Das hohe Fenster - Raymond Chandler - E-Book

Das hohe Fenster E-Book

Raymond Chandler

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Beschreibung

Mrs. Murdock, eine reiche Witwe aus Pasadena, hat einen doppelten Auftrag für Philip Marlowe: Ihre Schwiegertochter, eine ehemalige Nachtklub-Sängerin, ist verschwunden – und gleichzeitig eine alte, wertvolle Goldmünze. Beide soll der Privatdetektiv dingfest machen. Was wie ein üblicher Auftrag begann, entwickelt sich schon bald zu einer atemberaubenden Achterbahnfahrt. Marlowes Sinn für Recht und Gerechtigkeit steht auf dem Prüfstand.

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Raymond Chandler

Das hohe Fenster

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach

Mit einem Nachwort von Margaret Atwood

Diogenes

1

Das Haus lag an der Dresden Avenue im Stadtteil Oak Knoll von Pasadena. Ein großes, gediegenes, kühl wirkendes Haus mit burgunderroten Ziegelmauern, Terracotta-Dachziegeln und weißen Ecksteinen. Die Fenster im Erdgeschoss waren verbleit. Im ersten Stock erinnerten sie an Landhausfenster und waren mit allerlei Rokokoschnörkeln aus Stuck verziert.

Von der Fassade mit den dazugehörigen blühenden Büschen erstreckten sich rund zweitausend leicht abfallende Quadratmeter edelsten grünen Rasens bis hin zur Straße, kamen dabei an einer gewaltigen Himalaya-Zeder vorbei und umflossen sie wie kühle grüne Flut einen Felsen. Der Gehweg und die Zufahrt waren sehr breit, und die Zufahrt säumten drei prächtige weiße Akazien. Der Morgen war von Sommerduft geschwängert, und die Natur stand reglos in der stickigen Luft, die sie dort haben, wenn sie von einem netten kühlen Tag reden.

Ich wusste über die Bewohner nur, dass eine Mrs. Elizabeth Bright Murdock mitsamt Familie einen netten stubenreinen Privatdetektiv suchte, der beim Zigarrerauchen nicht auf den Boden aschte und nie mehr als eine Waffe dabeihatte. Und ich wusste, dass sie die Witwe eines alten Krauters mit Backenbart namens Jasper Murdock war, der steinreich geworden war, indem er der Stadtverwaltung unter die Arme gegriffen hatte, und dessen Foto an seinem Geburtstag alljährlich in der Zeitung von Pasadena abgedruckt wurde, darunter seine Lebensdaten und der Satz: Sein Leben war Dienen.

Ich stellte meinen Wagen an der Straße ab, überquerte ein paar Dutzend in den grünen Rasen eingelassene Trittsteine und läutete am Ziegeleingang mit Spitzdach. Vom Ende der Auf‌fahrt zog sich bis zum Eingang eine niedrige rote Ziegelmauer. Am einen Ende des Wegs stand auf einem Betonsockel ein kleiner bemalter Schwarzer in weißer Reithose, grüner Jacke und roter Mütze. Er hielt eine Reitgerte, und in den Betonsockel war ein Ring zum Pferdeanbinden eingelassen. Er sah ein bisschen traurig aus, als wartete er schon lange dort und würde langsam den Mut verlieren. Ich ging hinüber und tätschelte ihm den Kopf, während ich darauf wartete, dass mir jemand aufmachte.

Nach einiger Zeit öffnete eine angejahrte Miesepetra in Dienstmädchentracht die Tür ungefähr zwanzig Zentimeter weit und funkelte mich an.

»Philip Marlowe«, sagte ich. »Vereinbarter Termin mit Mrs. Murdock.«

Die Miesepetra knirschte mit den Zähnen, kniff die Augen zusammen, riss sie wieder auf und sagte mit kantiger, steinharter Pionierstimme: »Welcher?«

»Häh?«

»Welcher Mrs. Murdock?«, schrie sie mich fast an.

»Mrs. Elizabeth Bright Murdock«, sagte ich. »Ich wusste nicht, dass es mehrere gibt.«

»Gibt es aber«, blaffte sie. »Karte?«

Die Tür stand immer noch spärliche zwanzig Zentimeter weit offen. Sie stieß die Nasenspitze und eine knochige Hand in den Spalt. Ich zog meine Brief‌tasche heraus und legte eine der Karten, auf denen nur mein Name steht, in die Hand. Hand und Nase zogen sich zurück, und die Tür wurde zugeknallt.

Ich sagte mir, dass ich an der Hintertür vielleicht mehr Erfolg gehabt hätte. Ich ging zu dem kleinen Schwarzen und tätschelte ihm wieder den Kopf.

»Bruder«, sagte ich, »du bist nicht allein.«

Die Zeit verging, haufenweise Zeit. Ich steckte mir eine Zigarette in den Mund, zündete sie aber nicht an. Der Good-Humor-Mann kam mit seinem blauweißen Wägelchen vorbei und spielte »Turkey in the Straw«. Ein großer schwarzgoldener Schmetterling flatterte herbei, landete auf einem Hortensienbusch fast in Ellbogenweite, hob und senkte ein paarmal die Flügel und torkelte in die reglose heiß duftende Luft davon.

Die Haustür ging wieder auf. Die Miesepetra sagte: »Hier lang.«

Ich ging hinein. Das Foyer war groß, quadratisch, versenkt und kühl, hatte das beschauliche Flair einer Friedhofskapelle und roch auch so. Gobelins auf dem rauen weißen Verputz, vor den hohen Seitenfenstern gusseiserne Gitter, die Balkone imitierten, schwere Schnitzsessel mit Plüschsitzflächen, Tapisserielehnen und an den Seiten herabhängenden verblichenen Goldquasten. Hinten ein tennisplatzgroßes Buntglasfenster. Darunter Glastüren mit Vorhängen. Ein muffiger, dumpfer, engstirniger, sauberer und bitterer alter Raum. Er machte nicht den Eindruck, als würde hier jemals jemand sitzen oder auch nur Lust dazu haben. Tische mit Marmorplatten und gekrümmten Beinen, vergoldete Standuhren, Statuetten in zwei verschiedenen Marmortönen. Jede Menge Gerümpel, das abzustauben Tage dauern musste. Jede Menge Geld und alles vergeudet. Vor dreißig Jahren musste das in der damaligen wohlhabenden und diskreten Provinzstadt Pasadena als Festsaal gegolten haben.

Wir verließen ihn, durchquerten eine Diele, und nach einer Weile öffnete die Miesepetra eine Tür und bedeutete mir hineinzugehen.

»Mr. Marlowe«, sagte sie mit garstiger Stimme durch den Spalt und ging zähneknirschend davon.

