Das herzensgute Schwein - Sy Montgomery - E-Book

Das herzensgute Schwein E-Book

Sy Montgomery

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Beschreibung

Als eine Freundin ihr ein kleines Schweinchen in einem Schuhkarton überreicht, ahnt Sy Montgomery nicht, dass der neue Mitbewohner auf ihrer Farm in Kürze mehrere Zentner auf die Waage bringen sollte. Doch Chris wird zum Liebling des ganzen Orts: Alle füttern ihn um die Wette und lassen sich anstecken von seiner kugelrunden Zufriedenheit mit sich und dem Leben.

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Sy Montgomery

Das herzensgute Schwein

Aus dem Amerikanischen von Melusine Stern

Diogenes

Für Kate, Jane und Lilla Cabot

Kapitel 1Der Überzählige

Christopher Hogwood kam in einem Schuhkarton auf meinem Schoß zu uns nach Hause.

Es war ein grauer, regnerischer Aprilnachmittag, an dem wir unsere Scheune im Nebel kaum sehen konnten. Mein Mann fuhr unseren rostigen alten Subaru über durchweichte, schlammige Feldwege, auf denen noch Schneereste lagen. Unsere Stiefel waren von Schweinemist überzogen, und in unseren Kleidern hing der Geruch kranker Tiere.

Es schien kein guter Zeitpunkt, um eine entscheidende Veränderung in meinem Leben vorzunehmen.

Das ganze Frühjahr war schrecklich gewesen. Mein Vater, ein ehemaliger Kriegsheld, den ich mehr als Jesus liebte, wie ich in der Sonntagsschule einmal bekannt hatte, starb langsam und qualvoll an Lungenkrebs. Er hatte den Todesmarsch von Bataan und drei Jahre in japanischer Kriegsgefangenschaft überlebt. Deshalb glaubte meine strahlende, schlanke Mutter, die ihn immer noch so rasend liebte wie vor vierzig Jahren, er könne auch den Krebs überleben. Sie ließ keinen Treppenlift, keinen Rollstuhl und keine Krankenschwester ins Haus.

Da ich das einzige Kind war, flog ich zwischen New Hampshire und Virginia hin und her, um so oft wie möglich bei meinen Eltern zu sein. Wenn ich von diesen herzzerreißenden Besuchen nach Hause zurückkam, versuchte ich mein erstes Buch zu Ende zu schreiben, eine Huldigung für Jane Goodall, Dian Fossey und Biruté Galdikas. Die Recherchen waren strapaziös gewesen: Im Kongo hatte ein Gorilla mich angegriffen, in Borneo hatte mir ein Orang-Utan die Kleider vom Leib gerissen, und auf einem Vulkan in Ruanda hatte ein schwerbewaffneter Wildhüter in dreitausend Meter Höhe Bargeld von mir gefordert. Jetzt hatte ich nur noch wenige Wochen, bis ich mein Manuskript abliefern musste, und konnte mich nicht konzentrieren.

Mein Mann ist ebenso wie ich freier Schriftsteller. Er schreibt über amerikanische Geschichte und Denkmalschutz. Seit unserer Hochzeit vor drei Jahren wohnten wir – erst als Mieter, dann als Verwalter – in einem idyllischen, über hundert Jahre alten Bauernhaus mit weißgestrichenen Schindeln auf acht Morgen Grund im Süden von New Hampshire. In den Bergen der Umgebung war Henry Thoreau noch persönlich gewandert, und in unserer kleinen Gemeinde war unsere Behausung fast noch die jüngste. Unsere Nachbarn wohnten in zweihundertjährigen Häusern, die von Immobilienmaklern als »Antiquitäten« geschätzt wurden. Aber unser Bauernhof hatte alles, was ich mir wünschte: ein Stück eingezäuntes Weideland, ein Wäldchen mit einem rieselnden Bach, eine Scheune mit Futterkrippen und Heuboden und große alte Fliederbüsche links und rechts von der Haustür. Allerdings sollte er uns unter dem Hintern weg verkauft werden. Die Besitzer, Schriftsteller und Maler in unserem Alter, denen die Eltern das Haus finanziert hatten, waren Freunde von uns. Sie lebten jetzt in Paris und hatten nicht die Absicht zurückzukommen. Natürlich wollten wir das Haus unbedingt kaufen, aber da wir beide bloß freie Schriftsteller waren, war keine Bank bereit, uns eine Hypothek zu geben. Unser Einkommen war einfach zu unregelmäßig.

Es sah so aus, als sollte ich in diesem Jahr nicht nur meinen Vater, sondern auch mein Buch und mein Zuhause verlieren.

Aber für Christopher Hogwood war das Frühjahr noch schlimmer gewesen.

 

Er war Mitte Februar auf einer Farm geboren worden, die ungefähr eine halbe Stunde von unserer entfernt lag. Sie gehörte George und Mary Iselin, die wir über meine beste Freundin, Gretchen Vogel, kennengelernt hatten. »Die werden euch gefallen«, hatte Gretchen gesagt. »Die haben Schweine!«

In der Tat hatte George gewissermaßen schon immer Schweine gezüchtet. »Wenn man echter Farmer ist«, sagte er immer, »kann man mit Schweinezüchten Geld verdienen.« George und Mary waren echte Hippie-Farmer: Sie waren genau wie wir in den fünfziger Jahren geboren und lebten die Ideale der sechziger und siebziger Jahre: Friede, Freude und Liebe. Sie waren mit strahlend blauen Augen, blonden Haaren und roten Wangen gesegnet und sahen immer so aus, als wären sie gerade putzmunter aus einem Haufen Heu aufgestanden, wo Elfen über ihren erquickenden Schlummer gewacht hatten. Sie waren beide überzeugte Zurück-aufs-Land-Menschen, die ihre Lebensmittel aus dem eigenen Garten bezogen und ihre Mayonnaise aus Eiern ihrer eigenen, freilaufenden Hühner anrührten. Sie waren idealistisch, aber auch sehr pragmatisch. Es war ihnen nicht entgangen, dass es viel kostenloses Schweinefutter auf der Welt gibt: Lebensmittelabfälle von Bäckereien, Großküchen und Supermärkten. Mal rief jemand an, der sie bat, vierzig Pfund Kartoffelchips abzuholen, mal bot man ihnen eine Ladung Twinkies an. Zu ihrem Entsetzen mussten sie feststellen, dass ihre biologisch-dynamisch ernährten Kinder manchmal nachts in den Schweinestall schlichen, um sich Süßigkeiten zu holen, die für die Schweine gedacht waren. »Wir haben es gemerkt, weil sie morgens Schokolade am Mund hatten«, erzählte mir Mary.

