Das Juwel – Der Schwarze Schlüssel - Amy Ewing - E-Book

Das Juwel – Der Schwarze Schlüssel E-Book

Amy Ewing

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Beschreibung

Violet Lasting kehrt ins Juwel zurück – die Entscheidung. Der dritte Teil des dystopischen Fantasy-Bestsellers ›Das Juwel‹ von Amy Ewing. Violet und der Geheimbund Der Schwarze Schlüssel bereiten einen Angriff auf den Adel vor, und Violet soll eine zentrale Rolle dabei spielen. Sie muss die jungen Frauen anführen, die die Auktion manipulieren und die Mauern der Einzigen Stadt zum Einstürzen bringen sollen. Doch Violet ist hin- und hergerissen. Ihre Schwester Hazel ist im Palast der Herzogin vom See gefangen. Um ihre Schwester zu retten, muss sie ihre Freunde und die gute Sache im Stich lassen und in das Juwel zurückkehren.

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Seitenzahl: 368

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Amy Ewing

Das Juwel

Der Schwarze Schlüssel

Aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]1234567891011121314151617181920212223242526272829Dank

Für Faetra,

du fehlst mir an jedem Tag

1

Wenn es regnet, stinkt es gewaltig im Sumpf.

Raven und ich kauern uns unter einen verkümmerten Baum vor der Außenmauer der Verwahranstalt Southgate. Dicke Tropfen prasseln auf die Kapuzen unserer Mäntel und durchweichen den grob gewebten Stoff. Der Regen verwandelt den festgetretenen Boden unter unseren Füßen in weichen Matsch, der an unseren Stiefeln klebt.

Es stört mich nicht. Am liebsten würde ich die Kapuze nach hinten schieben und das Nass über meine Wangen laufen lassen. Ich möchte mich mit dem Wasser vereinen und spüren, wie ich in Millionen kleinen Tröpfchen vom Himmel falle. Doch jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um mich mit einem Element zu verbinden. Wir haben etwas zu erledigen.

Seit Hazel vor ein paar Monaten bei meiner Mutter abgeholt wurde, sind wir nun schon zum dritten Mal in Southgate. Da man das Datum der Auktion von Oktober auf April vorverlegt hat, sind die Mitglieder des Geheimbunds vom Schwarzen Schlüssel – der von Lucien angeführten Rebellengruppe der Einzigen Stadt – geradezu über sich hinausgewachsen, um mehr Unterstützer für ihre Sache zu gewinnen, Waffen und Sprengstoff zu sammeln und die Stützpunkte des Adels in den äußeren Kreisen zu unterwandern.

Doch das alles nützt nichts, wenn die Adeligen sich weiter hinter der dicken Mauer verschanzen können, die das Juwel umgibt. Da kommen wir ins Spiel. Wir Surrogate sind stärker, wenn wir zusammenarbeiten; wir brauchen jedes verfügbare Mädchen, um den mächtigen Wall zum Einsturz zu bringen. Um den wichtigsten Schutz des Adels zu zerstören und dem Volk Zugang zum Juwel zu verschaffen.

Gemeinsam mit den anderen Surrogaten, die Lucien aus den Palästen gerettet hat – Sienna, Olive und Indi –, sind Raven und ich in allen vier Verwahranstalten gewesen. Am schlimmsten war es in Northgate: nur Steinböden und kaltes Eisen, trostlose Uniformen und keine persönlichen Gegenstände. Kein Wunder, dass Sienna es hasste. Sie wollte nicht dorthin zurück, aber wir brauchen ein Surrogat, das sich vor Ort auskennt und dem die Mädchen vertrauen.

Jedes Mal haben wir einigen erklärt, was sie in Wirklichkeit sind, haben ihnen geholfen, Zugang zu den Elementen zu finden, und sie zu mehr als Surrogaten gemacht. Raven hat eine einzigartige, unerklärliche Gabe: Sie kann sich an einen besonderen Ort begeben, auf eine Klippe über dem Meer, und andere dorthin mitnehmen. Es ist ein magischer, traumähnlicher Fleck, wo Mädchen wie wir uns instinktiv mit den Elementen verbinden. In den letzten Monaten war ich so oft dort, dass ich es nicht mehr zählen kann.

Wir müssen uns genau überlegen, wen wir auswählen. Es dürfen nur Mädchen sein, die bei der nächsten Auktion versteigert werden und deshalb mit den Zügen ins Juwel fahren werden. Lucien hat uns die Listen besorgt.

Die Anstalt Southgate besitzt keinen Geheimzugang wie beispielsweise Ashs Gefährtenheim, dafür patrouillieren dort auch keine Soldaten. Southgate ist eine Festung inmitten von Lehmbaracken. Der Sumpf ist noch trostloser, als ich ihn in Erinnerung hatte. Der Schwefelgeruch des allgegenwärtigen Matsches, die wenigen dürren Bäume, die verfallenen Häuser … Alles schreit Armut auf eine Weise, die ich erst verstand, als ich ins Juwel kam.

Selbst im Schlot und in der Farm ist es nicht so schlimm wie hier. Die Ungerechtigkeit ist wie ein Schlag ins Gesicht. Ein großer Teil der Bevölkerung der Einzigen Stadt lebt in erbärmlichen Verhältnissen, doch niemanden interessiert es. Schlimmer noch: Es weiß so gut wie keiner. Was ahnen die Bewohner der besseren Kreise wie der Bank oder des Schlots vom Sumpf? Für sie ist es ein ferner Ort, wo die Menschen wohnen, die ihre Kohle schaufeln, ihre Küchen putzen oder an ihren Webstühlen arbeiten. Eine unwirkliche Welt.

»In Southgate sind nur noch drei Mädchen, denen wir die Elemente zeigen müssen«, sagt Raven. »In ein paar Tagen ist noch mal Westgate dran.«

Sie hat sich die Haare erneut kurz geschnitten, und in ihren Augen lodert ein schwarzes Feuer. Noch ist sie nicht ganz die Raven, die im letzten Oktober die Verwahranstalt mit mir verließ, um zur Auktion zu fahren, aber sie ist auch nicht mehr die leere Hülle, die sie durch die Folter der Gräfin vom Stein geworden war, als ich sie aus dem Juwel rettete. Ravens Zustand liegt irgendwo dazwischen. Die Zeit, in der sie im Palast vom Stein in einem Käfig im Verlies saß, verursacht ihr noch immer Albträume. Sie kann bis heute hören, was andere Menschen denken und fühlen – »Geflüster« nennt sie es –, eine Folge der vielen Operationen, die der Arzt der Gräfin an ihrem Gehirn durchführte.

Aber ihr Lachen ist wieder da, und ihr Witz, besonders wenn sie mit Garnet spricht. Jeden Tag trainiert Raven mit Ash und kräftigt ihren ehemals zerbrechlichen Körper. Sie ist stark und drahtig geworden.