2

Das kleine Zimmer ging auf den Garten hinaus. Es hatte einen hässlichen Teppich in Rot und Braun, sah aus wie ein kleines Büro und war auch so eingerichtet. Eine schmale, zerbrechlich wirkende Blondine mit Hornbrille saß an einem Sekretär mit einer Schreibmaschine auf der Ausziehplatte zu ihrer Linken. Ihre Hände schwebten über der Tastatur, sie hatte aber kein Papier eingespannt. Als ich ins Zimmer kam, musterte sie mich mit der steifen, etwas albernen Miene eines befangenen Menschen, der für einen Fotografen posiert. Mit klarer und leiser Stimme bot sie mir einen Stuhl an.

»Ich bin Miss Davis, Mrs. Murdocks Sekretärin. Ich soll Sie um ein paar Referenzen bitten.«

»Referenzen?«

»Ja. Referenzen. Überrascht Sie das?«

Ich legte meinen Hut auf ihren Schreibtisch und die ungerauchte Zigarette auf seine Krempe. »Soll das heißen, man hat einen Termin abgemacht, ohne sich vorher über mich zu informieren?«

Sie biss sich auf die zitternde Unterlippe. Ich wusste nicht, ob sie Angst hatte, sauer war oder ob es ihr nur schwerfiel, kühl und geschäftsmäßig aufzutreten. Glücklich wirkte sie jedenfalls nicht.

»Sie hat Ihren Namen vom Filialleiter der California-Security Bank. Der kennt Sie aber nicht persönlich«, sagte sie.

»Zücken Sie Ihren Bleistift«, sagte ich.

Sie hielt ihn hoch, zeigte mir, dass er frisch gespitzt war und loslegen konnte.

Ich sagte: »Erstens einer der Vizepräsidenten ebendieser Bank. George S. Leake. Er sitzt in der Zentrale. Dann Staatssenator Huston Oglethorpe. Der ist vielleicht in Sacramento oder aber in Los Angeles in seinem Büro im State Building. Dann Sidney Dreyfus jr., bei Dreyfus, Turner & Swayne, Anwaltskanzlei im Title Insurance Building. Kommen Sie mit?«

Sie schrieb schnell und mühelos. Ohne hochzusehen, nickte sie. Der Sonnenschein tanzte auf ihren blonden Haaren.

»Oliver Fry von der Fry-Krantz Corporation, Ölfördermaschinen. Die ist drüben an der East Ninth im Industriegebiet. Wenn Sie noch ein paar Cops haben wollen: Bernard Ohls im Stab des Staatsanwalts und Detective-Lieutenant Carl Randall von der Zentralen Mordkommission. Was meinen Sie, genügt das?«

»Machen Sie sich nicht über mich lustig«, sagte sie. »Ich hab nun mal meine Anweisungen.«

»Rufen Sie die beiden Letzten lieber nicht an, wenn Sie nicht verraten wollen, worum es geht«, sagte ich. »Ich mach mich nicht über Sie lustig. Heiß heute, ne?«

»Für Pasadena nicht«, sagte sie, stemmte ihr Telefonbuch auf den Sekretär und machte sich an die Arbeit.

Während sie die Nummern heraussuchte und in der Weltgeschichte herumtelefonierte, betrachtete ich sie eingehend. Sie schien eine natürliche Blässe mitzubringen und sah gesund aus. Ihre spröden kupferblonden Haare waren alles andere als hässlich, aber so straff hinter dem schmalen Kopf zusammengebunden, dass sie kaum noch nach Haaren aussahen. Ihre Augenbrauen waren schmal, ungewöhnlich gerade, dunkler als ihre Haare und spielten ins Kastanienrot. Ihre Nase bot das blässliche Bild eines anämischen Menschen. Ihr Kinn war zu klein, zu spitz und sah unsicher aus. Sie trug kein Make-up bis auf orangeroten Lippenstift und auch davon nicht viel. Ihre Augen hinter den Brillengläsern waren sehr groß, mit großer kobaltblauer Iris und einem unbestimmten Ausdruck. Die Schlupf‌lider gaben den Augen einen leicht asiatischen Ausdruck, oder ihre Gesichtshaut war von Natur aus so straff, dass sie an den Augen zog. Das ganze Gesicht hatte eine Art verqueren neurotischen Charme, dem nur etwas raffiniertes Make-up fehlte, um es umwerfend zu machen.

Sie trug ein einteiliges schlichtes Leinenkleid mit kurzen Ärmeln. Ihre bloßen Arme zeigten leichten Flaum und ein paar Sommersprossen.

Ich achtete nicht weiter auf das, was sie am Telefon sagte. Was sie erfuhr, stenografierte sie mit flinken, leichten Bleistiftstrichen. Als sie fertig war, legte sie den Hörer wieder auf die Gabel, stand auf, strich das Kleid an den Oberschenkeln glatt, sagte: »Wenn Sie sich dann einen Augenblick gedulden würden …«, und ging zur Tür.

Auf halbem Weg drehte sie noch mal um und schob an einer Seite des Sekretärs die obere Schublade zu. Sie ging hinaus. Die Tür schloss sich. Stille. Vor dem Fenster summten Bienen. Weit weg hörte ich einen Staubsauger quengeln. Ich nahm die ungerauchte Zigarette von der Hutkrempe, steckte sie in den Mund und stand auf. Ich ging um den Sekretär herum und zog die Schublade auf, die sie eigens noch geschlossen hatte.

Es ging mich nichts an. Ich war bloß neugierig. Es ging mich nichts an, dass sie einen kleinen automatischen Colt in der Schublade hatte. Ich schob sie zu und setzte mich wieder.

Sie blieb ungefähr vier Minuten weg. Als sie zurückkam, blieb sie in der Tür stehen und sagte: »Sie können Mrs. Murdock jetzt sprechen.«

Wir absolvierten weitere Dielenmeter, dann öffnete sie mir einen Flügel einer gläsernen Doppeltür und trat beiseite. Ich ging hinein, und die Tür wurde hinter mir geschlossen.

Es war so dunkel im Raum, dass ich zuerst nur das Sonnenlicht sehen konnte, das durch dichte Büsche und Abschirmungen hereinfiel. Dann sah ich, dass der Raum eine Art Wintergarten war, den man an der Außenseite vollständig hatte überwuchern lassen. Er war mit Kunstrasenteppichen und Rohrmöbeln ausgestattet. Am Fenster stand ein Rohrsofa. Es hatte eine geschwungene Rückenlehne und so viele Kissen, dass auch ein Elefant weich gesessen hätte, und darauf thronte eine Frau mit einem Weinglas in der Hand. Den durchdringenden Alkoholgeruch nahm ich wahr, bevor ich sie richtig erkennen konnte. Dann gewöhnten sich meine Augen an das Halbdunkel, und ich sah sie.

