Einfach Mensch sein - Sy Montgomery - E-Book

Einfach Mensch sein E-Book

Sy Montgomery

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Emu, Baumkänguru, Spinne, Hund und Hermelin: Sie alle haben die Naturforscherin Sy Montgomery mehr über das Leben gelehrt als mancher Artgenosse. Leidenschaft für die Natur hat ihr Herz groß gemacht und ihr Leben reich. Dieses Buch ist eine wahre Schatztruhe von ebenso atemberaubenden wie beglückenden Begegnungen. Sy Montgomery öffnet uns die Augen für die Geheimnisse des Lebens.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 165

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sy Montgomery

Einfach Mensch sein

Von Tieren lernen

Aus dem Amerikanischen von Heide Sommer

Nachwort von Donna Leon

Mit Illustrationen von Rebecca Green

Diogenes

Immer und ewig für Dr. Millmoss

Einleitung

Auf meinen Expeditionen bin ich viel herumgekommen. Ich war mit Wissenschaftlern im Nebelwald von Papua-Neuguinea, um drei Baumkängurus Funkhalsbänder anzulegen, habe nahe der Wüste Gobi, im Altai-Gebirge, nach den Spuren von Schneeleoparden gesucht und bin für ein Buch über rosa Flussdelphine mit Piranhas und Zitteraalen im Amazonas geschwommen. Immer wieder ging mir durch den Kopf, dass sich dabei ein Sprichwort bewahrheitete: Wenn der Schüler bereit ist, wird sein Lehrer erscheinen. Auch wenn unter meinen Lehrern fabelhafte Menschen waren, wie zum Beispiel Mr. Clarkson, der an der Highschool journalistisches Schreiben unterrichtete, so waren doch die meisten meiner Lehrer Tiere.

Und was habe ich von den Tieren gelernt? Einfach Mensch sein.

Alle Tiere, die mir über den Weg gelaufen sind, vom ersten Käfer, den ich als kleines Kind entdeckte, über die Kragenbären, die ich in Südostasien sah, bis hin zu den Tüpfelhyänen in Kenia – sie waren einfach Mitgeschöpfe für mich, jedes einzelne ein Wunder und in seiner Art vollkommen. Mit ihnen zusammen zu sein war ein Erlebnis, denn ein jedes hat Fähigkeiten, die über unsere eigenen hinausgehen. Eine Spinne kann die Welt mit ihren Füßen erschmecken. Vögel sehen ungeahnte Farbnuancen. Eine Grille kann mit den Beinen singen und mit den Knien hören. Ein Hund kann Töne wahrnehmen, die weit über den Frequenzen des menschlichen Hörvermögens liegen, und spürt, wenn man verärgert ist, noch ehe man es selber weiß.

Nähere Bekanntschaft mit jemand aus einer anderen Spezies zu machen bereichert einen Menschen auf erstaunliche Weise. Alle Tiere, denen ich – und sei es nur flüchtig – begegnet bin, haben mein Leben verändert. Manche wurden regelrecht zu Freunden, wie die Hunde bei uns im Haus. Oder das Schwein in unserer Scheune. Auch drei flugunfähige Vögel gehören dazu, zwei, drei Kängurus, ein Wiesel und ein Oktopus. Ja selbst eine Spinne.

Einfach Mensch sein, das lerne ich immer noch. Obwohl ich mich ernsthaft darum bemühe, gelingt es mir nicht immer. Doch es ist schon beglückend, nur in die grüne Natur hinauszuziehen, um dann wieder nach Hause zurückzukehren zu meiner aus vielen Arten bestehenden Familie, die mir Geborgenheit und Freude schenkt. Sehr oft wünsche ich mir, ich könnte die Zeit zurückdrehen und der jungen, ängstlichen Person, die ich einmal war, sagen, dass meine Träume sich erfüllen und meine Sorgen verfliegen würden. Doch das ist unmöglich. Aber ich kann etwas Besseres: davon erzählen, dass es immer und überall Lehrmeister gibt, mit vier, zwei, acht oder auch gar keinen Beinen, einige mit Skelett, andere ohne. Alles, was wir tun müssen, ist, sie als Lehrer zu erkennen und uns zu öffnen für ihre Wahrheiten.

