führen konnte. Offiziell kam dieser ausgleichende Part demKojunzu. Dem Obersten Schwertmeister Sang Deis, der gleichzeitig auch das politische Amt des Stadtherrschers innehatte. Offiziell.
Der Kojun lebte mit den Schwertmeistern auf einer hoch aufragenden Felsnadel mitten im Drachenfluss, dem sogenannten Kojunfels. Die Schwertmeister bildeten so etwas wie die neutrale Garde der Stadt. Gut ausgebildete Kämpfer, die im Namen der Gilde Handelskarawanen eskortierten, die Bauern schützten und für Ordnung sorgten. Sie waren höhergestellt, als die Soldaten des Kaisers oder des Shoguns. Es hieß, ihre Schwertkunst überträfe sogar die der Shan Quai — was unsere Lehrer natürlich nicht erzählten. Dafür ging dieses Gericht innerhalb derQuai-Lamum — der Schüler, zu denen auch ich zählte.
Genauso, wie im Grunde jeder wusste, dass der Kojun kaum etwas gegen den Willen des Shoguns oder des Kaisers beschließen konnte, wussten die Machthaber, dass sie im Falle eines fatalen Regierungsstils jederzeit von den Shan Quai abgesetzt wurden. Kompromisslos und endgültig mittels Gift, einem Pfeil im Hals oder einer durchschnittenen Kehle. Die frühere Geschichte der Stadt war voll von Beispielen dieser Art. Selbst der Shogun hatte Ehrfurcht vor den Shan Quai. Niemand hat je ein abfälliges Wort über sie aus seinem Mund gehört. Das hat mir mein Vater immer gesagt, der kein Sympathisant des Shogun war. Er hielt es mit dem Kaiser. Das hatte ihm auch nicht geholfen. Auch der Kaiser war nicht allwissend. Ebensowenig konnte er Sang Wan Yao vor den Sholo’Sa beschützen.
Als ich dreizehn wurde, steckte man mich zu denQuai-Lamder Orientierungsphase. Die Phase desMerotobegann für mich. Für gewöhnlich begann man die Ausbildung mit Schwerpunkt in einer der vier Sektionen erst im Alter von vierzehn Ceonsläufen. Da ich bereits mit elf in die Gemeinschaft - und somit in die Ausbildung - eintrat, war ich ein Jahr früher dran. Shing meinte, dass ich so talentiert sei, dass man mich nicht einfach ein Jahr länger in der ersten Stufe der Ausbildung behielt, sondern beschloss, mich in die nächste Ebene zu schicken. Ich durfte also wählen: Kampf, Täuschung, Spionage oder Taktik und Strategie. Die Wahl war einfach: Kampf. Ich musste gegen Chul bestehen. Andernfalls würde er mich eines Tages - oder Nachts - niedermachen. Niemals wollte ich mich ihm wehrlos gegenübersehen. Er war fünfzehn. Und einer von den üblen Jungs. Er war der kräftigste seines Jahrgangs. Auch die Adepten hatten Respekt vor ihm, und die waren deutlich älter als er. Zwischen 17 und 20 Ceonsläufen. Ich wusste, was Jungs wie Chul durch den Kopf ging, wenn sie an Mädchen dachten. Chul war gewalttätig. Er wollte Macht. Macht über mich. Ich musste ihn ein für alle Mal vernichtend schlagen, damit er seine Übergriffe unterließ.
Bald darauf geschah etwas. Nicht mit mir. Mit Shing. Mit einem Mal wirkte er traurig und niedergeschlagen. Apathisch. Selbst mit mir unterhielt er sich nicht mehr nach den Unterrichtseinheiten. Irgendetwas Tragisches musste in seinem Leben vorgefallen sein. Hatte er womöglich ein geheimes Privatleben? Manche hatten eines. Es galt als normal, ein gesellschaftliches Leben zu führen. Manchmal wussten die Ehepartner nicht einmal von der Tätigkeit für die Shan Quai. Manchmal wurden sie eingeweiht und mussten einen Eid auf den Codex ablegen. Verschwiegenheit oder Tod. Doch viele lebten einfach innerhalb der Gemeinschaft und unterhielten Liebeleien. Oder sie vergnügten sich im roten Viertel mit denGeishas. Männlichen oder weiblichen - je nach dem. Erwachsenendinge halt.
