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Das "Jüdische Gesetz" ist die soziologische Dissertation Erich Fromms, die er 1922 an der Universität Heidelberg einreichte. An drei historischen Erscheinungen des in der Zerstreuung lebenden Judentums (den Karäern, den deutschen Reformjuden und der chassidischen Bewegung) zeigt Fromm, was diese Gruppierungen soziologisch zusammenhält. Auch wenn Fromm für diese Doktorarbeit bei Alfred Weber noch nicht die Erkenntnisse der Psychoanalyse nutzen konnte, so ist sein erkenntnisleitendes Interesse in der Dissertation bereits ein sozial-psychologisches. Fromm fragt bereits hier, was viele einzelne Menschen ähnlich denken, fühlen und handeln lässt und wie man dieses Gesellschaftsbildende im Individuum verorten kann. Im Kontext des Frankfurter Instituts für Sozialforschung hat Fromm zehn Jahre später diese Fragen mit seiner Gesellschafts-Charaktertheorie detailliert beantwortet; die Ursprünge seines sogenannten „Freudo-Marxismus“ lassen sich aber bereits in der Dissertation und in Fromms spezifisch jüdischem Denken ausmachen. Fromms Dissertation "Das jüdische Gesetz" ist deshalb nicht nur für jene eine Pflichtlektüre, die in ihm einen Ideengeber für die Programmatik der Frankfurter Schule sehen; sie ist darüber hinaus auch eine Fundgrube für alle, die mehr über das Jüdische in Fromms Denken und Werk erfahren wollen. Aus dem Inhalt • Die Bedeutung des Gesetzes im Judentum • Arbeit und Beruf im rabbinischen Judentum • Die gesellschaftlich-religiöse Struktur des Karäismus • Das Reformjudentum • Das jüdische Gesetz und der bürgerlich-kapitalistische Geschichtskörper • Die Neoorthodoxie als Reaktion auf die Reform • Der Chassidismus • Die Bedeutung des Gesetzes im Chassidismus
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Seitenzahl: 270
Veröffentlichungsjahr: 2015
Erich Fromm (1989b [1922])
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk.
Erstveröffentlichung 1989 beim Beltz-Verlag in Basel unter dem Titel Das Jüdische Gesetz. Zur Soziologie des Diaspora-Judentums. Dissertation als Band 2 der Schriften aus dem Nachlass, herausgegeben und bearbeitet von Rainer Funk und Bernd Sahler. Als Taschenbuch kam der Band 1995 bei Heyne (München) heraus; mit Textüberarbeitungen und -korrekturen fand die Dissertation Fromms Aufnahme in die Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden (GA), München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band XI, S. 19-126.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an den von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassungen der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band XI, S. 19-126.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1989 by The Estate of Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Das Jüdische Gesetz. Zur Soziologie des Diaspora-Judentums. Dissertation
Vorwort von Rainer Funk
1. Die Bedeutung des Gesetzes im Judentum
a) Das erkenntnisleitende Interesse und der Erkenntnisgegenstand der vorliegenden Arbeit
b) Das jüdische Volk und sein Gesetz
1. Die Bedeutung des Religiösen im Judentum
2. Der religiöse Inhalt des Gesetzes
3. Der antidogmatische Charakter des Gesetzes
c) Von der Form im allgemeinen und dem jüdischen Gesetz im besonderen
Exkurs I: Arbeit und Beruf im rabbinischen Judentum
a) Die Wirtschaftsethik des Puritanismus
b) Zum Verhältnis von Berufsarbeit und Religionspraxis im rabbinischen Judentum
c) Die rechtliche Stellung des Arbeiters im biblischen und rabbinischen Judentum
Exkurs II: Der christliche Offenbarungsbegriff und das Verständnis der „Göttlichkeit“ der Thora im Judentum
2. Der Karäismus
a) Der geschichtliche Kontext
b) Die wirtschaftlichen Ursachen für die Entstehung des Karäismus
1. Die wirtschaftliche, politische und kulturelle Situation zum Zeitpunkt der Entstehung des Karäismus
2. Der wirtschaftliche Hintergrund der Entstehung der karäischen Sekte
c) Die gesellschaftlich-religiöse Struktur des Karäismus
d) Zusammenfassung: Zur Soziologie des Karäismus
3. Das Reformjudentum
a) Die Emanzipation der Juden
1. Die Lage der Juden vor der Emanzipation
2. Die Emanzipation der Juden im Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhundert
b) Die Entwicklung der Reformbewegung
1. Das jüdische Gesetz und der bürgerlich-kapitalistische Geschichtskörper
2. Die Laien als Träger der Reform
3. Die Rabbiner und die Reform
c) Die Entwicklung der Reformideologie
1. Die Reformideologie bei Moses Mendelssohn
2. Die Ideologie der Reformbewegung
3. Die Reformideologie im liberalen Judentum
d) Die Stellung der Reform zum jüdischen Gesetz
1. Die Angleichungstendenzen der Reform
2. Die Unverbindlichkeit und Individualisierung des Gesetzes in der Reform
3. Die Prinzipienlosigkeit der Reform
4. Zusammenfassung: Soziologische Aspekte der Reform
e) Die Neoorthodoxie als Reaktion auf die Reform
4. Der Chassidismus