Erstes KapitelMolly

Immer wenn ich nicht in der Schule war, war ich mit unserer Scotchterrier-Hündin Molly zusammen. Wir schoben Wache auf dem weitläufigen, kurzrasierten Rasen hinter dem Haus meines Vaters, des Generals, auf der Militärbasis Fort Hamilton im Südosten von New York, in Brooklyn. Oder vielmehr: Molly bewachte das Haus, und ich bewachte Molly.

Leider gab es auf dem gründlich in Schuss gehaltenen Militärstützpunkt für einen Scottie, der schließlich für die Fuchs- und Dachsjagd gezüchtet wurde, kaum Beute. Jeder Zentimeter Rasen war wie mit der Nagelschere geschnitten, Eindringlinge wurden nicht geduldet. Da unser Hund dennoch das eine oder andere Eichhörnchen witterte, wir aber keinen Zaun ziehen durften (das Haus gehörte der Army), war Molly an einen dicken, tief in den Boden gerammten Pfahl gekettet. Ich sah ihr zu, wie sie mit ihrer feuchten, schwarzen Nase schnuppernd und mit aufgestellten, sich ständig drehenden Ohren die Gegend abscannte. Genau wie ich sehnte sie sich nach den Geräuschen und Gerüchen der Tiere in weiter Ferne.

Bis sie eines Tages plötzlich losschoss wie eine abgefeuerte fellbesetzte Kanonenkugel.

Sie zog den einen halben Meter langen Pfahl mitsamt der Kette hinter sich her, knurrte außer sich vor Wut und durchbrach die Eibenhecke hinter dem Backsteinbungalow. Ich konnte gerade noch sehen, was sie da jagte: ein Kaninchen!

Auch ich war außer Rand und Band. Nie zuvor hatte ich ein Wildkaninchen gesehen. Niemand hatte jemals von einem Wildkaninchen auf Fort Hamilton gehört! Ich musste es mir aus der Nähe betrachten. Doch Molly hatte das Kaninchen quer durch den Garten vor das Haus gejagt, und meine kleinen Zweitklässler-Füße, die in steifen Lacklederschuhen steckten, trugen mich nicht halb so schnell wie Molly ihre vier voll ausgewachsenen, krallenbewehrten Pfoten.

Das tiefe Knurren eines Scotchterriers klingt zu bedrohlich, als dass man es ignorieren könnte. Unverzüglich kam meine Mutter mit einem der Soldaten, die ihr zur Hand gingen, aus dem Haus gelaufen. Ein Wald von Beinen rannte in wildem Durcheinander hinter unserer wütenden Terrierhündin her. Natürlich schafften die Erwachsenen es nicht, Molly einzufangen. Sie hatte sich mittlerweile von Kette und Pfahl befreit. Sie war von der Leine. Ob sie nun das Kaninchen fangen würde oder nicht, sie würde so schnell nicht zurückkommen, vielleicht nicht einmal vor Einbruch der Dunkelheit. Erst wenn ihr danach war, würde sie wieder vor der Tür stehen und mit einem kurzen Kläffen Einlass begehren. Nur zu gerne wäre ich hinter ihr hergerannt, doch nicht um sie aufzuhalten. Ich wollte mit ihr davonlaufen. Ich wollte das Kaninchen noch einmal sehen. Ich wollte erkunden, wie es nachts in der freien Natur roch. Ich wollte andere Hunde treffen, mit ihnen ringen und sie jagen, meine Nase in Erdlöcher stecken und erschnuppern, wer darin lebte. Ich wollte die Schätze entdecken, die im Erdreich verborgen waren.

Viele kleine Mädchen vergöttern ihre älteren Schwestern. Mir ging es nicht anders. Nur dass meine ältere Schwester eine Hündin war. Hilflos stand ich da, in dem Rüschenkleidchen und den Spitzensöckchen, in die meine Mutter mich gesteckt hatte. Ich wollte sein wie Molly: wild. Unerschrocken. Nicht zu halten.

 

Ich sei, so sagte meine Mutter, nie ein »normales« Kind gewesen.

Immer wieder erzählte sie von jenem Tag, an dem mein Vater und sie mich zum ersten Mal in den Zoo mitnahmen. Ich hatte gerade laufen gelernt, riss mich von ihrer Hand los, und schon war ich im Gehege der größten und gefährlichsten Tiere von allen. Die Nilpferde, diese 1500 Kilogramm schweren Brocken, hätten mich nur gutmütig angestarrt statt zuzuschnappen. Sie sind auch nicht auf mir herumgetrampelt, und irgendwie schafften es meine Eltern, mich unversehrt wieder aus dem Gehege herauszubekommen. Meine Mutter hat sich von diesem Vorfall nie ganz erholt.