Ich beschloss, dahinter zu kommen, was Shing betrübte. Er war mein Retter. Ich musste ihm helfen, so wie er mir geholfen hatte.
Ich hatte mich bereits auf dem Weg, der zum Außengelände führte, verborgen. Auf das Essen hatte ich daher verzichten müssen. Als mein Magen knurrte, bereute ich, dass ich nicht wenigstens etwas Brot stibitzt hatte, ehe ich mich hierher aufmachte.
Ich hatte Glück. Ich musste nicht allzu lange warten, bis mein Ausbilder vorbei lief. Als ich mich kurz darauf an Shings Fersen heften wollte, stand unvermittelt Chul vor mir - der Bastard. Wie aus dem Nichts tauchte er zwischen den hochaufragenden Stämmen des Bambuswaldes auf. Trotz seiner Gesichtsmaske und der Haube erkannte ich ihn sofort an seinem verächtlichen Tonfall, der allenfalls als Brechmittel gut war. “Na, wen haben wir denn da?” Seine wenig geistreiche Frage hätte er sich sparen können. Er wusste genau, wen er vor sich hatte. “Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, du bist ein Trottel”, höhnte ich, da ich mir meine Angst nicht anmerken lassen wollte. “Schleimerin”, antwortete er. “Hast wohl Angst, dass ich dir etwas antun könnte. Glaub ja nicht, dass mich dein Gewinsel davon abhält.” Ich nahm meinen Mut zusammen. Was immer gleich passieren würde, ich wollte keine Schwäche zeigen. “Oh, unser schwachsinnigster allerQuai-Lamhält es schon für Lob, wenn er einmal nicht als Trottel bezeichnet wird.” Ich versuchte das Zittern in meiner Stimme zu verbergen. Es gelang mir nicht ganz. “Versuch es mal mit Denken”, ätzte ich. “Auch wenns schwerfällt, Volltrottel.” “Jetzt triffst du mich aber hart, Kleines”, entgegnete er süffisant. “Von dir als dumm bezeichnet zu werden verletzt mich so ungemein.” Chul griff sich gespielt mit beiden Händen ans Herz.
Ohne Vorwarnung schoss seine Rechte vor. Er packte mich am Hals und drückte zu. “Winsle, kleines. Winsel um dein Leben.” Ich röchelte, als es mir allmählich die Luft abschnürte. Meine erlernten Befreiungstechniken versagten an seinem eisernen Griff. Er drückte stärker zu. Setzte einen Wurf an. Ich hatte es nicht kommen sehen. Er war stärker. Schneller. Besser ausgebildet. Ich lag hilflos wie ein Hundewelpen auf dem Rücken. Meine Sinne schwanden.
Als ich wieder erwachte, mochten nur wenige Augenblicke vergangen sein. Chul hatte mich tiefer in den Bambuswald gezerrt. Nun hantierten seine Finger an der Verschnürung meines Kampfanzuges. Ich roch seinen nach Pflaumenwein stinkenden Atem. Seine Finger glitten über meinen bloßen Bauch. Abwärts. Dahin, wo niemandes Finger etwas zu suchen hatten.Tu was Mädchen. Lass deinem Gegner keinen Raum für seinen Angriff.Shings Stimme hallte durch meinen Kopf, als wäre er hier, um mir Unterricht zu erteilen.Ich rollte herum. Er versuchte, mich festzuhalten. Seine Hand glitt über meinen Hintern. Dann rutschte sie endlich ab. Ich kam auf die Füße. Er versuchte, mich wieder zu packen. Doch ich war schmaler und wendiger als er. Ich rannte zwischen dicht stehenden Bambusstämmen hindurch. Links und rechts huschten die senkrechten Schatten an mir vorbei, während ich zwischen den hohen Pflanzen hindurchrannte. Blätter peitschten mir ins Gesicht. Immer wieder wechselte ich die Richtung, wie ein hakenschlagender Hase. Ich hetzte so schnell, wie nie zuvor in meinem Leben. Ich wagte nicht, mich umzusehen und rannte, bis ich nicht mehr weiter konnte. Ich sah mich um. Auch als mein Atem sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, und mein Herz nicht mehr wie wild in meiner Brust pochte, war nichts von Chul zu sehen oder zu hören. Ich hatte ihn abgehängt.
