Das Internet der Tiere - Alexander Pschera - E-Book

Das Internet der Tiere E-Book

Alexander Pschera

4,6

Beschreibung

Von der Schnecke bis zum Weißen Hai: Weltweit statten Forscher Tausende von Tieren mit Sendern aus, um sie per Satellit und am Computer zu kontrollieren, die Ergebnisse sind auf den Facebook-Profilen der einzelnen Tiere einsehbar. Was wie Science-Fiction wirkt, ist längst Realität: Weltweit arbeiten Forschungsinstitute wie das Max Planck Institut mit Hochdruck an einer möglichst lückenlosen digitalen Erfassung der Tiere, um ihre Fähigkeiten für den Menschen nutzbar zu machen. Doch in Zukunft werden nicht nur Wasserschlangen vor Tsunamis und Bergziegen vor Vulkanausbrüchen warnen, mit dem Internet der Tiere wird sich auch unser Verhältnis zur Natur radikal wandeln. Bleibt von der umherschweifenden Naturerkundung bald nur noch der Blick aufs Smartphone? Brauchen Tiere ein Recht auf Datenschutz, um vor Wilderern bewahrt zu werden? Gerät das gesamte Tierreich zum weltumspannenden Kontrolllabor? Entgegen kulturpessimistischer Bedenken sieht Pschera im Internet der Tiere die Chance auf einen neuen Dialog zwischen Mensch und Natur. Die eBook-Version enthält keine Abbilungen.

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Das Internet der Tiere

Alexander Pschera

Das Internet der Tiere

Der neue Dialog zwischen Mensch und Natur

Für D., C., M. und P. in Dankbarkeit

Now that they have goneit is their endurance we miss.Unlike the treethe river or the cloudthe animals had eyesand in their glance was permanence.

John Berger

Inhalt

Martin Wikelski, Max-Planck-Institut für Ornithologie

Vorwort

Einleitung: Warum Rotkäppchen heute ein Smartphone im Korb hat

Eine alte Geschichte in neuem Licht

Warum wir nur noch schöne Seelen sind

Im Labyrinth des postmodernen Naturbewusstseins

Warum wir wissen, ob eine Schwalbe im Sturm Angst hat

Was im Internet der Tiere wirklich passiert

Warum es uns interessieren sollte, wenn in China ein Frosch wandert

Die neue Generation der Nutztiere

Warum Alexander von Humboldt sich noch nicht ausgeloggt hat …

Die Menschen hinter dem Internet der Tiere

… und warum auch Problembär Bruno noch leben könnte

Über neue Formen der Koexistenz

Warum Technik nicht böse und Natur nicht gut ist

Datenschutz für Tiere und die positiven Seiten der Transparenz

Warum die Tiere immer Freunde der Menschen waren

Eine kleine Geschichte der Empathie

Warum man zum Gnu »Du« sagen darf

Das Internet als gemeinsamer Seinsraum

Warum es nach der Natur noch eine Natur gibt

Mensch und Tier im Zeitalter des Anthropozän

Danksagungen

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Alle paar Jahrzehnte liegen große gesellschaftliche Veränderungen in der Luft, manchmal, ohne dass sie beschrieben oder rechtzeitig begriffen werden. Dann fallen Mauern oder Diktaturen, ohne dass es jemand vorausgesagt hätte. Das Internet der Tiere bringt eine solche schleichende, aber massive globale Veränderung ans Licht – eine Runderneuerung unseres menschlichen Verständnisses der Natur. Nachdem über Jahrhunderte die Natur als etwas von der Technik Getrenntes verstanden wurde, ist im Moment die Synthese von Natur und Technik in vollem Gang. Die intelligente Sensorik der Tiere kann für uns Menschen in Zukunft ein überlebenswichtiges Repertoire an Information über die Lebensvorgänge auf dem Planeten Erde liefern. Die Menschheit als Ganzes bekommt damit einen Blindenhund an die Seite gestellt, um endlich das Humboldt’sche Ideal des Naturverständnisses zu verwirklichen, die »Welt als Ganzes durch das Zusammenspiel der einzelnen Teile zu verstehen«.

Das Internet der Tiere, das ist das verteilte, intelligente und im Laufe der Evolution entwickelte Sensornetzwerk, mit dem die Tiere nun auch mit dem Menschen kommunizieren. Dieser Wissensschatz wird wie die Bibliotheken und Museen der Welt aus dem kulturellen Gesamtgebäude der Menschheit nicht mehr wegzudenken sein, so wie das Internet an sich. Wir sind als Menschheit also gerade dabei, eine neue Dimension des Wissens in unser Leben aufzunehmen – solch eine Veränderung kommt nur alle paar hundert Jahre vor und wird zu bisher noch ungeahnten Umwälzungen führen. Wilde Tiere werden zu unseren Kumpanen, zu unseren wilden Haustieren, die wir ebenso lieben und mit denen wir ebenso kommunizieren wie mit unserem Hund, Vogel oder unserer Katze. Der Unterschied wird sein, dass diese wilden Tiere uns und die Menschen in den entlegensten Gegenden der Welt auch noch vor Katastrophen warnen, das Klima voraussagen und für uns die Luft-, Wasser- und Bodenchemie messen.