a) Gesellschaftsstruktur und Religiosität im Chassidismus
1. Die wirtschaftliche Situation der Juden zur Zeit der Entstehung des Chassidismus
2. Die gesellschaftliche Situation und die religiöse Ideenwelt des Chassidismus
3. Vom Niedergang des Chassidismus
b) Die traditionalistische Wirtschaftsgesinnung des Chassidismus
1. Die Betonung der Kontemplation
2. Die antikapitalistische Tendenz
3. Die Ablehnung bürgerlicher Emanzipationsbestrebungen
c) Die Bedeutung des Gesetzes im Chassidismus
1. Die neuen religiösen Inhalte und Ideen
2. Die Stellung des Chassidismus zur Verbindlichkeit des Gesetzes
3. Schneur Salman: Der Versuch einer Synthese von Chassidismus und Rabbinismus
Zusammenfassung
Glossar
Literaturverzeichnis
Der Autor
Der Herausgeber
Impressum
Die Doktorarbeit Erich Fromms entstand zwischen 1920 und 1922 bei dem Soziologen Alfred Weber an der Badischen Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg, wurde aber erst posthum im Jahre 1989 als Band 2 der nachgelassenen Schriften veröffentlicht.[1]
Warum Fromm sein Studium in Heidelberg mit einer soziologischen Dissertation abschloss, hat verschiedene Gründe.[2] Der Wunsch, über die soziologische Funktion des jüdischen Gesetzes im Diasporajudentum zu schreiben, ergab sich zum einen aus der persönlichen Problematik des zu dieser Zeit noch ganz nach den Vorschriften der jüdischen Orthodoxie lebenden Promovenden Fromm. Sicher haben die Persönlichkeit und das Forschungsgebiet seines Doktorvaters Alfred Weber bei der Wahl des Themas eine wichtige Rolle gespielt. Den stärksten Einfluss auf die Fragestellung und die Ausarbeitung der Dissertation hatte aber sicher sein Talmudlehrer Salman Baruch Rabinkow, in dessen Wohnung in der Rahmengasse 34 Erich Fromm zwischen 1920 und 1925 fast täglich war, um mit ihm den Talmud und die jüdische Geschichte zu studieren, aber auch soziologische und kulturhistorische Fragestellungen zu erarbeiten.[3] Gleichwohl zeigt die Dissertation vor allem die Rezeption der Begriffe und Konzepte seines Doktorvaters Alfred Weber.[4]
Dass die Dissertation Fromms fast 70 Jahre nach ihrer Entstehung doch noch veröffentlicht wurde, ergibt sich aus der Bedeutung, die dieses frühe Dokument Frommschen Denkens für sein späteres wissenschaftliches und humanistisches Denken hat.[5] Auch wenn Fromm für seine Doktorarbeit noch nicht das Instrumentarium der psychoanalytischen Theorie Freuds kannte, so ist sein erkenntnisleitendes Interesse bei der Untersuchung dessen, was das Diasporajudentum gesellschaftlich zusammenkittet, bereits eindeutig sozialpsychologisch. Die Doktorarbeit zeigt nicht nur, wie Fromm den einzelnen Menschen als gesellschaftliches Wesen versteht und deshalb Ende der Zwanziger Jahre zu einer ganz eigenständigen Verbindung von Psychoanalyse und Soziologie kommen konnte. Sie illustriert auch, dass Fromm von Anfang an eine bestimmte Option für die Beurteilung gesellschaftlicher Erscheinungen kennt. Wo gesellschaftliche Entwicklungen dem „Geist“ des jüdischen Gesetzes zuwiderlaufen, gilt es, sich gegen den gesellschaftlichen Zeitgeist zu entscheiden.
Der „Geist“ des jüdischen Gesetzes lässt sich am besten umschreiben mit der „Option für das Humanum“. Freilich spricht Fromm in seiner Dissertation noch nicht von Humanismus und humanistischer Religions- und Gesellschaftskritik. Dem „Geist“ nach – und hier manifestiert sich unausgesprochen der Einfluss von Fromms Talmudlehrer Rabinkow – geht es bei seinem theologischen Verständnis des jüdischen Gesetzes um nichts anderes als um die Sicherung des Humanum. Fromms spätere humanistische Wendung des Offenbarungsbegriffs ist hier (vgl. seinen Exkurs II, S. 47-52) bereits klar vorgezeichnet. Ebenso wird Fromms Affinität zu einer bestimmten Art des Konservativen in seinem Verständnis von jüdischer Orthodoxie plausibler (vgl. S. 51°f.).
Die Arbeit Fromms über die soziologische Funktion des jüdischen Gesetzes beim Diasporajudentum ist nicht nur für jeden, der sich mit dem späteren Schrifttum Fromms und mit den Quellen seines Denkens ernsthaft auseinandersetzt, ein erhellendes Dokument.[6] Sie ist darüber hinaus ein eindrucksvolles Beispiel für die Frommsche Lesart jüdischer Geschichte (ein weiteres Dokument ist das 40 Jahre später entstandene Buch Ihr werdet sein wie Gott. Eine radikale Interpretation des Alten Testaments und seiner Tradition, 1966a). In der Dissertation gilt dies besonders für Fromms kritische Einschätzung der Reformbewegung und des liberalen Judentums um die Jahrhundertwende und für seine (lebenslange) Vorliebe für den Chassidismus. Schließlich gibt die Dissertation zu erkennen, wie umfassend Fromms Kenntnisse der jüdischen Geschichte, der Bibel- und Talmudkenntnis, der jüdischen Religionspraxis und Religionsphilosophie waren. Für Leserinnen und Leser, die mit der jüdischen Religion und Lebenswelt nicht vertraut sind, mag das am Ende beigefügte Glossar zum besseren Verständnis beitragen.