Nun schaut sie hinauf zu der riesigen Außenmauer. Hinüberzuklettern kam nie in Frage. Der Stein ist spiegelglatt und bietet keine Vorsprünge oder Risse, um sich festzuhalten. Stundenlang haben wir mit Sil am Esstisch gesessen und überlegt, wie wir am besten in die Verwahranstalten gelangen. Am Ende war es Sienna, die die rettende Idee hatte. Da wir nicht über die Mauer steigen und nicht durch sie hindurchgehen können (jedenfalls nicht, ohne höchst unerwünschte Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen), müssen wir sie unterwandern.

In den letzten Monaten ist die Macht der Elemente in mir stärker geworden. Auch Sienna hat an Kraft gewonnen, ebenso wie Indi, das Surrogat von Westgate. Sienna kann sich mit Erde und Feuer verbinden, Indi nur mit Wasser. Bisher hat kein anderes Surrogat außer Sil und mir die Fähigkeit, alle vier Elemente zu beeinflussen. Olive, der kleine Krauskopf von Eastgate, ist die Einzige, die sich »ihrer« Elemente Luft und Wasser noch sehr zaghaft bedient. Außer ihr haben alle aufgehört, die Auspizien anzuwenden. Und in der Weißen Rose weiß auch nur Olive Gutes über den Adel zu sagen.

Doch im Moment sind Olive, Indi, Sienna und Sil weit entfernt in dem roten Bauernhaus aus Backstein, das zu meiner neuen Heimat geworden ist. Wahrscheinlich schlafen sie bereits, eingemummelt in ihre warmen Betten, geschützt inmitten des wilden Walds, der die Weiße Rose umgibt.

»Violet?«, fragt Raven.

Ich nicke. »Bin so weit.« Ich schließe die Augen.

Verbindung zur Erde aufzunehmen ist so einfach, wie in eine warme Wanne zu gleiten. Ich selbst werde zur Erde; ich gestatte dem Element, mich auszufüllen, bis ich eins mit ihm bin. Ich spüre die Schichten unter meinen Füßen und eine Schwere in der Brust. Ich muss den Boden unter mir nur bitten, schon reagiert er.

Grabe, denke ich.

Die Erde im Sumpf ist anders als in der Farm: karg, schwer, unfruchtbar. Vor uns tut sich ein Riss auf, der trommelnde Regen dämpft das berstende Geräusch. In Gedanken arbeite ich mich weiter vor, bitte den Boden zu weichen; es geht tiefer, immer tiefer, bis ich auf eine weiche braune Schicht stoße. Problemlos kann ich einen Tunnel graben; bereitwillig erfüllt die Erde meinen Wunsch. Als ich auf Stein stoße, habe ich das Fundament der Außenmauer erreicht. Ich treibe meine Gedanken weiter voran. Die Mauer ist dick; ich muss darauf achten, tief genug vorzudringen.

Es ist ein wirklich sonderbares Gefühl, den Tunnel so deutlich zu spüren und gleichzeitig weit oben zu stehen. Als hätte ich ein zusätzliches Augenpaar tief unten, zwei Hände, Ohren und eine Nase mehr. Vielleicht geht es Raven ja so ähnlich, wenn sie das Geflüster hört und neben ihren eigenen Gedanken die eines Fremden im Kopf hat. Dann habe ich es geschafft: Über mir sind nur noch Licht und Erde. Mein Tunnel steigt an, gemeinsam mit dem Boden arbeite ich mich vor, bis ich mit einem leise brechenden Geräusch die Kruste durchstoße und im Innenhof an die Oberfläche komme, hinter der Mauer.

Ich löse meine Verbindung zum Element und öffne die Augen.

Skeptisch betrachtet Raven mich. »Du siehst seltsam aus, wenn du das machst, weißt du das?«

»Ash findet mein Gesicht dabei schön. Es sieht so andächtig aus, sagt er.«

Raven verdreht die Augen. »Ash findet alles an dir schön.«

Von den Menschen, die wir in der Weißen Rose zurückgelassen haben, ist Ash wahrscheinlich der Einzige, der jetzt nicht schläft. Obwohl wir schon mehrmals in allen vier Verwahranstalten gewesen sind, macht er sich ständig Sorgen. Ich sehe ihn vor mir, wie er auf unserem Heuboden liegt und zu den Ritzen im Dach hochschaut, wie er sich fragt, wo wir sind, ob wir es geschafft haben und wann wir nach Haus kommen.

Aber ich darf jetzt nicht an Ash denken, sondern muss mich auf das vor mir Liegende konzentrieren. Ich spähe hinunter in den dunklen Tunnel.

»Komm!«, sage ich zu Raven.

Er ist schmal, gerade breit genug, um uns hintereinander durchzulassen. Sich an den Wänden festzuhalten ist unmöglich; Raven und ich rutschen einfach nach unten, bis wir die Sohle erreichen.

Wir befinden uns ungefähr drei Meter unter der Mauer. Eine Minute lang sind wir umgeben von absoluter Dunkelheit, dann gelangen wir auf die andere Seite und schauen nach oben, in Richtung Innenhof. Es ist, als wäre er meilenweit entfernt.

Wir krabbeln hoch und kommen hinter der Mauer aus, verdreckt und atemlos.

Hier lauert die wirkliche Gefahr. Draußen, auf den Straßen des Sumpfs, würde uns niemand erkennen, höchstens unsere engsten Angehörigen. Alle anderen haben uns seit unserem zwölften Lebensjahr nicht mehr gesehen. Ravens Familie wohnt weit im Osten, meine im Westen, nur noch meine Mutter ist übrig. Mein Bruder Ocker ist inzwischen Mitglied des Geheimbunds und arbeitet in der Farm. Meine Schwester Hazel wurde von der Herzogin vom See entführt, als Ersatz für mich.

Nein, ich darf jetzt nicht an Hazel denken. Ich kann es mir nicht leisten, unkonzentriert zu sein. Schließlich tue ich das alles für sie. Um sie zu retten. Um die Surrogate zu befreien.

Dennoch ist es unmöglich, sich keine Sorgen zu machen. Lucien hat gesagt, die Herzogin hätte mit dem Fürsten eine Vereinbarung getroffen. Sie wollen ihre Kinder miteinander verloben. Der Sohn des Fürsten und die zukünftige Tochter der Herzogin sollen verheiratet werden. Angeblich ist ihr Surrogat – meine Schwester Hazel – schwanger.

Wenn das stimmt, ist Hazel bald tot.

Nein. Ich schüttele den Kopf und werfe Raven einen kurzen Blick zu. Als ich sie im Dezember aus dem Juwel rettete, war sie auch schwanger. Sie hat überlebt. Und das wird Hazel auch. Dafür werde ich sorgen.

Doch jetzt darf ich nur an die vor mir liegende Aufgabe denken.

Düster ragt das Gebäude vor uns auf, ein dunkler Klotz im Regen. Es sieht kleiner aus, als es sich zu meiner Zeit anfühlte, aber das liegt wahrscheinlich daran, dass ich mich an die gewaltigen Paläste des Juwels gewöhnt habe. Außerdem ist Southgate die kleinste Verwahranstalt. Im Vergleich dazu ist Northgate riesig. Selbst Westgate und Eastgate sind größer. Westgate ist von einem weitläufigen Garten umgeben und hat einen Wintergarten in der Mitte. Eigentlich ganz hübsch.