Sie hatte Unmengen an Gesicht und Kinn. Eine schonungslose zinngraue Dauerwelle, eine gemeingefährliche Hakennase und große feuchte Augen mit dem Mitgefühl nasser Steine. Sie trug einen Spitzenkragen, aber ein Football-Trikot hätte besser zu ihrem Hals gepasst. Sie trug ein graues Seidenkleid. Ihre fleischigen Arme waren bloß und gefleckt. In den Ohren hatte sie Gagatstecker. Auf dem niedrigen Glastischchen neben ihr stand eine Flasche Port. Sie trank einen Schluck aus ihrem Glas, musterte mich darüber hinweg und schwieg.

Ich stand da. Sie ließ mich stehen, trank ihr Glas aus, stellte es auf das Tischchen und schenkte sich nach. Dann tupf‌te sie sich die Lippen mit einem Taschentuch ab. Dann sprach sie. Sie hatte einen kompromisslosen Bariton und klang nicht nach Schnickschnack.

»Setzen Sie sich, Mr. Marlowe. Zünden Sie die Zigarette bitte nicht an. Ich habe Asthma.«

Ich setzte mich auf einen Rohrstuhl und verstaute die immer noch ungerauchte Zigarette neben dem Taschentuch in der Außentasche meines Jacketts.

»Ich hatte noch nie mit Privatdetektiven zu tun, Mr. Marlowe. Ich weiß nichts über sie. Ihre Referenzen sind zufriedenstellend. Wie viel berechnen Sie?«

»Wofür, Mrs. Murdock?«

»Es handelt sich naturgemäß um eine vertrauliche Angelegenheit. Nichts für die Polizei. Wenn es etwas für die Polizei wäre, hätte ich die Polizei gerufen.«

»Ich berechne fünfundzwanzig Dollar am Tag, Mrs. Murdock. Natürlich zuzüglich Spesen.«

»Das scheint mir hoch. Sie müssen viel Geld verdienen.« Sie trank wieder einen Schluck Port. An heißen Tagen mag ich keinen Port, finde es aber nett, sein Angebot ablehnen zu können.

»Nein«, sagte ich. »Das ist nicht viel. Natürlich bekommen Sie Ermittlungsarbeiten zu jedem beliebigen Preis – genau wie Anwalts- oder Zahnarztarbeiten. Ich bin keine Firma. Ich bin nur ein Mann, und ich arbeite immer nur an einem Fall auf einmal. Ich gehe Risiken ein, manchmal recht hohe Risiken, und ich habe Auf‌tragslöcher. Nein, meiner Meinung nach sind fünfundzwanzig Dollar am Tag nicht viel.«

»Verstehe. Und was meinen Sie mit Spesen?«

»Kleine Summen, die hier und da anfallen. Weiß man vorher nie.«

»Ich würde es gern wissen«, sagte sie scharf.

»Das werden Sie«, sagte ich. »Sie bekommen alles schwarz auf weiß. Was Ihnen nicht passt, können Sie beanstanden.«

»Und wie hoch ist Ihr Vorschuss?«

»Da würden mir hundert Dollar reichen«, sagte ich.

»Das will ich auch hoffen«, sagte sie, trank ihren Port aus und goss das Glas wieder voll, ohne sich auch nur den Mund abzuwischen.

»Von Menschen in Ihrer Position muss ich nicht unbedingt einen Vorschuss verlangen, Mrs. Murdock.«

»Mr. Marlowe«, sagte sie. »Ich weiß, was ich will. Aber lassen Sie sich von mir nicht einschüchtern. Wenn Sie sich von mir einschüchtern lassen, sind Sie mir keine große Hilfe.«

Ich nickte und ließ die Bemerkung mit dem Strom schwimmen.

Sie lachte unvermutet und stieß auf. Es war ein nettes Bäuerchen, nichts Protziges, aber ohne jede Zurückhaltung. »Mein Asthma«, sagte sie leichthin. »Ich trinke Portwein als Medizin. Deswegen biete ich Ihnen keinen an.«

Ich schlug ein Bein über das andere. Davon bekam sie hoffentlich keinen Asthmaanfall.

»Geld spielt keine große Rolle«, sagte sie. »Einer Frau in meiner Position wird immer zu viel berechnet; daran gewöhnt man sich. Ich hoffe, Sie sind Ihren Tagessatz wert. Die Sache ist folgende. Mir ist etwas gestohlen worden, das beträchtlichen Wert hat. Ich möchte es zurückhaben, aber ich möchte mehr als das. Ich möchte nicht, dass jemand verhaftet wird. Der Dieb gehört zufällig zur Familie – durch Heirat.«

Sie drehte das Weinglas in den Wurstfingern und lächelte dünn im Zwielicht des abgedunkelten Raums. »Meine Schwiegertochter«, sagte sie. »Ein bezauberndes Mädchen – und hart wie Eichenholz.«

Sie sah mich an, und plötzlich schimmerten ihre Augen.

»Mein Sohn ist ein ausgemachtes Rindvieh«, sagte sie. »Aber ich hänge an ihm. Vor einem Jahr hat das Spatzenhirn geheiratet, ohne mich um Erlaubnis zu fragen. Das war hirnverbrannt, denn er ist außerstande, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, verfügt nur über das Geld, das ich ihm gebe, und ich bin nicht besonders freigebig. Die Lady, die er erwählte, oder die ihn erwählte, war Nachtclubsängerin. Ihr Name war passenderweise Linda Conquest. Sie haben hier im Haus gewohnt. Wir haben uns nie gestritten, weil ich nicht zulasse, dass Menschen in meinem Haus mit mir streiten, aber wir waren uns auch nicht gerade grün. Ich habe die Kosten der beiden übernommen, habe jedem ein Auto geschenkt, und die Lady hat eine ausreichende, aber nicht übertriebene Beihilfe für Kleidung und Ähnliches erhalten. Ich bin sicher, dass sie es hier todlangweilig fand. Ich bin sicher, dass mein Sohn sie langweilt. Mich langweilt er ja auch. Vor einer Woche ist sie jedenfalls Knall auf Fall ausgezogen, ohne eine Nachsendeadresse zu hinterlassen oder sich zu verabschieden.«

Sie musste husten, fummelte ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase.

»Gestohlen wurde eine Münze«, fuhr sie fort. »Eine seltene Goldmünze namens Brasher-Dublone. Sie war die Krönung der Sammlung meines Mannes. Ich habe für derlei Dinge nichts übrig, aber ihm war sie wichtig. Seit seinem Tod vor vier Jahren habe ich die Sammlung nicht angerührt. Sie befindet sich oben in einem abgeschlossenen feuerfesten Raum in einer Reihe feuerfester Kisten. Sie ist versichert, aber noch habe ich den Verlust nicht gemeldet. Ich würde das auch gern vermeiden. Ich bin ziemlich sicher, dass Linda sie genommen hat. Die Münze soll über zehntausend Dollar wert sein. Ein prägefrisches Exemplar.«

»Aber schwer zu verkaufen«, sagte ich.