Immer noch schweratmend lehnte ich mich gegen einen Bambusstamm. Was sollte ich als nächstes tun? Sicher würde er am Eingang zur Höhle auf mich warten. Oder irgendwo oberhalb. Andererseits verspürte ich keine Lust mehr auf einen Ausflug, um Shing zu folgen. Er war längst weg. Seine Fährte war kalt, wie ein totes Reh.
Enttäuscht ließ ich mich auf einem Fels nieder. Einem der vielen Findlinge, die zwischen den Stämmen des breiten Bambuswaldes verteilt lagen, der den Laufweg der Shan Quai vor neugierigen Blicken schützte. Ich beschloss, zunächst abzuwarten und dann einen anderen Weg hinunter zu den Höhlen zu suchen — in der Hoffnung, dass Chul weiter oben vergeblich auf mich wartete.
Ich riss panisch die Augen auf, als sich mir eine Hand über Mund und Nase legte, und mich rückwärts vom Findling zog. Ich griff hinter mich. Erwischte den Stoff einer Shan Quai-Haube. Zog sie meinem Angreifer vom Kopf. “Schht”, flüsterte eine Stimme hinter mir. “Bitte sei still, damit ich dich loslassen kann”, zischte der Unbekannte. “Er ist in der Nähe und durchstreift den Wald auf der Suche nach dir. Ich kenne einen Weg, der uns hier wegbringt, ohne Aufsehen zu erregen.” Ich nickte langsam. Die Hand hatte wenigstens meine Nase schnell wieder freigegeben, so dass ich Luft bekam. Mein Angreifer gab mich frei. Ich wirbelte herum. Vor mir im Dunkeln zog Shing kurz seineQuai-Ki, seine Maske herunter, damit ich ihn erkannte. Hatte er etwa bemerkt, dass ich ihm gefolgt war? War er so gut?
Wenig später saß ich zusammen mit meinem Meister auf einem anderen Findling. Weitab vom Weg und von Chul, der suchen sollte, bis er schwarz wurde.
Shing hatte Maske und Kopfhaube abgenommen. Ich ebenso. “Du hast dich in Gefahr begeben, um mir zu folgen. Hätte ich es nicht bemerkt, wäre es unter Umständen übel für dich ausgegangen, kleineQuai-Lam.”Ich senkte den Kopf. “Verzeiht, Meister Shing.” Er lächelte traurig. Anscheinend hatte er den Übergriff Chuls nicht mitbekommen. Ich beschloss ihn nicht weiter zu beunruhigen, also behielt ich das Geschehnis für mich.
“Weshalb wolltest du mir nachschleichen?” Ich beschloss, aufs Ganze zu gehen. “Ihr seid nur noch ein Schatten Eurer selbst, Meister - wenn Ihr den Ausdruck verzeiht.” Er verdrehte die Augen angesichts des lauen Wortspiels. “Ihr seid mit den Gedanken nicht hier. Jetzt gerade ja. Ausnahmsweise. Aber sonst nicht.” Er sah mich an. Vorsichtig. Auf der Hut. Ich näherte mich dem Kern. Es musste sein. Auch wenn es wehtat. “Ich kenne dieses Verhalten”, redete ich weiter. “Als meine Eltern gestorben waren. Als ich zwischen all diesen feindseligen fremden älteren Kindern nach Wärme suchte, habt Ihr mich immer wieder gerettet.”
Ich sah ihm in die Augen. Das tat ich immer, wenn es mir möglich war. Sie glichen kleinen Seen, in denen meine Seele vor Anker gehen konnte. Die einzigen Augen, die mir Trost gaben, seit meine Eltern zu Borin gegangen waren.
“Ich sehe in Euren Augen schon länger Kummer. Seit einem halben Ceonslauf.” Shing zuckte vor mir zurück. Seine Augen geweitet. Sein Körper gespannt, wie der Bogen eines Scharfschützen. Ich konnte nicht anders. Die Worte sprudelten aus mir heraus, ehe ich nachdachte. “Seit Ihr von Eurem Auftrag zurück seid, der viel zu lange andauerte, zeigen Eure Augen Kummer und Trauer. Doch seit heute ist dort dieser Ausdruck, als wären Eure Eltern gestorben.” Oder eine andere geliebte Person. Doch dies behielt ich für mich. Ich wollte nicht, dass er eine Frau oder Geliebte hatte. In meinen Träumen war es immer Shing, den ich heiratete. Später. Wenn ich alt genug war. Wir mussten ja nicht diese Dinge tun, die andere Erwachsene miteinander taten. Aber wenn er es zur Bedingung machte... Wenn ich älter war, würde es sicher nicht wehtun. Nicht so, wie jetzt, falls Chul Erfolg gehabt hätte. Ich schüttelte mich und konzentrierte mich wieder ganz auf Shing.