Die unter dem Rektorat von Professor Karl Hampe ausgestellte und von Professor Curtius als Dekan der Philosophischen Fakultät unterzeichnete Promotionsurkunde hat den Wortlaut:
Die Philosophische Fakultät hat dem Herrn Erich Fromm, geboren 1900 zu Frankfurt a. M., Titel und Würde eines Doktors der Philosophie verliehen. Die vorgelegte wissenschaftliche Abhandlung ›Das jüdische Gesetz. Ein Beitrag zur Soziologie des Diasporajudentums‹ ist genehmigt und die mündliche Prüfung am 20. Juli 1922 abgelegt worden. Die Fakultät hat das Gesamtergebnis beider Leistungen als sehr gut (2. Grad) anerkannt. Fachvertreter war Professor Dr. Alfred Weber. Gegenwärtige Urkunde ist zu Heidelberg im 540. Jahr seit der Gründung der Universität am 4. September 1925 vollzogen worden. (Original im Erich Fromm Institut Tübingen.)
Seit der Zerstörung des zweiten Tempels ragt das jüdische Volk in die Welt der vorderasiatisch-europäischen Völker hinein als eine geheimnisvolle und unfassbare Tatsache geschichtlichen Lebens. Geheimnisvoll und unfassbar deswegen, weil sich keine Möglichkeit zu bieten scheint, Parallelen zu ihr aufzufinden oder sie in bekannte historische Bezüge einzuordnen. Das Grauen, das der einfache vorwissenschaftliche Mensch beim Anblick der Juden empfand, hat in der Gestalt des Ahasver, des ewigen Juden, seinen erschütternden Ausdruck gefunden. Die Unmöglichkeit, diese scheinbar nicht zugängliche Erscheinung zu erfassen, zeigte sich und zeigt sich noch heute in der Tatsache, dass auch die „wissenschaftliche“ Beschäftigung mit dem Judentum politischen Interessen (anzugreifen oder zu verteidigen) nur selten entrückt ist.
Die Eigenart des Diasporajudentums lässt sich etwa so kennzeichnen: Trotz Verlustes von Staat, Territorium und einer Profansprache hat das Judentum als verwandtschaftliche und schicksalsmäßig einheitliche und kontinuierliche Gruppe fortbestanden, die ihre Kraft vornehmlich auf Durchtränkung des Gesellschaftskörpers mit der ihr aufgegebenen religiösen Idee konzentrierte. Das Festhalten an der angestammten Religion geschah, ohne dass es zu einer Kirchenbildung führte. Das Judentum konnte mitten unter den anderen Völkern weiterleben, innerhalb und doch außerhalb ihrer Welt stehend.
Ich will mit Euch handeln und wandeln, mit Euch stehen und gehen und was dergleichen mehr ist; aber ich will nicht mit Euch essen, mit Euch trinken, noch mit Euch beten. (Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig, 1. Akt, 3. Szene.)
In der Terminologie von Alfred Weber (1921) ausgedrückt, heißt dies: Das Diasporajudentum als solches hat, obwohl es stets in den Zivilisationsprozess der Wirtsvölker eingebettet war, in seinem Gesellschafts- und in seinem Kulturkosmos ein Eigenleben und eine Eigengesetzlichkeit entfaltet, die seinen Fortbestand als einheitlicher Geschichtskörper gewährleistet haben.
In der vorliegenden Arbeit soll zunächst die Beziehung des „Gesellschaftskörpers“ zur „Seele“ des jüdischen „Geschichtskörpers“ analysiert werden, um dann [XI-022] aufzuzeigen, in welch außerordentlich hohem Maße hier eine Durchtränkung stattgefunden hat. Hierbei werden wir auf das jüdische Gesetz als Ausdruck dieser soziologischen Struktur des Geschichtskörpers stoßen und es im Hinblick sowohl auf seine religiösen Grundlagen als auch auf seine Funktion innerhalb der Korrelation zwischen Volk und religiöser Idee analysieren.
Das Schicksal, das der jüdische Gesellschaftskörper bei seinem Zusammenstoß mit fremden Geschichtskörpern genommen hat, wird deutlich am Schicksal des Gesetzes; es soll bei drei besonders charakteristischen Tatsachen der jüdischen Geschichte näher untersucht werden: dem Karäismus, der Reform und dem Chassidismus.
Der Karäismus, eine Sektenbewegung auf babylonischem Boden, die im Achten Jahrhundert entstand, entwickelte sich, wie gezeigt werden soll, aus der Einwirkung wirtschaftlicher Tatsachen auf die Struktur der jüdischen Gesellschaft und die hierbei hervorgerufenen Veränderungen. Zwar blieb der jüdische Gesellschaftskörper als Ganzer intakt, doch entstand in der Folge eine Sekte, deren soziologische Differenz vom Judentum noch eine geringe ist.
Ganz anders verhält es sich mit der Reform der westeuropäischen Juden im Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhundert. Hier prallen zwei Geschichtskörper aufeinander: der jüdische und der bürgerlich-kapitalistisch-europäische. Hier wird sich die Richtigkeit der These von Alfred Weber erweisen, dass die Kulturbewegung einmalig und in sich geschlossen ist, so dass es hier auch keine Kompromisse gibt. Es wird zu zeigen sein, wie der Zusammenprall mit dem Sieg der bürgerlich-kapitalistischen Kultur endet, und es wird festzustellen sein, dass mit dem Siege der fremden Kultur auch der Gesellschaftskörper entscheidend verändert wird. Schließlich gilt es zu untersuchen, in welcher Weise diese Veränderung vor sich geht und in der Reform des Gesetzes ihren Ausdruck findet.