»Kann sein. Das weiß ich nicht. Bis gestern habe ich die Münze nicht vermisst. Auch da hätte ich sie nicht vermisst, weil die Sammlung mir egal ist, hätte nicht ein Mann aus Los Angeles namens Morningstar angerufen, sich als Münzhändler ausgegeben und gefragt, ob die Murdock-Brasher, wie er sie nannte, zum Verkauf steht. Mein Sohn hat den Anruf entgegengenommen. Er sagte, er glaube nicht, dass sie zu verkaufen sei, weil sie nie zu verkaufen war, aber wenn Mr. Morningstar noch mal anriefe, könne er mich fragen. Ich war nicht zu sprechen, weil ich gerade ein Nickerchen machte. Der Mann sagte, das würde er machen. Mein Sohn informierte Miss Davis über den Anruf, und diese informierte mich. Ich ließ sie zurückrufen. Meine Neugier war geweckt.«

Sie trank einen Schluck Port, fuchtelte mit dem Taschentuch herum und knurrte.

»Warum waren Sie neugierig, Mrs. Murdock?«, fragte ich, einfach um etwas zu sagen.

»Ein seriöser Händler musste wissen, dass die Münze nicht zum Verkauf stand. Mein Mann, Jasper Murdock, hat testamentarisch verfügt, dass seine Sammlung zu meinen Lebzeiten nicht einmal zu Teilen verkauft, beliehen oder verpfändet werden darf. Sie darf auch nicht aus dem Haus entfernt werden, außer dieses erfährt Beschädigungen, die ihre Entfernung erforderlich machen, und auch dann nur auf Veranlassung der Nachlassverwalter.« Sie lächelte verkniffen. »Mein Mann fand offenbar, ich hätte mich zu seinen Lebzeiten mehr für seine Metallscheibchen interessieren sollen.«

Es war ein schöner Tag draußen, die Sonne schien, die Blumen blühten, und die Vögel zwitscherten. Auf der Straße fuhren Autos mit angenehm fernen Geräuschen vorbei. In dem schummrigen Raum mit der schroffen Frau und dem Portweingeruch schien alles etwas unwirklich. Ich wippte mit dem übergeschlagenen Fuß und wartete.

»Ich habe mit Mr. Morningstar gesprochen. Mit vollem Namen heißt er Elisha Morningstar und hat Räumlichkeiten in den Belfont Buildings an der Ninth Street in der City von Los Angeles. Ich habe ihm gesagt, dass die Murdock-Sammlung nicht zu verkaufen ist, nie zu verkaufen war und, solange ich ein Wörtchen mitzureden habe, nie zu verkaufen sein wird, und dass ich überrascht bin, dass ihm das nicht bekannt ist. Er hat herumgedruckst und gefragt, ob er sich die Münze anschauen kann. Natürlich nicht, habe ich gesagt. Er hat sich einsilbig bedankt und aufgelegt. Er klang nach einem alten Mann. Ich bin nach oben gegangen, um nach der Münze zu sehen, was ich seit einem guten Jahr nicht mehr gemacht hatte. Sie war nicht mehr an ihrem angestammten Platz in einer der abgeschlossenen feuerfesten Kisten.«

Ich schwieg. Sie schenkte sich nach und trommelte mit den Wurstfingern einen Marsch auf die Armlehne der Chaiselongue. »Einmal dürfen Sie raten, was ich mir da gedacht habe.«

Ich sagte: »Was Mr. Morningstar angeht, vielleicht. Jemand hat ihm die Münze zum Kauf angeboten, und er wusste oder vermutete, wo sie herkam. Sie muss sehr selten sein.«

»Sogenannt prägfrische Exemplare sind in der Tat sehr selten. Ja, das war auch mein Gedanke.«

»Wie konnte sie gestohlen werden?«, fragte ich.

»Ohne Weiteres von jedem hier im Haus. Die Schlüssel sind in meiner Handtasche, und die liegt oft irgendwo herum. Es wäre ein Klacks, die Schlüssel lange genug in die Finger zu bekommen, um eine Tür und eine Kiste aufzuschließen, und sie dann zurückzulegen. Für Außenstehende vertrackt, aber im Haus könnte sie jeder gestohlen haben.«

»Verstehe. Wie begründen Sie dann, dass es Ihre Schwiegertochter war, Mrs. Murdock?«

»Beweisen kann ich es nicht. Aber ich bin sehr sicher. Das Personal besteht aus drei Frauen, die seit vielen, vielen Jahren hier arbeiten und lange vor meiner Heirat mit Mr. Murdock eingestellt wurden, die erst sieben Jahre her ist. Der Gärtner betritt nie das Haus. Ich habe keinen Chauffeur, weil ich mich von meinem Sohn oder meiner Sekretärin fahren lasse. Mein Sohn hat die Münze nicht genommen, weil er trotz allem nicht blöd genug ist, seine Mutter zu bestehlen, und wenn er sie genommen hätte, hätte er außerdem ohne Weiteres verhindern können, dass ich mit Mr. Morningstar spreche. Miss Davis – lächerlich. Einfach nicht der Typ dafür. Zu verhuscht. Nein, Mr. Marlowe, Linda ist genau die Sorte Frau, die so was aus reiner Bosheit zustande bringt. Und Sie wissen doch, wie diese Nachtclubleute sind.«

»Da gibt es alle möglichen Leute – wie überall«, sagte ich. »Nichts deutet auf einen Einbrecher hin, nehme ich an? Nur ein wahrer Könner würde nur eine wertvolle Münze mitnehmen und dabei keine Spuren hinterlassen. Ich schaue mir den Raum besser mal an.«

Sie reckte den Unterkiefer, und am Hals traten Muskelstränge hervor. »Mr. Marlowe, ich habe Ihnen gerade gesagt, dass meine Schwiegertochter, Mrs. Leslie Murdock, die Brasher-Dublone entwendet hat.«

Ich starrte sie an, und sie starrte zurück. Ihr Blick war so hart wie die Trittsteine vor dem Haus. Ich nahm ihn gelassen und sagte: »Vorausgesetzt, das stimmt, Mrs. Murdock, was möchten Sie dann?«

»Erstens will ich die Münze zurückhaben. Zweitens möchte ich eine einvernehmliche Scheidung für meinen Sohn. Und ich habe nicht vor, teuer dafür zu zahlen. Ich wage die Vermutung, dass Sie wissen, wie sich das deichseln lässt.«

Sie erledigte die aktuelle Dosis Port und lachte gehässig.

