Das Jüngste Gericht - Angelika Friedemann - E-Book

Das Jüngste Gericht E-Book

Angelika Friedemann

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Beschreibung

Wenn du kritisiert wirst, dann musst du irgendetwas richtig machen. Denn man greift nur denjenigen an, der den Ball hat. Bruce Lee Drei Männer wurden innerhalb von mehreren Wochen ermordet aufgefunden und nun bekommen die Akten das LKA Hamburg. Die Beamten gehen von einem Serienmörder aus. Er platzierte seine Opfer rasiert auf dem Ohlsdorfer Friedhof vor verschiedenen Monumenten. Zunächst können die Beamten um Martin Kuhlmann keine Verbindung der Toten untereinander feststellen. Eine Prügelei unter zwei Kollegen sorgt für weitere Aufregung. In Martin wächst ein unglaublicher Verdacht. Dadurch gerät er einmal mehr ins Kreuzfeuer.

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Das Jüngste Gericht

TitelseiteMontagDienstagMittwochDonnerstagFreitagSamstagSonntagMontag - 1Dienstag - 1Mittwoch - 1Donnerstag - 1Freitag - 1Samstag - 1Montag - 2Dienstag - 2Mittwoch - 2Donnerstag - 2Freitag - 2Montag - 3Impressum

Das Jüngste Gericht

Montag

Er lief die Überschriften in der Zeitung lesend den Flur entlang, als er um die Ecke bog, sah er, wie Hauptkommissar Oliver Gross und Kommissarin Sina Seidler sich küssten. Er räusperte sich kurz, blickte auf die Schlagzeile.

„Moin Moin“, rief ihm Sina fröhlich zu.

„Moin, allerseits“, blieb er stehen, wartete, bis sie im Büro verschwunden war.

„Bist du dusselig?“, knurrte er mit seiner tiefen wohlklingenden Stimme wie ein gereizter Wolf den Mann an. „Such dir verdammt irgendwo eine Gespielin, aber lass die Finger von der Kommissarin. Erfährt das ihr Vater, kastriert er dich.“

„Martin, sie zieht zu mir. Und nun?“, klang es höhnisch aus dessen Mund.

„Wie bitte? Und deine Männerbekanntschaften?“

„Sina weiß alles, da ich es ihr gleich am Anfang gebeichtet habe. War dank deiner und Kais Tratscherei generell kein Geheimnis. Bei ihr ist es anders, jedenfalls momentan. Wir wollen es probieren. Vielleicht gibt sie mir die Ruhe, die ich mir ersehne. Seit meinem Klinikaufenthalt hat sich bei mir im Inneren einiges verändert.“

„Wissen das ihre Eltern?“

„Noch nicht, aber wir wollen es ihnen in Kürze mitteilen. Warum? Was hast du mit ihren Eltern zu tun? Sina ist kein Kind mehr, sondern eine erwachsene Frau. Egal, was sie davon halten, wir werden es testen, auch ohne dein, ihr Einverständnis.“

„Entschuldige. Ich wünsche es dir wirklich, dass du endlich den richtigen Partner findest. Nur Sina entspricht in keiner Weise deinem Frauenbild?“

„Ach, weißt du oder hat es dir der tolle Kai gesagt? Auch wenn es euch nichts angeht, sie hat mir vom ersten Sehen an gefallen, trotz ihrer Kurven, dass sie relativ klein ist. Die letzten Monate mit ihr waren für uns beide eine wunderschöne Zeit und nun gehen wir einen Schritt vorwärts.“

„Ich mag die Lütte wirklich, weil sie so erfrischend ehrlich ist, stets gute Laune verkörpert, dabei eine gute Ermittlerin ist.“

„Halte dich aus meinem Privatleben heraus, Martin. Sie ist kein kleines dummes Mädchen, sondern eine 32-jährige Frau. Kümmere dich um deinen hochgejubelten, ach so ehrlichen, treu sorgenden Kai und seine Probleme. Es reicht allmählich, dass du ständig alles besser weißt, mir etwas unterschieben, meine Intimsphäre koordinieren willst, mir Vorschriften machst, wen ich treffen, mit wem ich sprechen darf. Erzählt ihr meinetwegen irgendwelche Schauergeschichten über den bösen Oliver, zieht über mich her, verbreitet beide weiter, wie unfähig ich zu allem bin, wie fähig Kai doch ist. Wollen du und er mich so erneut rausekeln? Wäre Versuch Nummer drei oder werde ich wieder abgeknallt? Ihr widerwärtigen Verbrecher habt Lars, Jan, Peter … Probiere es! Zu dir habe ich aufgesehen? Kann man mal sehen, wie dusselig ich war. Die Betonung liegt auf ... war. Ein Beamter, der etwas mit Männern hatte, passt nicht in dein Bild von einem angeblich ordentlichen Leben eines Martin Kuhlmann oder Kai Razioni. Also gehe hin, redete es Sina aus. Fällt sie auf euer Gesülze herein, unwichtig, weil ich mir eine zusätzliche Enttäuschung erspare.“

„Entschuldige, Oliver! Es geht mich wirklich nichts an, noch möchte ich mich in deine Privatsphäre einmischen. Ist das ein Kuddelmuddel.“

„Was meinst du damit?“

„Muss dir Sina erzählen. Danach wirst du verstehen, warum ich eben so reagierte. Scheu´n Schiet! Warum muss ich kontinuierlich in so ein dumm Tügs verstrickt werden?“

Oliver grinste. „Weil du zu viel mitbekommst, nie ein Blatt vor den Mund nimmst. Spuck´s aus! Was weiß ich nicht?“

„Oliver, kläre das mit Sina. Nochmals meine Entschuldigung.“

„Also hat es etwas mit ihren Eltern zu tun“, drehte der sich um, ging davon.

Martin guckte einen Moment Oliver nachdenklich hinterher, betrat dann den großen Arbeitsraum.

„Moin ! Sina, komm bitte in fünf Minuten in mein Büro.“

Sein Dienstzimmer, ein geräumiger heller Raum. In einer Nische neben der Tür, die er lindgrün gestrichen hatte, befanden sich zwei Regalbretter aus Buchenholz, darunter ein Kühlschrank mit der Kaffeemaschine und zwei Kapselständern darauf. Auf den Brettern standen Tassen, Gläser, Zuckerdose. Er zog die Jacke aus, verschloss seine Waffe im obersten Schubfach, brühte Kaffee, blickte auf die Papphefter, die auf seinem Schreibtisch lagen.

„Pieter, hättest du ja lesen können“, sprach er den Polizeibären, Bünabär, an, den ihm die Kollegen vor einigen Monaten geschenkt hatten und der auf der Lehne eines Sessels saß. Eine Sitzecke mit vier hellbeigefarbenen Sesseln und einem runden Holztisch.

Die junge Kriminalkommissarin klopfte, trat herein.

„Schließ bitte die Tür“, nahm er den Kaffeepott in die Hand, trank, setzte sich auf den Schreibtischstuhl.

„Was gibt es? Ist es wegen Oliver?“

„Nein! Es ist, dass er keine Ahnung hat, wer dein Vater ist. Ihr wollt eine Beziehung aufbauen? Meinst du, dazu gehört nicht, dass man dem Partner die Wahrheit sagt? Soll es Dieter von Arbeitskollegen erfahren, was da zwischen euch läuft?“

„Ich habe mich ehrlich gesagt nicht getraut, es beiden Männern zu sagen. Oliver wird stinksauer sein. Meinen Dad höre ich wüten, der ist bi, steht auch auf Kerle. Mit dem gibst du dich ab?“

„Nur so geht es überhaupt nicht. Du hast bereits ein Jahr die Kollegen in der Abteilung 38 im Unklaren gelassen. Bei mir wäre es nicht anders. Durch Zufall erfuhr ich über eine dritte Seite davon. Ich sagte dir mehrfach, du sollst endlich für Klarheit gegenüber den Kollegen sorgen, da das ehrlich wäre. Sina, das betrifft nicht dein Privatleben, nur die rein berufliche Seite. Was du im Privatbereich machst, ist hier völlig irrelevant. Erfährt es dein Vater von einem Kollegen, tobt hier das Leben. Oliver wird davon ebenfalls nicht begeistert sein. Also kläre das, und zwar schleunigst mit deinen Eltern, Oliver. In fünf Minuten ist Besprechung.“

Dieter würde vermutlich wirklich toben, wenn er das erfuhr. Und Oliver? Er stand einmal mehr wegen der Geschichte im Fokus bei den Kollegen. Er seufzte. War das alles ein Kuddelmuddel. Er brühte den nächsten Kaffee, überlegte.

Er nahm zwei Akten und betrat den Sitzungsraum. „Fangen wir an.“

„Martin, ich möchte zuerst etwas bekannt geben“, meldete sich Sina.

Er blickte sie an, zog die Stirn leicht kraus, wollte gerade etwas erwidern, da plapperte sie schon weiter.

„Seid nicht bös. Also, Dieter Seidler aus der 45 ist mein Vater. Ich wollte es nicht gleich publik machen, weil sonst alle gedacht hätten, deswegen ist sie zum LKA gekommen.“

„Uns da einzuweihen, fällt dir nach vier Monaten ein? Bisschen spät oder?“, Ben mit verzogenem Gesicht.

„Wie bitte? Du warst über ein Jahr in der 38, hast das da auch verschwiegen? Ich glaub´s ja nicht“, schüttelte Sven den Kopf. „Da kommt Dieter hier an, spielt Theater, als wenn ihr Fremde wärt. Nette Kollegen.“

„Ich hatte es zwischenzeitlich vergessen. Ist ja auch nicht weiter schlimm. Da ist noch etwas. Hauptkommissar Gross und ich werden zusammenziehen. Wir sind schon seit vier Monaten liiert. Ja, ich weiß alles über ihn“, guckte sie dabei Kai an, der jedoch an dem Kaffee nippte, aus dem Fenster blickte.

„Mit wem?“, erkundigte sich Sven grinsend.

„Ach, du Schande. Na das geht nicht lange gut“, Kai schüttelte dabei mit dem Kopf. „Mann, Sina, er steht auf Kerle, nimmt Frauen nur zwischendurch kurz mit, weil er eine Putze für sein Luxusdomizil benötigt.“

„Kai, es reicht!“, Martin ungehalten.

„Wieso? Weiß doch jeder, was er ist. Einer, der mehr auf Kerle steht. Sei vorsichtig, er hat eventuell AIDS.“

„Du bist gemein, wirklich widerlich. Ich sage es nur so, will dazu keinerlei Kommentare hören, da ich kein dummer Teenager bin, dass allein entscheide. So das war alles.“

„Martin, wusstest du das?“, Elmar verblüfft.