Wir sind also als Menschheit bald in der angenehmen Lage, über das Tierverhalten die Welt besser zu verstehen, so wie es alle Hochkulturen in der Vergangenheit praktizierten. Der fundamentale Fortschritt besteht darin, dass wir nicht mehr nur das lokale Tierverhalten beobachten – wie die Inkas den Kalenderwurm in den Küstenregionen Perus –, sondern dass wir sozusagen ein weltumspannendes Netzwerk von Kalenderwürmern haben werden. Denn ein besseres Informationssystem als das der Tiere mit ihren vielfältigsten sechsten Sinnen gibt es nicht.

So wie unsere Kinder heute nicht mehr verstehen können, wie man ohne das Internet überhaupt leben konnte, werden wir in wenigen Jahren nicht mehr verstehen, warum wir als Menschheit einfältig – und vielleicht technisch überheblich – genug waren, das unendlich geniale, da mit der Evolution entwickelte Wissen der gesamten Tierwelt nicht zu nutzen. Das vorliegende Buch beschreibt diese fundamentale Veränderung, die eine ähnliche Bedeutung für unser menschliches Selbstverständnis haben wird wie die Entdeckung des Lebens auf anderen Planeten.

Prof. Dr. Martin Wikelski,

Max-Planck-Institut für Ornithologie

Einleitung: Warum Rotkäppchen heute ein Smartphone im Korb hat

Eine alte Geschichte in neuem Licht

Rotkäppchen ist erleichtert. Sie hat jetzt endlich auch ein iPhone. Die Mutter meint zwar, sie sei noch etwas zu jung und ihre schulischen Leistungen sprächen auch nicht gerade für den Kauf eines solchen Geräts. Aber der Druck der Clique ist einfach zu groß. Alle Freundinnen haben eins, und man will das Mädchen ja nicht zu einer Außenseiterin machen.

Rotkäppchens Mutter ist alleinerziehend, sie arbeitet den ganzen Tag. So ist es ihr auch gar nicht unrecht, wenn sie weiß, wo ihr Kind sich aufhält. Zumal die Großmutter in dieses einsam gelegene Haus am Rande der Stadt gezogen ist, in dem Rotkäppchen die meisten Nachmittage nach der Schule verbringt, um beaufsichtigt zu sein und ihre Hausaufgaben zu machen. Der Weg dorthin führt durch ein Waldstück, das der Mutter nicht ganz geheuer ist. Sie ist froh, wenn sie Rotkäppchen erreichen kann und wenn das Kind ihr immer mal wieder eine SMS schickt. Sie ermahnt sie auch ständig, im Wald die Kopfhörer aus den Ohren zu nehmen, um zu hören, was um sie herum vorgeht. Man weiß ja nie, wer sich dort herumtreibt.

Aber Rotkäppchen hat keine Angst vor dem Wald und schon gar nicht vor den Tieren, die dort leben. Sie liebt die Rehe, die Hirsche, den Fuchs und den Hasen. Jeden Tag entdeckt sie etwas Neues, meist abseits des Weges, und daher kommt sie meist zu spät zur Großmutter. Aber das macht nichts, denn wenn sie der Großmutter von ihren neuen Entdeckungen erzählt, strahlt auch die alte Dame voller Glück. Tierspuren und Vogelstimmen sind für Rotkäppchen Botschaften von Freunden. Selbst das wehmütige »DüDüDü« des Dompfaffs lässt ihr Herz höher schlagen, und wenn sie in der Abenddämmerung wieder den Weg nach Hause einschlägt, dann klingt das verführerische »Kiwitt Kiwitt – Kommit Kommit« des Waldkauzes nicht nach einer Gefahr, sondern wie eine Verlockung. Es ist der Ruf der Natur, dem Rotkäppchen nur zu gerne lauscht.

Was ihre Mutter nicht weiß: Genau deswegen wollte sie das iPhone haben. Aus der Chatterei mit den Freundinnen macht sie sich ebenso wenig wie aus den stumpfen Musikvideos. Aber die vielen Natur-Apps haben ihr einen ganz neuen Zugang zum Wald eröffnet. Nicht nur kann sie jetzt besser Vogelstimmen1 identifizieren und Tierspuren lesen. Seitdem sie den Animaltracker2 auf ihr Telefon heruntergeladen hat, weiß sie, dass die Füchsin Martha im Bau nahe der Lichtung vor dem Haus der Großmutter vier Welpen hat.3 Sie weiß, dass der Rotmilan, der in der Fichte am Ende der Lichtung horstet, dieses Jahr eine andere Route eingeschlagen hat, um aus dem Winterquartier zurückzukehren.4 Und vor allem weiß sie, dass sich ein schöner großer grauer Wolf seit Tagen in der Gegend herumtreibt. Er stammt aus einem Rudel aus der nicht weit entfernten Lausitz und hört auf den Namen Ferdinand. Ferdinand der Graue, wie sie ihn im Geheimen nennt, trägt einen GPS-Sender am Körper, mit dem er auf Schritt und Tritt verfolgt werden kann. Wie er aussieht, was er wiegt, mit welchem Rudel er unterwegs ist, wie viele Kinder er hat und was er auf seinen Streifzügen schon alles erlebte – das kann Rotkäppchen auf ihrem Profil im Animaltracker nachlesen. Ein grüner Punkt auf der Karte zeigt ihr die aktuelle Position von Ferdinand an. Sie zittert mit, wenn er sich auf eine Bundesstraße oder eine Autobahn zubewegt, und hofft, dass er einen sicheren Weg ins nächste Waldstück findet.