»Ich könnte davon gehört haben«, sagte ich. »Sie haben gesagt, die Lady hat keine Nachsendeadresse hinterlassen. Heißt das, Sie haben keine Ahnung, wo sie hin ist?«

»Ja.«

»Also von der Bildfläche verschwunden. Ihr Sohn könnte mehr wissen, als er Ihnen anvertraut hat. Ich müsste mit ihm sprechen.«

Die Falten in dem großen grauen Gesicht wurden noch schroffer. »Mein Sohn weiß gar nichts. Nicht mal, dass die Dublone gestohlen worden ist. Er soll auch nichts erfahren. Wenn es so weit ist, kümmere ich mich um ihn. Bis dahin wird er in Ruhe gelassen. Der tut, was ich will.«

»Hat er nicht immer getan«, sagte ich.

»Seine Heirat entsprang einer spontanen Laune«, sagte sie hämisch. »Hinterher hat er den Takt eines Gentlemans bewiesen. Mir sind solche Skrupel fremd.«

»In Kalifornien muss eine solche Laune drei Tage lang halten, Mrs. Murdock.«

»Wollen Sie den Auf‌trag oder nicht, junger Mann?«

»Ich will ihn, wenn ich die Tatsachen erfahre und den Fall so bearbeiten kann, wie ich es für richtig halte. Ich will ihn nicht, wenn Sie mir jede Menge Vorschriften machen, über die ich nur stolpern kann.«

Sie lachte unfreundlich. »Es geht um eine delikate Familienangelegenheit, Mr. Marlowe. Der Fall muss mit Feingefühl angegangen werden.«

»Wenn Sie mich engagieren, kriegen Sie all mein Feingefühl. Wenn Ihnen mein Feingefühl nicht reicht, engagieren Sie mich lieber nicht. Ich habe beispielsweise den Eindruck, Sie möchten, dass Ihrer Schwiegertochter etwas in die Schuhe geschoben wird. So weit reicht mein Feingefühl nicht.«

Ihr Gesicht bekam den Farbton Roter Bete, und sie wollte brüllen. Dann überlegte sie es sich, hob ihr Glas und bunkerte noch ein bisschen von ihrer Medizin.

»Sie sind engagiert«, sagte sie trocken. »Hätte ich Sie nur vor zwei Jahren gekannt, bevor er sie geheiratet hat.«

Ich verstand nicht ganz, was sie damit sagen wollte, und stellte die Ohren auf Durchzug. Sie drehte sich zur Seite, tippte auf den Tasten einer Gegensprechanlage herum und knurrte hinein, als jemand ranging.

Schritte erklangen, und die kleine Kupferblondine kam mit gesenktem Kinn ins Zimmer getrippelt, als würde sie Schläge erwarten.

»Stellen Sie dem Mann einen Scheck über zweihundertfünfzig Dollar aus«, schnauzte der alte Drachen sie an. »Und halten Sie deswegen den Schnabel.«

Die kleine Frau errötete bis zum Hals. »Ich rede grundsätzlich nicht über Ihre Angelegenheiten, Mrs. Murdock«, zirpte sie. »Das wissen Sie doch. Das würde mir nicht im Traum einfallen. Ich –«

Mit gesenktem Kopf drehte sie sich um und lief hinaus. Ich sah ihr nach, als sie die Tür schloss. Ihre schmalen Lippen zitterten, aber ihre Augen loderten vor Wut.

»Ich brauche ein Foto der Lady und ein paar Informationen«, sagte ich, als die Tür wieder zu war.

»Schauen Sie in die Schreibtischschublade.« Ihre Ringe blitzten im Halbdunkel, als ihr grauer Wurstfinger darauf zeigte. Ich ging hinüber, zog die einzige Schublade des Rohrschreibtischs auf und nahm das Foto heraus, das einsam darin lag und mich mit kühlen dunklen Augen ansah. Ich setzte mich wieder und prägte es mir ein. Dunkle Haare, locker in der Mitte gescheitelt, locker über eine markante Stirn zurückgekämmt. Voller, kühler, schnippischer Mund, der zum Küssen einlud. Hübsche Nase, nicht zu klein, nicht zu groß. Anmutig ausgeprägte Kieferknochen. Dem Gesichtsausdruck fehlte etwas. Früher hätte man dieses Etwas Lebensart genannt, wie man es heute nannte, wusste ich nicht. Das Gesicht sah für sein Alter zu wissend und zu abweisend aus. Es hatte zu viele Annäherungsversuche erlebt und war bei deren Abwehr zu abgebrüht geworden. Hinter seiner Coolness sah aber das kleine Mädchen hervor, das noch an den Weihnachtsmann glaubte.

Ich nickte, steckte das Foto ein und sagte mir, dass ich mehr hineinlegte, als aus einem Foto herauszuholen war, noch dazu in so schlechtem Licht.

Die Tür ging auf, die kleine Frau im Leinenkleid kam mit einem dreireihigen Scheckbuch und einem Füllfederhalter herein und machte aus ihrem Arm eine Unterlage, damit Mrs. Murdock unterschreiben konnte. Sie richtete sich mit einem gequälten Lächeln auf, Mrs. Murdock machte eine herrische Geste in meine Richtung, die kleine Frau trennte den Scheck heraus und gab ihn mir. An der Tür blieb sie stehen und wartete. Niemand richtete mehr das Wort an sie, also ging sie leise hinaus und schloss die Tür.

Ich wedelte den Scheck trocken, faltete ihn zusammen und hielt ihn zwischen den Fingern. »Was können Sie mir über Linda sagen?«

»Praktisch nichts. Bevor sie meinen Sohn geheiratet hat, wohnte sie mit einer Frau namens Lois Magic zusammen – entzückende Namen, die diese Leute sich geben –, die eine Art Unterhaltungskünstlerin ist. Die beiden arbeiteten in einem Etablissement namens Idle Valley Club draußen am Ventura Boulevard. Mein Sohn Leslie kennt den viel zu gut. Über Lindas Familie oder Herkunft weiß ich nichts. Sie hat mal gesagt, sie wäre in Sioux Falls zur Welt gekommen. Ich nehme an, sie hatte noch Eltern. Es hat mich nicht gejuckt, das zu erfahren.«

Und wie sie das juckte. Ich sah vor mir, wie sie mit beiden Händen wühlte und buddelte und nichts als Kieselsteine fand.

»Die Adresse von Miss Magic kennen Sie nicht?«

»Nein. Hab ich nie gekannt.«

»Könnte Ihr Sohn sie kennen – oder Miss Davis?«

»Wenn mein Sohn kommt, frag ich ihn mal. Glaub ich aber eher nicht. Sie können Miss Davis fragen. Ich bin sicher, dass sie keine Ahnung hat.«

»Verstehe. Andere Freundinnen von Linda kennen Sie nicht?«

»Nein.«

»Es wäre denkbar, dass Ihr Sohn noch Kontakt zu ihr hat, Mrs. Murdock – ohne Sie zu informieren.«

Sie wollte wieder dunkelrot anlaufen. Ich hob die Hand und zerrte mir ein beschwichtigendes Lächeln aufs Gesicht. »Er ist schließlich seit einem Jahr mit ihr verheiratet«, sagte ich. »Irgendwas muss er doch über sie wissen.«

»Lassen Sie gefälligst meinen Sohn aus dem Spiel«, fauchte sie.