Er seufzte. Sah sich noch einmal um und horchte in die Stille. Vielleicht um sicher zu sein, dass Chul nicht doch in der Nähe war. Anscheinend verrieten ihm seine Sinne, dass wir allein waren.
“Yu”, er schüttelte den Kopf. “Meine kleine Yu. Du bist so jung und besitzt doch die Gabe in mein Herz zu sehen.” Er sah mir in die Augen. Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus. Ich fühlte mich geborgen. Zum ersten Mal, seit ich bei den Shan Quai war. Obwohl es ihm sichtbar schlecht ging. Ich konnte für ihn da sein. Wir waren füreinander da. “Ich habe...” Er setzte noch einmal an. “Ich hatte eine Frau. Ihr Name war Lijen.” Betrübt ließ er den Kopf hängen. “Heute Morgen ist sie gestorben. Es ist alles meine Schuld.”
Ich weiß nicht, wie es geschah, ich weiß nur noch, wie ich meine Arme um ihn geschlungen habe, neben ihm saß und er schluchzend in sich zusammensank. Ganz wie von selbst zog ich ihn zu mir. So weinte er sich an meiner nicht vorhandenen Brust aus. Die halbe Nacht lang. Ich selbst war zwischen der Trauer, die ich mit ihm fühlte und der Wärme und Geborgenheit, die seine Nähe mir schenkte, hin und her gerissen.
Nach dem er sich peinlich berührt von mir löste, zeigte er mir einen anderen geheimen Zugang zu den Kammern der Shan Quai - durch ein Haus in der Stadt. Er bat mich nicht, zu schweigen. Das musste er nicht. Seit diesem Tag war Shing zwar nicht mehr der Alte, aber seine Augen weilten wieder unter den Lebenden. So wie ich.
Ein weiteres Jahr später, ich war vierzehn, trat Kimiko, meine Verbündete, die den “Renn-Zur-Latrine-Trank” gebraut hatte, in den Rang der Adepten ein. Sie hatte das Alter von siebzehn Ceonsläufen erreicht — das Mindestalter (und auch das reguläre), um Adept -Quai-Mas- zu werden.
Es war wieder Chul, der mich traktierte. Es gelang mir jedoch, größere Konfrontationen zu vermeiden. Der Kerl war mir sowohl kräftemäßig als auch vom Stand der Kampfausbildung her weiterhin überlegen. Zumindest im Kampf ohne Waffen, denn Shing erteilte mir private Einheiten in einer Schwertkampftechnik, die ich nur während der Stunden mit ihm anwenden durfte. Er wollte mir zunächst nicht sagen, warum. Wenig später sollte ich erfahren, dass er sein Wissen mit dem legendären Lintang Patla austauschte. Dem Corosar, der in den Sholo’Sa-Kriegen an der Seite von Luritri und Maelan gekämpft hatte. Dem einzigen Schwertmeister, der die Schande in Kauf genommen hatte, nicht zur Schwertgilde zu gehören. Dem begnadetsten aller Kämpfer. Unbesiegt. Unbeugsam. Shing gab ihm im Gegenzug Lektionen in Taktik, Strategie, Klettern, ja selbst in der Disziplin der Verführung — nicht praktisch, versteht sich. Ebenso im Umgang auf dem sogenannten “gesellschaftlichen Parkett”, der auch Politik und Intrigen umfasste. Wieso ich das alles weiß? Ich war dabei. Bereits nach den ersten Treffen, die immer nachts erfolgten, nahm er mich mit. Als zweites Paar Augen und Ohren. Als zusätzliches Gedächtnis. Ich schrieb alles mit, was Lintang erklärte, während Shing mit ihm übte. Ich bereitete Skizzen vor, die Shing Lintang übergab. Rezepte, Notizen, Merksätze. Ich war die geheime rechte Hand meines Retters und Meisters. Ich war glücklich. Er vertraute mir. Ich konnte mir Dinge aneignen, die kein anderer Schüler erlernte.