»Komm!«, flüstert Raven. Wir schleichen um den Erdhügel herum, den ich aus dem Tunnel gehoben habe – ich werde ihn beseitigen, wenn wir verschwinden –, und begeben uns zum Treibhaus.

Das Glashaus schimmert im Regen. Wir huschen hinein und schlagen unsere Kapuzen zurück. Raven schüttelt ihr Haar aus und sieht sich um.

»Sind wir zu früh?«

Ich hole Ashs Taschenuhr hervor. Dreißig Sekunden vor Mitternacht. »Die kommen bestimmt gleich«, sage ich. Es ist warm im Gewächshaus, schwer liegt der Geruch des Wachsens in der Luft, von Erde, Wurzeln und Blumen. Sanft klopft der Regen aufs Glas. Raven und ich warten.

Um fünf Sekunden nach zwölf kann ich mehrere verhüllte Gestalten im Innenhof ausmachen. Die Tür fliegt auf, und die Mädchen, auf die wir gewartet haben, stürmen herein.

»Violet!«, flüstern einige von ihnen und begrüßen Raven und mich.

Amber Lockring tritt vor, schiebt die Kapuze ihres Umhangs nach hinten und sagt mit leuchtenden Augen: »Auf die Minute pünktlich.« Sie grinst.

»Genau genommen fünf Sekunden zu spät«, bemerkt Raven.

Obwohl Amber damals auf der gleichen Etage wohnte, war sie keine Freundin von uns. Raven hat mir mal erzählt, dass Amber an meinem ersten Tag in Southgate sagte, ich sei geisteskrank, worauf Raven ihr den Arm auf den Rücken drehte, bis Amber sich entschuldigte. Danach ging nichts mehr zwischen ihnen. Als wir die Liste mit den Mädchen für die Auktion bekamen, entschied sich Raven dennoch, Amber als Erste in unser Geheimnis einzuweihen. Ich fragte sie nach dem Grund, und sie kniff die Augen zusammen und sagte: »Amber hasst den Adel genauso wie ich. Und sie war das einzige Mädchen in unserem Haus außer mir, das Hosen trug.«

Ich musste lächeln. Wenn die beiden sich nicht so gehasst hätten, wären sie vielleicht Freundinnen geworden.

»Hast du die anderen mitgebracht?«, frage ich Amber.

Stolz weist sie auf die Gestalten, die sich in der Tür drängen: drei Mädchen, in deren Gesichtern Angst und Argwohn geschrieben stehen. »Umbra, Ginger und Henna. Das sind die Letzten. Wir kommen alle zur Auktion.«

Ich zähle kurz durch. Nur neun der siebenundsiebzig Mädchen, die dieses Jahr versteigert werden, stammen aus Southgate. Sie stehen nun vor mir.

»Hat euch jemand gesehen?«, fragt Raven.

Amber schnaubt verächtlich. »Natürlich nicht. Ich kenne mich doch aus.«

»Super«, sage ich.

»Bereit?«, murmelt Raven mir zu.

Ich trete vor.

Es ist Zeit, diesen Mädchen zu zeigen, wer sie wirklich sind.

2

Bevor ich die Möglichkeit habe, etwas zu sagen, werde ich gebremst.

»Violet … was …?« Ginger starrt mich an. Sie ist das älteste der drei neuen Mädchen, hat breite Schultern und rotblonde Haare. »Was machst du hier?« Ihr Blick huscht zu Amber hinüber. »Was macht Violet hier? Ich habe dir doch gesagt, dass ich keinen Ärger haben will!«

»Hör auf zu jammern«, gibt Amber zurück. »Wir haben dich aus einem bestimmten Grund ausgewählt. Willst du ihn nicht wissen?«

Amber ist mir ein wenig zu nassforsch, aber es war sehr klug, sie als Erste einzuweihen. Keine will sich mit ihr anlegen, und sie weiß genau, wie sie mit den anderen umgehen muss.

»Bist du nicht eigentlich im Juwel?«, fragt Umbra mich. Sie ist fünfzehn und hat große Rehaugen, die ihr halbes Gesicht einzunehmen scheinen.

»Ja«, antworte ich, »aber jetzt bin ich hier, um euch zu helfen.«

»Uns helfen?«, fragt Henna, klein und zierlich, mit rotbrauner Haut und schwarzen Locken. Irgendwie erinnert sie mich an Hazel. Es sticht mir ins Herz. Henna ist nicht verängstigt oder verstört, sondern neugierig. »Wie denn?«

»Wirst du schon sehen«, erwidert eine hübsche Rothaarige namens Scarlet und legt den Arm um sie. »Das ist unglaublich.«

»Wir haben geübt«, erklärt Amber. »Scarlet hat vorletzte Nacht einen Strudel in der Badewanne gemacht. Ich hab einen kleinen Wirbelsturm auf meiner Handfläche geschaffen, so wie du, als du das erste Mal hier warst.«

»Klasse!«, lobe ich, und gleichzeitig fragt Ginger:

»Was hat Scarlet gemacht?«

»Lass dich bloß nicht erwischen!«, mahnt Raven.

Amber wirft ihr einen selbstsicheren Blick zu. »Wir sind vorsichtig.«

Ich hätte gedacht, dass es gefährlich ist, wenn so viele junge Mädchen gleichzeitig Kontakt mit den Elementen aufnehmen. Doch es hat sich herausgestellt, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Als Erstes fiel es mir bei Indi und Olive auf. Anders als ich, nachdem ich es erstmals erfolgreich versucht hatte, fielen sie anschließend nicht in einen unruhigen Schlaf, in dem sie unbewusst schlimme Dinge auslösten. Vielleicht weil Sienna, Sil und ich dabei waren. Es ist, als wären die Elemente umso leichter zu kontrollieren, je mehr von uns zusammen sind. Als würden wir uns gegenseitig erden.

Zum Glück! Sonst hätte es passieren können, dass eins der Mädchen im Schlaf aus Versehen ihr Wohnheimzimmer demoliert. Das hätte man den Betreuerinnen nur schwer erklären können.

»Also gut, was ist hier los?« Ginger verschränkt die Arme vor der Brust. »Wie seid ihr überhaupt hierhergekommen? Warum seid ihr nicht im Juwel? Warum habt ihr uns mitten in der Nacht aus dem Bett geholt?«

»Ich wusste genau, dass sie die Schlimmste ist«, murmelt Amber. Raven muss grinsen.

Ich hole tief Luft und beginne zu erzählen. Diese Geschichte habe ich schon etliche Male wiederholt, inzwischen bin ich sehr geübt in der Wiedergabe. Ich schildere den Mädchen, was es bedeutet, ein Surrogat im Juwel zu sein, berichte von den Halsbändern, der Reizpistole, der Demütigung, vor den Adeligen auftreten zu müssen. Dass wir wie Gegenstände oder Haustiere behandelt werden. Ich erzähle von Dahlia, die von der Herzogin vom See aus purer Bosheit umgebracht wurde. Ich berichte von Raven, die auf Befehl der Gräfin vom Stein am Gehirn operiert wurde. An diesem Punkt meines Vortrags beugt sich meine Freundin immer vor.