»Oh«, machte ich enttäuscht und schnalzte mit der Zunge. »Wie Sie wollen. Den Wagen hat sie mitgenommen, nehm ich mal an. Ihr Geschenk.«

»Ein stahlgrauer Mercury, Baujahr 1940, Coupé. Miss Davis müsste das Kennzeichen haben, falls Sie das brauchen. Ich weiß nicht, ob sie damit weggefahren ist.«

»Wissen Sie zufällig, was sie an Geld, Kleidern und Schmuck dabeihatte?«

»Nicht viel Geld. Höchstens ein paar hundert Dollar.« Ein höhnisches Grinsen schnitt sich tief um ihre Nase und den Mund ein. »Natürlich nur, wenn sie noch keinen neuen Freund hat.«

»Weiß man ja nie«, sagte ich. »Schmuck?«

»Ein eher billiger Smaragd- und Diamantring, eine Longines-Uhr aus Platin mit Rubinen in der Fassung, eine sehr schöne Halskette aus trübem Bernstein, die ich Idiotin ihr selbst geschenkt habe. Der Verschluss besteht aus sechsundzwanzig kleinen Diamanten in Karoform. Sie hatte natürlich noch mehr Bijouterie. Ich hab da nie groß drauf geachtet. Sie kleidete sich gut, aber nicht auf‌fällig. Man muss ja für kleine Gaben dankbar sein.«

Sie goss ihr Glas voll, trank und gab wieder so ein nicht salonfähiges Bäuerchen von sich.

»Weitere Informationen haben Sie nicht für mich, Mrs. Murdock?«

»Reicht das nicht?«

»Bei Weitem nicht, aber vorläufig komme ich damit aus. Wenn ich herausfinde, dass sie die Münze nicht gestohlen hat, ist das, was mich angeht, das Ende der Ermittlungen. Seh ich das richtig?«

»Da reden wir dann drüber«, sagte sie barsch. »Und ob sie die gestohlen hat. Und damit kommt sie mir nicht ungestraft davon. Lassen Sie sich das gesagt sein, junger Mann. Hoffentlich sind Sie wenigstens halbwegs der starke Mann, den Sie hier markieren, denn diese Nachtclubschwalben haben manchmal sehr fiese Freunde.«

Ich hielt den gefalteten Scheck immer noch an einer Ecke zwischen den Knien, zog jetzt meine Brief‌tasche heraus, legte ihn hinein, nahm meinen Hut vom Boden und stand auf.

»Die Fiesen mag ich«, sagte ich. »Die Fiesen haben Oberstübchen ohne Jupiterlampen. Ich erstatte Ihnen Bericht, wenn ich etwas zu berichten habe, Mrs. Murdock. Als Erstes mach ich mich wohl über den Münzhändler her. Der könnte eine Spur sein.«

Sie ließ mich bis zur Tür kommen und knurrte dann meinen Rücken an: »Sie mögen mich nicht gerade, oder?«

Die Hand auf der Klinke, drehte ich mich zu ihr und grinste: »Mag Sie irgendwer?«

Sie legte den Kopf in den Nacken und wieherte durch alle Luken. Bevor sie fertig war, öffnete ich die Tür, ging hinaus und sperrte das Feixen wieder ein. Ich durchwanderte die Diele, klopf‌te an die angelehnte Tür der Sekretärin, stieß sie auf und sah hinein.

Miss Davis hatte die Arme auf dem Tisch verschränkt und das Gesicht auf die verschränkten Arme gelegt. Sie schluchzte, drehte sich zu mir und sah mit tränennassen Augen zu mir hoch. Ich schloss die Tür, ging zu ihr und legte ihr einen Arm um die schmalen Schultern.

»Kopf hoch«, sagte ich. »Sie sollte Ihnen leidtun. Sie hält sich für ein Raubein und rackert sich ab, um dem gerecht zu werden.«

Die kleine Frau fuhr hoch und zuckte vor meiner Berührung weg. »Fassen Sie mich nicht an«, sagte sie gepresst. »Bitte. Ich lass mich von Männern nicht anfassen. Und sagen Sie nicht so gemeine Sachen über Mrs. Murdock.«

Sie hatte ein gerötetes und verweintes Gesicht. Ohne Brille hatte sie entzückende Augen.

Ich steckte mir die lang ersehnte Zigarette in den Mund und zündete sie an.

»Ich – ich wollte nicht unhöf‌lich werden«, schnief‌te sie. »Aber sie kränkt mich so. Und ich tue doch immer nur mein Bestes für sie.« Sie schnief‌te wieder, nahm ein Herrentaschentuch aus dem Sekretär, faltete es auseinander und tupf‌te sich die Augen. Auf der herabhängenden Ecke konnte ich die in Lila eingestickten Initialen L.M. erkennen. Ich starrte das Taschentuch an und blies Zigarettenrauch von ihren Haaren weg in eine Zimmerecke. »Brauchen Sie noch was?«, fragte sie.

»Ich hätte gern das Kennzeichen von Mrs. Leslie Murdocks Auto.«

»2XIIII, ein graues Mercury-Cabrio, Baujahr 1940.«

»Sie hat von einem Coupé gesprochen.«

»Das ist Mr. Leslies Wagen. Marke, Baujahr und Farbe sind gleich. Linda ist nicht mit dem Wagen weggefahren.«

»Aha. Was wissen Sie über eine Miss Lois Magic?«

»Die habe ich nur einmal gesehen. Sie hat mit Linda zusammengewohnt. Sie war mit einem Mr. – einem Mr. Vannier hier.«

»Wer ist das?«

Sie sah auf ihren Sekretär hinab. »Ich – sie war einfach mit ihm hier. Ich weiß nichts über ihn.«

»Okay, wie sieht Miss Lois Magic aus?«

»Sie ist eine große, gutaussehende Blondine. Sehr – sehr ansprechend.«

»Sexy, meinen Sie?«

»Na ja –«, sie wurde knallrot, »auf hübsche und gesittete Weise, wenn Sie so wollen.«

»Will ich so«, sagte ich, »konnt ich aber nie ’n Blumentopf mit gewinnen.«

»Das glaub ich gern«, sagte sie patzig.

»Wissen Sie, wo Miss Magic wohnt?«

Sie schüttelte den Kopf, nein. Sie legte das große Taschentuch sorgfältig zusammen und verstaute es in der Schublade des Sekretärs, in der auch die Automatik lag.

»Wenn das dreckig ist, können Sie ja ein neues klauen«, sagte ich.

Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück, faltete die Hände auf der Tischfläche und sah mich gelassen an.