„Ja - beides. Thema beendet.“

„Ich finde es trotzdem mies, wie uns Sina belogen hat.“

„Macht sie überall so. Nette Kollegin!“

„Jetzt schleimt sie doch, Ben“, fügte Bircan an. „Wie ich verlogene Tussis und ihre Kerle hasse. Der Gross, der gleiche verlogene Kerl. Er passt zu dir.“

„Ruhe!“ Nicht Martins Lautstärke unterbrach das Geplapper, sondern der Tonfall ließ jedes Gerede verstummen.

„In zwei Wochen kommt sie heulend an, weil dieser Kerl sie fallen gelassen hat. Mädchen, gib ihm einen Tritt in den Hintern. Auf so was steht der“, Kai, der nachdenklich vor sich hin starrte.

„Ich wünsche euch viel Glück, obwohl ich ebenfalls denke, das Thema ist in wenigen Wochen erledigt. Ich wusste es übrigens, da ich euch zusammengesehen habe. Ihr knutscht ja nun ständig herum. Nur du solltest es lieber deinem Vater beibringen und Oliver. Der weiß es nämlich noch nicht, oder? Mit Ehrlichkeit wäre das Problem nämlich schon aus der Welt und der Gross hätte dich bereits abserviert.“

„Räume ich heute Abend auf. Danke, Bircan.“

„Lade deine Eltern und Oliver zum Griechen ein und sag´s ihnen dort. Kann niemand Aufstand machen“, grinste Sven. „So regeln meine Frau und ich immer Probleme. Man benimmt sich gesittet, meckert nicht, diskutiert ruhig. Anschließend eine Runde Schnaps und schon herrscht heile Welt.“

„Für einige Wochen“, Kai lakonisch.

„Kai, muss sie allein durch. Wenn sie nun gern Nummer 120 auf seiner Liste der Kolleginnen sein will, lass sie doch“, Gerd lakonisch. „Soll sie danach nur nicht heulend im Haus rumlaufen, weil sie niemand warnte.“

„Liebe scheint blind zu machen, nur deswegen so einen Krimineller mitnehmen? Sina, mach dich nicht unglücklich.“, Kai schüttelte den Kopf, trank Kaffee.

„Kai, deine Bosheit melde ich. Du verleumdest hier niemand. Gut, dass wir dich ab Mittwoch los sind. Eventuell sperren sie dich wenigstens für eine Weile ins Gefängnis. Du bist so was von abscheulich“, Uwe zornig. „Du bist neidisch, weil du Olli nicht annähernd das Wasser reichen kannst. Nur boshafter Abschaum.“

„Uwe, wir sehen den Kerl ja nie wieder, also kipp´ ihn in die Tonne“, Severin nun.

„Uwe, du freust dich zu früh. Mich sperrt keiner ins Gefängnis, da ich generell nur die Wahrheit sage. Wer ist Abschaum? Oliver? Da könntest du recht haben. Der Kerl wurde befördert, weil man in seinem Beisein Lars erschoss. Da wollte er wohl in Zukunft allein abkassieren oder bist du auch daran beteiligt, Uwe? Deswegen wollt ihr Stefan hängen sehen, ihr Heuchler? Passiert nur nie. Erzählt Martin, wie ihr vier loser, bugiardo gegen ihn vorgeht. Elmar spioniert Martin seit Jahren illegal aus. Severin und du rennt zu Doktor Winkler, tischt dem Mann Lügengeschichten auf. Der Gross und ihr drei Kriminellen beabsichtigt die Abteilung zu übernehmen, damit er weiter seinen kriminellen Machenschaften nachgehen kann und er reich dabei wird. Oliver wird nie mit Sina zusammenbleiben. Nie. Er hat sie wochenlang mit drei anderen Frauen und einem Kerl betrogen. Er wird nie auf seine anderen Weibergeschichten und seine Lover verzichten. Macht nämlich einen Mann aus ihm. Dazu würde auffallen, wie er lebt und wohnt. Solche Kriminellen bezeichnen sich als Kriminalbeamte. Eine Schande für die Justiz.“

„Kai, du darfst dich um neun Uhr bei Doktor Seller melden. So nicht! Die schlechteste Entscheidung in meinem langen Berufsleben war, dich in diese Abteilung zu holen. Widmen wir uns …“

Es klopfte und Doktor Winkler kam herein. „Moin, allerseits. Herr Kuhlmann, Sie bekommen Arbeit“, legte er ihm zwei Aktenhefter hin. „Die restlichen Unterlagen werden der Abteilung etwas später zugestellt.“

„Die zwei toten Männer vom Friedhof?“

„Allerdings. Wir gehen von einem Serientäter aus, da beide Männer auf die gleiche Art ermordet wurden. Die Leichen befinden sich im Gerichtsmedizinischen Institut. Sie sollten dazu keine der Damen mitnehmen. Es wurde vor Kurzem übrigens Nummer drei gefunden, deswegen nun unser Eingreifen.“

„Wir haben ja auch sonst keine Arbeit“, murmelte Severin.

„Hier ist jetzt ein zentriertes Vorgehen gefragt und ein Ermittlerteam mit Erfahrung, da man das schnellstens beenden muss. Doktor Mahlow erwartet Sie in einer halben Stunde. Danke und einen schönen Tag.“

„Danke, dito. Doktor Winkler, kann ich es Ihnen gleich hier melden. Herr Razioni hat eben Hauptkommissar Gross als Mann betitelt, der eventuell AIDS habe. Er wäre ein Krimineller. Schaffen Sie mir bitte sofort diesen unangenehmen Menschen vom Hals.“

„Herr Razioni, Sie geben bitte um 9.00 Uhr Dienstmarke und Sonstiges unten ab. Das ist eine Anweisung! Ich werde das umgehend weiterleiten. Sie denken real, Sie kommen immer so davon? Täuschen Sie sich da nicht.“ Er verließ den Raum.

Martin schlug den Hefter auf, las, schaute danach die Fotos an.

„Elmar, du übernimmst die zwei laufenden Fälle zusammen mit Gerd. Kai kann euch dabei die zwei Stunden helfen. Ben, du suchst bitte alles über Torsten Koch heraus. Das Übliche. Befragung der Nachbarn, Freunde, Arbeitgeber. Wir bringen euch die Schlüssel zu seiner Wohnung vom KTI mit. Danach fahren Sven und du zu der Wohnung von Opfer Nummer eins“, schob er ihnen die Akte zu. „Werdet ihr nachher lesen können, was sich davon überschneidet.“

Kurz überflog er Opfer Nummer zwei.

„Bircan und Severin, ihr übernehmt das dito bei Jürgen Ebner. Uwe, wir fahren zum Doc und zum KTI. Katja, beantrage bitte von allen drei Opfern Bank und Telefon, einschließlich Handy, falls das nicht erledigt wurde. Suche uns alles über Karsten Schellack heraus. Adresse findest du in der Akte Ebner und lege gleich eine neue Akte an. Alles andere bespricht Elmar mit euch. Gerd, du denkst bitte an den Aufruf für die Medien. Elmar, sollte ich bis um neun nicht zurück sein, informiere bitte Doktor Seller wegen des Verhaltens von Kai. Richte ihm aus, er soll ihn umgehend aus der Abteilung holen, ihn meinetwegen zum Parkplatz fegen einsetzen. Es reicht! Danke. Kai, du gehst mir für alle Zeit aus dem Weg, falls du wider Erwarten im LKA bleibst. Uwe, fahren wir.“

Kai Razioni blickte ihn nur merkwürdig, ja traurig, an.

„Martin, ich bin nachher kurz bei Doktor Seller. Schade, dass in der 41 niemand mehr die Wahrheit sagen darf. Elmar, Uwe, habt ihr es ja bald geschafft, nur ohne mich“, Gerd nun mit einem Gesichtsausdruck, der all die Abneigung, die er empfand, ausdrückte.

„Gerd, es ist zwecklos“, schickte Sven hinterher.

Kai verließ den Raum, Sven, Bircan, Ben und Gerd folgten.

„Moin, Frank. Du hast drei tote Nackte für uns?“

„Gut gebaute Exemplare waren sie mal. Nu sind sie weniger ansehnlich.“

„Woran gestorben?“

„Strommarken im Nacken und bei Nummer eins zusätzlich am Penis. Erst dann folgend der Schlag auf den Kopf, der zu seinem Tod führte. Bei allen drei Herren identisch, auch das man die Schamhaare wegrasierte. Bei Nummer eins und drei wurden die Achselhaare entfernt. Bei Nummer zwei die Haare an den Beinen, Armen, eine Achselhöhle.“

„Aua, das tut weh.“

„Der Strom oder das rasieren? Woher weißt du das, Uwe?“, grinste der Gerichtsmediziner. „Gehen wir rüber, da liegen sie. Bei dem Toten von heute Morgen sind sie noch am Schnippeln. Todesursache steht aber fest. Da mag jemand keine Männer.“

„Nass oder trocken?“

„Nass ohne Rasierschaum, nur mit Wasser.“

Sie folgten ihm den Flur entlang.

„Kann es eine Frau gewesen sein?“

„Wenn sie gut zuschlagen kann, groß ist, ja.“

Er fuhr eine Bahre unter eine der grellen Deckenfluter, schlug das Tuch weg.

„Koch, Torsten, 31 Jahre alt, war Nummer eins. Zuerst hatte er oder sie den Schocker in seinem Nacken angesetzt, danach wurde ihm die Hose runtergezogen. Nun Schocker an seinen nackten Penis. Er fällt. Sieht man an den Knien, den Handflächen. Er lebte ungefähr noch 10, 15 Minuten, dann der Schlag auf den Kopf. Runder, schwerer Gegenstand. Eisenstange in etwa, so wie der Schädel hinten zertrümmert ist. Todeszeitpunkt 2.30 bis 3.30 Uhr. Nun kommt eines der Besonderheiten.“ Er ging zu der Wand, schaltete Licht an und hängte einige Fotos daran. „So sah der Kopf von hinten aus, als man ihn fand.“

„Sieht wie frisch gekämmt aus.“

„Martin, genau. Der Täter hat die Haare gekämmt, nass gekämmt. Nass von Blut, Gehirnflüssigkeit. Er sollte eine Frisur tragen, die dem Täter gefiel oder so. Er schnitt ihm deswegen die Haare ab, so laienhaft, wie die aussehen.“

„Sag mal, fand man ihn so?“, deutete Martin auf zwei andere Fotos.