Sie hatten 165 Morgen Land. Es war unkrautüberwuchert und struppig, aber es lieferte Feuerholz und Heu, und sie zogen nicht nur Schweine, sondern auch Pferde, Kaninchen, Enten, Hühner, Ziegen, Schafe und Kinder darauf. Trotzdem glaube ich, dass die Schweine Georges Lieblinge waren. Und meine auch.

Oft sahen wir Mary und George zwar nicht – unsere Lebensweise war zu verschieden –, aber die Ferkel sorgten dafür, dass wir uns nie ganz aus den Augen verloren. Wir besuchten sie jedes Frühjahr im März, gegen Ende der Zuckersaison, wenn George den Saft ihrer Ahornbäume zu Sirup einkochte.

Der März in New Hampshire ist eine schlammige Sache, und um diese Zeit sieht die Farm der beiden immer besonders zerrupft aus. Rostige Maschinen und Geräte, von denen man nicht wusste, ob sie je wieder benutzt werden würden, ragten aus den Zäunen und schmelzenden Schneehaufen auf, und bunte Wäschestücke flatterten im Wind wie Gebetsfahnen. Das alte Haus hätte dringend etwas Farbe gebraucht. Im Inneren quollen die Dielen nach oben, und die Deckenbalken schienen jedesmal tiefer herunterzuhängen.

Es war schon fast Mittag, auf dem Holzofen kochte ein Wasserkessel und erfüllte die Küche mit Dampf, während eine nicht zu ermittelnde Anzahl kleiner Kinder in Schlafanzügen herumsaß und Pfannkuchen futterte oder auf dem Boden herumkroch. Die meisten davon waren wohl Cousins und Freunde ihrer drei eigenen Kinder. Schmutziges Geschirr stapelte sich in der Spüle. Sie hätten alle gerade die Grippe gehabt, sagte Mary und griff nach zwei Tassen. Ob wir einen Tee trinken wollten?

Nein, danke, sagten Howard und ich beide hastig. Aber wir würden uns gerne noch einmal die Ferkel ansehen.

Die Scheune war nicht wie bei Norman Rockwell. Es war eher eine Mischung von Norman Rockwell und Edward Hopper. Die Außenwände waren alt und verwittert, die Fensterläden verrottet. Das Innere des Stalls war höhlenhaft dunkel und voller Spinnweben. Wir fanden es großartig. Nachdem sich unsere Augen der Dunkelheit angepasst hatten, spähten wir über die Türen der einzelnen Verschläge und suchten nach den Ställen mit jungen Ferkeln. Wenn wir so eine Schweinefamilie entdeckt hatten, kletterten wir in den Verschlag, um mit den Ferkeln zu spielen.

Auf den meisten Bauernhöfen wäre das ziemlich gefährlich gewesen. Eine Muttersau wiegt leicht über fünfhundert Pfund, und wenn sie das Gefühl hat, dass ihre Ferkel bedroht sind, kann sie ganz schön zuschnappen. Mit ihren mächtigen Kiefern kann sie mühelos einen Pfirsichkern knacken – oder auch eine Kniescheibe. Die scharfen Eckzähne sind gefährliche Waffen. Und das hat auch seine Gründe: In freier Wildbahn müssen Schweine sehr tapfer und stark sein. Präsident Theodore Roosevelt, der spätere Namenspatron der »Teddy«-Bären, hat einmal beobachtet, wie ein Jaguar von südamerikanischen Wildschweinen in Stücke gerissen wurde. Obwohl Schweine im Allgemeinen gutmütig sind, werden alljährlich mehr Menschen von Schweinen getötet als zum Beispiel von Haien. Was eigentlich auch nicht besonders erstaunlich ist. Wie oft sieht man schon einen Hai? Schweine, die auf industriellen Schweinefarmen gemästet und bis zum Wahnsinn gequält werden, fressen alles, was ihnen vorgeworfen wird – und das gilt auch für kleine Kinder, deren Eltern unvernünftig genug sind, ihren Nachwuchs unbeaufsichtigt in Schweineställen herumlaufen zu lassen. Wildschweine, von denen es allein in den Vereinigten Staaten mehr als vier Millionen gibt, können sogar Erwachsene töten, wenn sie bedroht werden. Dass Schweine gelegentlich Menschen fressen, habe ich allerdings immer als eine Art fairen Ausgleich dafür gesehen, dass die Menschen so viel mehr Schweine verzehren.

Die Säue bei George dagegen waren alle sehr freundlich. Als wir den Stall betraten, lag die Muttersau auf der Seite, um ihre Ferkel zu säugen. Sie hob ihren gewaltigen, hundertfünfzig Pfund schweren Kopf, warf uns einen wohlwollenden Blick aus ihren wimpernbewachsenen Augen zu, runzelte ihren Rüssel, um unsere Witterung aufzunehmen, und grunzte kurz zur Begrüßung. Die Ferkelchen waren niedliche Miniaturausgaben ihrer gewaltigen Eltern – manche rosa, manche schwarz, manche rot, manche gefleckt und manche mit schwarzen Rennstreifen wie Wildschweine. Am Anfang schienen sich die Ferkel nicht sicher zu sein, ob sie uns fressen oder doch lieber weglaufen sollten. Sie stürmten quiekend auf uns zu wie die Rotte Korah, dann rannten sie auf ihren hohen Hufen hastig zu ihrer Mutter zurück, um noch ein bisschen an ihren milchprallen Zitzen zu ziehen. Dann griffen sie erneut an, inzwischen schon keck genug, um uns in die Schuhe zu beißen oder die Schnürsenkel aufzuziehen.