Shing beherrschte Techniken und Strategien des Schwertkampfes, die ihn schon damals weit über alle anderen Shan Quai erhoben. Manche Dinge brachte er mir später noch einmal bei, als ich erfahren genug war, um die Grundlagen der höheren Konzepte zu verstehen.
Wir vertrauten uns vollkommen. Er hatte mich zweimal gerettet - einmal nach dem Tod meiner Eltern, ein weiteres Mal, als er mich einlud, mehr Zeit mit ihm zu verbringen, und sein geheimes Training mit mir zu teilen.
An dem Tag, an dem ich fünfzehn wurde, passte Chul mich allein im Gang vor unseren Quartieren ab. Seine übliche Igelfrisur hatte er gegen einen vollständig rasierten Schädel eingetauscht. Nur schwarze Punkte statt der Haare prangten an seinem Kopf. Es passte zu seinem Auftreten. Hässlich und derb. Er lehnte seine Hand in Kopfhöhe gegen die Wand und versperrte mir mit seinem muskelbepackten Arm den Weg. “Nun beschützt dich niemand mehr.” Er war mittlerweile siebzehn Ceonsläufe alt und ein Adept. Sein Körper war unter dem Training der Shan Quai in die Breite gegangen und überragte mich fast um einen ganzen Kopf. Er entschied jeden Kampf ohne Waffen für sich. Alle Raufereien unterQuai-Lamund Adepten. Ich war schlank, sportlich, im Kampf trainiert. Nicht so massig und muskulös wie er. Dass er es unter Waffen nicht mit mir aufnehmen konnte, half mir in diesem Augenblick herzlich wenig.
Er musterte mich von oben bis unten. Ich war froh, dass der schwarze Baumwollanzug der Shan Quai nicht viele Konturen zeigte. Jeder sah sich irgendwie ähnlich darin. Er grinste schmierig. “Einmal hattest du bereits meine Hand unter deinem Anzug. Jetzt wird es Zeit, dass wir unser gemeinsames Vergnügen fortsetzen.” Ich verzog das Gesicht. Das Vergnügen war kein Gemeinsames. Es würde nie eins werden. Nicht mit Kerlen wie ihm. Zumindest nicht für mich. “Sieh dich immer schön um, wenn du dich ausziehst”, ätzte er. “Es könnte sein, dass ich dich beobachte.” Ich lächelte gelassener, als ich mich fühlte. “Ich passe schon auf.” Er brachte sein Gesicht nah an meines. Ich fuhr zurück, wobei ich mir prompt den Hinterkopf an der Mauer neben seiner Hand stieß. “Angst?”, höhnte er. “Die solltest du auch haben. Jetzt verfügst du über ein eigenes Zimmer.” Er tippte mir mit dem Finger auf die Nase, was meinen Hinterkopf abermals unsanfte Bekanntschaft mit dem harten Fels in meinem Rücken schließen ließ, da ich zurückzuckte. “Es könnte sein, dass dir dort jemand einen Besuch abstattet.” Ich kniff die Augen zusammen. “Das wagst du nicht. Du würdest ausgeschlossen.” “Nur wenn ich erwischt werde.” Er grinste. “Und wenn man dir mehr glaubt, als mir. Ich werde behaupten, du hättest mich umgarnt, um deinen Körper”, er starrte unverhohlen auf meine Hüften, “besser einsetzen zu lernen.” Chul grinste anzüglich. “Wir sind fast gleichgroß. Körperlich passen wir also gut zusammen.” Er grabschte mit einer Hand nach meinem Hintern, um mich an sich zu ziehen. Ehe ich mich versah, hatte ich ihm eine Ohrfeige versetzt. Er schlug zurück. Ein Kinnhaken. Ich sackte halb bewusstlos an der Wand herunter, da mein Kopf ein drittes Mal Bekanntschaft mit der Wand geschlossen hatte; diesmal deutlich härter als zuvor, Zu meinem Glück kam Kimiko vorbei. Chul wandte sich ab und stapfte davon. “Dann eben ein andermal”, hörte ich ihn rufen, als er verschwand.