„Allerdings. Er wurde malerisch bei der Skulptur, Schicksal von Hugo Lederer, hingelegt. Gefunden wurde er erst am Montag um 8.24 Uhr von Gärtnern oder Mitarbeitern des Friedhofs. Ach so, ermordet Freitag zu Samstag.“

„Malerisch sieht das ja nun nicht gerade aus. Bein komisch angewinkelt, ein Arm ausgestreckt, der andere angewinkelt. Den Mund hatte er so offen?“

„Wurde ihm nach seinem Tod so geöffnet. Waren schon einige Krabbeltiere rein, da er über zwei Tage dort lag.“

„Die anderen Opfer auch?“

„Uwe, auch, aber anders. Immer der Reihe nach.“

Martin nahm eines der Fotos ab, taxierte es. „Weißt du, wie das aussieht?“

„Sagst du mir ja.“

„Diese alten Maler malten früher in solch komischen Haltungen Aktfotos. Wenn ich mich so hinlege, liegt mein Penis aber auf dem rechten Unterschenkel.“

„Martin, nicht nur deiner. Da hat der Täter nachgeholfen. Der Fundort ist nicht der Ort, wo man ihn tötete. War übrigens bei keinem der Opfer. Nun Nummer zwei.“

„Sicher, dass er dort so lange lag?“

„Nein Uwe, habe ich geraten.“

„Entschuldige Frank! Da latschen doch Leute herum, oder nicht?“

„Hat ihn wohl niemand entdeckt.“ Er zog das Tuch weg. „Ihr seht, alles identisch. Ebner, Jürgen, 27 Jahre alt. Dieses Mal hatte er dunkle Haare. Vermutlich deswegen die Rasur an Armen und Beinen. Haare stören sein Gesamtbild. 1.28 Uhr war er in der Gewalt seines Mörders, da seine Uhr da stehen blieb. Keine Strommarke am Penis. Todeszeitpunkt plus 20 Minuten. Aufgefunden 8.53 Uhr, Grabstätte Althamburger Gedächtnisfriedhof von zwei Männern, die dort arbeiteten. Uwe, auch da lag er bereits länger als einen Tag. Ermordet Samstag zum Sonntag. Gefunden Montagmorgen.“

Nun klickte er weitere Fotos an die Wand.

„Die Frisur fast identisch, nur er liegt anders und der Penis ist zwischen seinen Beinen eingeklemmt. Der eine Arm eng am Körper, deswegen nur eine Achselrasur.“

„Er arbeitete dabei effizient, sparte, wo er nur konnte“, Martin amüsiert. „Zeig uns bitte die Bilder von Nummer drei.“

„Alles gleich, bis auf die Posen. Dabei sieht man sein bestes Stück besonders gut. Schellack, Karsten, 34 Jahre. Todeszeitpunkt zwischen 1.30 und 2.30 Uhr, Freitag zum Samstag. Gefunden heute Morgen 7.46 Uhr beim Engel Mausoleum von Peper-Hegel von drei Leutchen des Friedhofs. Auch er gekämmt und die Achseln rasiert, wie ihr seht.“

„Der sieht aus, als wenn er erigiert wäre?“

„Uwe, du sagst es. Nun komme ich zu meiner Hypothese. Euer Täter besitzt Anatomiekenntnisse. Genau platzierte Strommerkmale und ein fast exakt an der gleichen Stelle ausgeführter Schlag. Er hat sich Zeit genommen, war nicht etwa hektisch. Wie man es schafft, bei einem Toten eine postmortale Erektion hervorzurufen, wissen in der Regel nur Mediziner. Studenten oder Ärzte.“

„Dies bedeutete, wenn er sein Opfer entweder vertikal, in hängender Position oder mit dem Gesicht zum Boden gebettet hatte.“

„Uwe, es handelt sich bei dieser Form der Erektion um einen Blutstau, der durch die Schwerkraft des abfließenden Bluts erzeugt wird, welches nicht mehr durch den Blutkreislauf und den Herzdruck im Körper verteilt wird. Das Blut sammelt sich, wie alle frei beweglichen Masseteile, an den niedrigsten Stellen des Körpers an und erzeugt dort Ödeme und Schwellungen, die damit verbundene Verfärbung livor mortis.“

„Kann das eventuell auch von einer Dauererektion herrühren?“, erkundigte sich Uwe, während Martin die Bilder alle genauer betrachtete, jetzt den Kopf schüttelte.

„Unwahrscheinlich wegen der Strommarken. Zeige ich euch gleich an seinem Körper. Priapismus könnt ihr ausschließen.“

„Frank, hat er ejakuliert oder hatten die drei Herren vorher Geschlechtsverkehr?“

„Dreimal nein. Uwe, die Erektion ist nicht zu Lebzeiten entstanden. Die wäre durch den Strom weg gewesen. Da steht nichts mehr. Nach diesem Schlag auf den Kopf kann Mann generell keine mehr bekommen, weil …“

„Frank, warum will ich bei meinem Opfer eine Erektion?“, unterbrach Uwe ihn. „Was macht das für einen Sinn?“

„Ihr seid die Ermittler, ich der Doc, Uwe. Eventuell fand er oder sie, das sieht so netter aus. Eine Art ästhetischer Genuss. Er oder sie hat sich daran aufgegeilt.“

„Guck doch mal, wie er sonst aussieht. Die Arme merkwürdig auseinander. Der Kopf weit nach hinten gedreht, so als wenn jemand nach oben schaut. Wenigstens hat er den Mund nicht so ausladend offen. Ästhetisch sieht bei mir anders aus. Das würde dann mehr zu einer Frau passen.“

„Muss nicht sein. Vielleicht steht er auf Kerle, findet es einfach nur künstlerisch ausdrucksstärker. Uwe, was du als ästhetisch ansiehst, muss nicht zwangsläufig bei jedem Menschen so rüberkommen.“

„So ganz ohne Haare finde ich das nun überhaupt nicht. Kurz geschnitten ist in Ordnung, aber so? Finde ich auch bei Frauen abtörnend. Erinnert mich irgendwie an Kinder, Teenager.“

„Klärt das bitte später. Kann ich Nummer drei so lange angucken“, Martin leicht genervt.

„Gehen wir rüber zu Nummer drei“, löschte Frank Mahlow das Licht an der Wand. „Das ist der Trend der Zeit, Uwe. Obwohl gab es alles schon. Frauen und Männer rasieren sich heute, wenn auch in der Regel nicht so radikal. Du siehst so die Pracht oder nicht Pracht. Ein kleiner Penis wirkt dadurch größer. Zudem ist es für den Partner bei Fellatio oder Deepthroating wesentlich angenehmer, als wenn da überall längere, störrische Haare sind.“ Er öffnete die Tür und sie grüßten.

„Er ist allerdings aufgeschnippelt. Zeige ihnen nur den oberen Teil wegen der Strommarke, Jörg.“

Martin schaute das prägnanter an, während Uwe sich da zurückhielt.

„Frank, hatten sie Drogen, Medikamente, Alkohol intus?“

„Eins und zwei nicht. Bei ihm sitzen wir noch dran.“

Martin hob das Tuch, betrachtete den Körper. „Die Hämatome, älter?“

„Mindestens vier, fünf Tage vor seinem Tod entstanden. Sieht aus, als wenn er gegen einen Gegenstand mit zwei übereinanderliegenden scharfen Kanten gelaufen wäre. Das muss richtig dunkelblau gewesen sein.“

Er legte die Decke beiseite, nahm den Arm etwas hoch. „Ist das ein Leberfleck?“

„Dir entgeht wirklich nichts. Ist es“, lächelte der Gerichtsmediziner.

„Wieso sehe ich den nicht auf dem Foto?“

„Make-up. Die Marke wird von Ahmed genauer erforscht.“

„Wie, er hat dem Opfer das zugepampt, damit man das nicht erkennt?“, fragte Uwe, grinste. „Der hat doch ´ne Macke. Die blauen Flecke auch?“

„Nein, da er darauf lag. Nichts sollte sein Kunstwerk verschandelt.“

„Uwe, du hättest dir die Fotos ansehen sollen“, rügte Martin.

Martin taxierte den Leichnam. Knapp 80 Kilo, 1,85 Meter. Muskulös. „Gab es solche Besonderheiten bei Nummer eins und zwei?“

„Nichts.“

„Wann bekommen wir die Fotos und Auswertungen?“

„Fotos könnt ihr gleich mitnehmen, Martin. Der Rest morgen. Er liegt ja erst kurz bei uns, also hetz nicht. Bei allen drei Opfern kann man davon ausgehen, sie wurden nach der Rasur, der Tötung gewaschen. Es war kein Fleckchen Blut an ihnen zu finden, außer in den Haaren. Anton sucht per Blutanalysen aus den Haaren, ob davon etwas von einem anderen Opfer vorhanden ist. Dauert einige Tage.“

„Zurück zur Antike!“, lästerte Uwe. „Ich war mit meiner Ex in Griechenland. Da findest du überall Figuren, die so aussehen, wie die drei Männer oder an Stelen solche Abbilder. Nur die guckten anders, sahen freundlicher aus, nicht so furchtsam, erschrocken.“

„Ein verkappter Bildhauer mit medizinischen Kenntnissen, der sie nicht in Stein haut, sondern sie mittels lebenden Objekten darstellt? Völlig breesig!“, schüttelte der Gerichtsmediziner den Kopf.

„So in etwa, nur sie waren da schon tot. Er lagerte sie bis zu, nehmen wir an, drei Stunden irgendwo, in der Zeit richtete er sein Opfer nach seinen Vorstellungen her. Geht ja eigentlich nicht, weil, wenn er sie transportierte, verlagern sich seine mühsam hergestellten Posen. Dementsprechend muss er hier erneut anfangen. Wie lange dauert es, bis er abermals eine Versteifung bekam?“

„Meiner Meinung nach war es anders herum, Uwe. Stromschläge, rasieren, töten, waschen, in Folien verpackt ab zum Fundort und dort wird er hergerichtet. Geschädigter Nummer drei legte er bereits so in den Wagen, dass die Erektion während der Fahrt entstand. Er hält in der Nähe des späteren Fundortes, nun beginnt das malerische Aufbahren. Hinlegen, von Neuem frisieren, Arme, Beine platzieren, kleinere Korrekturen vornehmen.“

„Martin, kann ja so nicht gewesen sein. Wie viel Zeit nimmt das in Anspruch, Frank?“

„Woher soll ich das wissen, wann er zufrieden mit seinem Werk war. Gehe von bis zu sechs, sieben Stunden aus.“

„Ich bin nicht gerade schwächlich, nicht klein. Einen 80-Kilo-Mann in ein Auto reinbugsieren, geht ja noch. Ihn dort herausholen, schon etwas schwieriger, zumal ohne erkennbare Kratz- oder Schleifspuren. Ich fahre mit einer Leiche im Auto zum Friedhof-Ohlsdorf. Nehme ich die Zeitspanne zwischen 5.00 und 6.00 Uhr. Da kommt langsam die Dämmerung. Nun suche ich einen ansprechenden Platz, parke. Ich hieve ihn also vorsichtig, sagen wir aus einem Transporter, Van, trage den in Folie verpacken Menschen zu dem späteren Fundort. Sind gewiss immer einige Meter, da die Grabstätten und Skulpturen nun nicht direkt am Straßenrand stehen. Ich bin völlig erledigt. Ich trage ihn auf meinen beiden Armen. Bedingt durch die Folie - rutschig. Die Beine, Arme und sein Hintern hängen runter. Ich platziere ihn und muss nun warten, wie bei Nummer eins und drei, das gerade sein Penis wieder hart, also verursacht durch die Todesstarre oder steif, Erektion, wird. Nun beginne ich, den Toten nett zu postieren. Arm hoch, angewinkelt, Beine leicht gespreizt, geknickt. Ach nein, lieber das linke gebeugt. Penis nach rechts, Penis nach links, Beine doch zusammen. Die Haare sind strubbelig, nochmals kämmen. Mund auf, Mund zu, Kopf nach vorn, Kopf nach hinten, nein doch nach rechts. Zwischendurch beleuchte ich mit der Taschenlampe das Gesamtwerk. Hier und da einige Veränderungen. Das erledige ich alles ganz in Ruhe, hoffe darauf, keiner fährt vorbei?“