Viele Leute, die ein Schwein bei George kauften, sagten ihm später, was für ein fabelhaftes Schwein es gewesen sei. Obwohl die meisten Ferkel für die Tiefkühltruhe bestimmt waren, sprachen die Leute kaum je darüber, wie sie als Schinken, Wurst oder Koteletts geschmeckt hätten. Nein, fast immer war nur davon die Rede, was es für nette Schweine bei George gab.

Das Jahr, in dem Chris geboren wurde, war ein Rekordjahr für Ferkel. Weil wir so viele Probleme hatten und persönlich so unter Druck standen, hatten wir George und Mary im Februar und März nicht besucht. Deshalb wussten wir nicht, dass sie in diesem Jahr zwanzig Muttersäue und mehr Ferkel denn je hatten.

»Normalerweise kann eine Sau nicht mehr als zehn Ferkel aufziehen«, erklärte mir Mary. »Denn sie hat nur zehn gute Zitzen.« Eigentlich haben Schweine zwölf Zitzen, aber zwei davon geben meist keine Milch. Wenn eine Sau mehr als zehn Ferkel hat, kommen die überzähligen in der Regel zu kurz – und das sind die Kümmerer.

Ein Kümmerer ist nicht nur klein und hilflos, er stellt auch für die ganze Schweinefamilie eine Gefahr dar. »Ein Kümmerer macht dieses klägliche Geräusch – nüff, nüff, nüff – ganz schrecklich«, erklärte mir Mary. »In freier Wildbahn lockt so ein Ferkel oft Raubtiere an. Deshalb wird die Muttersau einen Kümmerer unweigerlich totbeißen. Aber oft weiß sie nicht genau, welches Ferkel es ist. Deshalb beißt sie auch gesunde, kräftige Ferkel zu Tode oder zertrampelt den halben Wurf. Es ist nicht ihre Schuld, aber es gefährdet die ganze Familie.«

Jedes Jahr gab es ein, zwei Kümmerer auf der Farm. Normalerweise holte George sie ins Haus und fütterte sie mit Ziegenmilch aus der Flasche. Mit solcher besonderer Pflege überlebten die Kümmerer meistens. Aber im Jahrgang 1990 gab es über zweihundert Ferkel und nicht weniger als achtzehn überzählige Schweinchen. So viele, dass George und Mary in der Scheune einen eigenen Verschlag für sie einrichten mussten.

Christopher Hogwood war einer von diesen Kümmerern. Er war der Kleinste von ihnen. Nur halb so groß wie die anderen. »Er ist ein besonders liebenswürdiges Ferkel«, sagte Mary zu uns. »Er hat große Ohren und schwarz-weiße Flecken und einen schwarzen Streifen über dem linken Auge wie Spuds McKenzie, der Bullterrier aus der Bierwerbung.« Aber Mary war überzeugt, dass der Kleine keine Überlebenschance hätte. Es wäre menschlicher, ihn zu töten, sagte sie, als ihn weiter leiden zu lassen. Aber George sagte wie so oft: »Wo noch Leben ist, da ist Hoffnung.« Und das kleine Schweinchen hielt wacker durch.

Es wuchs aber nicht.

Viele Schweine haben Würmer, und deshalb verpassten George und Mary ihm ein kräftiges Wurmmittel, um die Parasiten zu töten. »Aber das Mittel half überhaupt nicht«, sagte Mary. »Wahrscheinlich hat er sämtliche Krankheiten, die es überhaupt je in unserem Stall gab: Würmer, Durchfall, Ferkelgrippe. Aber bisher ist er noch nicht gestorben. Er will einfach nicht sterben.«

Sie hatten ihn »das fleckige Ding« genannt. Er starb zwar nicht, aber es war auch höchst unwahrscheinlich, dass ihn jemand kaufen würde. Die Leute kauften ihre Mastschweine für die Tiefkühltruhe meist im April, wenn die Ferkel schon fünfzig bis fünfundsechzig Pfund wogen. Aber Christopher wog nicht mehr als sieben.

»Du musst dieses Ferkel totmachen«, sagte Mary, und George trug es hinter den Misthaufen, um es durch einen Schlag mit dem Spaten zu töten. Aber als er die seelenvollen Augen, die großen Ohren und den bewundernswerten Lebenswillen des kleinen Schweins sah, brachte George es nicht fertig. »Ich hab ihn mindestens fünfzehn Mal rausgeschickt, um das Ferkel zu töten«, sagte Mary. Am Schluss wollte George gar nicht mehr rausgehen. »Bring du es doch um!«, sagte er zu seiner Frau.

Mary nahm das Schwein und den Spaten, ging hinter den Misthaufen – und brachte es auch nicht fertig, das Ferkel zu töten. Daraufhin rief sie Howard an, meinen Mann. Ich war wieder einmal in Virginia.

»Ich trau mich ja kaum, euch zu fragen«, sagte Mary zu ihm. »Ich will euer Leben nicht ruinieren. Aber wollt ihr vielleicht ein krankes Ferkel aufziehen?«

Howard kämpfte beständig gegen meine Bemühungen an, das Haus mit verwaisten Tieren zu füllen. Er verbot mir, dem örtlichen Tierschutzverein beizutreten. Trotzdem hatten wir bereits einen vernachlässigten Nymphensittich und einen tiefroten australischen Papagei in unserer Obhut. Als unsere Vermieter nach Paris gingen, hatten wir ihre sehr zärtliche grau-weiße Katze Mika geerbt, die Howard und mir auf unseren Spaziergängen folgte und immer kam, wenn man sie rief. Es gab auch mal zwei Rosenpapageien in unserem Haushalt, aber jetzt hatten wir nur noch einen. Als ich im Januar wieder einmal meinen Vater besuchte, hatte Howard das Männchen auf dem Käfigboden gefunden. Bei Vögeln ist das immer ein schlechtes Zeichen, aber zu seinem Entsetzen musste Howard feststellen, dass dem verstorbenen Männchen in diesem Fall auch noch der Kopf fehlte. Das Weibchen saß ungerührt auf seiner Stange und musste leider in Tonton Macoute umbenannt werden.