Beim Chassidismus soll gezeigt werden, dass tatsächlich der jüdische Geschichtskörper so sehr sein Eigenleben bewahrt hat, dass er im Achtzehnten Jahrhundert in einem völlig fremden Gesellschaftskörper, von dem er allein die Zivilisationselemente übernommen hatte, eine gesellschaftliche und kulturelle Bewegung hervorbringen konnte, die völlig dem Kultur- und Gesellschaftskosmos des Judentums entquoll.
Mit der vorliegenden Arbeit wird erstmals versucht, das Diasporajudentum als Erkenntnisobjekt einer Kultursoziologie zu verstehen und es soziologisch zu untersuchen. Von den bisher vorliegenden Arbeiten seien neben einer Fülle journalistisch-politischer Versuche nur folgende charakteristische erwähnt: die soziologische Untersuchung Max Webers (1921), die dem antiken Judentum gilt, nicht aber das Diasporajudentum zum Gegenstand hat, obwohl sie in mancher Hinsicht bereits die Problemstellungen für die vorliegende Arbeit aufzeigt. Werner Sombarts Arbeit Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911) versucht zwar, das Diasporajudentum soziologisch zu erfassen, doch wird er dabei dem Judentum als religiös-gesellschaftlicher Erscheinung nur mit so unzureichenden Mitteln gerecht, dass diese Seite des Problems von ihm lediglich eine geringe Förderung erfahren hat.
Einen vorsoziologischen Versuch stellen manche Schriften von Martin Buber (1916 und andere) dar; diese Schriften leiden aber daran, dass Buber nicht das Judentum selbst zum Erkenntnisobjekt macht, sondern nur besondere, von ihm geschätzte [XI-023] Erscheinungen innerhalb des Judentums. Das Judentum als ganzes, in seiner nationalen und religiösen Eigenart und Totalität, hat Hermann Cohen zum Objekt nicht einer soziologischen, sondern seiner philosophischen Erkenntnis gemacht in seinem nachgelassenen Werk Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1920). Dieses Werk hat der vorliegenden Arbeit manche fruchtbare Anregung gegeben.
Der jüdische Geschichtskörper stellt eine Korrelation dar zwischen der verwandtschaftlichen und schicksalsmäßigen Einheit einerseits und der religiösen andererseits, oder anders ausgedrückt, zwischen der physischen und der metaphysischen Einheit des Volkes. Beide Bindungen sind ihrer Entstehung nach voneinander unabhängig, entstammen verschiedenen Sphären, und die Geschichte des Volkes ist die Geschichte ihrer Wechselwirkung. Auf Grund des selbständig bestehenden Volkskörpers wurde der „Religion“ jene Aufgabe abgenommen, die etwa die katholische Kirche übernehmen musste, nämlich für die Erhaltung und Ausbreitung der gesellschaftlichen Gruppe, von der die Religion getragen wird, zu sorgen. Im Judentum muss der religiöse Inhalt nicht aus sich heraus die gesellschaftlichen Bedingungen schaffen, die die Erhaltung der Gruppen garantieren. Vielmehr war der Bestand der Gruppe durch die Tatsache ihrer autonomen, blutsverwandtschaftlichen und völkischen Bindungen gewährleistet. Es brauchte keine Dogmatik und keine Kirche, um das Gruppenverhalten zu sichern. Der religiöse Inhalt konnte seinem Wesen entsprechend eine individuelle Kategorie bleiben. Die der Kirche immanente Problematik der Vergesellschaftung des Religiösen und des dauernden Kampfes dagegen (vgl. Reformation!) blieb dem jüdischen Volk erspart.
Auf der anderen Seite gab der religiöse Inhalt dem Volk als physischer Einheit eine ganz bestimmte Richtung des Schaffens. Er nahm ihm die Tendenz einer Ausbreitung in der Sphäre „dieser Welt“, in der Sphäre wirtschaftlicher und militärischer Macht, und lenkte all seine Kraft auf das Gebiet religiösen Schaffens. Die Frage, ob der Zwang der weltpolitischen Situation oder der freie Wille des Volkes die prima causa ist, bleibt hier unerörtert. Offensichtlich wich das Ideal des mächtigen weltlichen Königs dem Ideal des Messias. Durch diese Hinlenkung aller Kräfte des Volkes auf die Sphäre des religiösen Schaffens, die mit den Propheten beginnt, deren praktische Durchführung Esra einleitet und die Männer der Mischna abschließen, wird der Volkskörper befähigt, selbst die schwersten politischen Schläge zu ertragen, die zweifellos den Untergang anderer, vorwiegend diesseitig orientierter Völker zur Folge gehabt hätten. Der entscheidende Kampf zwischen Rom und dem zweiten jüdischen Staat war nur scheinbar der Kampf zwischen zwei Staaten. In Wirklichkeit zerstörten die Römer nur eine Attrappe, ein Gehäuse, das für den jüdischen Geschichtskörper im Gegensatz zum römischen ganz unwichtig war, so dass der jüdische Geschichtskörper auch nicht ernsthaft in Gefahr kam. [XI-024]
Eine wirkliche Gefahr drohte immer erst dann, wenn dem jüdischen Volk die natürlichen Grundlagen seiner Existenz genommen wurden, nicht aber, wenn ihm die politisch wertvollen Grundlagen reduziert wurden, etwa durch die Zusammensiedlung auf einem verhältnismäßig geschlossenen Gebiet bei wirtschaftlich und rechtlich gerade noch erträglichen Lebensbedingungen. Diesen Zustand gab es schon immer in der jüdischen Geschichte. Auf das Zentrum in Palästina (bis etwa 200 n. Chr.) folgte das in Babylonien (bis 1000 n. Chr.), dann das in Spanien (bis 1500 n. Chr.), dann das in Russland und Polen (bis 1800 n. Chr.). In all diesen Zentren war bei verschiedener Gestaltung der wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Situation der Juden doch der Bestand des Volkskörpers als physischer Einheit gewährleistet. Erst seit über einem Jahrhundert fehlt ein solches Zentrum, und damit wird in immer steigendem Maße dem religiösen Inhalt des jüdischen Volkes eine Funktion zugemutet, die ihm fremd ist: die äußere Erhaltung der Gruppe zu garantieren, das heißt, zur Kirche zu werden.