„Es ist merkwürdig. Die Männer waren ja nicht dusselig, konnten denken. Sie müssen den Täter ergo gut gekannt haben, sonst hätten sie ihn ja nicht so nah an sich herangelassen, wären mit ihm irgendwohin gefahren. Uwe, dabei sind nur einige Denkfehler. Warum erst um 5.00 Uhr oder später zum Friedhof fahren? Morgens um 8.00. 9.00 Uhr laufen hier gewiss nicht viele Spaziergänger herum. Ich gehe davon aus, er wusste vorher, wo er das Opfer ablegte und er besaß eine Vorstellung, wie der Verstorbene in ungefähr aussehen sollte. Kämmen, rasieren, deutet daraufhin, dazu gehören auch die Posen. Ein Toter kann keine Erektion mehr bekommen, dass nur nebenbei bemerkt. Die Totenstarre bei seinem Penis kann er nie hier liegend erzeugt haben, sondern bereits während des Transports. Er legte den Toten so, dass sich dort das Blut sammelte, wie es Frank vorhin erklärte. Nun vorsichtig zum späteren Fundort mittels Brett, Folie, die man zieht oder Ähnlichem, transportiert. Das Gras ist von der Nachtluft feucht, richtet sich also rasch wieder auf. Die Spuren verschwinden. Ich schiebe nun die Gliedmaßen zurecht. Die Tore öffnen sich gegen eventuell 8.00 Uhr. Ich fahre kurze Zeit später hinaus. Ich bin der Meinung, selbst wenn er erst an einem Samstagmorgen um acht Uhr reinfährt, kann er ziemlich unbehelligt sein Werk vollenden. Wie viele Leute laufen zu dem Zeitpunkt dort entlang? Zehn? Zwanzig? Hantierst du herum, denkt jeder, du machst Grabpflege, betest, redest mit dem Toten oder was man sonst so an Gräbern veranstaltet. Frank, wie viel wogen die Herren? Sie haben doch sonst keinerlei Hautabschürfungen oder Derartiges?“

„Zwischen 74 und 81 Kilo. Genaue Angaben im Bericht. Alle ohne eklatante Abschürfungen, außer bei Opfer eins, da er hinfiel. Knie und Handinnenflächen. Nein, null Flusenreste oder dergleichen. Deswegen vermutlich die Waschungen. Nicht einmal etwas von der jeweiligen Kleidung, außer bei Opfer Nummer zwei. Er hatte von seinen Socken etwas zwischen den Fußzehen. Baumwolle, schwarz, handelsübliches Material.“

„Weißt du, ob man dort Schleifspuren oder Ähnliches fand, Frank?“ Uwe nachdenklich.

„Nichts! Weder etwas von Schuhen, Fasern, Schleifen, Ziehen. Nichts! Ich bin wie Martin der Meinung, die Opfer wurden nicht so getragen, sondern auf einem Brett oder dergleichen. Die Beine, besser Unterschenkel und Arme wurden am Fundort umgelagert. Steht alles im Bericht mit genauen Erläuterungen, warum und wieso. Jungs, ich muss, da ich noch sechs Tote heute erklären muss.“

Er gab ihnen im Büro einen Hefter. „Den Rest am Nachmittag. Die übrigen Beschreibungen müsstet ihr haben oder von der anderen Dienststelle erhalten. Martin, du schnapst auch ihn oder sie.“

„Danke, Frank.“

Sie suchten Doktor Fabian Sprengler im Kriminaltechnischen Institut.

„Moin, Fabian. Kannst du uns die Sachen von den zwei Männern zeigen?“

„Habe schon gehört, dass ihr das bekommt. Da war nicht viel.“

„Keine Kleidung?“

„Nein! Gehen wir nach nebenan, da steht alles. Bekleidung, Schuhe gab es bei keinem, dafür legte der Täter alle Wertgegenstände neben ihn. Geldbörsen, Uhren, eine Kette, Schlüssel. Auf den Fotos gut erkennbar.“

Er öffnete den ersten Karton. „Jürgen Ebner. Ich gebe euch Handschuhe.“

„Hast du die Handynummern?“

„Ist alles auf den Weg zu euch, wie ich von der Dienststelle hörte, außer von Nummer drei. Frühestens morgen mehr.“

Sie schauten die wenigen Gegenstände an.

„Da wollte der Mörder nicht als Dieb dastehen.“

„Martin, so sehen wir das ebenfalls. Es sind an keinen der Dinge fremde Fingerabdrücke. Der Täter oder die Täter ließen nicht eine winzige Spur zurück. Keine DNA. Nichts, auch nichts auf den Opfern. Das wurde alles mit Handschuhen gehandhabt.“

„Keinen Hinweis, wo man sie ermordet hat?“

„Keinen! Geht davon aus, er bettete die Männer auf einer Folie. Sie mussten sich ausziehen, zumindest Koch die Hose runterziehen, bekam da den nächsten Stromstoß. Warum bis zu dem Tode diese kleine Zeitspanne? Vermutung! Er hat die Geschädigten nun erst zu der Stelle verbracht, wo sie später starben. Anschließend wurden sie rasiert, gekämmt und infolge zum Fundort geschafft. Müsst ihr jedoch mit den Berichten vom Doc abgleichen.“

„Fabian, das würde ja bedeuten, dass sich die Herren alle in der näheren Umgebung einer Stelle aufhielten. Die Wohnorte sind völlig unterschiedlich.“

„Genau so sieht es aus. Nur diese Wohnung, die Lokalität zu finden, mehr als schwierig. Er hatte Zeit, den Leichnam irgendwo abzulegen. Es ist wie bei allen Serientätern, es gibt mindestens einen Nenner. Männer, die gut aussahen, die nicht mit den Händen schwere Arbeiten verrichteten. Männer mit einer gewissen finanziellen Sicherheit, wenn ich die Bankkarten, Uhren und Handys dazu nehme. Nun die Wohnungen: Alle gutbürgerlich modern eingerichtet. Kleidung etwas höher als die Mittelschicht. Keiner war fest liiert, aber es gab vermutlich Frauengeschichten, wie man so in den Schlafzimmern sah. Auf Homosexualität deutet nichts hin. Bei allen Opfern die modernsten Geräte vorhanden. Die Notebooks, Tablets werden noch ausgewertet. Fakt ist, du kannst Internetverbindungen, soziale Netzwerke ausschließen. Einer war ein Fotofreak, hatte unzählige Bilder fotografiert. Alles noch mit einer Top-Spiegelreflexkamera und sechs Zooms. Autos gute Mittelklasse: Ein SUV, ein BMW und ein Audi, standen alle in unmittelbarer Nähe der Wohnungen. Ein Grafiker, ein Banker, ein Diplom Ingenieur für Maschinenbau. Der Ebner sammelte Modellautos. Der Koch eben das Knipsen und der Schellack ein Sportfreak. Da bleibt als Gemeinsamkeit nicht viel übrig, außer eine Stammkneipe, ein Treff für … Restaurant, Theater, et cetera. Dort legt sich der Täter auf die Lauer. Sieht er seiner Vorstellung entsprechend ein Objekt, nähert er sich ihnen. Muss ja nicht beim ersten Mal gleich zuschlagen.“

„Gut, nur Fabian, wer geht abends allein ins Theater, Oper, Restaurant, selbst Kneipe? Macht man vielleicht bei einer Stammkneipe um die Ecke, aber ansonsten?“

„Er war mit jemand verabredet? Nämlich dem Mörder, Uwe. Fakt ist, in den Wohnungen wurden sie nicht ermordet. In den Autos von Nummer eins und zwei auf der Beifahrerseite alle möglichen DNA-Spuren und Fingerabdrücke. Gefahren jedoch wurden sie nur von den Besitzern. Keine verwischen Fingerabdrücke.“

„Taxi.“

„Uwe, muss nicht sein. Der Mörder holte sein späteres Opfer ab, eben weil er vorher Kontakt geknüpft hatte. Hallo Karsten, hast du Lust, ein Bier mit mir trinken zu gehen? Ich hole dich ab. Oder: Ich habe ja heute Geburtstag. Wir feiern. Komm doch rum. Da gibt es zig Möglichkeiten. Seht euch die Fundorte an. Drei meiner Leute sind noch in Ohlsdorf.“

„Wurde in den Wohnungen etwas entwendet?“

„Nein, hieß es. Fragt das eure Vorgänger.“

„Es könnte aber sein, dass der Täter in der jeweiligen Wohnung war?“

„Uwe, wenn, dann mit Handschuhen. Eins und zwei keinerlei Übereinstimmung von DNA, Fingerabdrücken. Drei folgt erst. Geht davon aus, er war nicht in den Wohnungen. Wäre er dort erschienen, hätte er Handschuhe tragen müssen. Wäre dem Wohnungsinhaber aufgefallen. Ebner wohnte in der vierten Etage ohne Fahrstuhl. Schlepp du den Mann dort herunter, ohne dass man etwas hört.“

„Fabian, können wir bitte die Wohnungsschlüssel bekommen?“, lenkte Martin ab.

„Ja, da wir bei Nummer eins und zwei fertig sind. Beide sind allerdings noch versiegelt. Die dritte Wohnung, Schellack, ruft an, wann ihr so weit seid. Kommen zwei Leute hin. Dort waren sie nur kurz gucken, versiegelten diese.“

Nun fuhren sie zu dem Friedhof nach Ohlsdorf, der als der größte Parkfriedhof der Welt gilt. Am Eingang stieg Uwe aus, las die Öffnungszeiten: „8.00 bis 18.00 Uhr. Wie kam er da hinein?“

„Müssen wir nachfragen, ob da geforscht wurde. Eventuell verschließen sie nicht alle Tore, falls es überhaupt überall welche gibt. Nun wissen wir, er konnte ganz in Ruhe an seinem Opfer ausprobieren, wie er für ihn gut zur Geltung kommt. Dafür hatte er fünf Stunden Zeit. Suchen wir die Kollegen von der Spusi.“

Das Terrain glich wirklich in weiten Teilen mehr einer Parkanlage, als einem Friedhof. Nur in gewissen Bereichen erkannte man das. Es gab unzählige alte Bäume, weite Grasanlagen. Jetzt sah alles eher trostlos aus, da der Frühling noch keinen Einzug gehalten hatte.