»Man kann sie fühlen«, sagt sie und gibt Ginger ein Zeichen, ihre Kopfhaut zu berühren.

»Was?«, fragt Ginger.

»Die Narben.«

Ravens Schädel ist übersät mit Narben. Nach nur kurzem Tasten zieht Ginger ihre Hand zurück.

»Violet hat mir das Leben gerettet«, sagt Raven mit ausdrucksloser Stimme. Sie greift in die Tasche ihres Mantels und holt Fotos hervor. Diesen Teil mag ich am wenigsten. »Sonst wäre ich so geendet wie diese Mädchen. Euch wird es ebenso ergehen, wenn ihr bei der Auktion versteigert werdet.«

Ich richte den Blick auf eine Locke an Hennas Schläfe, denn ich hasse diese Fotos. Als Raven sich erbot, sie für mich herumzuzeigen, war ich ihr sehr dankbar. Sie wusste wohl, wie sehr sie mich jedes Mal verstören.

Die Bilder zeigen vier tote Mädchen mit blauen Lippen, geschlossenen Augen und wächserner Haut. Ihre Brustkörbe sind tief v-förmig eingeschnitten. Lucien hat mir erzählt, dass gelegentlich Obduktionen durchgeführt werden, wenn ein Arzt besonderes Interesse daran hat. Nicht, um die Todesursache festzustellen – die ist hinlänglich bekannt. Nein, man will wissen, wie wir von innen aussehen. Weil wir anders sind.

Henna hält die Luft an. Umbra wendet den Blick ab. Ginger beugt sich vor.

»Sind die … sind die echt?«, fragt sie.

»Ist das Salvia?« Henna keucht. Auf jedem Foto ist ein Mädchen aus einer anderen Anstalt zu sehen. Salvia wurde bei der Auktion vor meiner verkauft.

Ravens und mein Gesichtsausdruck sagen ihr alles, was sie wissen muss. Erschrocken macht Ginger einen Schritt zurück.

»Sie haben gesagt, der Adel würde für uns sorgen«, sagt sie. »Patienza meinte …«

»Patienza lügt«, unterbreche ich sie.

»So endet jedes Surrogat, das je versteigert wurde«, sagt Raven. »Wir sterben spätestens beim Gebären eines Kindes, falls uns nicht vorher ein anderes Adelshaus um die Ecke bringt. Aber jetzt haben wir zum ersten Mal in unserer Geschichte die Möglichkeit, daran etwas zu ändern.«

Ich berühre Ravens Schulter. »Tu die Bilder weg«, sage ich. »Sie haben es verstanden.«

Umbra blinzelt ihre Tränen zurück. »Aber warum? Wir helfen denen doch. Tragen ihre Kinder aus. Warum wollen sie unseren Tod?«

»Dass wir sterben, ist lediglich ein Nebeneffekt«, erkläre ich. »Folge der unnatürlichen Schwangerschaft. Wir wissen nicht genau, warum das Austragen eines adeligen Kindes zum Tode führt. Vielleicht liegt es an den Auspizien. Oder aber unser Körper ist nicht dazu bestimmt, ein Kind auszutragen, das nicht unseres ist. Egal, für den Adel sind wir nur Mittel zum Zweck. Dort betrachtet man uns nicht als Menschen. Im Juwel haben wir keinen Namen. Unsere Meinung ist egal. Aber«, fahre ich fort, »es gibt Personen in dieser Stadt, die einen Wandel wollen. Personen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um die Macht des Adels über uns zu brechen. Warum sind die einzelnen Kreise der Stadt durch Mauern voneinander getrennt? Warum wird uns vorgeschrieben, was wir aus unserem Leben machen sollen, wo wir arbeiten, wie viel wir verdienen? Warum können wir nicht selbst bestimmen, wie wir leben?«

»Im Übrigen sind die Surrogate nicht die Einzigen, die wie Dreck behandelt werden«, fügt Raven hinzu. »Die ganze Stadt wird vom Adel unterdrückt.«

»Stellt euch vor, was wir erreichen können, wenn wir alle zusammenhalten!«, sage ich.

»Entschuldige bitte!« Henna hebt die Hand, als wäre sie in der Schule. »Du hast gesagt, wir hätten endlich die Möglichkeit, etwas daran zu ändern. Aber … wir sind hier eingeschlossen und werden von Betreuern bewacht. Unsere einzige Macht sind die Auspizien. Ich verstehe nicht, was es helfen soll, die Farbe eines Gegenstands zu verändern.«

»Kommt, wir nehmen sie mit zur Klippe«, schlägt ein brünettes Mädchen namens Karamell vor und zupft Raven am Ärmel. Es ist die jüngste von allen.

»Genau, die Klippe!«, pflichtet Scarlet ihr bei.

»Unfassbar, dass du davon wusstest und mir nichts gesagt hast«, wirft Ginger ihr vor.

Scarlet ist beschämt. »Es ging nicht; ich musste es versprechen! Wenn du erst mal auf der Klippe bist, wirst du es verstehen. Es ist zu gefährlich, davon zu erzählen. Wenn es jemand mitbekommen hätte …«

»Gut, genug jetzt«, unterbreche ich sie. »Wir zeigen sie euch.«

Amber, Scarlet und die anderen Mädchen, die wir schon einmal mitgenommen haben, bilden einen Kreis. Mit einem entschuldigenden Blick nimmt Scarlet Gingers Hand.

»Bitte sei mir nicht böse«, sagt sie. »Wenn du es siehst, wirst du begeistert sein.«

Raven drückt meine Finger. Lächelnd schließe ich die Augen. Auch ich liebe die Klippe.

Sie ist ein sonderbarer Ort, irgendwo zwischen der realen Welt und der ehemaligen Hochburg eines uralten Geschlechts von Kriegerinnen. Diese sogenannten Paladininnen besitzen die Gabe, die Elemente zu beeinflussen, und haben den Auftrag, damit die Insel zu schützen. Der Adel segelte zur Insel, die damals noch Excelsior hieß. Er beanspruchte sie für sich und ermordete alle Paladininnen.

Dachte er wenigstens. Doch einige überlebten. Die Surrogate sind ihre Nachkommen. Lucien meint, es sei genetisch bedingt, dass einige Frauen (beispielsweise ich) die Fähigkeit haben, sich mit den Elementen zu verbinden, während andere (wie meine Mutter) das nicht können. Er glaubt, die Eigenschaft werde rezessiv vererbt, wie die Augenfarbe Blau. Sil hält das für Blödsinn; es ließe sich nicht immer alles so einfach erklären.

Ist auch egal. Die Mädchen, die vor mir stehen, sind Paladininnen, und es ist Zeit, ihnen zu zeigen, was das bedeutet.