Nachdem ich nicht mehr alles doppelt sah, was drei Tage dauerte, bat ich Shing um zusätzlichen Unterricht im unbewaffneten Nahkampf. Ich hatte Angst. Riesige, blanke Angst, Chul könnte seine Drohung wahr machen und mich vergewaltigen. Mit fünfzehn stand mir wesentlich deutlicher vor Augen, was dies bedeutete. Angefangen von der Scham und der Schande, mit der Niederlage leben zu müssen, bis hin zur Möglichkeit einer Schwangerschaft. Niemals würde ich ein Kind von ihm austragen. Eher beging ich rituellen Selbstmord. Oder auch nicht rituellen. Shing hatte ein Einsehen, nachdem er meinem panischen flehentlichen Bitten zu ende gelauscht hatte. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit - die Regeln der Gemeinschaft sahen eine solche Ausbildung nicht vor - willigte er ein. Er unterrichtete mich zusätzlich. Nachts, wenn er frei hatte, und ich eigentlich schlafen sollte. Zusätzlich zu unseren Schwertkampf-Einheiten, die mehr ein Training darstellten, als Unterricht zu sein. Oftmals erschien ich übermüdet zu meinen gewöhnlichen Lerneinheiten. Ich hielt mich mit dem Kauen von Corffee-Blättern aufrecht, die anregend wirken. Die fremdartigen Völker der Xelvan bauten sie auf der Halbinsel Denantis an. Artgenossen Luritris, der Katzenfrau. Daneben forschte ich gemeinsam mit Shing an den Methoden, die Lintang Patla uns gelehrt hatte. Mittlerweile hatten sowohl Shing als auch ich Theorien entwickelt, wie man die Vorgehensweise der ungewöhnlichen Schwerttechniken auf den Kampf ohne Waffen übertragen konnte. Wir vervollkommneten unser Wissen auf beiden Gebieten.
Der Tag der Abrechnung war gekommen. Ich schlich mich in der Dunkelheit aus dem unterirdischen Tunnelsystem, von dem außer den Shan Quai und einigen nahestehenden Eingeweihten, niemand etwas wusste. Wer das Geheimnis preisgab, starb. Da niemand einfach so sterben wollte, blieb es ein Geheimnis. Ebenso wie die Ausbildung, mitten in Sang Dei. Unter den Straßen Sang Wan Yaos.
Diesmal lockte ich den ahnungslosen Chul in eine Falle. Er sollte mich überfallen. Es war früher Abend. DieQuai-Lambefanden sich bereits wieder in ihren Quartieren. Nur wenige der älteren Schüler trainierten noch außerhalb der Stadt. Der Weg zum Übungsgelände war verwaist. Shing wartete als Ein-Mann-Eingreiftruppe in der Nähe, falls etwas schiefging.
Wie erwartet stand Chul schon bald neben mir, als ich vortäuschte, mir beim Laufen den Knöchel verstaucht zu haben. Seine Haarstoppel wuchsen langsam wieder nach. Es sah lächerlich aus. “Soll ich dich tragen”, lächelte er — wenn man bei einer Schlange von Lächeln reden kann. “Nur in deinen Träumen”, murmelte ich. “Ich glaube, wir zwei sind gerade ganz allein hier oben”, zwinkerte er mir zu. “Darauf würde ich nicht wetten”, gab ich zurück. Verunsichert sah er sich um. Mist. Wenn ich so weitermachte, würde er noch Shing entdecken. Er sollte sich in Sicherheit wähnen. Doch Chul war ebenso gierig nach Macht, wie er einfältig war. “Dein Manöver ist so leicht zu durchschauen. Niemand hilft dir. Und du kannst diesmal nicht weglaufen.” Er wies mit einem Nicken auf meinen Fuß. “Und, was hast du jetzt mit mir vor?” stachelte ich ihn an. “Das ist eine gute Frage”, antwortete er gedehnt. “Jetzt wo du mich fragst, bringst du mich auf eine ausgezeichnete Idee.” Sein Gesicht strahlte vor Selbstgefälligkeit. “Du und ich werden uns zwischen den Bambusstämmen vergnügen. Einer muss dir ja zeigen, wie schön es ist, Lamasti zu opfern.” Ich spielte weiter das verletzte Reh. “Nein, lass das. Du bekommst Ärger. Man wirft dich raus.” Chul lachte. “Das haben wir doch schon beim letzten Mal besprochen. Keiner glaubt dir. Mittlerweile habe ich sogar einige der Meister auf meiner Seite. Sie werden meiner Aussage glauben.” Ich riss die Augen auf. “Bitte hör auf, Chul.” Er grinste dieses ekelhafte schleimige Grinsen, das ich ihm ein für alle Mal vom Gesicht wischen wollte. “Bitte hör auf, Chul”, äffte er mich nach. “Bitte nimm mich, Chul. Sei sanft zu mir, Chul. Machs mir, Chul.” Er lachte boshaft. “Ich gebe dir eine Chance, einigermaßen heil davonzukommen.” Er leckte sich mit der Zunge über die Lippen. Ekelhaft. Ich würgte beinahe.