„Im Sommer muss es hier toll aussehen.“

„Warst du noch nie hier?“

„Nein. Ich hörte nur davon.“

„Hier sollen es an die 450 Laub- und Nadelholzarten geben. Dazu reichlich Teiche und Bäche, die mit Enten, Schwänen und anderen Wasservögeln bestückt sind. Es ist Hamburgs größte Parkanlage.“

„Kann sich da jeder beisetzen lassen oder nur Prominente und Leute mit Geld?“

„Jeder, unabhängig von Wohnort und Konfession. Keine Ahnung, ob es hier teurer ist, als woanders. Es gibt so gewisse Bereiche: Ehrengräber der Polizei, eingeweiht 1923 nach den Oktoberunruhen, bei denen 14 Beamte ihr Leben lassen mussten. Die Anlage trägt den Namen Revier Blutbuche und ist nach dem Baum benannt, der im Mittelpunkt des Rondells wächst. Es gibt einen Soldatenfriedhof, einen für Widerstandskämpfer, für die Feuerwehr, einen Platz nur für Frauen. Im Kolumbarium in der renovierten Kapelle acht werden Urnen in oberirdischen Nischen beigesetzt. Der Trend zu Grabstätten ohne zusätzliche Grabpflege ist Grund für diese Beisetzungsform. Keine Kenntnisse, was noch alles.“

Nach langem Suchen fanden sie die Mitarbeiter der Spurensuche bei einem Mausoleum.

„Wow! Das sieht ja wie so ein altes griechisches Denkmal aus“, stellte Uwe fest. „Wer liegt da?“

„Vorhin unser drittes Opfer. Moin, Klaas. Wo lag er?“

„Moin. Vor dem Engel auf der ersten Stufe. Da findest du nichts, kein Blut, keine Flusen, nur Material von dem Toten. Er lag richtig nett zu der Skulptur passend aufgebettet. Sie suchen noch im Umkreis, aber werden nichts finden. “

„Netter Ort“, schaute sich Uwe um, nun den Engel betrachtete. „Nur warum hat er nicht den vorderen Bau genommen? Hätte er nicht so weit schleppen müssen.“

„Frage ihn, wenn wir ihn schnappen. Weißt du, wo die anderen beiden Exemplare?“

„Müsst ihr nachlesen, wie die Stätten heißen. Irgendetwas mit Schicksal und Althamburger.“

„Irgendwie hat der Täter einen Kunstfimmel“, stellte Uwe fest.

„Du meinst wegen der Engel oder wie er sie aufbahrte?“

„Beides! Klaas, er schleppt die nett zurechtgelegt neben einen Engel. Breesig, oder?“

„Uwe, er legte sie ab. Erst danach begann er, vor Ort, sein Werk zu formen. Sollte er sie gleich verbuddeln?“

„Warum nicht? Hätte man sie nicht so fix gefunden. Gibt es eigentlich auch männliche Engel?“

„Du stehst gerade vor einem.“

„Woran erkenne ich das?“, taxierte er die Marmorskulptur, strich mit den Fingern darüber.

„Hört mit der Plänkelei auf. Habt ihr an diesen ganzen Gemäuern nachgesehen, ob man die Opfer dort ermordet hat?“

„Martin, da sitzen wir Monate dran. Es geht anders herum. Ihr findet das Gemäuer, ruft an, wir kommen, sagen ja, ist ihr Blut oder sucht weiter. So geht das.“

„Habt ihr die Zugänge überprüft?“

„Alle unversehrt sagen sie.“

„Guckt mal. Da laufen sie gerade mit einem Sarg. Die Männer sehen ja neckisch aus.“

„Uwe, das ist ein Friedhof und kein Theater. Ein bisschen mehr ernst, ja.“

„Hört ja niemand. Wie ist das eigentlich? Eine Familie kauft so einige Quadratmeter, lässt da so ein Gemäuer hinstellen. Nun stirbt der Erbauer, seine Kinder, Enkel. Die werden alle hier beigesetzt? Wie viele Generationen kann man da verbuddeln?“

„Fragst du bei der Verwaltung nach“, schüttelte Martin den Kopf.

„Jemand stirbt, kommt hier irgendwo hin, bis er beerdigt wird. Vermutlich ein altes Gemäuer, eine Halle oder so.“

„Uwe, du suchst nach dem Blut und rufst bei uns an, wenn du es gefunden hast. Diese Anlage ist groß. Theoretisch könnte er ihn überall ermordet haben, selbst ohne Gemäuer. Hier ist nachts niemand. Brüllte er, hörte es keiner, außer Hasen, Vögel oder sonstige Viecher. Nein, wir suchen das Gelände nicht ab.“

Der Hauptkommissar lachte. „Daran dachte ich auch nicht. Wir benötigen einen Plan von dem Gelände und die Namen der hier Angestellten. Entweder ist der Täter jemand, der einen Schlüssel besitzt oder sie verschließen abends die Tore nicht.“

„Oder er hat einen Schlüssel gestohlen.“

„Hätte man doch erwähnt, oder?“

„Uwe, wir fahren, bevor noch mehr Spekulationen kommen. Schauen wir uns die beiden anderen Stellen kurz an, danach Verwaltung, wo du alles anfordern kannst.“

„Ich finde, solche alten Gemäuer, Stelen, Figuren haben ja was. Irgendwie besitze ich ein Faible dafür.“

„Du solltest dich dann genauer umsehen. Da gibt es viele davon, teilweise von namhaften Künstlern.“

Sie schauten sich am Fundort von Thomas Koch um.

„Mann, ist das Teil hässlich. Eine halb nackte Domina mit zwei Sklaven.“

„Schicksalsgöttin oder so, die den Menschen Benehmen beibringen will“, grinste Martin.

„Die zwei Gestalten neben ihr sehen aus, als wenn man sie gleich hinrichten wollte. Sehen tut man hier nicht einmal mehr, wo er gelegen hat. Der Täter hat ja nach jedem Mord reichlich zu tun. Blut und Bartstoppeln beziehungsweise Haare wegwischen, Kamm und Rasierer reinigen. Kleidung entsorgen: dreimal komplette Männergarderobe.“

„Auf was willst du hinaus, Uwe?“

„Ist ja nicht gerade ein kleiner Berg. Da ist eine Mülltonne fix voll. Eventuell bringt uns das weiter. Als wir vorhin reingefahren sind, standen vorn Container. Bio, Papier, Reste, Plastik. An der Kleidung finden sie vermutlich etwas für uns Verwertbares.“

„Wir müssen generell zur Verwaltung. Kläre das da. Nun noch der dritte Fundort.“

„Martin, was ist heute mit dir los?“, erkundigte sich der Hauptkommissar, als sie im Auto saßen.

„Keine Ahnung! Mir schwirren Oliver und Sina durch den Kopf. Ich meckerte ihn vorhin ziemlich blöd an, entschuldigte mich danach bei ihm. Es geht mich ja nichts an, was wer in seinem Privatleben tut. Ich verstehe nur Sina nicht, dass sie das nicht bereits vor Monaten innerhalb der Familie aufklärte, Oliver keinen reinen Wein einschenkte. Dass sie das nun zuerst in der Abteilung ausposaunte, meiner Meinung nach, der falsche Weg. Erst Eltern, folgend Oliver und erst dann die Kollegen.“

„Wusstest du das vorher nicht?“

„Nein, da ich ihr dann gesagt hätte, sage es deinen Eltern, Oliver.“

„Ich kenne ihren Vater nur flüchtig. Wie nimmt er das auf?“

„Normalerweise ist er ein ruhiger, besonnener Mann. Nur geht es um die Tochter … Er mochte Oliver eigentlich gut leiden, das änderte sich erst nach diesem Schlamassel, den er bei uns anrichtete, so wie bei vielen Kollegen. Ich weiß es nicht. Ich denke, zunächst wütend, so wie Oliver.“

„In einem Lokal wird er ja wohl nicht ausrasten. Entweder geht er sofort oder sie sprechen sich aus. Das mit dem Restaurant war eine gute Idee. Man muss sich einfach benehmen, kann weder brüllen, keifen noch handgreiflich werden. Ich, an Ollis Stelle, wäre stinksauer auf Sina. Ich lerne jemand kennen und sie belügt mich gleich am Anfang über Monate. Geht gar nicht meiner Meinung nach. Beim zweiten, dritten Treffen sollte man da die Karten auf den Tisch legen. Finde ich fairer.“

„Ich dito! Trotzdem wird Sina deswegen nicht gelogen, es höchstens verschwiegen haben. Nur hätte sie es ihm erzählt, da hätte er von sich aus das Gespräch mit Dieter gesucht, egal ob es ihr passte oder nicht. Ich vermute, genau das wollte sie vermeiden.“

„Wie lange wollte sie denn noch diese Vogel-Strauß-Methode betreiben? Es gibt Kollegen im Haus, die sie zusammen sahen. Da musste sie doch damit rechnen, dass das herumgetratscht wird.“

„Eventuell wollte sie abwarten, ob daraus mehr wird. Da hat sie heute Abend den Kopf voll, die Gemüter zu besänftigen. Hier müsste es sein“, hielt Martin an und sie stiegen aus.

„Grabstätte Althamburger also ohne Engel. Hat der Mörder einen religiösen Fimmel?“

„Könnte sein oder einen für Friedhöfe, die Antike.“

„Er hat auf jeden Fall eine Schraube locker und er macht sich viel Arbeit mit seinem Opfer.“

„Eher halbherzig, siehe das sparsame Rasieren. Fahren wir hinüber und fragen dort nach“, deutete Martin zu dem entfernt stehenden Gebäude.

„Sieht auch altertümlich aus. Wie lange gibt es diesen Friedhof?“

„Keine Ahnung. Hundert Jahre oder so.“

Er parkte direkt vor dem Gebäude und sofort kam eine ältere Frau heraus, da hier Parken verboten sei. Er solle seinen Wagen dort abstellen, deutete sie etwas entfernter hin, rückte an ihrer randlosen Brille.

„LKA“, gingen sie auf das Portal zu. „Wir suchen jemand, der uns Auskünfte geben kann.“

„Kommen Sie bitte mit. Es ist ja alles so schrecklich. Dass man die Toten so ablegt, ist pietätlos, da man da den offiziellen Weg einhält.“ Sie betraten ein Büro. „Warten Sie bitte, da ich Sie anmelden muss.“

Schien eine energische Dame zu sein, musterte Martin die Frau. Sie trug ein elegantes, dunkelblaues Kostüm mit passenden Pumps. Sah gut und besonders passend seriös aus.