Bei meinen Recherchen für Zeitschriftenartikel und Bücher verschwand ich oft monatelang im Dschungel oder sonst irgendwo, und diese ausgedehnten Reisen waren einer der Gründe, weshalb Howard keine weiteren Haustiere wollte. Einmal hatte ich ein halbes Jahr lang in einem Zelt im australischen Outback gelebt. Als ich abgereist war, hatten wir fünf Frettchen im Haus, aber als ich zurückkam, waren es achtzehn, und die Jungtiere waren alle höchst bissig. Jedenfalls so lange, bis ich sie zähmte, indem ich sie tagelang unter dem Hemd mit mir herumtrug, was dem Begriff »Haarkleid« eine ganz neue Bedeutung verschaffte. Ich hatte ein gewisses Verständnis dafür, dass mein Mann nicht regelmäßig mit einer Arche voll wilder Tiere zurückbleiben wollte, die sich in meiner Abwesenheit rasend vermehrten, Amok liefen oder sich gegenseitig die Köpfe abbissen.

»Normalerweise würde ich ihr gar nichts von diesem Ferkel erzählen«, erklärte Howard der Schweinezüchterin. »Aber ihr Vater liegt offensichtlich im Sterben, und da braucht sie vielleicht etwas Ablenkung.«

 

Howard wusste, dass ein Tier am ehesten geeignet war, meine wunde Seele zu heilen. Die Gesellschaft von Tieren tröstet mich immer, und ich fühle mich so hingezogen zu ihnen, dass es manche Leute ziemlich erschreckt. In Indien bin ich mal aus einem fahrenden Lastwagen gesprungen, um einen drei Meter langen Python zu streicheln. Meine Mitreisenden waren ziemlich entsetzt, während die große Schlange sich freundlich umdrehte und züngelte, ehe sie gemächlich im Dschungel verschwand.

Nicht nur im Spaß haben einige meiner Freunde schon gesagt, ich wäre wohl selbst gern ein Tier. Und auf meinen Reisen hat sich das auf eigenartige Weise bewahrheitet: Gleich mehrfach haben mir Schamanen und Seher bestätigt, ich sei eine sehr alte Seele, aber ich sei zum ersten Mal als Mensch auf der Welt.

Es scheint etwas Wahres daran zu sein. Ich habe immer gewusst, dass ich anders bin. Manchmal bin ich deswegen scheu und verlegen und habe das Gefühl, dass die Leute mich komisch ansehen – und wenn der Nymphensittich, der manchmal beim Arbeiten auf meinem Kopf sitzt, ein Federchen oder Schlimmeres in meinen Haaren zurücklässt, ist das auch kein Wunder. Aber ich fühle mich auch im Inneren anders. Während andere Leute über eine neue Küche oder eine Kreuzfahrt in der Karibik nachdenken, versuche ich mir vorzustellen, wie ein Opossum sich fühlt, wenn es seinen Schwanz um einen Ast wickelt, oder ich frage mich, ob die Schnappschildkröte wohl wiederkommt, die im letzten Jahr in unserem Garten Eier zu legen versuchte.

Andere Menschen fühlen sich wohler in ihrer Haut, und ich hatte stets das Gefühl, dass es einen Unterschied zwischen den »Normalen« und mir gab. So als wäre ich nicht ganz menschlich. Aber obwohl Howard und ich das damals noch nicht wussten, enthielt der Schuhkarton auf meinem Schoß an jenem grauen Frühjahrstag ein Geschöpf, das diesen Unterschied nahezu aufheben würde. Denn in vieler Hinsicht erwies sich Christopher Hogwood als überaus menschlich. Menschlicher vielleicht als ich selbst.

 

Was wollt ihr mit einem Schwein?, fragten die Leute. Nun, für die Tiefkühltruhe war er nicht bestimmt. Ich bin Vegetarierin, und Howard ist Jude.

Natürlich liebten wir Schweine – aber wer tut das nicht? Was ist fröhlicher als ein Schwein? Schweine sind einfach rundum erfreulich: Ihre fetten Körper balancieren auf zierlichen Hufen, ihre Schwänzchen ringeln sich munter, ihre Rüssel sind ebenso komisch wie nützlich, und ihr unverwüstlicher, gieriger Appetit ist erfrischend. Unsere Schweinekenntnisse waren allerdings ziemlich gering.

Als ich sechs Jahre alt war, hatte ich mal meine Großmutter in Arkansas besucht und einen herrlichen Nachmittag mit einem kleinen Jungen verbracht, der sich im Schweinestall seines Vaters herumtrieb. Die Schweine waren gewaltig und rosa und machten sehr ausdrucksvolle Geräusche. Ich war begeistert. Ich hielt sie wohl für eine Art Pferde und lag damit gar nicht so falsch, denn sie hatten ja Hufe. Aber neuere genetische Untersuchungen weisen darauf hin, dass Pferde eher mit Hunden als mit Schweinen verwandt sind. Jedenfalls habe ich mich damals gleich auf eins dieser Schweine gesetzt und so getan, als ob es ein Pony wäre. Das Schwein ließ mich tatsächlich auf seinem Rücken herumreiten, was seinerzeit viel diskutiert wurde. Die staubige kleine Baumwollstadt Lexa, wo meine schöne Mutter aufgewachsen war, ist ein ziemliches Kaff, wo solche aufregenden Dinge nicht so oft vorkommen. Der junge Mann hat später eins seiner Schweine nach mir benannt. Ich weiß diese Ehre zu schätzen und habe den Namen des jungen Mannes bis heute behalten. Ich gehe davon aus, dass er meinen Namen in den vier Jahrzehnten, die seither vergangen sind, auch nicht vergessen hat, er hat ihn ja oft genug benutzt, wenn er mit seinem Schwein sprach.