“Wieso hast du es dauernd auf mich abgesehen?”, wollte ich wissen. Chul breitete die Arme aus. “Komm schon”, sagte er, “wenn sich jemand so schön wehrt wie du, macht es doch erst richtig Spaß. Diese Memmen ohne Mumm schlag ich nur zum Spaß.” Er brachte eine Hand an den Mund und tat, als würde er mir ein Geheimnis zuraunen. “Glaub ja nicht, dass es was nutzt, wenn du dich verstellst. Ich kenne dich zu gut.” Er tat, als überlegte er. “Nun ja. Nicht gut genug, schätze ich. Daran müssen wir beide noch arbeiten.” Er grinste dreckig. Seine Augen entkleideten mich bereits. “Du ziehst dich jetzt schön langsam aus, und ich sehe zu. Dann schieben wir beide ein Nümmerchen, wobei ich dir nicht allzu sehr weh tun werde, und wenn es mir gefallen hat, was ich sehr hoffe, wende ich mich weiterhin an dich, anstatt an die hübscheQuai-Lam, mit der du Freundschaft geschlossen hast — wie heißt sie doch gleich? Chaia?” “Du wirst Chaia nicht anrühren”, belehrte ich ihn in drohendem Tonfall. Ich musste die dreizehnjährige vor ihm schützen. Sie durfte ihm nicht in die Hände fallen. “Du willst mir drohen?”, lachte er. “Lass das lieber. Sonst fallen mir noch ein paar nette Dinge ein. Zum Beispiel könnte ich zu unserem nächsten Treffen ein paar meiner Freunde mitbringen. Die wollen sicher auch ein wenig Spaß.” “Du bist so abartig, Chul”, entgegnete ich mit einem Kopfschütteln. Ein angeekeltes weiteres Schütteln durchlief meinen Körper, während ich mich erhob. Chul trat vor. Er griff nach meinem Arm. “Hiergeblieben, Süße.” Ich trat einen raschen Schritt nach hinten. Er lehnte sich vor, da er dachte, mein Fuß wäre verstaucht. Mit eben jenem Fuß trat ich vor seine Kniescheibe. Er ging vor mir zu Boden und hielt sich das Bein. Ich ließ mich mit vollem Gewicht auf ihn fallen, den Ellbogen voran. Er jaulte auf, als ich einen der Rückenmuskeln im Bereich der Nieren außer Gefecht setzte. Er wälzte sich auf den Rücken. Grabschte nach meiner Taille. Ich ließ es zu. Mein Ellbogen krachte von oben auf seinen Oberarm herab. Der Bizeps. Angespannt. Das tat hoffentlich weh. Aufheulend zog er den Arm zurück. Mit dem anderen verpasste er mir eine schallende Backpfeife, so dass ich zur Seite flog. Benommen rappelte ich mich auf. Meine Wange brannte. Ich spürte seine Stiefelspitze in meinen Rippen, als er mit voller Wucht zutrat. Schweratmend lag ich auf dem Rücken. Er hockte über mir. “Du Schlampe! Das büßt du mir.” Er machte sich mit dem unverletzten Arm an der Verschnürung meines Kampfanzugs zu schaffen. Er wurde nur mit zwei Bänderpaaren gehalten. Eines hatte er bereits geöffnet. Ich verdrehte die Augen nach oben. Hinter mir wollte Shing eingreifen. Ich schüttelte den Kopf. Er verbarg sich wieder hinter einem dicken Bambusstamm. Die zweite Verschnürung löste sich. Mein Bauch lag frei. Ich hieb mit meinem Ellbogen nach seinem gesunden Arm. Ich rutschte ab. Er knurrte, steckte den Schmerz jedoch weg. Er riss an meinem Hosenbund. Ein kräftiger Ruck. Der Stoff der Hose war widerstandsfähig, um den Belastungen des Trainings gewachsen zu sein. Er riss dennoch unter seiner brachialen Kraft. Schmerz durchzuckte meinen unteren Rücken. Halb nackt lag ich vor ihm. Der gewickelte Lendenschurz und das Brustband waren die einzigen Hindernisse, die er überwinden musste. Ich hatte nicht vor, ihn auch nur an eines heranzulassen. Chul stieß einen Pfiff aus. “Das ist mal ein netter Anblick. Du bist mit Abstand die rassigste Stute in unserem Stall. Du wirst mich zu schätzen wissen.”