Sie telefonierte und bedankte sich. „Doktor Krüger kommt gleich. Bitte nehmen Sie Platz. Auf unserem Friedhof ist so etwas noch nie vorgefallen. Die Besucher bekommen ja einen Schreck, wenn sie solche Meldungen hören. 136 Jahre gab es keinerlei Vorfälle. Der Friedhof wurde am 1. Juli 1877 eingeweiht. Es gibt hier 235.000 Grabstätten und es fanden über 1,4 Millionen Beisetzungen statt. Zwischen 1896 und 1905 wurde gegenüber dem Haupteingang der Althamburgische Gedächtnisfriedhof, damals unter dem Namen Ehrenfriedhof, angelegt“, deutete sie aus dem Fenster. „Seine Struktur ist die des Parterres eines Barockgartens mit symmetrisch angeordneter Wegführung und säulenförmig geschnittenen Eiben. Die Gärtner arbeiten da sorgfältig, damit dass alles sauber beschnitten ist. Oberhalb des Gartens an unserer Treppenanlage steht eine große, gut sichtbare Christusstatue aus weißem Marmor. Sie ist ein Werk des Bildhauers Xaver Arnold und wurde 1905 von dem Reeder Friedrich Wencke gestiftet. Er starb im gleichen Jahr mit 63 Jahren. Die hätten Sie sich ansehen müssen. Sie ist wirklich beeindruckend“ klang es vorwurfsvoll. „Unser Ehrenfriedhof gilt als stadtgeschichtliches Gedächtnis Hamburgs, da hier Menschen beerdigt wurden, deren Wirken für unser Hamburg bedeutsam war. Insbesondere in den ersten Jahren seines Bestehens wurden bedeutende Persönlichkeiten von den aufgelösten alten Friedhöfen hierher umgebettet, in den 60er Jahren kamen die Überreste von den Friedhöfen in Hamm und in Wandsbek hinzu. Seit 1998 betten wir Personen, deren Ruhezeit in ihren ursprünglichen Grabstätten abgelaufen ist, zum Ehrenfriedhof um. Die Ruhezeit für diese Gräber im öffentlichen Interesse ist nämlich unbeschränkt, müssen Sie wissen. Die Grabmale sind entlang der Wegachsen nach Berufs- und Bedeutungsgruppen angeordnet, dabei handelt es sich um 74 Sammelgräber, zum Beispiel für Bürgermeister, Senatoren, Juristen, Pastoren der Hauptkirchen, Dichter und Schriftsteller, Musiker, Schauspieler, Lehrer, Kaufleuten. Es gibt sechs Familiengräber, so für die Familie Anderson und Rodenborg, natürlich ...“

Die Tür öffnete sich und sie nickte. „Die Herren sind von der Polizei, Landeskriminalamt.“

„LKA. Kuhlmann und Hauptkommissar Siegel. Doktor Krüger, wir haben einige Fragen und die betreffen nicht die Gestaltung der Anlage, noch irgendwelche Bäume, obwohl das lehrreich sein kann. Kompliment an Frau Kramer.“

Er schmunzelte. „Begleiten Sie mich.“

„Der Tote heute wurde vor Arbeitsbeginn gefunden. Warum?“

„Die drei Mitarbeiter können Sie befragen, da sie noch im Haus sind. Mich hat man nur informiert. Ich wiederum rief sofort Ihre Kollegen.“

„Es gibt ja mehrere Zufahrten. Wann werden die Tore geöffnet?“

„Sieben. Zwischen 7.45 Uhr und 8.00 Uhr. Das erledigen unterschiedliche Mitarbeiter. Ich fragte bereits überall nach, aber die Tore waren alle verschlossen, wie man mir versicherte.“

„Trotzdem muss jemand hereingekommen sein, um die Leichen zu deponieren.“

„Ich weiß, Herr Siegel. Gerade der heutige Fall ist uns unerklärlich. Frau Kramer, die Dame, die Sie eben über die Anlage sehr umfangreich informierte, hat um 7.45 Uhr aufgeschlossen. Sie ist hier stets die Erste. Sie hätte vermutlich einen Herzanfall bekommen, wäre das Tor nicht verschlossen gewesen. Einer der Arbeiter, der als Erstes nach ihr erscheint, öffnet die zwei Flügel. Wäre hier ein Auto entlang gefahren, sehe sie es garantiert. Ihr entgeht nichts.“

„Wer verfügt zu diesen Toren über einen Schlüssel?“

Er öffnete eine Tür, ließ sie eintreten und deutete auf eine Sitzecke. „Nehmen Sie Platz. Die Namen schrieben wir bereits bei dem ersten Fall auf“, ging er zu seinem Schreibtisch und holte eine Kladde. „Hier sind die Namen, wer einen Schlüssel hat, dazu eine Liste aller Mitarbeiter. Die Personen sind seit vielen Jahren hier beschäftigt. Kein Schlüssel wurde jemals verloren.“

„Danke. Ist in letzter Zeit jemand ausgeschieden?“, überflog Martin die Namen. Oh Mann, waren das viele Angestellte.

„Ja, einige Herren im letzten Jahr. Sie hatten das verdiente Rentenalter erreicht.“

„Doktor Krüger, uns ist aufgefallen, dass vorn Abfallcontainer stehen. Wann werden die geleert?“, fragte Uwe.

„Die Biocontainer unterschiedlich, da wir die Inhalte hier weiterverarbeiten. Die anderen werden wöchentlich geleert.“

„Sind einem Mitarbeiter da zufällig Kleidungsstücke darin aufgefallen?“

„Nein! Jedenfalls wurde mir davon nichts gemeldet. Normalweise benutzen sie diese auch nicht.“

„Gibt es an jedem Eingang, solche Container?“

„Ja! Bedingt durch die Größe der Anlage, gehen Besucher überall rein und raus, können so den Müll dort entsorgen. Momentan wird die Parkanlage weniger besucht, als in den wärmeren Monaten. Es stehen überall auch da Abfallbehälter, die dann morgens von den Mitarbeitern geleert werden. Die Beutel werfen sie folgend in die Container.“

„Doktor Krüger, sagen Ihnen die Namen Torsten Koch, Jürgen Ebner und Karsten Schellack etwas?“, lenkte Martin von dem Thema ab. Der Mann schien darüber amüsiert und er verwarf das generell. Der Täter arbeitete akribisch, da war er nicht so dusselig, hier wegzuwerfen.

„Nein! Jedenfalls momentan nicht. Sind das die Opfer?“

„Ja. Können Sie bitte nachsehen lassen, ob auf dem Friedhof Menschen mit den Namen Koch, Ebner und Schellack beerdigt wurden?“

„Natürlich. Frau Kramer kann Ihnen das heraussuchen. Gerade bei dem Namen Koch wird es höchstwahrscheinlich mehrere Personen geben.“

„Können wir mit den Mitarbeitern sprechen, die die Opfer fanden?“

„Ich lasse die Herren kommen. Drei sind im Gebäude. Ich führe Sie hin.“

Sie verließen das Büro. „Wissen Sie, warum der Tote vor acht Uhr gefunden wurde?“

„Um acht Uhr wollte man beginnen, die Bäume zu beschneiden. Die Herren wollten vorher nochmals überprüfen, ob alle markiert wurden.“

„Ist so etwas üblich?“

„Ja, Herr Kuhlmann. Teilweise fangen gerade jetzt zum Beginn der Frühlingszeit die Mitarbeiter früher an zu arbeiten, damit man an Stellen, wo viele Besucher sich aufhalten, die notwendigen Arbeiten ungestört erledigen kann. Es ist für die Angestellten leichter und die Besucher werden nicht gestört. Nein, an den Tagen, wo man diese bedauernswerten Männer fand, war niemand so früh auf dem Gelände. Es beginnt erst jetzt allmählich mit dem Beschneiden von Bäumen, dem Anpflanzen von Blumen. Die Spuren des Winters sind bereits beseitigt. Nun allmählich ist die geruhsame Zeit für die Gartenmitarbeiter vorbei.“

Alle sieben Männer sagten aus, wie sie die drei Toten fanden. Obwohl sie den Umgang mit dem Tod gewöhnt waren, so bekamen sie trotzdem einen Schock. Mehr wussten sie nicht. Martin und Uwe fuhren die Container ab, aber nirgends fanden sie Kleidung.

„Frau Kramer erinnerte mich an meine Oma. Mir gefallen solche Leutchen. Ich musste nur fast lachen, als sie sagte, es wäre pietätlos, die Toten einfach so abzulegen.“

„Eine sehr resolute Dame, mit einem distinguierten Auftreten. Uwe, so empfindet sie es. Man geht selbst mit ermordeten Personen ordentlich um, legt sie nicht nackt irgendwo hin. Wie die Dame äußerte - pietätlos.“

Im Büro reichte ihm Sina die Angaben zu dem letzten Opfer. Die Eltern wohnten in Dresden. Dort war er auch geboren. Er hatte in Hamburg studiert, wohnte dort. Ansonsten war er sauber. Eine Tante wohnte noch in Hamburg.

„Sina, suche bitte die Vermisstenmeldungen durch. Die Opfer wurden ja nicht gleich entdeckt, sondern erst ein, zwei Tage später. Danke.“ „Uwe, fahren wir zuerst in seine Wohnung, dann Arbeitgeber und zum Schluss die Tante. Sina, frage bitte die Kollegen in Dresden, was die Eltern erzählten. Sind die Bank- und Verbindungsnachweise beantragt?“

„Erledigt.“

„Elmar, wo sind die anderen?“

„Unterwegs, außer Kai. Er futtert, trinkt Kaffee, telefonierte einige Male, rennt durchs Haus, tratscht herum. Alles ist so schlimm, weil er ja morgens seinen Kaffee allein kochen musste. Er wollte nämlich seine Alessia ausschlafen lassen, der tolle Familienvater. Jetzt wird er bei Doktor Seller sein, vermute ich. Sagte ihm, er solle gefälligst arbeiten. Seine Antwort, seit wann hast du Blödmann mir was zu sagen? Mensch, suche dir eine andere Abteilung, wo du dich aufspielen kannst. Vielleicht kannst du ja bei der Schwuchtel unterkommen. Der nimmt jeden Idioten. Martin und ich brauchen dich gewiss nicht. Also quatsch mich nicht voll, sonst sage ich Martin, wie du dich hier aufspielst.“

„Der Kerl ist widerlich, wie der wieder über mich hergezogen ist“, pflichtete Sina Elmar grinsend bei. „Der war richtig gemein zu uns, hat wieder über Oliver hergezogen, Elmar blöd angequatscht.“

„Warum war das nun so lustig?“, fragte Martin.