Seitdem hatten sich meine Erlebnisse mit Schweinen auf die Besuche bei Mary und George, die Leistungsschauen der örtlichen Farmer und eine zufällige Begegnung mit Ben, dem gewaltigen braunen Eber unserer Nachbarn, beschränkt. Aber Ben verschwand leider kurz nach unserer Begegnung in der Gefriertruhe.

Trotz dieser fehlenden Erfahrung schien sich mein Mann auf das neue Familienmitglied zu freuen. Er hatte sogar schon einen Namen für das »fleckige Ding« ausgesucht. Es sollte nach einem führenden Musikwissenschaftler benannt werden, der sich auf Alte Musik spezialisiert hat. Der eigentliche Christopher Hogwood ist nämlich Dirigent und Musikologe und Begründer der Academy of Ancient Music. Bei der Arbeit hörten wir im Radio oft Konzerte unter seiner Leitung. Der Name erschien uns also recht passend. Es ist ja bekannt, dass Schweine die Klassiker lieben, und viele Schweinefarmer beschallen ihre Ställe mit klassischer Musik, um für Harmonie und Ruhe zu sorgen. Und gibt es eine ältere Musik als das Grunzen der Schweine?

 

Aber Christopher Hogwood grunzte kein bisschen an diesem denkwürdigen ersten Tag. Sein Atem war feucht und schwer. Seine Augen tränten, und sein anderes Ende war auch sehr flüssig. Irgendwelche Medizin für Schweine hatten wir nicht. Wir hatten nicht einmal einen Stall. Wir wussten nicht, wie lange er leben würde. Wir wussten nicht, wie groß er werden würde. Wir hatten keine Ahnung, worauf wir uns einließen.

Wie lange leben Schweine denn eigentlich? Das war eine Frage, die uns in Zukunft oft gestellt werden sollte, und unsere Antwort schockierte die Leute meist etwas; denn die durchschnittliche Lebenserwartung eines Schweins liegt nur bei sechs Monaten. Die meisten Schweine werden zum Schlachten gemästet, und das erfolgt buchstäblich im zartesten Alter, wenn sie knapp 250 Pfund wiegen. Einige Säue und Zuchteber dürfen länger leben, aber auch sie werden bald geschlachtet, wenn ihre Fruchtbarkeit nachlässt. Selbst Zuchteber leben meist nicht länger als sechs oder sieben Jahre, weil sie für die jungen Sauen, von denen die besten Würfe stammen, zu schwer werden.

Relativ wenige Leute halten Schweine als Haustiere. Am beliebtesten sind noch die vietnamesischen Hängebauchschweine. In Vietnam gibt es ungefähr 11,6 Millionen Schweine (mehr als in irgendeinem anderen Land in Südostasien), die zu einer ungewöhnlich kleinen Rasse gehören – aber klein ist ein relativer Begriff, wenn es um Schweine geht. Vietnamesische Hängebauchschweine werden etwa hundertzwanzig Pfund schwer, wenn sie voll ausgewachsen sind. Aus dieser Rasse haben Wissenschaftler für Versuchszwecke noch kleinere Schweine gezüchtet – »Mikroschweine«, die nur noch zwölf Kilo wiegen und dreißig Zentimeter hoch sind. Aber viele Schweine, die als »zierlich« angepriesen werden, erweisen sich später als Mischlinge, die ihre anfängliche Größe zum Entsetzen ihrer Besitzer rasch hinter sich lassen und gewaltige Dimensionen annehmen. Zu ihrer Rettung mussten sich Tierfreunde in Kalifornien schon zu Gruppen wie Pigs Without Partners (Los Angeles) und Li’l Orphan Hammies (Solvang) zusammenschließen. Sogar solche Schweine, die relativ klein bleiben, können große Probleme verursachen. So musste eine Bekannte von uns ihr vietnamesisches Hängebauchschwein weggeben, weil es heftig um sich biss, wenn es das Gefühl hatte, dass sie oder ihr Ehemann im gemeinsamen Bett zu viel Platz beanspruchten.

Christopher Hogwood war kein vietnamesisches Hängebauchschwein, aber wie uns Mary versicherte, bestanden Aussichten, dass er trotzdem recht klein bleiben würde. An diesem ersten Tag allerdings konnten wir uns nicht vorstellen, dass er je größer als der Schuhkarton werden würde, in dem wir den zitternden, halb verhungerten Winzling nach Haus brachten. In diesem Frühjahr erwachte ich jeden Morgen mit Kummer und Sorgen, da mich jeder Tag dem Tod meines Vaters näherbrachte, und wir konnten kaum hoffen, dass Christopher auch nur die Nacht überlebte.

Kapitel 2Wir kaufen die Farm

Seit Wochen war jeder Tag gleich gewesen. Aus dem Schlaf gelangte ich zu Bewusstsein, als wäre es eine langsame Krankheit. Einen Augenblick überlegte ich, was denn nicht stimmte. Und dann fiel es mir wieder ein – der Lungenkrebs meines Vaters, der Abgabetermin für mein Buch, das Zuhause, das wir verlieren würden. Es erdrückte mich alles. »Was soll’s?«, dachte ich und blieb liegen, weil ich nicht aufstehen wollte.

Bis zu jenem Tag, an dem ich aufwachte und mich daran erinnerte, dass wir ein kleines Ferkel im Stall hatten.

Ursprünglich hatte ich gedacht, dass es bei uns im Bett schlafen würde. Aber Howard hatte sein Veto eingelegt. Möglicherweise hatte das mit dem Durchfall zu tun, unter dem das Tier litt. Jedenfalls erklärte mein Mann, unser Schwein sollte nicht im Haus aufwachsen. Der Haushalt sei ohnehin schon chaotisch genug.