Ich fühlte mich schon immer zu Tieren hingezogen, weit mehr als zu Kindern, Erwachsenen oder Puppen. Ich beobachtete lieber meine beiden Goldfische Goldie und Blackie und spielte mit meiner heißgeliebten, vom Pech verfolgten Schildkröte Ms. Yellow Eyes. (Meine Mutter, die aus dem Süden stammte, hatte mir lange vor Aufkommen des Feminismus das respektvolle »Ms.« für alle weiblichen Wesen beigebracht.) Wie die meisten der in den 50er Jahren als Haustier gehaltenen Schildkröten bekam auch Ms. Yellow Eyes von falscher Ernährung einen weichen Panzer und starb. Meine Mutter wollte mich mit einer Babypuppe trösten, doch die ließ ich in der Ecke liegen. Als mein Vater mir dann einen ausgestopften jungen Kaiman aus Südamerika mitbrachte, zog ich ihm die Kleider der Puppe an und fuhr ihn im Wägelchen herum.

Obwohl ich ein Einzelkind war, habe ich mich nie nach Geschwistern gesehnt. Ich brauchte keine anderen Kinder um mich herum. Die meisten Kinder fand ich zu laut und wuselig. Nie hielten sie lange genug still, um einer Hummel zuzuschauen. Sie rannten durcheinander und verscheuchten die Tauben, die auf dem Gehweg herumstolzierten.

Und die Erwachsenen hinterließen bei mir – mit wenigen Ausnahmen – ebenfalls keinen bleibenden Eindruck. Auch Menschen, die ich schon viele Male gesehen hatte, konnte ich mit leerem Blick anstarren, unfähig, sie einzuordnen, bis meine Eltern mir in Erinnerung riefen, was für ein Haustier sie hatten. Sie sagten zum Beispiel: »Das sind doch die Besitzer von Brandy.« Brandy war ein langhaariger Zwergdackel mit rotem Fell, der gerne mit mir kuschelte, während die Erwachsenen noch weiterfeierten, nachdem sie mich ins Bett gebracht hatten. Auch heute kann ich mich weder an die Namen von Brandys Herrchen und Frauchen noch an deren Gesichter erinnern. Einer der wenigen Menschen ohne Haustier, die ich ins Herz geschlossen hatte, war mein »Onkel« Jack. Er war kein richtiger Verwandter, sondern ein Freund meines Vaters, ein Oberst, der Bilder von weiß gescheckten deutschen Reitponys für mich malte. Während er und mein Vater Schach spielten, malte ich die weißen Flecken der Ponys bunt aus.

Kaum konnte ich sprechen, verkündete ich meinen Eltern, dass ich ein Pferd sei, und galoppierte wiehernd und unter heftigem Schütteln meiner Mähne durchs Haus. Mein Vater spielte mit und nannte mich »Pony«. Doch meine Mutter, die sich für eine feine Dame hielt, wünschte sich eine Tochter, die Prinzessin oder Fee sein wollte, und war besorgt. Sie fürchtete, ich sei nicht ganz richtig im Kopf.

Der Kinderarzt der Army versicherte ihr, die Pony-Phase würde vorübergehen. Das tat sie auch, doch wurde sie von der Überzeugung abgelöst, ich sei ein Hund.

Aus meiner Sicht gab es dabei nur ein einziges Problem. Während meine Eltern und deren Freunde sich ständig bemühten, mir beizubringen, wie ein kleines Mädchen zu sein hatte, gab es niemanden, der mir zeigte, wie man ein Hund war. Das änderte sich erst, als ich drei Jahre alt war und Molly in mein Leben trat.