Ich hörte förmlich, wie Shing hinter dem Bambus mit den Zähnen knirschte. Abermals schüttelte ich den Kopf und hoffte, dass er es sah. Chul hatte es ebenfalls wahrgenommen. “Doch, mein Täubchen”, gurrte er. “Jetzt bist du fällig.” Er hatte geglaubt, dass mein Kopfschütteln ihm galt. Recht so. Als er sich mir näherte, stießen meine Beine aufwärts zu seinem Hals. Ich legte ihm eine Beinschere an. Er starrte auf meine Hüften, als wollte er mich mit schierer Willenskraft ausziehen. Ich drückte mit einem Ruck fester zu. Spürte die Querfortsätze seiner Halswirbel an meinen Fußknöcheln. Er nahm seine Hände zu Hilfe. Wollte die Schere aufsprengen. Als das nicht fruchtete, stieß er seine Hände nach vorn, um mir brutal zwischen die Beine zu greifen. Ich drückte kräftig zu. Es knackte. Chul verdrehte die Augen und sackte bewusstlos zu Boden.
Schweratmend erhob ich mich. Die Fetzen der Hose meines Kampfanzugs fielen auf halber Strecke zu Boden. Ich schnürte mir wenigstens die Jacke wieder zu, unter der, wie mir bewusst war, die Wicklungen meiner Lendentücher zu sehen waren. Da ich mit Shing allein war, störte es mich im Augenblick nicht weiter. “Verreck, du Bastard.” Ich trat Chul dahin, wo es einem Kerl am meisten weh tut. Er stöhnte in seiner Bewusstlosigkeit auf. Shing, der neben mich trat, ächzte mitfühlend. Ich lachte. “Ich dachte, du hasst ihn ebenso?” Er lächelte. “Und ich habe eine grobe Vorstellung davon, was ihm in den nächsten Tagen blüht. Wenn er wieder normal laufen kann, wird er ein gefährlicher Feind.” Ich lächelte zurück. “Nicht, wenn er weiß, dass ich ihn das nächste Mal kastriere.” Shing hob eine Braue. “Ich bin froh, dass ich auf deiner Seite stehe.” Ich nahm ihn unvermittelt in die Arme und presste mich gegen seinen warmen Trost spendenden Körper. “Shing, das wirst du immer.” Er schob mich mit gestreckten Armen von sich. “Ist ja gut, Kleines.” Ich wollte mich wieder an ihn kuscheln. Er wehrte ab. “Shing, was ist?” “Nichts.” “Halt mich ganz fest. Bitte.” Ich war innerlich aufgewühlt. Seine Nähe tat gut. Außer ihm hatte ich niemanden. Shing seufzte. “Ich setze mich auf diesen Findling. Dann setzt du dich neben mich und lehnst dich an. In Ordnung?” Ich tat, was er vorschlug. Er hielt mich schließlich im Arm. Ich blickte zu seinem Gesicht auf, wie ein Kind. “Shing?”, fragte ich. “Ja?” “Wieso darf ich mich nicht auf deinem Schoß ganz an dich kuscheln, wie früher?” Er sah auf mich herab. Dann kitzelte er mich durch, bis ich mich aufrichtete und von ihm abrückte. “Darum.” Mehr Antworten bekam ich nicht von ihm.
Später brachte Shing Chul zurück. Wie ich wusste, schlug er dem Kerl, dem ich seine Familienplanung im doppelten Sinn durcheinandergebracht hatte, eine Geschichte vor, bei der er halbwegs sein Gesicht wahren konnte. Er sollte erzählen, beim Balancieren schmerzhaft abgerutscht zu sein. Das sei für Chul sehr viel besser, als zuzugeben, von mir schmachvoll besiegt worden zu sein, hatte mir Shing später versichert, als er mit einer neuen Hose für mich zurückkehrte. Shing hat ihm noch einiges über mich erzählt. Zum Beispiel von meinen Kastrationsplänen, die ich ausführen würde, sollte er Chaia auch nur ansprechen oder mir ein weiteres Mal auf die Pelle rücken.