Ich erblickte die Klippe zum ersten Mal, als ich Raven nach ihrer Fehlgeburt das Leben rettete. Keine Ahnung, wie ich dorthin kam, ob durch Zufall, Schicksal oder nur durch die Kraft meiner Liebe zu ihr, doch kaum war ich da, spürte ich eine augenblickliche Verbindung zu den Elementen und meinem Erbe. Ich verstand mich und die Welt so wie nie zuvor.

Dieselbe Erfahrung haben Sienna, Indi und Olive gemacht. Auch die anderen Mädchen aus den Verwahranstalten erlebten es, wenn Raven sie zur Klippe mitnahm.

Kaum schließe ich die Augen, falle ich in die Tiefe. Ich höre einen leisen Schrei, wahrscheinlich von Umbra, aber das ist in Ordnung, denn wir sind bereits an einem Ort, wo uns die schlafenden Bewohner von Southgate nicht hören können.

Auf der Klippe herrscht Nacht, es regnet. Das Wetter hier ist oft ein Spiegel der wahren Welt. Manchmal reflektiert es auch den Wunsch eines Surrogats. Als wir zum Beispiel mit Sienna dorthin reisten, schneite es, weil sie Schnee liebt.

Warme Regentropfen rinnen mir über die Wangen, ich hebe das Gesicht in den Himmel. Der Ozean erstreckt sich unter mir, Wellen brechen sich an den Felsen. Zwar kann ich in der Dunkelheit kaum etwas erkennen, aber ich höre, wie die Bäume hinter mir im Wind rauschen. In der Mitte der Klippe erhebt sich das Standbild, ein Denkmal aus blaugrauem Stein, das sich wie eine Welle in die Höhe schraubt.

Das hat mir gefehlt, murmele ich in Gedanken.

Mir auch, erwidert Raven wortlos.

Mir genauso, meldet sich Amber. Einige Mädchen, die schon mal hier waren, laufen zu den Dingen, die ihnen am liebsten sind. Azur tanzt unter den Bäumen. Karamell schaut in die Ferne und lauscht verzückt dem Brausen des Meeres. Ginger steht wie angewurzelt da, Scarlet hält ihre Hand. Umbra scheint zwischen Angst und Aufregung hin und her gerissen.

Mit großen Augen umrundet Henna das Denkmal und streckt vorsichtig die Hand aus, um es zu berühren. Ich weiß, was sie fühlt: einen unglaublich glatten Stein, wie fest gewordenes Wasser.

Dann fängt sie an zu lachen. Sie reckt die Hände in die Luft, um die Regentropfen aufzufangen. Ich lächele, denn nun ist sie eine von uns. Sie sieht, wozu sie bestimmt ist.

Ihr Lachen steckt Umbra an, und die beiden laufen mit Karamell zum Rand der Klippe, so nah, dass ich Angst habe, sie könnten hinunterfallen.

Doch das tun sie nicht. Dieser Ort wurde von Paladininnen geschaffen. Sie schützen ihn. Und sie schützen uns.

Zur Freude von Ginger bringt Scarlet den Regen dazu, um Gingers Kopf zu wirbeln und zu tanzen. Es trifft mich jedes Mal aufs Neue, wie frei wir hier sind, wie unerschrocken wir zu uns stehen. Jedes Mal, wenn ich diese Verbindung zu den anderen und zur Welt um uns herum bei einem neuen Mädchen sehe, schöpfe ich Hoffnung.

Es wird Zeit, sagt Raven, und wir werden hochgezogen, weggesogen, zurück ins Gewächshaus von Southgate. Umbra weint ungeniert, auch Gingers Augen sind glasig. Henna wirkt sturmumtost und beschwingt.

»Was … ich …« Ginger bringt keinen richtigen Satz heraus. An dieses Gefühl kann ich mich noch gut erinnern.

»Was war das?«, fragt Henna begierig.

»Schaut mal nach unten!« Die drei gehorchen und staunen.

Violette Blumen erblühen zu Gingers Füßen, blassrosa Blüten rund um Umbra. Henna ist von strahlendem Orange umgeben. Eine Weile betrachten sie verzückt die Pracht, während der Regen auf das Glas über uns prasselt.

»Erzähl ihnen von den Paladininnen, Violet«, sagt Scarlet.

»Erzähl ihnen vom Geheimbund des Schwarzen Schlüssels«, ergänzt Amber.

»Und du musst uns noch mehr Geschichten erzählen, Violet!«, verlangt Azur. »Wir wollen wissen, was da draußen los ist.«

»Eins nach dem anderen«, sage ich, hole tief Luft und beginne.

3

»Als Nächstes ist also Westgate dran.« Ich kann mein Gähnen kaum unterdrücken. Wir waren die ganze Nacht in Southgate, sind erst kurz vor Sonnenaufgang zurückgekehrt. »In zwei Tagen geht es los.«

»Ich kann es nicht erwarten, heute Abend wieder in meinem eigenen Bett zu schlafen.« Voller Unbehagen zupft Raven an ihrem feuchten Mantel herum.

Der Waggon ist voller Arbeiter, obwohl die Sonne noch nicht mal vor einer Stunde aufgegangen ist. Lucien hat uns gefälschte Ausweise besorgt, mit denen wir als Arbeitskräfte für die Farm durchgehen. Am besten kann man von einem Kreis der Stadt in den anderen wechseln, hat er gesagt, indem man sich unter die Menschen mischt. Niemand kümmert sich groß um Arbeitskräfte aus dem Sumpf.

Bei unserer ersten Bahnfahrt hatte ich Angst, von einem Soldat erkannt zu werden. Ich befürchtete, dass er unsere fadenscheinigen Papiere durchschauen und »Packt sie!« rufen würde. Doch im Juwel wird Raven für tot gehalten, und mich sucht auch keiner, weil alle meine Schwester für mich halten. Der Soldat, der unsere Ausweise prüfte, würdigte uns kaum eines Blickes.

In den anderen Verwahranstalten war es dasselbe. Niemand beachtet groß ein paar jugendliche Farmhelferinnen.

Ich beobachte, wie die Sonne über den an uns vorbeihuschenden Häusern aus Lehmziegeln aufgeht. Die Fahrt unterscheidet sich enorm von damals, als wir zur Auktion gebracht wurden. Es war der Übergang in ein neues Leben an einem fremden Ort, voller Angst und Ungewissheit.

Heute weiß ich genau, wohin es geht – zurück zur Weißen Rose. Ich kann es kaum erwarten.

Wie Ginger, Umbra und Henna diesen Tag wohl empfunden haben? Sie müssen sich seltsam fühlen, lebendiger. Alles strahlt neu für sie, die Farben sind bunter, die Gerüche stärker. Ich bin froh, dass Amber und die anderen Mädchen sie unterstützen und anleiten können. Henna hatte eine spontane Verbindung zur Luft – staunend sah sie zu, wie der Wind um sie herum zu wirbeln begann, nur beeinflusst von der Kraft ihrer Gedanken. Scarlet zeigte Ginger, wie man kleine Kluften in den Erdboden reißt, und Umbra ließ die Regentropfen nach oben steigen statt nach unten fallen. Es wird mir nie langweilig zu sehen, wie die Mädchen über ihre eigenen Fähigkeiten staunen. Je mehr Surrogate Raven und ich instruieren können, desto größer wird meine Hoffnung.