Heute zittert Rotkäppchen aber noch viel mehr. Nicht aus Angst, sondern vor Freude. Denn der grüne Punkt Ferdinands taucht auf ihrem GPS-Display auf und nähert sich der roten Markierung, die ihre eigene Position anzeigt. Näher und näher kommt er. Mit bebenden Fingern zieht sie die Ansicht größer. Ihr Herz macht einen Sprung: Es können nur ein paar hundert Meter sein, die sie von Ferdinand trennen. Vorsichtig schaut sie sich um. Vor ihr liegt ein Wiesenstück, danach verliert sich der Wald im Dunkeln. Rotkäppchen stellt ihren Rucksack ab und versteckt sich hinter einem vermoosten Baum. Sie schaltet die Video-App ihres iPhones an und wartet. Vielleicht gelingt es ihr ja, eine Aufnahme zu machen. Ihr Atem wird immer flacher, und sie muss sich anstrengen, die Hand ruhig zu halten. Es vergehen Minuten, die wie Stunden wirken. Schon verlässt sie der Mut, da schiebt sich ein mächtiger grauer Schatten aus dem Dickicht. Ein majestätischer Wolfsschädel erscheint und verharrt sekundenlang in der gleichen Position. Ferdinand der Graue! Er prüft die Lage auf der Lichtung, fast scheint er selbst zu lauern – hoffentlich wittert er Rotkäppchen nicht. Das Mädchen startet die Video-Aufnahme. Jetzt bewegt sich das Tier. Langsam, aber bestimmt überquert der Wolf die Wiese. Er kommt direkt auf Rotkäppchen zu.

Das Video läuft. 2 Minuten. 2 Minuten 30. 3 Minuten. Rotkäppchen bekommt einen Krampf im Bein, für den Schmerz hat sie aber keine Zeit. Der Wolf ist jetzt knapp 20 Meter von ihr entfernt. Gefühlvoll fährt sie mit der Kamera das Tier entlang – sie filmt den Kopf, den Rücken und die buschige Rute. Der Wolf bleibt stehen und schaut direkt in ihr Objektiv. Hat er sie entdeckt? Für den Bruchteil eines Augenblicks schießen Rotkäppchen Erinnerungen an alte Märchen durch den Kopf, in denen kleine, wehrlose Mädchen im dunklen Tann von wilden Wölfen bedroht und verspeist werden. Ist an diesen Geschichten vielleicht doch etwas Wahres dran? Ihre alleinerziehende Mutter kommt ihr in den Sinn. »Was wird sie ohne mich machen?« Für einen Moment überlegt die bange Beobachterin, die Video-App zu stoppen und den eingespeicherten Notruf zu wählen.

Doch Ferdinand der Graue denkt gar nicht daran, sich an den Mythos zu halten, den die Menschen aus ihm gestrickt haben. Ein warmer Sonnenstrahl fällt auf die Wiese. Das Gras dampft. Der alte Wolf streckt die Vorderbeine aus. Er gähnt genüsslich und lässt sich wie ein nasser Sack ins Gras fallen. Rotkäppchen filmt und filmt. Schon 5 Minuten 30. Was würde wohl passieren, wenn sie ihr Versteck verließe und sich dem Wolf näherte? Würde er sie angreifen? Oder würde er einfach nur flüchten? Plötzlich ist sie versucht, das Experiment zu wagen, doch schließlich siegt die Vernunft. Auch drängt die Zeit. Sie hat schon mehr als eine halbe Stunde Verspätung, und die Großmutter wartet sicherlich schon auf sie.