 

Auf den Websites von Scotchterrier-Züchtern werden die Welpen als »frech und übermütig« sowie »lebhaft und eigensinnig« charakterisiert. Typischerweise sind Scotties von klein auf zäh und selbstbewusst. Diese alte Rasse wurde von geizigen Schotten gezüchtet, um ihre Nutztiere vor Raubtieren zu schützen. Die kleinen schwarzen Hunde sind echte Hochlandkrieger: stark und tapfer genug, um Füchse und Dachse zu bezwingen, und klug genug, um auch aus eigener Initiative Eindringlingen das Handwerk zu legen. Bei einer Schulterhöhe von knapp 30 Zentimetern und einem Gewicht von etwa zehn Kilogramm sind Scotties »so kompakt wie ein kleiner Hund, aber so tapfer wie ein großer«, schrieb die Kritikerin und Schriftstellerin Dorothy Parker. »Dabei«, fügte sie hinzu, »sind sie so robust, dass ihnen höchstens ein Automobil zum Verhängnis werden kann, in welchem Fall sogar das Auto zugeben müsste, dass es einen Kampf hinter sich hatte.« Ein Scotchterrier-Welpe ist wie ein Zweijähriger im Trotzalter nicht kleinzukriegen und verfügt über unendlich viel Energie.

Obwohl wir unsere Kleinkindzeit gemeinsam verbrachten, war die willensstarke, lebhafte Molly das genaue Gegenteil von mir. Als ich zwei Jahre alt war und wir aus Deutschland, wo ich geboren wurde, zurück nach Amerika zogen, ging es mir gar nicht gut. In Deutschland hatten wir ein Kindermädchen gehabt, nun war meine Mutter allein für mich verantwortlich. Sie behauptete, ich sei an einer sehr seltenen Form von frühkindlichem Pfeif‌ferschen Drüsenfieber erkrankt. Die Schwester meines Vaters hielt das für eine Lüge, und tatsächlich fand sich in meiner Krankenakte bei der Army keinerlei Hinweis darauf. Meine Tante glaubte, meine Mutter habe versucht, mich zu ersticken, oder ich sei heftig geschüttelt worden, womöglich beides und wahrscheinlich mehrmals. Offenbar habe ich viel geschrien. Noch viele Jahre später, als ich längst ein Teenager war, hat meine Mutter ihren Freundinnen vorgejammert, wie mein Schreien ihr immer die Cocktailstunde ruinierte. Ihre abendlichen Martinis waren für sie der beste Teil des Tages. Sie linderten ihre Einsamkeit, wenn mein Vater fort war und sie mit einem brüllenden Kleinkind alleine ließ.

Was auch immer passiert war, monatelang wollte ich weder spielen noch sprechen. Ich weigerte mich zu essen. Ich wurde drei Jahre alt und war immer noch nicht gewachsen.

Mein Zustand muss meinen Eltern sehr zugesetzt haben. Meine Mutter kaufte eine kleine Keramikschüssel, auf deren Boden kleine bunte Tiere aufgemalt waren, die ich nur sehen konnte, wenn ich mein Müsli aufgegessen hatte. Sie nahm Plätzchenformen und stach aus meiner Toastscheibe Tiere aus, mein Vater versuchte es mit Milchshakes, in die er rohe Eier hineinschmuggelte. Ihre Verzweiflung über meine schlechte Gesundheit mag der Grund gewesen sein, weshalb sie schließlich einen Welpen anschafften.

Heutzutage würden Hundetrainer und Erziehungsberater davon abraten. Man ist sich einig, dass Scotchterrier, obwohl sie wunderbare Hunde sind, nicht zu kleinen Kindern passen. Die Kleinen traten ihnen womöglich auf die Zehen oder zogen sie am Schwanz, aber das lassen sich Scotties nicht gefallen. Sie beißen gerne mal zu mit ihrem Gebiss, das so kräftig ist wie das von Airedale Terriern. Scotties sind ungewöhnlich loyal, gelten jedoch als die wildeste aller Terrierrassen. Fachleute befürworten heute die Anschaffung eines Hundes selbst der gutmütigsten, geduldigsten Rasse erst für Kinder ab sechs oder sieben Jahren. Doch das alles wusste man damals noch nicht, und so schenkte uns die glamouröse Kubanerin, die ich als Tante Grace kannte, einen ihrer drei kostbaren Welpen.

 

Tante Grace war nicht wirklich meine Tante, und ihr Mann, den ich in meiner Kindheit immer Onkel Clyde nannte, nicht mein richtiger Onkel. Er war der beste Freund meines Vaters, Tante Grace hingegen bedeutete für meine Mutter eine Konkurrenz. Sie trug ihr tiefschwarzes, hüftlanges Haar kunstvoll hochgesteckt, trug maßgeschneiderte Kleider mit tiefem Ausschnitt und geschlitztem Rock, einen schwarzen Lidstrich, knallroten Lippenstift und hohe Absätze. Meine Mutter hielt sie für eine Angeberin. »Was glaubst du wohl, welche Farbe das Kleid von Tante Grace hatte, als sie mit den Welpen zum Tierarzt fuhr, um sie impfen zu lassen?«, fragte sie mich einmal.