Mein Magen knurrt. Hoffentlich hat Sil Brötchen zum Frühstück gebacken. Ein warmes, duftendes Brötchen mit Erdbeermarmelade wäre jetzt genau das Richtige. Dazu ein Kuss von Ash und vielleicht eine Umarmung von Indi. Indi will immer alle herzen.

Ich merke erst, dass ich eingeschlafen bin, als Raven mich wach rüttelt.

»Wir sind da!«

Am Bahnhof Bartlett steigen wir aus. Mein Herz tut einen Sprung, als ich Sil inmitten der Kutschen und Karren entdecke. Ihr Pferd Rübe schüttelt seine blonde Mähne. Sil trägt wie üblich einen Overall und ein Flanellhemd. Ihre krausen schwarzen Haare stehen vom Kopf ab wie ein wirrer Heiligenschein. An den Schläfen werden sie bereits grau.

»Und?«, fragt sie und schlägt mit den Zügeln, nachdem wir auf die Ladefläche des Karrens geklettert sind. »Wie ist es gelaufen?«

»Wie immer. Zuerst waren sie störrisch und hatten Angst, aber wenn sie die Fotos sehen und dann auf der Klippe stehen, ändert sich alles«, berichtet Raven.

»Das wird der hochheilige Oberschlüssel bestimmt gerne hören«, sagt Sil. Lucien und sie verbindet eine Art Hassliebe. Doch ich nehme an, dass die beiden sich näherstehen, als sie jemals zugeben würden.

»Wie sieht es in der Weißen Rose aus?«, frage ich.

Sil schnaubt verächtlich. »Nur weil ihr eine Nacht weg wart, glaubt ihr gleich, Sienna hätte das Haus abgefackelt, was?«

»Würde ich ihr durchaus zutrauen«, murmelt Raven.

»Dein Freund hat wohl nicht viel geschlafen, ansonsten ist alles beim Alten. Sienna ist hochnäsig wie immer, Indi will mich die ganze Zeit umarmen. Olive hat angefangen, ein neues Kleid zu nähen. Angeblich ein Abendkleid. Hat mich gefragt, ob ich ihr Chiffon besorgen könnte.«

Darüber müssen Raven und Sil schmunzeln, mir hingegen ist unwohl, wenn ich an Olives Schwärmerei für alles Adelige denke.

Sil beschwert sich gerne über die neuen Mädchen, doch ich glaube, dass sie deren Gesellschaft insgeheim genießt. Bevor Luciens Schwester Azalea in die Weiße Rose kam, war Sil viele Jahre allein.

Als wir in den Wald gelangen, döse ich wieder ein. Es wird ein warmer Tag werden, der Regen der letzten Nacht tropft von den Blättern, Raven zieht ihre Kapuze hoch. Ich lasse meine unten. Ich liebe das Gefühl von Wasser im Haar.

Der Wald wird dichter, je weiter wir vordringen. Die Weiße Rose versteckt sich in seinen Tiefen, geschützt von einem uralten Paladininnen-Zauber, wie Sil behauptet. Sie vermutet, dass sie von ihren Ahninnen zu einer Lichtung geführt wurde, wo lediglich ein verfallenes Bauernhaus stand – die Weiße Rose. Die Bäume in diesem Wald haben sonderbare Formen; ihre Stämme sind seltsam verbogen, manche Äste wachsen direkt in den Boden.

Ich spüre das Ziehen, das sanfte Zupfen an meinen Eingeweiden, das mir verrät, dass es nicht mehr weit ist.

Und tatsächlich gelangen wir kurz darauf auf die Lichtung, in deren Mitte uns das Haus aus rotem Backstein begrüßt. Ein noch willkommenerer Anblick ist die vertraute Gestalt auf der Veranda.

Kaum sind wir aus dem Wald heraus, stürzt Ash die Stufen hinunter und läuft uns entgegen. Ich springe von der Ladefläche und renne auf ihn zu. Er hebt mich hoch, ich schmiege das Gesicht an seinen Hals.

»Du bist wieder da«, flüstert er.

Ich küsse ihn aufs Ohr.

»Hoffentlich hast du dir nicht zu viele Sorgen gemacht.«

Er setzt mich ab. »Hab ein, zwei Stunden geschlafen. Das ist schon ein Fortschritt.«

Ich fahre ihm mit den Fingern durch die Haare – in den letzten zwei Monaten sind sie länger geworden – und streiche dann sanft über die Ringe unter seinen Augen. Er schiebt die Hand in meine, und gemeinsam schlendern wir zum Haus. Sil und Raven sind bereits hineingegangen. Ich erzähle Ash von den letzten drei Mädchen.

»Also wissen jetzt alle Surrogate aus Southgate, die zur Auktion kommen, dass sie Paladininnen sind«, schließe ich. »Was gibt’s Neues in den anderen Kreisen?«

Während der Sumpf relativ unberührt von den Unruhen in den inneren Kreisen zu sein scheint, wird es in der Bank und im Schlot allmählich ungemütlicher. Und obwohl ich weiß, dass eine Revolution so etwas mit sich bringt, lese ich in der Zeitung nicht gerne von Bombenanschlägen und Attentatsopfern. Jeden Tag hören wir von weiteren Verhaftungen, von noch mehr Gewalt. Der Geheimbund hat nun Hochburgen des Adels ins Visier genommen: Kasernen, Magistratsgebäude und Banken. Es sind vorerst Versuche, die den Adel verwirren und testen sollen, wie lange es dauert, bis die Soldaten reagieren. Nie ist derselbe Kreis oder dasselbe Viertel zweimal hintereinander dran. Schwarze Schlüssel werden an Wände und Türen gemalt. Immer öfter gibt es Berichte über spontane Gewaltausbrüche, weil Einwohner von sich aus auf den Adel losgehen.

Ash hat viele Mitglieder des Geheimbunds in unserem Viertel ausgebildet, aber er muss sich zurückhalten, da er immer noch öffentlich gesucht wird und hingerichtet werden soll. Er kann nicht wie ich in andere Viertel gehen, von Kreisen ganz zu schweigen.

»Nicht viel.« Er runzelt die Stirn. »Ich muss immerzu an die anderen Gefährten denken. Wenn ich an sie herankäme, könnten sie uns hervorragend helfen.«

»Ich weiß«, sage ich geduldig. Darüber haben wir schon zig Mal gesprochen. »Lucien sagt, er tut für sie, was er kann. Aber du wirst immer noch gesucht.«

»Lucien tut gar nichts, weil er nichts tun kann. Dort vertraut ihm doch niemand«, erwidert Ash. »So viel steht fest.«

Ich will nicht wieder dieselbe Diskussion führen. In den letzten Monaten ist Ash immer ruheloser geworden. Mit jedem neuen Anschlag in der Bank wächst seine Sorge um die anderen Gefährten.