In genau diesem Moment vermeldet ein schrilles »bippbippbipp« den Eingang einer SMS. Ihre Mutter! »wo bist du denn … ruf mich mal schnell an … mache mir sorgen … mama«. Das digitale Signal bohrt sich in die Idylle des Waldes wie ein tödlicher Pfeil. Ferdinand der Graue schnellt auf und taucht wie ein geölter Blitz zwischen den Baumstämmen ab. Rotkäppchen kann gerade noch verfolgen, wie sich der grüne Punkt auf dem Display immer weiter und immer schneller von dem roten entfernt. »Adieu, mein lieber Freund!«, flüstert sie. »Mach’s gut!«

6 Minuten 24 dauert ihr Wolfsfilm. Kaum ist sie im Haus angelangt, zeigt sie ihn der begeisterten Großmutter. Immer und immer wieder betrachten Oma und Enkelin gemeinsam die erstaunlich scharfen Bilder. Rotkäppchen kann gar nicht genug davon bekommen, von den Gefühlen zu erzählen, die sie hinter dem verwitterten Baumstumpf abwechselnd ergriffen haben: Anspannung, Begeisterung, Angst, Freude. Und auch der Krampf im linken Bein fällt ihr nun wieder ein. Dann lädt sie das Video auf die Facebook-Seite von Ferdinand dem Grauen hoch. Die Seite wurde von Wolfsfans angelegt, um das Leben des Tieres zu dokumentieren. Mehr als 2000 digitale Freunde hat der Alte schon. Gar nicht schlecht für solch einen ausgemachten Bösewicht! Doch viel mehr als verschwommene Fotos und Peilsignale finden sich auf dieser Seite bislang nicht. Rotkäppchens Video ist das erste längere Dokument – und entsprechend enthusiastisch sind die Kommentare der Wolfscommunity. Sie reichen von »Fantastischer Film, ich hätte ja solche Angst gehabt an deiner Stelle!« bis zu »Vergiss Heinz Sielmann – schaue Rotkäppchen«. Binnen Stunden wird das Video mehr als 5000 mal geklickt und noch öfter geteilt. Es findet seinen Weg auch auf die Webseite des NABU und des WWF.

Den Abend verbringt Rotkäppchen übrigens im Haus der Großmutter. Es gibt grüne Smoothies – denn Großmama ist eine moderne, vegan lebende Frau. Als Rotkäppchen sich endlich von Ferdinand dem Grauen lösen kann, ist es schon stockfinster. Selbst der Dompfaff hat sein tristes »DüDüDü« eingestellt und den Kopf ins rotgraue Gefieder gesteckt. Bevor auch Rotkäppchen die Decke über den Kopf zieht, zückt sie ein letztes Mal ihr Smartphone, um Ferdinand Gute Nacht zu sagen. Und dann schreibt sie noch eine SMS an ihre Mama: »hallo mum … habe einen tollen neuen freund … er heißt ferdinand … muss ich dir morgen erzählen … er ist zwar viel älter als ich, aber so schön … doch du bist und bleibst die beste … dein käppy«.

Diese Geschichte könnte sich so oder ähnlich heute in jedem Teil Deutschlands ereignen. Sie ist, wenn überhaupt, nur ein klein wenig perfektioniert. Das neue Märchen von Rotkäppchen ist keine Utopie. Denn es gibt sie tatsächlich, diese direkte Verbindung zwischen Mensch und Tier. Ich kann es bezeugen: Das ultraflache Smartphone in meiner Hosentasche vernetzt mich mit einem Trupp glänzend schwarzer Vögel, die im Sommer in Bayern, im Winter in der Toskana leben: Waldrappe. Eine auf dem Telefon installierte Software stellt den Kontakt zu diesen seltenen und schönen Ibisvögeln her, während sie zum Überwintern in markanter Pfeilformation über die Alpen fliegen. Auf ihrem Weg über die Berge lauern zahlreiche Gefahren. Das ist auch der Grund, weshalb der Rapp einen Funksender tragen muss, mit dem er von seinen Betreuern geortet und dadurch besser geschützt werden kann. Seine letzte »Begegnung« mit dem Menschen fiel weniger symbiotisch aus. Der Waldrapp wurde über Jahrhunderte so stark gejagt, dass er fast ausstarb und kaum noch Exemplare in freier Wildbahn anzutreffen waren. Nun versucht ein – durch Technik beflügeltes – Auswilderungsprogramm, den Vogel hierzulande wieder heimisch werden zu lassen. Die Standortdaten der einzelnen Waldrappe werden via Satellit in eine Datenbank übertragen und von dort auf einer Facebook-Seite in Text, Bild und Video dargestellt. Facebook wird so zum Tierblog. Hier erzählen die Vögel – und zwar nicht irgendwelche anonymen Vertreter ihrer Art, sondern die Waldrappe Balthasar und Remus, Tara und Pepe – über das buchstäbliche Auf und Ab ihres Lebens. Mit digitaler Technologie komme ich den Waldrappen heute wieder so nahe wie Rotkäppchen dem Wolf oder wie ein prähistorischer Jäger seiner Beute kommen musste, um sie zu erlegen. Das Internet ist hier alles andere als virtuell und abstrakt: Es ist hyperreal und sensuell. Ich sehe, wo sich die Waldrappe gerade befinden und was sie tun. Ich sehe, in welchem Sozialverband sie unterwegs sind. Ich sehe, mit welchen Problemen sie kämpfen: ob sie in einen Schneesturm geraten sind, ob sie sich verflogen haben und wie sie handeln, um sich aus diesen Schwierigkeiten zu befreien.