»An Ihrer Stelle würd ich die Rüpelnummer nicht übertreiben, Mr. Marlowe. Jedenfalls nicht bei mir.«

»Nein?«

»Nein. Und ohne spezielle Anweisung kann ich Ihnen auch keine weiteren Fragen beantworten. Ich bekleide hier eine Vertrauensposition.«

»Ich bin kein Rüpel«, sagte ich. »Nur männlich.«

Sie griff nach einem Bleistift und kringelte etwas auf einen Block. Sie sah mich an, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie war wieder Herrin ihrer Gefühle.

»Vielleicht mag ich keine männlichen Männer«, sagte sie.

»Sie haben einen Knacks weg«, sagte ich. »Wiedersehen.«

Ich verließ ihr Büro, zog die Tür zu und wanderte durch die ausgestorbenen Flure und das große, stille, versenkte Friedhofsfoyer zum Eingang.

Draußen tanzten die Sonnenstrahlen auf dem warmen Rasen. Ich setzte die Sonnenbrille auf, ging zu dem kleinen Schwarzen und tätschelte ihm wieder den Kopf.

»Bruder, das ist noch schlimmer als erwartet«, sagte ich.

Ich spürte die Hitze der Trittsteine unter den Sohlen. Ich stieg in den Wagen, ließ ihn an und fuhr auf die Straße.

Hinter mir fuhr ein sandfarbenes kleines Coupé auf die Straße. Ich dachte mir nichts dabei. Der Fahrer trug einen dunklen flachen Strohhut mit einem farbenfrohen Hutband und außerdem genau wie ich eine Sonnenbrille.

Ich fuhr in die Stadt zurück. Ein Dutzend Blocks später war das sandfarbene Coupé an einer Kreuzung immer noch hinter mir. Ich zuckte die Schultern und fuhr spaßeshalber ein paarmal um den Block. Das Coupé hielt die Stellung. Ich bog in eine mit riesigen Pfefferbäumen gesäumte Straße ab, wendete und hielt am Bordstein.

Das Coupé kam vorsichtig um die Ecke. Der Blondschopf unter dem kakaobraunen Strohhut mit dem tropischen Hutband sah nicht mal in meine Richtung. Das Coupé glitt vorbei, und ich fuhr Richtung Arroyo Seco und dann nach Hollywood weiter. Ich sah ein paarmal in den Rückspiegel, das Coupé ließ sich aber nicht mehr blicken.

3

Ich hatte ein Büro im sechsten Stock vom Cahuenga Building, zwei kleine Zimmer nach hinten raus. Das eine ließ ich immer offen, damit geduldige Klienten sich hinsetzen konnten, falls ich mal einen geduldigen Klienten hatte. An der Verbindungstür war ein Summer, den ich aus meinem privaten Denkstübchen an- und ausschalten konnte.

Ich warf einen Blick ins Wartezimmer. Bis auf den Staubgeruch war es leer. Ich schob noch ein Fenster hoch, schloss die Verbindungstür auf und ging ins Zimmer dahinter. Drei Stühle mit harten Lehnen und ein Drehstuhl, niedriger Schreibtisch mit Glasplatte, fünf grüne Aktenschränke, drei davon vollgestopft mit nichts, an der Wand ein Kalender und eine gerahmte Lizenz, ein Telefon, ein fleckiger Holzschrank mit Waschschüssel, ein Garderobenständer, ein Etwas von einem Teppich und zwei offene Fenster mit Storen, die sich nach drinnen und draußen blähten wie die Lippen eines zahnlosen schlafenden alten Mannes.

Dasselbe Zeug, das ich letztes Jahr gehabt hatte und vorletztes Jahr auch. Weder schön noch fröhlich, aber besser als ein Zelt am Strand.

Ich hängte Hut und Mantel an den Garderobenständer, wusch mir Gesicht und Hände mit kaltem Wasser, zündete mir eine Zigarette an und stemmte das Telefonbuch auf den Tisch. Elisha Morningstar hatte die Adresse 824 Belfont Building, 422 West Ninth Street. Ich schrieb sie mit der danebenstehenden Telefonnummer heraus und wollte gerade nach dem Hörer greifen, als mir einfiel, dass ich den Summer im Wartezimmer nicht eingeschaltet hatte. Ich streckte die Hand aus und schaltete ihn genau im richtigen Augenblick ein. Gerade hatte jemand die Tür zum Vorzimmer geöffnet.

Ich legte den Block mit der Schrift nach unten auf den Schreibtisch und ging nach nebenan, um mir meinen Besucher anzuschauen. Eine schlanke, aufgeschossene, selbstgefällig dreinschauende Type in schieferblauem tropischem Kammgarnanzug, schwarzweißen Schuhen, langweiligem elfenbeinfarbenem Hemd und Krawatte und Einstecktuch von der Farbe blühender Jacarandabäume. Er hatte eine lange schwarze Zigarettenspitze und einen abgestreif‌ten schwarzweißen Schweinslederhandschuh in der Hand und musterte blasiert die zerfledderten Zeitschriften auf dem Beistelltisch, die Stühle, die rostfarbene Auslegeware und das allgemeine Ambiente einkommensferner Schichten.

Als ich die Verbindungstür öffnete, machte er eine Vierteldrehung und starrte mich aus ziemlich verträumten blassen Augen an, die dicht beieinander an einer schmalen Nase standen. Er hatte einen leichten Sonnenbrand, die rötlichen Haare waren straff über den schmalen Schädel zurückgekämmt, und der bleistiftdünne Schnurrbart war deutlich röter als seine Haare.

Er musterte mich geruhsam und nicht gerade angetan, stieß ein graziles Rauchwölkchen aus und sagte mit leicht abfälligem Grinsen: »Sind Sie Marlowe?«

Ich nickte.

»Sie enttäuschen mich«, sagte er. »Ich habe einen Mann mit dreckigen Fingernägeln erwartet.«

»Kommen Sie rein«, sagte ich. »Witze reißen können Sie auch im Sitzen.«

Ich hielt ihm die Tür auf, er flanierte an mir vorbei und tippte mit dem Nagel des Mittelfingers Asche auf den Boden. Er setzte sich auf die Klientenseite des Schreibtischs, zog auch den rechten Handschuh ab, faltete ihn mit dem linken zusammen und legte beide auf den Tisch. Er tippte das Zigarettenende aus der langen schwarzen Spitze, drückte es mit einem Streichholz zusammen, bis es erlosch, steckte eine neue Zigarette in die Spitze und gab sich mit einem breiten mahagonifarbenen Streichholz Feuer. Mit dem Lächeln eines gelangweilten Aristokraten lehnte er sich zurück.