Auf Grund der Wechselwirkung zwischen religiösem Inhalt und blutsverwandtschaftlicher und völkischer Bindung brauchte es weder die Bildung einer Kirche noch eines Staates als Ausdrucks wirtschaftlicher und militärischer Machtentfaltung. Vielmehr kam es auf Grund dieser Wechselwirkung zu einer Durchdringung des Gesellschaftskörpers durch die „Seele“ des Geschichtskörpers, und zwar mit einer so ungeheuren Penetranz, dass der Gesellschaftskörper in seiner ganzen Breite und Tiefe von der Kultur des ethischen Monotheismus erfasst und geformt wurde.
Das Bindeglied der Korrelation zwischen dieser physischen und metaphysischen Einheit, der Ausdruck also der Durchdringung des Gesellschaftskörpers durch die „Seele“ des Kulturkörpers, ist das Gesetz. Es hat nicht die Aufgabe, der Kirche den Bestand der Gruppe zu garantieren, sondern es rechnet mit dem autonomen Bestand des Volkes als Voraussetzung und hat dann vielmehr die Funktion, das Volk als blutsverwandtschaftlich gebundene Gruppe mit der ihm immanent sein sollenden religiösen Idee zu verbinden und diese Idee zu einer dauernden und unzerreißbaren Idee zu gestalten.
Es ergibt sich von vornherein folgender Charakter des Gesetzes: Es soll seinem Inhalt nach ein für alle Glieder des Volkes verbindliches und in Anbetracht der Wahrung der religiösen Individualität des Einzelnen mögliches Normensystem sein, das seinerseits seine Wurzeln in der religiösen Idee hat, die dem Volk innewohnen soll. Die religiös-sittliche Grundeinstellung wird nicht zu einem theologischen System geformt, sondern geht unmittelbar in die Halacha, das Gesetz, ein. Dieses wird so stärkster Ausdruck des religiösen Gefühls, welches seine Formung nicht im Reich der Gedanken findet, sondern in einem nationalen, gesellschaftlichen, „wertrationalen“ (Max Weber) Handeln.
Der Zeit nach liegt die physische vor der religiösen Bindung. Als blutsverwandtschaftlich gebundene Sippe wandert das Volk Israel nach Kanaan, von dort nach Ägypten. „Die Söhne Israels wurden fruchtbar, so dass das Land von ihnen wimmelte. Sie vermehrten sich, wurden sehr zahlreich und füllten das Land.“ (Ex 1,7) Doch
erst in der bewegten Zeit, die dem Auszuge aus Ägypten voraufging, und während des Aufenthaltes in der Wüste, der darauf folgte, entstand der Bund der Stämme, die später das Volk Israel ausmachten. (J. Wellhausen, 1895, S. 16.) [XI-025]
Zu der physischen Bindung des Blutes tritt die Gemeinsamkeit ihrer ökonomischen Lage und ihres äußeren Schicksals. Als ihre unerträgliche wirtschaftliche Lage sie zur Revolution treibt, zum gemeinsamen Befreiungskampf gegen Ägypten, haben wir durchaus noch den Typus der rein physischen Truppe vor uns. Aber in dieser aus rein ökonomischen Ursachen entstandenen Revolution liegt die Entstehung der metaphysischen Bindung des Volkes. Diese geschah durch das Ereignis am Sinai, die Verkündigung des Gesetzes und den Willen des Volkes, sich als Volk Gottes zu fühlen. „Moses hat den idealen Charakter des Volkes begründet und normiert dadurch, dass er ihm das Gesetz gab“ (J. Wellhausen, 1895, S. 16). Diese physisch-religiöse Einheit, diese religiöse und völkisch gebundene Doppelheit wird wohl nirgends stärker ausgedrückt als in Ex 19,6: „Ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören.“
Die endgültige Loslösung des jüdischen Gesellschaftskörpers vom Staat und damit der Verzicht auf alle „Diesseits“-Ausdehnung ist die Tat Rabbi Jochanan ben Zakkais. Als Jerusalem im Jahre 70 n. Chr. von den römischen Heeren belagert wurde, gehörte er zur Friedenspartei und mahnte zur einstweiligen Unterwerfung, um Jerusalem und den Tempel vor der Zerstörung zu bewahren. Aber alle Versuche, die Kriegspartei zum Nachgeben zu bewegen, schlugen fehl. Da griff er zu einem Gewaltmittel und ließ sich von seinen Jüngern in einem Sarg durch Jerusalems Tore in das feindliche Lager der Römer tragen, um auf eigene Faust mit dem Feind zu verhandeln. Er bat um die Stadt Jamnia mit ihren Weisen zur Rekonstituierung des Synhedrions und zur Begründung eines Lehrhauses. Die Bitte wurde ihm gewährt. Er übersiedelte mit seinen Schülern nach Jamnia, wohin ihm dann die Nachricht vom Fall Jerusalems überbracht wurde. Damit ist die grundlegende Eigenart des rabbinischen Judentums geschaffen. Das Volk lebt ohne Staat und späterhin ohne gemeinsames Territorium und ohne gemeinsame lebendige Sprache. Es vermag zu leben, physisch allein durch das Blut und das Schicksal gebunden, weil seine Schwerkraft in der Sphäre des Metaphysisch-Religiösen liegt. Rabbi Jochanan ben Zakkai drückte das klar aus, wenn er sagt: „Wohin Israel vertrieben wird, zieht Gott mit.“ Rabbi Jochanan ben Zakkai und seine Nachfolger zogen auch die praktischen Konsequenzen aus der veränderten Situation. Das Synhedrion zu Jabne [Jamnia] erhielt die volle Autorität einer Oberbehörde der Juden Palästinas. Das Tempelopfer wurde endgültig durch das Gemeindegebet ersetzt und so die völlige Loslösung vom Staat vollzogen.