Damit schließt sich ein Kreis in der Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung. Der Steinzeitmensch musste sich dem Mammut bis auf Speerwurfentfernung nähern. Er hörte den Atem des Tieres und roch seine Ausdünstungen. Diese existenzielle Nähe zum Wildtier war spätestens dann vorbei, als der Mensch über bessere Jagdwaffen verfügte. Aber im kulturellen Gedächtnis der Menschheit wurde sie als Erinnerung aufbewahrt, unter anderem in Form von Fabeln, Mythen und Märchen, in denen Zaun- und Froschkönige, Füchse und Hasen untereinander und mit den Menschen in Kontakt traten. Nach Jahrhunderten der Entfremdung kann sich der Mensch diese Nähe wieder erschließen. Es ist möglich, wie ein postmoderner Nils Holgersson auf dem Rücken der Waldrappe über die Gipfelkämme der Dolomiten zu fliegen und die Welt aus der Perspektive des Vogels zu betrachten. Auch in kultureller Hinsicht kehren wir zu den Anfängen zurück. Der Jäger malte in den Grotten von Altamira in erdigen Farben mächtige Tiere in den Stein, die bis heute von einer tiefen Beziehung zwischen Mensch und Tier, zwischen Jäger und Beute zeugen. Mein Mammut ist ein Waldrapp, dem ich mit vielen anderen auf einer Facebook-Seite huldige. Die Vogelfreunde kommentieren die Ereignisse der Migration und stellen eigene Fotos ein. Die digitale Pinnwand von Facebook und die Höhlen von Altamira sind, so überraschend es klingen mag, zwei Seiten einer Medaille. Beide erfüllen die gleiche Rolle im System der jeweiligen Zivilisation. Sie visualisieren das Bewusstsein, das wir von der Natur haben, und bekräftigen dadurch einen gemeinsam geteilten Wertekosmos.

Wir befinden uns auf der Schwelle einer neuen Ära der Naturbegegnung und des Naturbewusstseins, denn der Waldrapp ist kein Einzelfall. Es gibt viele weitere Beispiele für die digitale Vernetzung von Menschen und Tieren. Rotkäppchens Begegnung mit dem Wolf kann sich heute in der Oberlausitz, in der es bereits wieder relativ große Rudel gibt, täglich wiederholen – mit einem besseren Ausgang für das Tier und ohne Trauma für den Menschen. Viele Wölfe, die durch die Kulturlandschaft der Republik streifen und dort für Unruhe unter den Menschen sorgen, tragen ein GPS-Halsband. Ihre Positionsdaten werden aufgezeichnet und auf Webseiten übertragen, auf denen man die Tiere verfolgen kann. Dazu gibt es Bilder von versteckten Naturkameras, die das Geschehen im Wolfsbau anschaulich machen. Diese Wölfe sind keine anonymen Bestien mehr, die aus dem Nichts auftauchen, zuschlagen und wieder im Nichts verschwinden, sondern sie tragen konkrete Namen und haben einen Lebenslauf. Sie sind nicht mehr nur Vertreter einer Art, sondern echte Individuen. Wir können uns über ihre Biografie und ihre Vorlieben genauso informieren wie über ihren Charakter und ihr Sozialverhalten. Das verwandelt diese Wölfe schließlich sogar in sympathische Zeitgenossen – eine für den Wolf beachtenswerte Karriere, waren doch gerade Wölfe über Jahrhunderte die Erzfeinde des Menschen. Sie galten als verschlagen, heimtückisch, grausam. Die neue Beobachtungstechnologie schafft, was Generationen von bemühten Naturaufklärern und hochmotivierten Naturpädagogen nicht gelungen ist – den Wolf aus dem Klammergriff des Vorurteils zu befreien und ihn in ein normales Tier zu verwandeln. Dank digitaler Technologie wird sein Alltag transparent und erlebbar. Es entsteht ein neuer Dialog zwischen Mensch und Natur. Denkt man diesen Dialog weiter, so ist es nicht übertrieben, von einer neuen Sprache zwischen Mensch und Tier zu träumen.

Doch wozu, kann man fragen, brauchen wir eine solche Sprache? Tun wir nicht schon viel, um den Lebensraum der Tiere zu erforschen und ihr Überleben zu sichern? Nimmt die Natur- und Artenschutzdiskussion nicht erheblichen Raum in Politik, Gesellschaft und Medien ein? Gibt es nicht sogar eine Überfülle an grünen Themen? Subjektiv mag man das so empfinden, aber Tatsache ist, dass sich das weltweite Artensterben trotz zahlreicher internationaler Programme ungebremst fortsetzt, ja sogar dramatisch beschleunigt. Das Schicksal der Menschen und das der Tiere strebt auseinander. Auf dem Floß der Medusa sitzen die Menschen, auf der Arche Noah treiben die Tiere davon. Die Trennung ist fundamental geworden. Nicht nur ist die Existenzgrundlage vieler wildlebender Tiere gefährdet. Auch im täglichen Leben spielen diese Tiere keine Rolle mehr, in den letzten zweihundert Jahren sind sie in Europa und Nordamerika aus dem Alltag des Menschen verschwunden. Während die Wild- und Nutztiere in vielen Gegenden Asiens und Afrikas, in denen die Industrialisierung noch nicht alle ursprünglichen Lebensformen zerstört hat, immer noch als Alltagsgefährten der Menschen auftreten und mit ihnen ein gemeinsames Leben teilen, wurden sie im europäischen Kulturraum seit Beginn des 19. Jahrhunderts durch Maschinen und technische Apparate ersetzt. Entscheidend ist aber vor allem, dass Menschen und Tiere seitdem nicht nur in verschiedenen Lebens-, sondern in verschiedenen Seinsräumen leben, Seinsräume, die einst vereint waren.