»Sind Sie dann so weit?«, erkundigte ich mich. »Puls und Atmung normal? Wünschen der Herr noch ein kaltes Tuch auf die Stirn oder sonst etwas?«

Er rümpf‌te nicht die Nase, weil er schon naserümpfend hereingekommen war. »Ein Privatdetektiv«, sagte er. »Hab noch nie einen in echt gesehen. Ein zwielichtiges Gewerbe, wie man weiß. Schlüssellochschieler, Skandalmacher und Ähnliches.«

»Sind Sie geschäftlich hier, oder hatten Sie Sehnsucht nach Ihresgleichen?«, fragte ich.

Er lächelte so säuerlich wie eine Pummeltrulla auf dem Feuerwehrball.

»Murdock ist mein Name. Der dürf‌te Ihnen ja schon was sagen.«

»Na, Sie sind ja gut durchgekommen«, sagte ich und stopf‌te mir eine Pfeife.

Er sah mir beim Pfeifestopfen zu und sagte bedächtig: »Wie ich höre, hat meine Mutter Sie engagiert. Und Ihnen einen Scheck gegeben.«

Ich hielt ein Streichholz an die fertig gestopf‌te Pfeife, paffte, bis sie zog, lehnte mich zurück, blies den Rauch über meine rechte Schulter zum offenen Fenster und schwieg.

Er beugte sich leicht vor und sagte sehr ernst: »Ich weiß, dass Maulfaulheit bei Ihnen zum Job gehört, aber ich rede hier nicht ins Blaue. Ein kleiner Wurm hat es mir verraten, ein einfacher Regenwurm, auf den jeder eintritt, der irgendwie aber immer überlebt – genau wie ich. Ich kam kurz nach Ihnen rein. Klärt das die Sache etwas auf?«

»Ja«, sagte ich. »Vorausgesetzt, es juckt mich.«

»Ich nehme an, Sie sollen meine Frau finden.«

Ich schnaubte und grinste ihn über den Pfeifenkopf hinweg an.

»Marlowe«, sagte er noch ernster. »Ich gebe mir alle Mühe, aber ich glaube nicht, dass ich Sie je mögen werde.«

»Ich leide unendliche Qualen«, sagte ich.

»Und dass Sie hier auf harter Bursche machen, stinkt mit Verlaub zum Himmel.«

»Aus Ihrem Mund tut das echt weh.«

Er lehnte sich wieder zurück, bedachte mich mit seinen blassen Blicken und rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. Schon mancher hat versucht, auf dem Stuhl bequem zu sitzen. Ich sollte es auch mal probieren. Vielleicht gingen mir seinetwegen Auf‌träge durch die Lappen.

»Warum will meine Mutter Linda finden?«, fragte er langsam. »Sie hasst sie wie die Pest. Wohlgemerkt, meine Mutter hasst Linda wie die Pest. Linda hat sich meiner Mutter gegenüber immer grundanständig verhalten. Was halten Sie von ihr?«

»Ihrer Mutter?«

»Wem sonst? Linda kennen Sie ja nicht, oder?«

»Der Job der Sekretärin Ihrer Mutter hängt an einem fast durchgescheuerten Faden. Sie redet zu viel.«

Er schüttelte energisch den Kopf. »Das kriegt Mutter nicht mit. Außerdem wäre sie ohne Merle aufgeschmissen. Sie braucht jemanden, den sie schikanieren kann. Sie kann sie zusammenfalten oder sogar ohrfeigen – aber ohne sie ist sie aufgeschmissen. Was halten Sie von ihr?«

»Ganz süß – auf etwas altmodische Weise.«

Er funkelte mich an. »Mutter, meine ich. Merle ist nur eine einfache kleine Frau, das weiß ich.«

»Ihre Beobachtungsgabe versetzt mich in Angst und Schrecken«, sagte ich.

Er wirkte überrascht. Fast hätte er beim Abaschen das Fingernagelgetippe vergessen. Aber nur fast. Er achtete sorgfältig darauf, nicht den Aschenbecher zu treffen.

»Von meiner Mutter«, sagte er beherrscht.

»Ein prachtvolles altes Schlachtross«, sagte ich. »Mit einem Herz aus Gold, und das Gold ist sehr tief vergraben.«

»Aber warum will sie Linda finden? Das verstehe ich nicht. Und dass sie dafür sogar Geld ausgibt. Meine Mutter ist ein Geizkragen. Geld ist das Einzige, was sie in Wallung bringt. Warum will sie Linda finden?«

»Was weiß ich«, sagte ich. »Wer sagt denn, dass sie das will?«

»Das haben Sie durchblicken lassen. Und Merle –«

»Merle ist eine Romantikerin. Das hat sie sich aus den Fingern gesaugt. Mensch, sie putzt sich mit einem Herrentaschentuch die Nase. Wahrscheinlich Ihrem.«

Er wurde rot. »Das ist albern. Hören Sie, Marlowe. Lassen Sie bitte mit sich reden, und erklären Sie mir, was das alles soll. Ich habe nicht viel Geld, fürchte ich, aber würden zwei Hunderter –«

»Dafür hätten Sie eine Tracht Prügel verdient«, sagte ich. »Außerdem soll ich nicht mit Ihnen reden. Par ordre du mufti.«

»Aber warum denn, Herrgott noch mal?«

»Stellen Sie mir keine Fragen nach Dingen, die ich nicht weiß. Die kann ich Ihnen nicht beantworten. Und stellen Sie mir keine Fragen nach Dingen, die ich weiß, denn die werde ich Ihnen nicht beantworten. Und spielen Sie nicht die Unschuld vom Lande. Wenn ein Mann in meiner Branche einen Auf‌trag bekommt, glauben Sie, der läuft durch die Gegend und textet jeden damit zu, der ihm Löcher in den Bauch fragt?«

»Na, da hats ja richtig geknistert, wenn ein Mann in Ihrer Branche bedenkenlos zweihundert Dollar ausschlägt«, sagte er giftig.

Dazu fiel mir nichts ein. Ich nahm sein breites Mahagonistreichholz aus dem Aschenbecher und betrachtete es. Es hatte dünne gelbe Ränder und einen weißen Schriftzug. ROSEMONT. H. RICHARDS ’3 – der Rest war verbrannt. Ich zerknickte es und warf die Reste in den Papierkorb.

»Ich liebe meine Frau«, sagte er plötzlich und zeigte Zähne. »Klingt vielleicht schnulzig, ist aber so.«

»Die Lombardos laufen ja auch ganz gut.«

Er fuhr durch die gefletschten Zähne fort. »Sie liebt mich nicht. Ich wüsste auch nicht, warum sie das sollte. Wir hatten immer ein angespanntes Verhältnis. Sie lebte auf der Überholspur. Bei mir zu Hause war dann wohl eher tote Hose. Nicht, dass wir uns gestritten hätten. Dafür ist Linda zu cool. Aber als Ehemann hab ich wohl nicht gerade Leben in die Bude gebracht.«

»Sie sollten Ihr Licht nicht so unter den Scheffel stellen«, sagte ich.