„Wieso lustig?“

Uwe kam ihr schnell zur Hilfe. „Sina, reg dich nicht auf. Wie sehen den Gangster ja nicht wieder. Den werden sie generell bald wegsperren.“

„Hoffentlich für lange“, pflichtete sie ihm bei. „Der ist ja so gemein.“

„Das hat ein Nachspiel. So nicht.“ Er griff zu Elmars Telefon, wählte. Er meldete den neuen Vorfall. „Doktor Seller, falls er sich bei Ihnen meldet, sagen Sie ihm bitte, ich will ihn hier nicht mehr sehen. Er soll seinen persönlichen Krempel abholen und Tschüss. Keiner möchte mehr seine Unverschämtheiten, die Lügen hören.“ „Mir egal! Soll er den Parkplatz fegen oder was weiß ich.“ „Danke, Doktor Seller“, stellte er das Telefon nachdenklich zurück.

„Elmar, er hat sich dort noch nicht gemeldet. Kommt er, rufst du bitte Doktor Seller an, damit er ihn abholen lässt. Er soll sofort seine Jacke und was er sonst hier liegen hat, mitnehmen. So nicht. Ich bin nur froh, dass bei uns jetzt endlich Ruhe einkehrt. Uwe, fahren wir. Elmar, hier sind die Schlüssel für die zwei Wohnungen. Ich lege Sie Sven und Bircan hin. Rufe bitte Fabian an, dass wir auf dem Weg zu der Wohnung sind. Danke.“

Ein hübscher Neubaukomplex war es. Martin zog Handschuhe an, schloss den Briefkasten auf, entnahm die Post. Werbung, eine Telekomrechnung ohne Verbindungsnachweis und die Abrechnung der Hausverwaltung für die Nebenkosten.

Eine großzügig geschnittene Dreizimmerwohnung fanden sie vor. Bevor sie die Wohnung betraten, kamen noch die Plastiktüten zum Einsatz, wie Martin die weißen Überschuhe nannte.

Gleich im ersten Raum rechts hing ein Rennrad an der Wand, ein Heimtrainer stand da, neben einer Hantelbank. Gegenüber eine hypermoderne Küche. Daran folgend Ess-Wohnzimmer und das Schlafzimmer mit Bad.

„Sieht nett aus“, stellte Uwe fest. „Ob er hier so ordentlich geputzt hat?“

„So wie er aussah, gab es bestimmt ein weibliches Wesen, welche das für ihn erledigte. Schauen wir im Telefon nach, finden wir vermutlich schneller Nummern, als auf die Telefonlisten zu warten.“

Uwe notierte die Nummern, während er in die Küche ging. Wie fast immer blickte er zuerst in den Kühl- und Gefrierschrank. Da lag nichts, obwohl er da neben Schmuck, Geld, wichtige Dokumente gefunden hatte. Nur wenig Müll war im Eimer. In der Spülmaschine zwei Gläser, Besteck. Er holte Beutel, steckte alles da hinein. Nun der Weinschrank. Da lagerten kleine Kostbarkeiten, wie er beim Lesen der Etiketten feststellte. Sonst fand er nichts.

„Er hat gern Rockmusik gehört.“

„Ist etwas auf dem AB?“

„Der war ausgeschaltet. Der letzte Anruf von seiner Mutter vor 14 Tagen.“

Nun das Sideboard. „Hier liegen unzählige Fotos von Frauen.“ Er drehte die Bilder um. „Eine heißt Anita und eine andere Babs. Auf einen bestimmten Typ stand er nicht. Mal braun, mal rot, mal blond.“

„Hat er sie nur für Sex mitgenommen, ist das ja auch egal. Du guckst so komisch. Etwas entdeckt oder grübelst du?“

„Ich denke immer noch über die Worte vom Doc nach.“

„Was meinst du? Dass es eine Frau gewesen sein könnte?“

„Nein, mit dem Rasieren.“

„Wieso, was war da? Etwas Relevantes?“, erkundigte sich Martin verblüfft, schaute dabei die Fotos an, las, was man hinten drauf geschrieben hatte.

„Allerdings! Für dich nicht?“

Er guckte kurz irritiert zu Uwe. „Keine Ahnung, was du meinst. Überhörte ich vermutlich.“

„Na das rasieren.“

„Ich finde es persönlich normal. Macht jeder, wie es ihm gefällt. Wo ist da ein Problem? Du entfernst dir eventuell auch die Achselhaare“, ging Martin zu dem Regal, schaute hinter den Büchern kurz nach.

„Im Sommer ja. Der Rest, nein.“

„Arme und Beine eher atypisch. Nur manche Männer entfernen sich sogar die Brusthaare.“

„Habe ich nicht allzu viele. Nur an den Schamhaaren herumschnippeln?“

„Warum nicht? Hängt vermutlich teilweise von den Frauen ab, die man hat. Eine stört es, die andere nicht. Hier liegt eine Karte von einem Fitnessstudio. Nehmen wir mit.“

„Rasierst du dich überall oder schnippelst herum?“

Martin zog ein Fotoalbum heraus, blätterte, schaute die Fotos an. „Ja, außer Armen, Beinen, Brust. Fällt bei mir im Sommer generell nicht auf, da ich sehr fix braun werde. Im Winter sieht es niemand außer meiner Familie. Wäre ich der Typ, der über eine sehr starke Behaarung verfügt, hätte ich mir die bereits vor Jahren richtig entfernen lassen. Meine Oma mochte das nie, hätte mich beziehungsweise meinen Bruder dazu überredet. Sie war ein absoluter Kosmetikfreak, ohne diesen ganzen Schminkkram allerdings. Sie hat uns da schon als Teenager auf den richtigen Pfad geführt. Männer müssen sich auch pflegen, eincremen und so weiter.“

„Wie deine Oma hat gesagt, schneide deine Schamhaare ab?“

Martin lachte. „Das nun nicht. Das kam bei mir, da ich mir einfach Gedanken darüber machte. Welcher Mann mag bei Frauen, wenn sie zu sehr behaart sind? Vermutlich wenige. Warum also nicht umgekehrt genauso? Hier sind nur Familienfotos drinnen“, stellte er das Album zurück.

„Sportfreak und Chips? Wie passt das zusammen“, hielt Uwe eine Tüte hoch.

„Da kenne ich eine Menge Leute, die sich erst mit Chips und Schokolade vollstopfen, dann gehen sie joggen, um die Kalorien wieder wegzubekommen.“

„Breesig, sei ehrlich.“

„Finde ich generell. Ernähre ich mich einigermaßen ausgewogen, selbst wenn man gelegentlich mal über die Stränge schlägt, muss ich weder durch die Gegend rennen, noch werde ich dick. Muss ja nun nicht jeden Tag fettige Pommes, Hamburger und all so ein Zeugs in mich reinstopfen. Pappt nur den Magen zu, macht dick und von Schmecken kann man generell nicht reden. Nur unwichtiger Kram liegt hier drinnen.“

„Ich esse gern einen Burger. Gucke ich, ob ich etwas im Schlafzimmer entdecke.“

Zwei Mitarbeiter der Spurensicherungen erschienen, begannen nun die akribische Arbeit.

Nach zwei Stunden nahmen sie drei Aktenordner mit. Gefunden hatten sie sonst nichts wirklich Wichtiges. Ein ganz normales Leben, aber doch schon ein wenig höher angesiedelt.

„Fragen wir die Nachbarn.“

Auch das ergab nichts. Alle beschrieben ihn als höflichen, netten Nachbarn. Nein, keine lauten Partys. Ja einige Frauen seien schon dort erschienen. Alles völlig normal. Vom Sehen kannte man Freunde, die öfter zu Besuch kamen, aber keiner wusste, wie sie hießen.

„War ja ein Reinfall. Klingt alles ganz normal.“

Bei dem Arbeitgeber erfuhren sie nichts Nachteiliges. Beliebt bei den Kollegen, stets zuverlässig, viel gearbeitet, freundlich, hilfsbereit. Über sein Privatleben hieß es: Einer, der nichts anbrennen ließ. Heiraten wollte er nie, da man auch so zusammenleben könnte. Mit vierzig wollte er, falls er die passende Frau dazu fand, ein Kind zeugen. Einige Kollegen gingen zuweilen abends mit ihm ein Bier trinken. Seine Freunde kannte niemand. Er erzählte nur bisweilen, dass er mit zwei Kumpels dies oder jenes unternommen hätte. Einer davon besaß eine kleine Jolle und da waren sie in den warmen Monaten oft auf dem Wasser. Namen kannte keiner.

„Viel gebracht hat uns das nicht.“

„Fahren wir zu der Tante. Eventuell weiß sie ja mehr.“

Eine Villa in Blankenese war die Adresse.

„Hier steht nur von Stein auf der Klingel.“

„Probieren wir es trotzdem. Eventuell haben sie von Frau Walther eine neue Adresse.“

Sie öffneten das alte, teilweise verrostete Tor, welches leise quietschte und gingen zu der Villa.

„Sieht alles ein wenig vergammelt aus.“

„Renovierungsbedürftig. Entweder ist da das Geld knapp oder die Leute stört es nicht.“

Eine ältere Frau in einem Rollstuhl erwartete sie, dahinter stand eine weitere Frau. Martin zeige den Ausweis, stellte Uwe und sich vor.

„Was wollen Sie?“, herrschte die Frau im Rollstuhl sie an.

„Kennen Sie Herrn Karsten Schellack?“

„Der Neffe meiner Zofe“, deutete sie auf die Frau, die hinter ihr stand.

„Wir würden gern mit Ihnen sprechen, Frau Walther? Dürfen wir hereinkommen?“

Die Frau rollte ein wenig beiseite. „Sagen Sie Marie, so wie wir alle. Kommen Sie mit ins Wohnzimmer.“

„Frau von Stein, wir verfügen über Benehmen und reden Personen korrekt mit dem Nachnamen an.“ Er nickte Uwe zu. „Geh bitte mit der Dame in einen anderen Raum.“

„Sie muss bei mir bleiben“, zeterte sie sofort.

„Jetzt nicht!“

„Aber beeilen Sie sich!“

„Nein, in diesem Fall haben Sie nichts zu melden, Frau von Stein, sonst nennt man es Behinderung von Ermittlungsarbeiten. Sie kannten Herrn Schellack?“

„Schieben Sie mich, wenn Sie mir schon mein Personal wegholen“, kommandierte sie.

„Schaffen Sie allein! Beantworten Sie meine Frage.“

„Also, ich bitte Sie. Solche Leute kennt man nicht, man gibt ihnen Arbeit“, erwiderte sie arrogant, deutete auf eine Sitzecke, die schon bessere Zeit erlebt hatte. Die Farben ausgeblichen, der Stoff an einigen Stellen bereits dünn. Er guckte sich kurz um. So sah hier alles aus. Alt und verwohnt.

„Sie gaben ihm Arbeit?“, erkundigte sich Martin erstaunt.