Doch der Bezug zur Natur, zum Gewachsenen, ist dem Menschen inhärent, er ist und bleibt ein biophiles Wesen. Ohne Tiere und Pflanzen kann er nicht leben. Dem Naturverlust folgte daher eine grüne Kompensation. Über die letzten 200 Jahre wurden die realen Tiere durch Abbilder ersetzt. Der Prozess ist dialektisch: Je weiter wir uns von der Natur entfernen, desto mehr Bilder von Tieren produzieren, reproduzieren und verteilen wir, ohne der Natur dadurch auch nur einen Schritt näherzukommen. Im postmodernen Naturbewusstsein, das grüne Strukturen simuliert, sind die Tiere nur noch als Bilder oder als Bilder von Bildern oder als Links zu Bildern vertreten. Aber diese Repräsentationen ersetzen die Tiere nicht, sondern täuschen ihre Anwesenheit nur vor. Zu den konkreten tierischen Existenzen, die in den Höhlen von Altamira ihren Niederschlag fanden, hat dieses Bewusstsein keinen Zugang mehr.

Und dennoch: Der überzivilisierte Mensch vernimmt immer noch den Ruf der Natur. Etwas zutiefst Authentisches antwortet ihm, wenn er auf’s Land fährt oder wenn er von Menschen und Tieren im Märchen und im Mythos liest. Es scheint selbst im postmodernen Bilder-Bewusstsein ein emotionales Zentrum zu geben, das auf den Ruf der Wildnis reagiert. Die erste Frage, die sich stellt, lautet: Warum ist das so? Wie kann das sein? Die zweite Frage heißt: Wie kann der Mensch auf diesen Ruf antworten? Denn die innere Bereitschaft allein reicht nicht aus, um aus dem kalten Gefängnis der »Idee der Idee von der Natur« auszubrechen, in das sich der postmoderne Mensch eingekerkert sieht.

In dieser Situation erscheint die Technik, die die Entfremdung von der Natur ursächlich hervorgebracht und immer weiter verschärft hat, als Teil der Lösung. Sie kann als missing link den Bezug zur Welt der Tiere wiederherstellen. Das Internet der Tiere hat das Potenzial, die Mensch-Tier-Beziehung auf einer neuen Ebene wiederzubeleben und damit die Natur gleichsam neu zu erfinden. Diese neue Natur ist die Natur des neuen Erdzeitalters, des Anthropozäns, in dem sich getrennte Lebensräume wieder in gemeinsame Seinsräume von Mensch und Tier verwandeln. Das Digitale wird zur Brücke zurück in die existenzielle Wirklichkeit der Mensch-Tier-Beziehung.

Doch bei aller Hoffnung auf ein neues Näheverhältnis gilt es zu bedenken, dass die Gestalt der Natur damit vor einem radikalen Wandel steht. Aus der chaotischen Wildnis wird ein vernetzter Raum. Das Dickicht wird digital gelichtet. Natur, die in unserer abendländischen Vorstellung als das Unberührte definiert ist, wird nicht nur berührt, sondern durchdrungen. Wenn die Natur in der Postmoderne das Heiligtum einer sich als Ersatzreligion gebärdenden Ökologie war, so wird die Natur nach dieser Ära als eine entheiligte und transparent gemachte zurückbleiben. Indem die Natur aber solcherart transparent wird, verliert sie eine zentrale Eigenschaft, die sie im antagonistischen System von Fortschritt und Ökologie auszeichnet: Eine transparente Natur ist nicht mehr autonom. Sie bezieht ihre Berechtigung nicht mehr aus der Eigenständigkeit gegenüber der menschlichen Gesellschaft, sondern gerade aus der Verknüpfung mit dieser. Das Internet der Tiere macht die Natur zu einem System, das vom Menschen gesteuert, ja entworfen wird.