Fragt man, was der metaphysische Sinn, also der religiöse Inhalt des jüdischen Volkes sei, so findet man eine ganze Anzahl von Formulierungen, die in der Sache immer ein gleiches, einfaches Großes ausdrücken: den Gedanken der metaphysischen Realität der Wirklichkeit und Einheit Gottes im Gegensatz zur Unwirklichkeit von allem nur physisch Seienden, wie er sich im Glauben an den Messias ausdrückt. Dieser Glaube an den Messias ist ein Glaube an einen Zustand, in dem alle Menschen Gott als Einheit und Wirklichkeit erkennen; er verpflichtet das jüdische Volk, auf dieses Ziel als den Sinn und Zweck aller Geschichte hinzuarbeiten. [XI-026]
Gott offenbart sich Moses als der Gott seiner „Väter, Abrahams, Isaaks und Jakobs“ (Ex 3,6). Erst als Moses ihn auf die Unfähigkeit des Volkes hinweist, einem namenlosen Gott zu glauben, offenbart er seinen Namen mit: „Ich bin der ich bin“ (Ex 3,14), der Seiende. Am Sinai offenbart sich Gott dem Volk mit: „Ich bin der Ewige, dein Gott, der ich dich herausgeführt habe aus dem Lande Ägypten, aus dem Hause der Knechtschaft“ (Ex 20,2). Endlich sei noch eine dritte Formulierung aus dem Pentateuch erwähnt: „Höre Israel, der Ewige unser Gott, der Ewige ist einzig.“ (Dtn 6,4) Dieser Satz ist das Bekenntnis, mit dem der Jude stirbt. Er ist der stärkste und tiefste Ausdruck biblischer Religiosität, und doch ist er alles andere als ein Dogma, das den Glauben einer ganz bestimmten Aussage über Gott fordert.
Bei den Propheten treten zu den Sätzen, die den Glauben an Gott als den wahrhaft Seienden ausdrücken, noch solche hinzu, die den Glauben an den Messias – an die Gotteserfülltheit aller Menschen – ausdrücken. So sagt Hosea:
Dann werden zurückkehren die Kinder Israels und sie werden suchen den Ewigen, ihren Gott und damit ihren König, und sich hinängstigen zum Ewigen und seiner Güte am Ende der Tage. (Hos 3,5)
Amos sagt:
An jenem Tage werde ich aufrichten die Hütte Davids, die zerfallene, und ihre Risse vermauern und ihre Trümmer aufrichten und sie wieder bauen, wie in den Tagen der Vorzeit. (...) Dann sollen Tage kommen – Spruch des Ewigen –, da holt der Pflüger den Schnitter ein und der Traubenkelterer den Sämann, da werden die Berge von Most triefen und alle Hügel zerfließen; dann bringe ich zurück die Gefangenen meines Volkes Israel, und sie werden verwüstete Städte wieder aufbauen und bewohnen, Weinberge aufpflanzen und Wein davon trinken, Gärten machen und Früchte daraus essen, und ich will sie in ihr Land einpflanzen, dass sie nicht mehr ausgerottet werden sollen, aus ihrem Lande, das ich ihnen gegeben. (Am 9, 11.13-15)
Der Prophet Micha sagt:
Am Ende der Tage wird der Berg des Hauses des Ewigen gegründet stehen auf dem höchsten Berge und er wird erhaben sein über die Hügel, und es werden zu ihm strömen die Völker und viele Völker werden gehen und sprechen: Auf, lasst uns hinaufsteigen zum Berge des Ewigen und zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und dass wir wandeln in seinem Pfade, denn von Zion geht die Lehre aus und das Wort Gottes von Jerusalem. Und er wird richten zwischen vielen Völkern und Recht sprechen zwischen mächtigen Nationen bis in die Ferne, und sie werden umschmieden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Winzermessern. Nicht wird erheben ein Volk das Schwert gegen das andere, und sie werden nicht mehr lernen den Krieg, und sie werden sitzen ein jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum und niemand wird sie aufschrecken. (Micha 4,1-4)
Den höchsten Ausdruck findet der prophetische Universalismus wohl in den Worten Jesajas:
An jenem Tage wird ein Weg führen von Ägypten nach Assyrien, und Assyrien kommt nach Ägypten und Ägypten nach Assyrien und Ägypten wird mit Assyrien Gott dienen. An jenem Tage wird Israel das Heil sein zu Ägypten, und Assyrien ein Segen inmitten der Erde, den der Gott Zebaoth ausgesprochen: Gesegnet sei mein Volk Ägypten und meiner Hände Werk Assyrien und mein Erbe Israel. (Jes 19,23-25)
Jeremia ruft:
Fürwahr, es kommt die Zeit – Spruch Gottes –, da will ich mit dem [XI-027] Hause Israel und dem Hause Juda einen neuen Bund schließen. Darin soll der Bund bestehen, den ich nach dieser Zeit mit dem Hause Israel schließen will – Spruch Gottes: Ich lege mein Gesetz in ihr Inneres und schreibe es ihnen ins Herz, und so will ich ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein. (Jer 31,31-33)
Hören wir noch Ezechiel:
Und ich werde sprengen über euch reines Wasser, dass ihr rein werdet von all euren Unreinheiten, und von allen euren Götzen will ich euch reinigen; und ich werde euch geben ein neues Herz, und einen neuen Geist werde ich geben in euer Inneres; und ich werde entfernen das Herz von Stein aus eurem Fleische und werde euch geben ein Herz von Fleisch, und ich werde meinen Geist geben in euer Inneres. (Ez 36,25-27)
Aus den hier wiedergegebenen Prophetenstellen wird ohne weiteres klar, was als der metaphysische Inhalt des Prophetismus anzusehen ist: Gotteserkenntnis und deren Ausbreitung auf Israel und die Menschheit, eine Gottesidee, die weit davon entfernt ist, dogmatisch zu sein. Hier ist der starke Glaube an Gott, der Glaube an den Messias, aber kein Glaube an Aussagen über Gott oder an Aussagen über den Messias.
Die religiösen Inhalte der Bibel und der Propheten sind auch die des ganzen späteren Judentums. Man hat immer wieder auf die biblisch-prophetischen Formulierungen zurückgegriffen und in ihnen die eigenen religiösen Inhalte ausgedrückt. Dabei war es für den jüdischen Geschichtskörper auf Grund seiner charakteristischen Korrelation von „Gesellschaftskörper“ und „Kultur“ weder notwendig noch möglich, eine Dogmatik zu entwickeln. Allerdings sollte man sich hüten, Dogmen mit gewissen bereits in der Bibel vorkommenden Formulierungen – etwa das „Höre, Israel, der Ewige unser Gott, der Ewige ist einzig“ (Dtn 6,4) – zu verwechseln. Solche Formeln enthalten im Unterschied zu Dogmen keine Aussagen über Gott, die geglaubt werden sollen, sondern sind nur Ausdruck der religiösen Grundhaltung des Volkes und zugleich die Voraussetzung für alles andere Gebotene, bei dem es auch nicht um Glauben, sondern um das Handeln geht. H. von Schubert (1919, S. 76°f.) sieht demgegenüber das Wesen des Dogmas in nachbiblischer Zeit nicht mehr im Glauben an eine Person begründet; Glaube wird vielmehr „die Zustimmung zu den Aussagen über diese Person“.
Noch ein Zweites ist zu bedenken: Natürlich hat jeder Jude und zumal jeder geistige Führer des Volkes seine ihm eigene individuelle Weltanschauung gehabt. Es ist dann nicht verwunderlich, wenn mancher den Anspruch erhebt, seine Weltanschauung im Volke durchsetzen zu wollen. Unter soziologischen Gesichtspunkten ist aber nicht dieser Anspruch wichtig, sondern die Frage, ob er sich tatsächlich durchgesetzt hat, ob also der Glaube des Einzelnen zum Glauben der Gesamtheit geworden ist. Schließlich gilt es zu bedenken, dass der Anspruch auf dogmatische Glaubensbekenntnisse – mit einer Ausnahme vielleicht – erst im Mittelalter erhoben wurde, und zwar aus apologetischen und politischen Gründen im Zusammenhang mit der Abwehr fremder Religionen und Kulturen. Die Glaubensformulierungen wurden – wie in der Philosophie [XI-028] üblich – wie eine Waffe ergriffen, um den Kampf gegen die fremden Gegner möglich zu machen. Das Ganze war eine Art Mimikry, die beim Zusammenstoß mit fremden Kulturen nötig wurde. (Zur Frage der Dogmenbildung vgl. S. Schechter, 1889, S. 48-61 und 115-127.)
Etwas Ähnliches wie eine Glaubensformulierung finden wir in der jüdischen Literatur erstmals im Traktat Sanhedrin des Talmud, wo es heißt:
Dies sind die, die keinen Anteil an der kommenden Welt haben, die die Wiederauferstehung der Toten leugnen, die sagen, dass die Tora nicht von Gott gegeben ist, und die Epikuräer.
Abgesehen davon, dass dieser Satz schon seiner Unvollständigkeit wegen nicht als vollständige Dogmatik des Judentums angesehen werden kann, geht aus ihm auch hervor, dass die drei Glaubenserfordernisse aus polemischen Gründen angeführt werden. Auch S. Schechter (1889, S. 58), der den Glaubenscharakter des Judentums verteidigt, muss zugeben: „Wenn die Rabbinen die drei Punkte aufstellten, so muss das irgendeinen historischen Grund gehabt haben.“ Denn es gibt auch diese Aussagen im Talmud (zit. nach S. Schechter, 1889, S. 57): „Wer den Götzendienst leugnet, wird Jude genannt. Der Jude, auch wenn er gesündigt hat, bleibt Jude.“
Von Dogmen im eigentlichen Sinne kann erstmals bei der Sekte der Karäer, die sich vom Judentum abspaltete, gesprochen werden. Wir finden sie im Eschkol Ha-Kofer des Jehuda Hadassi (um 1150 n. Chr.), der sie seinerseits möglicherweise von dem Karäer Josef Alfasir (um 950 n. Chr.) ganz oder teilweise übernommen hat. Auch der Gründer des Karäismus, Anan ben David, hat offenbar eine dogmatische, in Arabisch geschriebene „Summe“ verfasst.