So wurde Christopher Hogwood in jener denkwürdigen ersten Nacht in die Scheune verbannt, wo wir ihm ein gemütliches Nest gebaut hatten. Es gab keine richtigen Ställe in unserer Scheune, aber das machte nichts. Es gehört nun mal zum Reiz alter Scheunen, dass sie meist ein Museum alter Garten- und Ackergerätschaften, überraschender Kuriositäten und Baumaterialien sind. Die Scheune unserer Vermieter enthielt zum Beispiel eine exquisite Sammlung amerikanischer Nummernschilder, ein altes Wagenrad, einen Mühlstein aus Granit, eine bleigefütterte Getreideschütte, zahlreiche Fenster und Türen in den verschiedensten Größen, mehrere Rollen mit Drahtzäunen, einen Stapel hölzerner Paletten, einen Haufen Zaunpfähle, eine plakatgroße ›Vom-Winde-verweht‹-Karikatur, die Maggie Thatcher in den Armen von Ronald Reagan zeigte, einen gerahmten Farbdruck der ›Mona Lisa‹ und eine Schiffstoilette. In einer solchen Sammlung findet man zwar meist nicht das, was man sucht, aber doch etwas zum Improvisieren.

Gretchen war herübergekommen, um uns mit dem Ferkel zu helfen. Sie hatte im übernächsten Ort eine echte Hungerleider-Farm und züchtete biologisches Gemüse, siamesische Katzen und Connemara-Ponys. Sie war äußerst begabt im Improvisieren. Die Schaumstoffmatratze für ihr Bett hatte sie zum Beispiel vom Sperrmüll geholt (»und zwar ehe es draufgeregnet hatte«, erklärte sie voller Stolz). Dementsprechend effizient war sie beim Bau des vorläufigen Ferkelverschlags. Die Rückwand bildeten die grauen Feldsteine, auf denen die Scheune errichtet war. Die Seitenwände waren zwei hochkant gestellte Türen, die mit Hohlblocksteinen gestützt wurden.

Blieb noch die Vorderwand. Obwohl die Scheune ein großes, auf Rollen laufendes Tor hatte, waren doch unten zu viele Bretter weggefault, als dass ein kleines Ferkel nicht hätte darunter durchkriechen und weglaufen können. Aber Gretchen fand sofort eine Lösung. Sie band eine Palette mit Stricken an einem Stützbalken fest, so dass wir eine etwa einen Meter hohe Vorderwand hatten, die überdies noch aufgeklappt werden konnte.

Auf den Boden des Verschlags kippten wir eine dicke Lage saubere, duftende Holzspäne und darauf zwei Ballen Heu. Wir machten ein weiches Nest und legten Christopher Hogwood hinein. Ich streichelte und küsste die kleine, gefleckte Gestalt und wünschte ihr eine gute Nacht. Christopher schob seine runde Schnauze ins Heu, zog seine Hufe unter den Bauch und schlief fast sofort ein.

Dennoch hatte ich mir die ganze Nacht Sorgen gemacht. Was sollte geschehen, wenn sein Zustand sich weiter verschlechterte? Konnten wir die Tierarztrechnungen bezahlen? Die Flüge nach Virginia waren schon teuer genug. Oder noch schlimmer: Was sollte ich tun, wenn ich seinen kleinen Körper tot im Heu fand? Noch im Nachthemd rannte ich aus dem Haus, um nach ihm zu sehen. Schon jetzt war er mir so ans Herz gewachsen, dass es mir Angst machte.

 

Tiere sind schon immer meine Zuflucht, meine Avatare und meine Seelengeschwister gewesen. Sobald ich sprechen konnte, teilte ich meinen Eltern mit, dass ich ein Hund sei. Als Nächstes behauptete ich ein volles Jahr lang, ich wäre ein Pferd. Mein Vater nannte mich »Pony«, ließ mich reiten, so oft es sich einrichten ließ, und stellte sich tagelang mit mir in den Zoo, während ich die Tiere beobachtete. Als ich mit anderthalb in Frankfurt am Main in den Nilpferdkäfig wanderte, wurde ich weder zertrampelt noch gebissen. Wie fast alle anderen Tiere, denen ich begegnete, behandelte mich das Nilpferd ganz so, als ob ich dazugehörte. Libellen, Schmetterlinge und wilde Vögel setzten sich auf meine Schultern. Käfer und Spinnen ließ ich über meine Haut krabbeln, ohne mich dagegen zu wehren. Ihre Gesellschaft war mir sogar lieber als die der anderen Kinder, die ich meist laut, launisch und unberechenbar fand.

Als ich alt genug war, um darüber nachzudenken, wurde mir bewusst, dass ich Tiere besser verstehen konnte als andere Menschen, wahrscheinlich weil ich mehr Geduld aufbrachte, um sie zu beobachten. Vielleicht zeigten die Tiere sich mir auch mehr, weil ich nicht so viel schrie und herumzappelte wie andere Kinder. Meine Kinderporträts zeigen ein Mädchen mit ungewöhnlich intensivem Blick. Ich hatte zwei Malern Modell gesessen und stundenlang eine Kerzenflamme beobachtet.

Mein Vater war stolz auf meine Konzentrationsfähigkeit. Meine Mutter fürchtete dagegen, ich wäre zurückgeblieben. Ihre Befürchtungen verstärkten sich, als ich an meinem ersten Tag im Kindergarten nach Hause geschickt wurde, weil ich einen kleinen Jungen gebissen hatte, der einem Weberknecht die Beine ausreißen wollte. Schon damals wusste ich: Das harmlose Tierchen gehörte zu meinen Verwandten, aber der grausame kleine Tierquäler nicht.

Es war nicht so, dass ich Menschen nicht mochte. Manche von ihnen waren sehr freundlich und interessant. Aber selbst die nettesten waren mir nicht wichtiger als andere Geschöpfe. Damals wie heute waren Menschen für mich nur eine von Millionen faszinierenden Arten. Die bloße Tatsache, dass sie Menschen waren, zog mich nie zu anderen Kindern hin. Die meisten Menschen kamen mir wie Rüpel und Schläger vor, und ich stand auf der Seite der Underdogs.