Für das Bewusstsein des müden Zivilisationsmenschen bedeutet das einen großen Einschnitt. Indem die Natur durchleuchtet und transparent wird, wird ein Raum zerstört, der als subjektiver Fluchtkorridor für Sinngebung dient. Denn das »Zurück zur Natur« war in den letzten Jahrzehnten sowohl politisch als auch individuell die letzte große mögliche Antithese zum unerbittlichen Rhythmus der Ökonomie und der Arbeitswelt. »Natur« war der letzte mögliche Einspruch gegen den harten Lauf der Dinge, vielleicht sogar gegen das, was früher einmal »Schicksal« genannt wurde. Für einige Menschen avancierte Natur gar zur Hypothese, die Gott ersetzte. Und genau diese Natur wird jetzt dem Diktat des alles verschlingenden Internets unterworfen. Sie wird materialisiert und kann nicht länger als eine Idee dienen, die sich für einen Einspruch gegen den status quo der Gesellschaft in Stellung bringen lässt.

Auch im Zusammenhang mit dem Internet der Tiere kommt der allgegenwärtigen Transparenz-Diskussion eine sehr wichtige Bedeutung zu. Das Paradigma der Transparenz betrifft nun nicht mehr nur gesellschaftliche Prozesse, sondern auch solche der Natur. Fast 50 000 wildlebende, vor allem migrierende Tiere sind bereits heute mit einem GPS-Sender ausgerüstet, der permanent die unterschiedlichsten Daten sendet. Täglich werden neue Tiere an das Funknetz angeschlossen. Es entstehen große Mengen an Tierdaten – big animal data sozusagen. Die Debatte um Big Data ist bisher eine Debatte um die Frage, wie viel Transparenz wir wollen und wie sich die Menschen vor Kontrolle durch Unternehmen und staatliche Organe schützen können. Diese Diskussion beginnt jetzt auch in Bezug auf das Tierreich. Das gläserne Tier tritt neben den gläsernen Menschen. Nach und nach wird eine transparente Natur entstehen – Tiere werden nachverfolgbar, Kameras mit Selbstauslöser bringen Bilder aus den entlegensten Winkeln der Regenwälder aufs Handy5, Facebook-Seiten und Blogs geben über den konkreten Aufenthaltsort von Tieren Auskunft, Smartphone-Apps verraten den Standort extrem gefährdeter Arten wie Berggorillas oder Orang-Utans. Diese revolutionäre Interaktion mit den Tieren wird eine neue, bisher ungekannte und überaus sensible Datenmenge zusammentragen und jedem zur Verfügung stellen, der einen Computer oder ein Smartphone besitzt. Damit wird der Mensch tief in das Leben der Tiere eindringen, er wird ihre »Privatsphäre« aufbrechen. Vor dem Hintergrund der Datendebatte über die Allmacht der Internetkonzerne und die schwindende Freiheit des Menschen erscheint diese Aussicht auf eine Transparenznatur wie eine Ausweitung der digitalen Kampfzone. Benötigen wir also auch einen Datenschutz für Tiere? Dieser Frage muss sich die Diskussion um die neue Freundschaft zwischen Mensch und Tier stellen, wenn sie glaubwürdig sein will.

Das ist auch deswegen notwendig, weil die Transparenznatur ein neues ökologisches Denken in die Welt setzt, das mit herkömmlichen Vorstellungen und Praktiken des Naturschutzes bricht. Die Transparenznatur ist kein Biotop mehr, sondern folgt dem Gedanken des embedded system – eines grünen Lebensraumes, der in die graue Zivilisation eingebettet und mit digitalen Pfaden, Brücken und Tunneln mit dieser verbunden ist. Leitgedanke dieser Transparenznatur ist der wieder mögliche, unmittelbare und technisch gesteuerte Kontakt von Mensch und Tier. Voraussetzung dafür ist, dass sich der Mensch frei in der Natur bewegen kann. Biotope und Naturschutzgebiete, die Instrumente der klassischen Ökologie, funktionieren anders. Ihre Logik ist nicht der Kontakt, sondern der Ausschluss. Sie gehorchen dem Gedanken, die Natur nicht ins menschliche Leben einzubetten, sondern sie systematisch von diesem abzuschotten. Biotope versuchen, Tiere vor dem Menschen zu retten. Natürlich ist das sinnvoll, aber dadurch entsteht auch eine unüberbrückbare, sich immer weiter vertiefende Kluft zwischen Mensch und Natur. Der Mensch erlebt eine Entfremdung von seiner natürlichen Umgebung, vor allem von den Tieren, zu denen er keinerlei Zugang mehr hat. Diese romantische Ökologie der Ausgrenzung, wie man die Philosophie der Biotope nennen könnte, versucht, die Natur weiterhin als einen autonomen Raum zu denken und sie so zu behandeln, als ließe sie sich aus der vom Menschen geprägten Entwicklungsdynamik des Planeten ausklammern. Die zentrale ökologische Frage zu Beginn des 21. Jahrhunderts lautet aber: Wie kann der Mensch die Natur retten, ohne auf die eigene Fortentwicklung zu verzichten? Wie kann die Natur mittels Technik in die Logik des menschlichen Fortschritts so eingefasst werden, dass beide profitieren?