Lassen sich zum ersten Mal Dogmen bei einer vom Judentum abgefallenen Sekte finden, so stellen kurze Zeit später repräsentative Gelehrte des Judentums selbst Dogmen auf. Der Grund hierfür wird, wie auch S. Schechter (1889) annimmt, in den engeren Kontakten der Juden zu neueren philosophischen Schulen und Glaubensbekenntnissen zu suchen sein, sowie in dem Bemühen einzelner Gelehrter, sich mit diesen Glaubensbekenntnissen und Philosophien persönlich in der Weise auseinanderzusetzen, dass sie die Autorität des Judentums in Form eines theologischen Systems einbringen zu müssen glaubten.
Der erste Vertreter des Judentums, der ein Dogmensystem aufstellte, war der jüdische Religionsphilosoph Maimonides. Er formulierte dreizehn Glaubensartikel, von deren Anerkennung er die Zugehörigkeit zum Judentum abhängig machen wollte. Die Glaubensartikel von Maimonides fanden teilweise Anerkennung, teilweise wurden sie ergänzt oder gekürzt, teilweise wurde ihnen heftig widersprochen. So stellte Nachmanides nur drei Grundprinzipien des Judentums auf (die creatio ex nihilo, die Allwissenheit und die Vorsehung); Rabbi David ben Samuel d’estella (1320) sprach von sieben Glaubenssätzen, Rabbi David ben Jomtof Bilia fügte den dreizehn von Maimonides weitere dreizehn hinzu. Rabbi Josef kennt nur eine Grundglaubensforderung des Judentums. Endlich vertritt Rabbi Saul aus Berlin (gestorben 1794), ein Kritiker von Maimonides, dass Dogmen überhaupt nur mit Rücksicht auf die Notwendigkeit der Zeit gemacht werden können.
Die Dogmen haben tatsächlich keine weiterreichende Bedeutung bekommen, als individuelle Meinungsäußerungen einzelner Führer des jüdischen Volkes zu sein. Dies [XI-029] beweist vor allem die Tatsache der völligen Verschiedenheit der aufgestellten Dogmen. Während das Gesetz nur wenige eindeutige Kodifizierungen gefunden hat, die für das ganze Volk in praxi verbindlich waren, entstand unter den jüdischen Gelehrten eine große Auseinandersetzung um die Glaubensartikel. Doch darüber ist es nie auch nur zur geringsten nationalen Spaltung und Absonderung gekommen. Es war ein rein theoretischer Streit, der heute nur noch historische und literarische Bedeutung hat. Das jüdische Volk selbst hat die Dogmen längst vergessen mit Ausnahme der dreizehn Glaubensartikel des Maimonides, die – zu einem Gedicht umgearbeitet – nach Beendigung des Gottesdienstes am Abend der Feiertage gesungen werden. Vergleicht man hiermit etwa die Rolle des Glaubensbekenntnisses im Islam oder in der katholischen bzw. protestantischen Kirche, so springt einem der Unterschied sofort in die Augen.
Um den rein theoretischen Charakter der Dogmen und ihre gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit im jüdischen Volk zu illustrieren, mag die Kontroverse zwischen Maimonides und Rabbi Abraham ben David typisch sein. Auf die Bemerkung des Maimonides, dass derjenige, der nicht an die völlige Unkörperlichkeit Gottes glaube, keinen Anteil an der zukünftigen Welt habe, bemerkt Rabbi Abraham in seinem Kommentar zum Werk von Maimonides kurz: „Bessere und Größere als Du haben daran geglaubt!“
Das jüdische Volk wird durch die gemeinsame Form des Gesetzes konstituiert, wobei das Gesetz der Träger des religiösen Inhalts ist. Welches ist die allgemeine Bedeutung der Form, als gesellschaftliches Handeln – als formaler Ausdruck religiösen Inhalts – verstanden, und welches ist ihre Beziehung zum Sinn?
Die Bedeutung der Form ist zunächst – negativ – in dem Schutz zu sehen, den sie gewährt. Sie schützt das Heilige, das sich in ihr birgt, den Inhalt, dem sie als Hülle dient. Der heilige Inhalt darf nur in seltenen Augenblicken unmittelbar ausgesprochen und enthüllt werden. In der Geschichte lässt sich immer wieder beobachten, dass dann, wenn heiligste Inhalte unverhüllt der Masse übergeben werden, sie immer mehr ihre Heiligkeit verlieren und schließlich als Plattheiten enden, die nur noch von Unwissenden im Munde geführt werden. Das Heilige darf nur im Augenblick der Weihe oder in der Heimlichkeit intimer Menschengemeinschaft gefahrlos ausgesprochen werden. Dies ist der tiefere Sinn des jüdischen Verbots, den Namen Gottes auszusprechen, und erklärt zugleich, warum es dennoch dem hohen Priester einmal im Jahr, in der Weihestunde des Versöhnungstages, erlaubt war, den Namen Gottes auszusprechen.