Trotzdem hegte meine Mutter weiterhin die Hoffnung, dass ich ein normales Kind werden würde. Sie kaufte mir Babypuppen. Ich schmiss sie beiseite. Aber erst zog ich ihnen die Kleider aus und kostümierte damit liebevoll die ausgestopften kleinen Kaimane, die mein Vater aus Südamerika mitgebracht hatte. Gelegentlich kam ich dann mit einem Puppenwagen aus meinem Zimmer und zeigte den entsetzten Offiziersgattinnen, die zu den Cocktail- und Bridgepartys meiner Mutter kamen, die aufgeputzten Reptilien.

Ich war nicht die Tochter, die sich meine Mutter gewünscht hatte. Auf ihrer Singer nähte sie rüschenbesetzte Kleidchen für mich, die zu den Spitzensöckchen und Lackschuhen passten, die sie im PX gekauft hatte. Als ihr Mann zum Brigadegeneral und Kommandanten des Brooklyn Army Terminals ernannt wurde, putzte sie ihre sechsjährige Tochter mit Kleidchen und weißen Handschuhen heraus, und ich erinnere mich, dass ich viel lieber einen Kampfanzug und Stiefel getragen hätte wie alle anderen Soldaten.

Hatte ich denn meinem Vater nicht geholfen, General zu werden? Wir hatten ein Gutenachtritual, das wir vor seiner Beförderung jeden Abend veranstalteten: Ich ritt auf seinen Schultern, während er auf dem Rand des Orientteppichs entlangging und dabei so tat, als wäre ich ein Zirkusmädchen und er ein Riesengorilla, der auf dem Hochseil über einer Schlangengrube balancierte. Er lehrte mich, tapfer zu sein, vor nichts Angst zu haben. Eines Tages würden wir gemeinsame Abenteuer erleben, dachte ich, und unser abendliches Ritual war eine Art Training. Wir würden die Welt erforschen – Afrika, wo die echten Gorillas lebten, und Australien mit seinen Kängurus und Koalas. Aber erst musste ich erwachsen werden, und er musste die Adler auf seinen Schulterklappen gegen die Generalssterne eintauschen. Deshalb holte ich jeden Abend, ehe ich ins Bett ging, die Sterne vom Himmel und steckte sie ihm in die Uniformtaschen, wenn er mir den Gutenachtkuss gab.

Dass ich Christopher am nächsten Morgen lebendig vorfand, erinnerte mich an die tröstliche Tatsache, dass nicht immer das Schlimmstmögliche passiert. Er stand auf wackeligen Beinchen, und es war klar, dass er ein sehr krankes Schwein war. Er war schrecklich mager. Sein Schwänzchen war nicht geringelt, sondern hing herunter wie eine vertrocknete Nabelschnur. Aber er schien trotzdem stark. Er wirkte nicht einmal einsam. Wildschweine sind sehr gesellige Wesen, sie leben in Rotten von etwa zwanzig Tieren (oft auch über hundert). Ähnlich wie bei Elefanten leben zwei oder mehr Schweinefamilien, die aus Müttern und Kindern bestehen, zusammen. Sie ziehen gemeinsam herum, sie fressen, spielen und ruhen gemeinsam. Die Rotten bleiben bis zur Brunftzeit zusammen, wenn die bis dahin einzelgängerischen Eber um die Bachen kämpfen, sich mit ihnen paaren und dann glücklicherweise wieder verschwinden. Auch auf dem Bauernhof genießen Schweine die Gesellschaft ihrer Artgenossen. Schweine kuscheln sich beim Schlafen zusammen, und wenn sie Angst haben, kleben Ferkel geradezu aneinander.

Für Christopher dagegen muss es ein Luxus gewesen sein, die Nacht allein zu verbringen. Einen trockenen, geräumigen, sauberen Verschlag zu haben, ohne von den größeren Geschwistern herumgeschubst zu werden, die immer alles allein fraßen, war sicher nicht schlecht. Wahrscheinlich vermisste er nicht einmal seine Mutter; schließlich musste er immer befürchten, dass sie ihn totbiss, wenn er herumjammerte. Vielleicht war es eine Wohltat für ihn, seiner Schweinefamilie entkommen zu sein.

Schon an diesem ersten Morgen schien Christopher Hogwood begriffen zu haben, dass sich die Dinge zu seinen Gunsten verändert hatten. Seine neue Familie sah wahrscheinlich ziemlich merkwürdig für ihn aus: aufrecht, haarlos und mit acht Zitzen zu wenig. Das war gewöhnungsbedürftig, aber er schien bereit, sich darauf einzustellen. Gelassen sah er mich mit seinen braunen Augen an, als ob er sagen wollte: »Und wie geht es jetzt weiter?«

Dasselbe fragte ich mich auch. Aber die Frage schien irgendwie hoffnungsvoll.

Ich konnte es gar nicht erwarten, meinem Vater von Christopher zu erzählen. Meine Mutter hatte die Tiere meiner Kindheit mit stoischer Geduld ertragen – schuppige Eidechsen, die aus ihren Terrarien ausbrachen, wenn mein Vater bei der Arbeit und ich in der Schule waren, Kakadus, die sich auf die Kronleuchter setzten und auf den Mahagonitisch kackten, Schildkröten, die mit mir im Badewasser herumschwammen. Mein Vater hingegen liebte die Tiere. Von unserem kleinen Schwein zu hören wäre sicher eine willkommene Ablenkung von seiner Krankheit gewesen.

Aber Christopher Hogwood blieb mein Geheimnis. Es gab zwar keinerlei Grund zu der Vermutung, dass mein Vater das kleine Schwein nicht gemocht hätte, aber es hätte mir das Herz gebrochen, wenn er dieses Geschöpf etwa abgelehnt hätte – wie seinerzeit meine Ehe.