Der Mensch wird die Natur und die Tiere nur dann vor der sich abzeichnenden Verödung retten können, wenn er die antagonistische Konzeption von Technik und Natur, von Zivilisation und Wildnis, aufgibt, die das ökologische Denken und die konkreten Naturschutzmaßnahmen bestimmt. Dazu aber müssen wir uns vom Mythos einer ursprünglichen und undurchsichtigen, nur sich selbst gehorchenden Natur verabschieden und uns mit dem Bild einer transparenten Natur anfreunden, wie sie dem Zeitalter des Menschen angemessen ist. In dieser offenen Natur ist der Mensch mit den Tieren auf neue Weise verbunden und vernetzt, er wird nicht bestraft, wenn er diese Natur betritt, sondern im Gegenteil dafür belohnt. Die Technik ist nicht mehr der ewige Gegenspieler der Natur, der Feind des Guten und der Motor der Destruktion, sondern sie entpuppt sich als eine ideale, weiche Schnittstelle zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umgebung.

Das Buch formuliert die These, dass nur dieses radikale Umdenken die Tiere retten kann. Nicht weil dadurch automatisch bessere Lebensbedingungen für sie entstehen würden, sondern weil die Menschen so erst wieder lernen, die Tiere zu sehen, und sich auf diese Weise für ihr Schicksal sensibilisieren lassen. Denn nur das, was der Mensch kennt, wird er bewahren wollen. Ökologie muss wieder zu der Basis zurückfinden: zu der konkreten Beziehung von Mensch und Wildtier, die als Grundlage alles Weiteren dienen kann. Nur eine neue Form der Kommunikation mit den Tieren vermag die Menschen wieder für die Tiere zu gewinnen. Heute erscheint den Bürgern der Fortschritt, der mit konkreten Verbesserungen ihres Lebens verbunden ist, weitaus erstrebenswerter und einleuchtender als ein Artenschutz-programm für einen Pfeilgiftfrosch in Costa Rica. Das Buch weist auf einen anderen Weg hin. Es erzählt von jenem disruptiven Moment der Technologie, in dem der Frankfurter Investmentbanker für einen Moment seinen neuen Porsche vergisst und sich im Internet mit dem Pfeilgiftfrosch anfreundet.

Warum wir nur noch schöne Seelen sind

Im Labyrinth des postmodernen Naturbewusstseins

Zuerst war es nur ein schwarzer Schatten, der auf Kniehöhe an mir vorbeihuschte und auf der anderen Seite des schmalen, gewundenen Kiesweges im Gestrüpp untertauchte. Kaum war das Tier da, so verschwand es auch schon wieder. Aber der Schatten hatte ein Nachleben: Aus ihm wurde mein erster tierischer Facebook-Freund.

Die begehbare Vogelvoliere im Münchner Tierpark Hellabrunn besteht aus einem beeindruckend großen Drahtzelt. Beim Hindurchspazieren hat man den Eindruck, sich in freier Wildbahn zu bewegen. Bevölkert wird der Vogelkäfig von bunten Enten, Ibissen, einem majestätischen Schwarzstorch und jenem hüpfenden Schatten, der – so viel konnte ich immerhin erkennen – eine verschrumpelte rote Kopfhaut hatte und einen sichelförmigen Schnabel vor sich hertrug. Dieser Vogel war gewiss keine Schönheit, er gehörte eher in die Kategorie »Kuriosität«. Aber was war es für ein Tier? Ein Ibis? Ein Löffler?

Die Beschriftung der Voliere brachte Aufschluss. Bei dem Schatten handelte es sich um einen Waldrapp, einen Schreitvogel, der nach der annähernd kompletten Ausrottung in Europa in zoologischen Gärten nachgezüchtet und dann ausgewildert wird. Der Name »Waldrapp« nahm mich gleich für den Vogel ein. Er klang sympathisch, lautmalerisch, warm. Er erinnerte mich an das germanische Altertum, er gemahnte an tiefe, dunkle Eichenwälder. Vignetten aus Des Knaben Wunderhorn stiegen vor meinem inneren Auge auf. Gut konnte ich mir einen in Kupfer gestochenen Waldrapp als Frontispiz einer vergilbten Heidelberger Gedichtsammlung vorstellen. Die lateinische Artenbezeichnung wirkte dagegen eher abschreckend. Sie knarzte mich mit hölzerner Stimme an: Geronticus eremita. »Gerontischer Eremit« – das erinnerte an Kaffeefahrten, Heizdecken und Schnabeltassen. Umstandslos entschied ich mich dafür, dem eigenartigen Geschöpf nicht weiter auf den Grund zu gehen und meinen Hellabrunner Erkundungsgang anderweitig fortzusetzen, ohne eine ausführlichere Begegnung mit dem seltsamen Waldrapp herbeizuführen. Schließlich beherbergt der Münchner Tierpark viele sympathische und noch dazu höchst ansehnliche Tiere, die sich vor den Besuchern nicht in Sicherheit bringen und die einen auch nicht an die eigene verwelkte Zukunft erinnern. Adieu, Waldrapp, hieß es also.