»Schwarz?«, fragte ich vorsichtig, denn ich selbst hätte mich den Hunden angeglichen. »Nein, weiß!«, trumpfte meine Mutter auf. Tante Grace wollte sich von den Welpen abheben.

 

Kurz nach diesem Besuch beim Tierarzt muss Molly bei uns eingezogen sein. Obwohl nichts in meinem jungen Leben dieses Ereignis hätte überstrahlen können, habe ich zu meinem Kummer jegliche Erinnerung daran verloren, ob wegen meiner Krankheit oder Verletzung oder weil ich noch so klein war. Doch die Wirkung war unübersehbar.

Nachdem Molly zu uns gekommen war, machten meine Eltern ein Schwarzweißfoto von uns beiden, das meine Mutter zwei Monate vor meinem vierten Geburtstag als Weihnachtskarte verschickte. Meine kurzen Puffärmel deuten darauf hin, dass das Bild im Sommer aufgenommen wurde, aber Nikolausstiefel hängen am Kamin und ein Nikolaus zum Aufziehen steht neben mir auf dem Steinfußboden und schwingt eine Messingglocke. Wie alle Weihnachtskarten meiner Mutter war auch dies eine gestellte Aufnahme. Aber der freudig erregte Gesichtsausdruck von Molly und mir war echt.

 

»Molly hat eine Daddysocke gemopst!«

Wie die meisten jungen Hunde liebte Molly es zu stehlen. Die feinen schwarzen Strümpfe, die mein Vater zu seiner Generalsuniform trug, hatten es ihr besonders angetan. Wenn Molly sich mal wieder einen Strumpf geschnappt hatte, rief ich – ohne sie verpetzen zu wollen – alle im Haus herbei, damit sie das Schauspiel mitbekamen, das nun folgte und über das mein Vater, der ein Hundeliebhaber war, sich köstlich amüsierte. Molly stöberte den Strumpf im Wäschekorb auf, zog ihn auch mal aus einem Schuh, in dem er noch steckte, und rannte unter heftigem Knurren mit ihrer Beute ins Wohnzimmer. Dort machte sie sich über den Strumpf her und schüttelte ihn, besessen wie eine Furie. Niemand konnte Molly den Gegner entreißen, bevor sie ihm nicht das Genick gebrochen hatte.

Als Welpe zerkaute Molly die Dinge nicht. Sie brachte sie um. Natürlich liebte sie auch Rinderhaut und Knochen, doch die waren kein Vergleich zur Socke meines Vaters. Nie habe ich gesehen, dass sie ein Tier erlegt hätte, doch Gegenstände wie die Socken waren ihr eine willkommene Beute.

Zu gerne machte sie sich auch über Bälle her. Die kleinen interessierten sie dabei weniger, und apportieren machte ihr auch keinen Spaß. Wie der Blitz jagte sie hinter allen großen, luftgefüllten Plastikkugeln her – ob es Fußbälle, Kickbälle oder Dodgebälle waren – und machte sie nieder. Früh morgens, ehe die Erwachsenen auftauchten, führte ich sie an der Leine hinunter zu den Tennisplätzen unseres Stützpunkts und rollte solch einen Ball vor mir her. Ihr tiefes, kehliges Knurren hallte in meiner Brust wider, während sie über den Sandbelag preschte, immer dem Ball nach. Früher oder später erwischte sie ihn. Sobald sie ihn mit ihren Fangzähnen punktiert hatte und genügend Luft ausgetreten war, packte sie den Kerl und schüttelte ihn so lange, bis er seine Seele aushauchte. Erst wenn er tot war, durfte ich ihn genauer untersuchen. Er sah aus wie von Eispickeln durchbohrt. Niemand anderer als Molly hatte ihn so zugerichtet. Von Anfang an war mir bewusst, dass Molly ein mächtiges Geschöpf war, vor dem man großen Respekt haben musste.