»Du bist hier doch unentbehrlich«, versuche ich es. »Denk dran, was du mit Raven, dem Pfeifer und den anderen Leuten gemacht hast. Du hast alle Bundmitglieder im Südviertel trainiert!«

Der Pfeifer, einer von Luciens besten Spionen, hat einen Tattoo-Laden, wo der Bund vom Schwarzen Schlüssel seine heimlichen Treffen abhält. Mein Bruder Ocker ist bei ihm angestellt. Ash hat junge Männer und Frauen zu Kämpfern ausgebildet, so dass sie weitere Kandidaten in den angrenzenden Vierteln und Kreisen anleiten können, da Ash das Südviertel der Farm ja nicht verlassen darf.

»Ja, aber nur in diesem Viertel, und nur nachts, wenn mich keiner sieht, und dann auch nur, wenn Sil in den Ort fährt.« Ash bleibt an den Stufen zur Veranda stehen und setzt sich. Mit dem Handballen reibt er sich die Schläfe. »Rye ist im Juwel, im Palast der Herzogin! Wenn ich ihn doch nur … irgendwie erreichen könnte! Und komm mir nicht wieder mit Lucien! Er ist ein Genie, ja, aber Gefährten misstrauen Kammerzofen von jeher. Sie können einem viel Ärger einbringen.«

Ich staune immer, wenn Ash erzählt, was hinter den Kulissen des Juwels so vor sich geht. Wenn er von den Eifersüchteleien unter den Dienstboten und den verbotenen Liebschaften berichtet. Von der Hierarchie in der Unterschicht.

»Du tust, was du kannst«, sage ich. »Wir müssen manchmal nur deinen Namen nennen, und schon schließt sich uns jemand an.«

Ash ist in der Einzigen Stadt so etwas wie eine Berühmtheit. Dass er gesucht wird, kommt ihm zugute. Er ist ein zu Unrecht beschuldigter Einzelkämpfer, der dem Juwel und damit den Fängen des Adels entkam – der Einzige, der sich retten konnte. Unter den Anhängern des Geheimbunds ist er eine Legende.

»Also lehne ich mich einfach zurück und lasse meinen Namen die Arbeit machen, während die Gefährten weiter missbraucht werden und sterben?«

Gefährten haben ein hartes Leben. Als Ash es mir irgendwann vorbehaltlos schilderte, war ich erschüttert. Viele seiner Kollegen ritzen sich, sind von einem flüssigen Opiat namens Blau abhängig oder bringen sich um. Ashs Zimmergenosse Rye, der uns vor wenigen Monaten bei der Flucht aus der Bank unterstützte, nahm auch regelmäßig Blau.

Ich lege Ash die Hand in den Nacken und versuche, seine Anspannung wegzumassieren.

»Ich weiß, dass es hart ist«, sage ich. »Aber es gibt keine andere Lösung. Die Bank ist zu gefährlich für dich. Die Weiße Rose ist der einzige Ort, wo du sicher bist.«

»Aber dass du dich in Gefahr begibst, ist in Ordnung?«, fragt Ash. »Du, Raven und die anderen Mädchen, ihr fahrt in die Verwahranstalten. Das ist total gefährlich!«

Bevor ich antworten kann, schlägt die Haustür auf. »Ah, Violet, da bist du ja!«

Indi zieht mich von Ash fort und schlingt die Arme um mich. Sie ist so groß, dass ich nur bis zu ihren Schultern reiche.

»Wie war es? Habt ihr die Mädchen gefunden, die ihr gesucht habt?«

»Ja.« Ich klopfe ihr auf den Rücken. »Ist gut gelaufen. Ich erzähle gleich alles, aber zuerst muss ich was essen, sonst klappe ich zusammen.«

»Klar, du musst ja ausgehungert sein! Komm, ich mache dir was fertig.« Sie schaut Ash an und läuft leicht rot an. »Möchtest du auch einen Teller?«

Obwohl Indi meinen Freund nun seit Monaten kennt, errötet sie noch immer in seiner Nähe. Man muss ihm zugutehalten, dass er so tut, als merke er es nicht.

»Ich komme gleich rein«, antwortet er. »Muss Rübe zuerst noch in den Stall bringen.«

Er drückt meine Hand, damit ich weiß, dass der Streit fürs Erste beendet ist. Das Pferd ist noch angezäumt und frisst das Gras auf der Lichtung. Ash führt es zum Stall am Rand des Baumkreises. Ich sehe ihm nach und würde ihm gerne irgendwie helfen.

Aber in die Bank lasse ich ihn nicht fahren. Das bedeutet den sicheren Tod für ihn.

»Komm, Violet!« Indis Blick ist wie meiner auf Ash gerichtet. »Erzähl von der letzten Nacht! Du weißt ja, dass Raven immer die guten Sachen auslässt und sauer wird, wenn ich danach frage.«

»Indi!«, dröhnt Sils Stimme hinter der Fliegengittertür. »Deine blöden Muffins werden schwarz!«

Indi erschrickt, macht auf dem Absatz kehrt und verschwindet im Haus.

Kurz bleibe ich auf der Veranda stehen und lasse mir die Sonne ins Gesicht scheinen. Ich möchte diesen Vormittag festhalten, ihn mir einprägen und als Talisman mit mir herumtragen, gegen all die Dunkelheit, die die Zukunft bringt.

Noch bin ich am Leben und in Sicherheit, inmitten meiner Freunde.

4

Letztendlich verschlafe ich fast den ganzen Tag.

Am Abend ist es in der Weißen Rose trubelig wie immer.

»Olive, kannst du mir bitte den Salat geben?«, frage ich.

Die große Indi ist ein heller Typ und fast nervtötend optimistisch, Olive hingegen ist klein und dunkel und hat ständig rotgeränderte Augen, weil sie so viel weint. Selbst jetzt füllen sie sich wieder mit Tränen.

»Meine Herrin hat immer so gerne Salat gegessen«, sagt sie, als sie mir die Schüssel gibt. »Einmal gab es im Palast vom Strom einen Salat mit kandierten Pekannüssen und frischem Ziegenkäse, der mit einer Lotusblüte dekoriert war. Darin war ein winziger goldener Vogel versteckt.« Mit einem dramatischen Seufzer schielt sie auf den Kopfsalat, die Tomaten und Gurken auf ihrem Teller.

Sienna wirft ihre dünnen Zöpfe über die Schulter.

»Deine Herrin hat dich gerne an der Leine herumgeführt«, sagt sie und klappt das Feuerzeug auf, das Sil ihr geschenkt hat. Eine kleine Flamme schießt hoch. »Sollen wir dich vielleicht nachts draußen anbinden wie einen Hund?«

»Leg das weg!«, mahnt Sil.