„Ja, aber der hörte im August plötzlich auf.“

„Einfach so, von heute auf morgen?“

„Ja, so etwas Undankbares. Asoziale eben.“

„Was für Arbeiten waren das?“

„Der sollte meine Parkanlage in Ordnung halten. Marie schafft das nie, da die nur herumtrödelt.“

„Ist Frau Walther die einzige Angestellte?“

„Ja natürlich. Ein bisschen putzen, mein Haus säubern, kochen, Wäsche waschen, einkaufen und mich ordentlich versorgen dauert ja nun nicht Stunden.“

„Lebt Frau Walther hier?“

„Selbstverständlich! Die hat oben ein Zimmer, da ich ja auch nachts Hilfe benötige.“

„Wie viele Damen beschäftigen Sie für Ihre Pflege, den Haushalt, sonstige Arbeiten rund um die Uhr?“

„Nur Marie. Sagte ich doch! Das reicht ja.“

„Wie viel verdient Frau Walther mit diesem Job?“

„Die hat freie Kost und Logis, dazu ein großzügiges Taschengeld“, empörte sie sich. „Wurde so alles in einem Arbeitsvertrag festgehalten. Personal mit all den Nebenkosten ist wirklich teuer.“

„Eine Summe können Sie ja gewiss benennen? Man sagt außerdem nicht die oder der. Sollte eine Frau von Stein eigentlich wissen.“

„Eben viel Geld.“

„Wie oft kam Diplom-Ingenieur Schellack in dieses Haus?“

„Das ist kein Haus, sondern die von-Stein-Villa“, wurde sie lauter.

„Ein Haus, welches eher heruntergekommen aussieht. Ersparen Sie mir Ihr blasiertes Auftreten und beantworten Sie meine Frage.“

„Alle zwei Wochen samstags. Da sollte der Rasen mähen und den Park in Ordnung bringen, weil Marie das nie ordentlich erledigt. Sonst hätte ich diesen Asozialen nie auf meinen Grundbesitz gelassen.“

„Sollte die Dame auch noch machen? Durfte sie ab und an ein wenig schlafen, mal ausruhen, weggehen?“

„Dafür wurde die von mir eingestellt.“

„Sagen Sie einfach, ich beute die Dame aus. Welchen Lohn bekam er dafür?“

„Nichts. Der hat letztendlich nur seiner Tante geholfen, durfte sich auf meinem Grundbesitz aufhalten. Ein unangenehmer Mensch, dieser Asoziale.“

„Warum?“

„Der erlaubte sich, mich zu kritisieren, wurde dabei laut. Geschafft hat der nie sein Pensum. Meine Anweisungen ignorierte der Kerl, ging nach ein paar Stunden, obwohl nichts getan war. Wie lange dauert das noch? Marie muss schließlich arbeiten.“

„Wer wohnt noch in diesem baufälligen Gemäuer?“

Sie schnappte nach Luft. „Niemand! Ich werde mich über Sie beschweren.“

„Tun Sie das. Es ist verboten 24 Stunden eine Dame zu beschäftigen, ihr keinen Lohn zu zahlen. Die Behörden werden sich deswegen mit Ihnen in Verbindung setzen. Die Zeit der Sklaverei ist lange vorbei. Besitzen Sie kein Geld, Angestellte angemessen zu bezahlen, können Sie kein Personal einstellen. Da müssen sich allein versorgen oder in eine entsprechende Einrichtung gehen. Man sollte die Nase nur hochrecken, wenn man sich das leisten kann, aber nicht, wenn man nur von alten, maroden Dingen umgeben ist. Die Bezeichnung Asozialer, dazu noch für einen Diplom-Ingenieur, ist übrigens strafbar; nicht gezahlte Personalkosten – Betrug.“

Sie guckte ihn beleidigt an, rollte zu der Terrassentür. Martin verließ den Raum, schaute sich ein wenig um. Die Holztreppe abgetreten, teilweise fehlten kleinere Holzteile. Die Wände waren seit Jahrzehnten nicht getüncht worden. Ober an der Decke sah man breite Risse. Er öffnete eine Tür und blickte in die Küche: uralt, aber sehr sauber. Er hörte Stimmen von oben und wartete in der Diele auf Uwe und Frau Walther, die geweint hatte, wie man sah.

„Diese Stein ist ein Drachen, obwohl es Frau Walther alles schön reden wollte. Stell dir mal vor, die Frau arbeitete sieben Tage in der Woche, rund um die Uhr und kriegt dafür nichts. Null Cent, weil sie im Haus wohnt und dort isst. Karsten kündigte vor einigen Wochen für sie, da er etwas anderes gefunden hatte. Eine Stelle, wo sie auch wohnen kann, aber nur sechs Stunden die Hausarbeit erledigen muss. Zusätzlich verdient sie da Geld. Die Stein sei völlig ausgeflippt. Am Donnerstag ist ihr letzter Tag bei der Stein. Die hat vorhin noch zu ihr gesagt, du bleibst, gehst nie hier weg. Karsten ein netter Junge, fleißig, lieb. Was er sonst jedoch so machte, mit wem er befreundet war, wusste sie nicht. Du hättest das Zimmerchen sehen sollen. Ein Bett, ein Stuhl, ein Schrank, der fast zusammenfällt, eine kleine Kommode, darauf eine Waschschüssel. Duschen darf sie nur am Sonntag. Dass es so etwas heute noch gibt, hätte ich nicht gedacht.“

„Diese hochnäsige Adlige ist so was von blasiert. Die spielt sich auf, wie im Mittelalter irgendwelche Fürsten. Überall steht nur alter, kaputter, vergammelter Plunder, aber Nase hochrecken. Sie will sich über mich beschweren, nur weil sie die Wahrheit nicht verträgt.“

Im Büro brühte er einen Kaffee, gab den Namen Gundula von Stein ein. Sieh einer an, amüsierte er sich, eine geborene Schmitt. Er verstarb vor vierzehn Jahren bei einem Autounfall. Sie seitdem anscheinend an den Rollstuhl gebunden. Ein Sohn, der allerdings in der Hamburger Innenstadt gemeldet war. Er griff zum Telefon, aber der Mann war nicht daheim.

„Sina, lade bitte Wilfried von Stein für Donnerstag zur Zeugenvernehmung vor“, rief er nach vorn, nannte die Adresse.

„Mit dem Drachen verwandt?“, wollte Uwe wissen.

„Der Sohn. Sina danach erkundige dich bitte bei der Rentenversicherung, ob in den letzten Jahren, seit dem 1. Oktober 2008, für Marie Walther Beiträge gezahlt wurden, wo sie krankenversichert war und ist. Adresse gibt dir Uwe.“

„Du willst der eine reinwürgen“, lachte Uwe.

„Ich würge nie jemand etwas rein, wie du es ausdrückst, sorge lediglich dafür, dass Gesetze eingehalten werden. Sklavenhandel fand ich schon in der Schule gemein, als wir die Staaten durchnahmen. Ich hole mir gleich die Ordner von Schellack. Telefonier bitte die Nummern von seinem Festnetzanschluss ab. Die müssen alle vernommen werden.“

Es klopfte vorn und ein Bediensteter brachte ihm zwei Kartons. „Für Sie, Herr Kuhlmann.“

„Danke. Stellen Sie es vorn ab.“

Er stand auf, guckte in den obersten Karton. „Unterlagen Jürgen Ebner. Wird der darunter von Torsten Koch sein.“ Er stellte den unteren Karton neben Svens Schreibtisch, den anderen zu Bircan.

„Sina, schaue bitte hinein, ob Telefon und Bank dabei sind.“

Er nahm die drei Ordner von Karsten Schellack mit, setzte sich an den Schreibtisch und überflog Nummer eins. Versicherungen, keine Lebensversicherung, Mietvertrag, Arbeitsvertrag, Rentenversicherungsbescheinigungen, Zeugnisse. War fix erledigt. Nummer zwei Rechnungen: Er gab viel Geld aus. Klamotten, Fitnessgeräte, Frauensachen, Größe 42. Komisch, die Damen auf den Bildern sahen alle wesentlich … Für die Tante. Ansonsten der übliche Kram. Telefonrechnungen ohne Einzelverbindungsnachweis. Es folgte ein Trennblatt und dahinter diverse Briefe an die nette Stein. Er forderte ein angemessenes Gehalt, Urlaubstage, so wie in dem Arbeitsvertrag aufgeführt. In einem anderen Schreiben ging es um nicht gezahlte Krankenkassenbeiträge. Seine Tante musste die Arztkosten für einen gebrochenen Fuß selber zahlen. Das wäre im Übrigen ein Arbeitsunfall und er würde das melden. So folgten sieben weitere Schreiben, schließlich die Kündigung und die Ankündigung, man gehe vor das Arbeitsgericht. Ganz hinter lag der Arbeitsvertrag seiner Tante. Las sich ja nett, nur der war anscheinend nicht das Papier wert, auf dem er gedruckt war. Dieser Drachen hatte die Frau nicht nur ausgebeutet, sondern vermutlich auch unter Druck gesetzt, falls das so stimmte, wie es in den Schreiben stand. Daran zweifelte er jedoch nicht.

Er gab Marie Walther ein. Sie war verwitwet. Keine Einträge und … kein Bankkonto. Er griff zum Telefon, druckte nebenbei das Blatt aus. „Martin. Moin, Hans. Ich habe Arbeit für euch. Nur ein kleiner Fisch. Schwarzarbeit, keine gezahlte Krankenversicherung, vermutlich keine Rentenversicherung, dafür Arbeit rund um die Uhr. Dazu gibt es diverse Briefe.“ „Bringe ich euch gleich rüber. Danke.“

Er wartete, bis er die Auskunft von der Rentenanstalt bekam.

„Sina, Herr von Stein ist bis auf die Zeugenvernehmung erledigt.“

Nun ging er drei Etagen tiefer.

„Moin, allerseits. Hans, hier sind die Unterlagen. Da wurde eine Witwe nach dem Tod des Mannes auf das Schändlichste über fünf Jahre ausgebeutet. Der Neffe hatte nun gekündigt. Er wurde tot aufgefunden. Ich vermute, diese hochnäsige von Stein wird das jetzt sofort benutzen, die Frau unter Druck zu setzen, damit sie bleibt. Ein Drachen, diese Person. Blasiert, impertinent. Ihre Villa und ihr Park, wie sie es nennt, ein baufälliges altes Gemäuer. Innen und außen alles heruntergekommen.“

„Ist ja Pipifax und erledigt Kukas gleich. Zwei Tage und der Fall ist erledigt. Das wird für die von Stein teuer, dazu gibt es ein Verfahren. Solche Weiber liebe ich.“

„Sie sitzt im Rollstuhl. Keine Ahnung, was sie hat.“

„Holen wir alles ein. Weißt du, warum der Neffe ermordet wurde?“

„Vermutlich ein Serientäter.“

„Die nackten Männer?“

„Ja, er ist einer davon. Weißt du schon, wen du jetzt für die drei fehlenden Kollegen bekommst?“

„Wieso drei?“