In der Militärbasis blieb das nicht unbemerkt. Als Molly älter wurde und nicht mehr angekettet war, streunte sie bisweilen nachts draußen herum, und die Leute auf dem Stützpunkt lernten sie kennen. Auf einem ihrer nächtlichen Streifzüge kam sie an den Baracken des Frauenhilfskorps vorbei (weibliche Soldaten wurden offiziell erst 1978 in die Streitkräfte integriert). Einige Soldatinnen waren gerade vor der Tür. Sie müssen sich, wie man uns am nächsten Morgen erzählte, in Reih und Glied aufgestellt haben, als Molly nahte. Sie hätten sich beschnuppern lassen und sogar salutiert, als Molly von dannen ging.

Man mag das kaum glauben. Vielleicht galt der Salut ja dem Hund des Generals? Oder aber diese tapferen, starken Frauen haben der Unabhängigkeit und Courage dieser kleinen Hündin Respekt gezollt. Sie wären nicht die Ersten. Generalmajor George Douglas, auch bekannt als Graf von Dumbarton, hatte zwei Jahrhunderte zuvor sein Rudel Scotchterrier »the Diehards«, die zähen Kämpfer, genannt. Ja er benannte sein Lieblingsregiment, die Royal Scots, nach ihnen: Dumbarton’s Diehards.

Mit ihrer für Scotties typischen Eigenständigkeit brauchte Molly keine Menschen, die ihr sagten, was sie zu tun und zu lassen hatte. Sie kam einfach nicht, wenn wir sie abends riefen. Schließlich überlegten meine Eltern, dass sie die Beleuchtung vor dem Haus an- und ausschalten könnten, um Molly durch das Blinken zu signalisieren, sie würden es sehr gerne sehen, wenn sie heimkäme. Es sollte ja nur eine Anregung sein, etwa so wie mein Vater über Ampeln dachte: Eine rote Ampel war für ihn auch nur eine Anregung. Aber Molly kam erst, wenn sie es für richtig hielt.

Mich kümmerte all das wenig. Natürlich erwartete ich nicht, dass sie ausgerechnet mir gehorchen würde. Warum sollte sie? Als ich fünf Jahre alt war, war sie erst zwei, aber bereits voll ausgewachsen. Ich empfand sie nicht nur als mir überlegen, sondern als mein Idol. Dass andere Menschen meine Vorstellung von unserer Beziehung nicht teilten, merkte ich erst, als meine Mutter anfing, uns beide zu zähmen.

 

Die Wesenszüge, die Scotchterrier zu so besonderen Hunden machen – Unabhängigkeit und Hartnäckigkeit –, erschweren ihre Erziehung. Auf der Website eines Hundetrainers steht, Scotties gingen mit ihrem berühmten Dickkopf davon aus, dass Gehorsam »freiwillig« sei.

Kaum zu glauben, aber wahr: Während unsere Molly herumstromerte und Spielsachen und Kleidungsstücke kaputtmachte, schaffte es Tante Grace, dass ihre Scotties, Mac und Ginny, zur Nacht beteten und Klavier spielten.

Sie kaufte ein kleines schwarzes Spielzeugklavier, so wie Schroeder von den Peanuts eins hat. Dann rief sie Mac, den Hundebruder von Molly, ins Wohnzimmer und forderte mit Nachdruck: »Spiel auf dem Klavier!« Der Hund setzte sich vor die Tastatur, patschte auf ein paar Plastiktasten, dann auf ein paar andere, bald mit der einen, bald mit der anderen Pfote. Ich bekam damals auch Klavierunterricht und war sehr beeindruckt, dass Mac, im Gegensatz zu mir, schon beidhändig spielen konnte.

Als Nächstes galt es, die Frömmigkeit der Hunde zu bestaunen. Eine breite, zartblau gepolsterte Fußbank diente als Esstisch, der mit zwei farblich passenden blauen Sets eingedeckt war, genau richtig für zwei Hundenäpfe. Während Tante Grace die beiden blanken, bis zum Rand mit Futter gefüllten Aluminiumschüsseln herbeitrug, nahmen Mac und seine Hundemutter Ginny artig nebeneinander Platz. Tante Grace setzte ihnen die Schüsseln vor. »Erst beten!«, mahnte sie, woraufhin die beiden Scotties ihre Pfoten vor sich auf den Tisch legten, die Köpfe senkten und ihre Schnauzen unter den Pfoten versteckten. In dieser Stellung verharrten sie, bis Tante Grace ihnen das Zeichen zum Fressen gab. Das machte Eindruck. Die anderen zu beeindrucken war in der High Society der Army sehr wichtig.