Olive wirft die Gabel auf den Tisch und steht auf. »Das muss ich mir nicht anhören!«

»Dir ist schon klar, dass du inzwischen tot wärst, wenn Violet dich nicht gerettet hätte, oder?«, hakt Sienna nach und steckt das Feuerzeug in die Tasche.

»Lass es gut sein!«, mahnt nun auch Raven.

Die Kerzen auf dem Tisch flackern auf. Olives Augenbrauen ziehen sich zusammen. Mit einem Zischen ersticken die Flammen.

»He!«, ruft Sil.

Sienna hebt abwehrend die Hände. »Das war ein Versehen, ich schwöre!«

»Red keinen Blödsinn!«, erwidert Sil. »Du hast das Feuer absolut unter Kontrolle. Seit Monaten ist nichts mehr passiert.«

»Kommt, lasst uns noch mal den Plan durchgehen«, schlage ich vor. Alle außer Ash stöhnen auf. Er ist immer still beim Essen, schaufelt normalerweise alles so schnell wie möglich in sich hinein, um wieder in den Stall flüchten und bei Sils Hühnern und Ziegen sein zu können. Und bei Rübe.

Er hatte seiner kleinen Schwester Cinder den Spitznamen »Rübe« gegeben. Vor einem Monat ist sie an einer Staublunge gestorben. Lucien hat es über eine seiner Kontaktpersonen im Schlot erfahren, einen kleinen Jungen, der sich selbst »der Dieb« nennt. Er hatte Ash die Gelegenheit verschafft, sich von Cinder zu verabschieden, als wir aus dem Schlot flohen. Ich nehme an, dass der Dieb regelmäßig nach dem Mädchen geschaut hat.

Ash schluckt den Rest seines Hühnchens hinunter, stopft sich noch eine Kartoffel in den Mund und steht auf.

»Die Damen«, sagt er mit einem Nicken in die Runde, drückt mir einen Kuss auf den Scheitel und geht zur Spüle. Er hat das alles schon zig Mal gehört. Nach unserem Streit heute Morgen habe ich Schuldgefühle, weil er nicht in unser Vorhaben einbezogen ist. Doch daran kann ich nichts ändern – es sind die Paladininnen, die die Mauer zum Einsturz bringen müssen, und Ash ist kein Paladin, sondern ein Gefährte.

Ich gehe zum Schrank und hole mehrere Papierrollen heraus. Eine enthält einen Stadtplan, die anderen sind Kopien des Grundrisses vom Auktionshaus.

»So!« Ich breite die Karte auf dem Tisch aus. »In ein paar Tagen brechen wir nach Westgate auf. Sil, du bleibst in der Farm und sprichst dich mit dem Pfeifer ab. Es sind noch vier Mädchen in Westgate, sieben in Northgate und fünf in Eastgate, die eingewiesen werden müssen.« Ich zeige auf die Zahlen, die über jede Anstalt geschrieben sind, und radiere die Ziffer 3 über Southgate weg. »Indi, Sienna und Olive: Wenn wir den Mädchen in euren jeweiligen Anstalten die Elemente gezeigt haben, werdet ihr …«

»… bis zur Nacht vor der Auktion in einem sicheren Unterschlupf bleiben«, leiert Sienna hinunter.

»In der Nacht schleichen wir uns mit Hilfe aller Mädchen, die eine Verbindung zur Erde haben, in die Anstalten«, ergänzt Indi.

»Dann verstecken wir uns in den Zügen, bis es zur Auktion geht«, fährt Olive fort. Ihre Augen sind schon wieder feucht. »Da schalten wir dann die Betreuerinnen und die Ärzte aus.«

»Du sollst sie ja nicht umbringen, Olive«, erkläre ich. »Du machst sie nur bewusstlos.«

»Das ist bestimmt nicht allzu kompliziert«, sagt Raven. »Bei uns damals waren nur Caritas und Dr. Steele im Zug.«

»Northgate schickt immer drei Betreuerinnen mit«, meldet sich Sienna zu Wort.

»Trotzdem werden wir in der Überzahl sein«, werfe ich ein.

»Die Soldaten müssten im Auktionshaus auf euch warten«, erinnert Sil uns.

»Und es ist Garnets Aufgabe, sie so lange wie möglich hinzuhalten.« Ich rolle die Karte wieder auf und breite stattdessen die Grundrisse aus. »Und vergesst nicht: Wenn im Zug irgendetwas passiert, falls ihr erkannt werdet oder … oder sonst was: Kommt zur Mauer. Die Mauer zum Einsturz zu bringen ist das A und O. Selbst wenn es nicht die Mauer rund ums Juwel ist – jeder eingerissene adlige Schutzwall ist ein Fortschritt für unsere Sache.«

Olive zieht eine Schnute, hält aber den Mund. Es gibt mehrere Grundrisse des Auktionshauses, weil es nicht nur eine Vielzahl von Räumen besitzt, sondern auch mehrere Stockwerke in die Tiefe geht. Ich stelle Teller und Gläser auf die Ränder, damit sich das Papier nicht aufrollt.

Das Auktionshaus hat eine große Kuppel, um die sich kleinere Kuppeln und Türmchen scharen. In mehreren Sälen werden die Adeligen bei Laune gehalten, während sie auf den Erwerb der Surrogate warten. Dann gibt es natürlich noch den großen kreisförmigen Saal, wo die Versteigerung selbst stattfindet. In den unterirdischen Etagen befinden sich – wie Lucien hervorhob – die Wartezimmer, Vorbereitungsräume und der Bahnhof, außerdem Kammern, wo die Dienstboten warten, und Schminkräume, wo sich die jungen adligen Damen frisch machen können. Für den Fall, dass das Juwel während einer Auktion bedroht werden sollte, sind gesicherte Zimmer vorhanden, sogenannte Schutzräume. Sie haben dicke Wände und Eisentüren. Bei Gefahr zieht sich der Adel dorthin zurück. Dann sitzt er in der Falle, während die Stadt um ihn herum zusammenbricht.

Die Auktion ist das größte gesellschaftliche Ereignis des Jahres. Lucien hat uns erzählt, dass jede verheiratete Adelige daran teilnehmen darf, deshalb gibt es keine Einladung wie beispielsweise zum Fürstenball oder bei einer Feier in irgendeinem Palast. Wer kommen will, geht hin. Die Adelsdichte ist nirgends so groß wie bei der Auktion.

»Hier gelangen wir rein!« Ich tippe auf den unterirdischen Bahnhof des Grundrisses, der die unterste Etage des Auktionshauses zeigt. »Wir müssen bereit sein, sobald die Züge einlaufen. Sil hat recht: Die Soldaten, die dort warten, rechnen mit vier Zügen voll bewusstloser Mädchen. Vielleicht schafft Garnet es ja nicht, sie länger hinzuhalten, oder es gelingt ihm nur kurz. Wir müssen mit Widerstand rechnen.«

»Ja, und die meisten Soldaten, die er auf unsere Seite ziehen konnte, sind nicht im Juwel stationiert«, ergänzt Raven. »Er meint, die Soldaten im Juwel wären die schlimmsten.«