Ich hatte Howard das ganze College hindurch geliebt, ohne es freilich zu wissen. Wir hatten zusammen beim ›Daily Orange‹ gearbeitet, der Tageszeitung der Syracuse University. Howard war Chefredakteur und hatte mich als seine Assistentin eingestellt. Zwei Jahre lang arbeiteten wir vierzig Stunden in der Woche zusammen, und ich bewunderte alles an ihm: seinen brillanten Verstand, seinen Ideenreichtum, seinen zupackenden, überraschenden Stil, seine Entschlossenheit, die Welt zu verbessern. Ich liebte sein lautes Lachen, seine schwarzen Augenbrauen, seine widerspenstigen Locken, die mich immer an einen Schafspelz erinnerten. Aber wir waren bloß Freunde. Wir gingen nie zusammen aus oder dergleichen.

Drei Monate nach seinem Abschluss hatte Howard einen Vertrag für sein erstes Buch, aber zeitweilig keine Bleibe. Da ich einen Job bei einer Zeitung in New Jersey und ein Häuschen am Waldrand gemietet hatte, lud ich ihn zu mir ein. Er werde bloß bis Weihnachten bleiben, sagte Howard.

Er sagte nicht, in welchem Jahr. Und in der Zwischenzeit weckte er mich jeden Morgen mit meiner Lieblingsmusik, den ›Gesängen der Buckelwale‹, und setzte mir ein Frettchen ins Bett. Tagsüber schrieben wir beide – er in der Hütte, und ich in der Zeitung. Wir telefonierten oft miteinander. War das eine gute Einführung? Findest du diese Formulierung okay? Wir schrieben vierzehn Stunden am Tag, oft sechs Tage die Woche. Die Worte brannten in uns. Wir wollten aufklären und das beschützen, was wir schön und wichtig fanden: Natur und Kultur, historische Bauten und alte Bäume, seltene Pflanzen und wilde Tiere, unseren Platz auf diesem Planeten. Howard inspirierte mich mit seiner Hingabe und seinem Verstand, mit seiner Sanftheit und seinem Humor; und er schätzte meine Ernsthaftigkeit, meine Begeisterungsfähigkeit und meine Freude.

Acht Jahre später lebten wir immer noch zusammen. Die Zeitung hatte ich längst verlassen. Ich hatte sechs Monate in einem Zelt im australischen Outback gelebt und war dann zu Howard zurückgekehrt. Meinen Eltern hatte ich davon nichts erzählt. Ich hatte Howard überhaupt nicht erwähnt. Meine Mutter hatte ziemlich strenge Ansichten darüber, welche Leute der richtige Umgang für »Leute wie uns« waren. Dieser schlaksige jüdische Liberale mit den störrischen Locken gehörte jedenfalls nicht dazu, das war klar.

Um meinen Eltern mitzuteilen, dass wir heiraten wollten, reisten wir nach Virginia. Mein Vater war äußerst verlegen. Er wusste, was kommen würde. Meine Mutter war fuchsteufelswild. Mit penetranter Deutlichkeit erläuterte sie, warum Howard als Ehemann nicht in Frage kam: Er hatte keinen »richtigen« Beruf, seine »wüsten« Haare waren entsetzlich, er lachte zu laut, und die Schnürsenkel an seinen Turnschuhen gingen andauernd auf. Dann versuchte sie es mit Mitgefühl: »Dafür, dass er Jude ist, kann er ja nichts.«

Howards Eltern hatten dagegen immer von mir gewusst. Sie waren so erleichtert darüber, dass wir unsere Beziehung endlich legitimieren wollten, dass sie mir das Kreuz an meinem Hals verziehen. Meine Eltern würden sich schon noch besinnen, erklärten sie mir. Schließlich gehörten wir ja zur Familie.

Ehrlich gestanden, bedeutete mir die Familie nicht viel. Fast alle Mitglieder der erweiterten Familie waren schon tot, als ich geboren wurde, und die anderen lebten zu weit entfernt, als dass man sie öfter besucht hätte. Wenn eine Familie wirklich ein lebendiges Band war, wie könnten meine Eltern dann den auserwählten Partner ihres einzigen Kindes so ablehnen? Für mich waren eine Familie zwei Menschen, die Eltern wurden und Kinder und gemeinsame Sorgen hatten, wenn die Natur es bestimmte. Ich wollte damit nichts zu tun haben.

Nach unserer Hochzeit, der sie fernblieben, schickten meine Eltern mir einen Brief, in dem sie sich von mir lossagten. Ich erinnere mich nicht an die einzelnen Worte – Howard nahm ihn mir sofort weg –, aber ich erinnere mich noch an den Schock, als ich die Handschrift sah: Es war die vertraute, kraftvolle Schrift meines Vaters.

Warum hatte mein Vater so etwas geschrieben? Die Frage quälte mich lange. Mein Vater hatte weniger Vorurteile als andere Männer zu seiner Zeit. Er kam mit allen gut aus: Schwarzen und Weißen, Christen und Juden, Yankees und Südstaatlern. Er hasste nicht einmal die Japaner, unsere früheren Feinde. Hinsichtlich meines Ehemanns hatte er aber offenbar vor der Engstirnigkeit meiner Mutter kapituliert; er lebte ja schließlich mit ihr, nicht mit mir.

Zwei Jahre lang hatten wir keinerlei Kontakt. Dann erhielt ich einen Brief von der Schwester meines Vaters in Kalifornien. Die Ärzte hatten einen schwarzen Fleck in seiner Lunge gefunden. Ich rief im Krankenhaus an und erfuhr, dass es Krebs war. Ich buchte den nächsten Flug nach Washington und ging direkt in sein Zimmer im Walter-Reed-Krankenhaus.

Meine Eltern waren froh, mich zu sehen. Aber in den folgenden Monaten, als ich zwischen New Hampshire und Virginia hin- und herflog, um meinen Vater zu pflegen, ließen sie doch immer wieder böse Bemerkungen über meine Ehe und meinen Ehemann fallen.

Ich hatte nicht die Absicht, sie auch noch mein Schwein kritisieren zu lassen.