Das Karussell der verlorenen Träume - Juliet Blackwell - E-Book
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Das Karussell der verlorenen Träume E-Book

Juliet Blackwell

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Beschreibung

Manchmal braucht es Zeit, um Träume wahr werden zu lassen

Cady liebt Karusselle, seit sie als Kind darauf ihre Runden drehte. Doch so voller Hoffnungen und Träume wie damals ist die Fotografin längst nicht mehr. Ein Auftrag in Frankreich kommt ihr gerade recht, um sich abzulenken. In Paris fotografiert sie all die wunderschönen Karusselle und lässt sich vom Flair der Lichterstadt bezaubern. Doch Cady hat noch eine andere Mission: Sie besitzt eine alte Karussellfigur von rätselhafter Herkunft. Zwischen Museumsbesuchen und Croissants am Seineufer begegnet sie dem charmanten Jean-Paul, der ihr helfen möchte, das Geheimnis um die Figur zu lösen. Gemeinsam folgen sie der Spur zu einem herrschaftlichen Château in der Provence, dessen dicke Mauern einst Zeugen eines dramatischen Schicksals wurden …

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Seitenzahl: 550

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JULIET BLACKWELL lebt in Kalifornien, wo sie auch aufgewachsen ist. Nach ihrem Studium arbeitete sie unter anderem in Frankreich, wo sie sich von wunderschönen antiken Karussellen verzaubern und zu ihrem Roman Das Karussell der verlorenen Träume inspirieren ließ.

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J U L I E T   B L A C K W E L L

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Veronika Dünninger

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem TitelThe Lost Carousel of Provence bei Berkley, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2018 by Julie Goodson-Lawes

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

This edition published in arrangement with Berkley, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Cover: Bürosüd

Covermotiv: Ilina Simeonova / Trevillion Images; www.buerosued.de

Redaktion: Sigrun Zühlke

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-24610-5V002

www.penguin-verlag.de

Für CJ

Du hast mich gehalten, als ich nicht stehen konnte,

mich getragen, als ich nicht gehen konnte.

Mi alma es un carrusel vacío en el crepúsculo.

Meine Seele ist ein leeres Karussell bei Sonnenuntergang.

– PABLONERUDA, CREPUSCULARIO(Ediciones Revista Claridad: Santiago, Chile, 1923)

Kapitel 1

1901

Provence, Frankreich

Château Clément

Joséphine Clément

Niemand hat es gesehen.

Zu den üblichen Gärtnern und Bediensteten, Traubenpflückern und Küchenangestellten des Châteaus hat sich Monsieur Bayols Trupp gesellt, dessen Leute an  dem neu eingetroffenen Karussell hämmern, sägen, schmirgeln und malen. Die Katzen, Hunde, Schweine und Kaninchen wurden in Bayols Fabrik in Angers geschnitzt, bemalt und vergoldet, aber neun Männer waren erforderlich, um die einzelnen Teile mit der Eisenbahn und dann mit einem Dampftraktor vom Bahnhof zum Château zu bringen und das Gerät vor Ort zusammenzubauen. Es wird noch einmal zwei Wochen, einen Monat vielleicht, dauern, den kunstvoll gestalteten Salon fertigzustellen, der das Karussell beherbergen wird.

Joséphine wünschte, es würde länger dauern. Sie würde sich freuen, wenn sie ewig blieben. Vor allem der Lehrling des Schnitzers.

Sie und der Lehrling haben sich einander anvertraut. Sie werden das ihnen Anvertraute hüten.

Joséphine weiß, dass ihre Nachbarn sie für geheimnistuerisch und durchtrieben halten, weil sie nicht hier geboren ist. Sie stammt aus der fernen Bretagne, und doch hat sie das Herz ihres Lieblings gewonnen, des begehrten Junggesellen Yves Paul Clément, Erbe von Château Clément. Die Bretagne und die Provence sollten jetzt eigentlich zu Frankreich gehören, aber tief sitzende regionale Vorurteile und Loyalitäten scheren sich nicht um willkürlich gezogene Grenzen.

Sie versteht das. Schließlich hatte Joséphine, bevor Yves sie als junge Braut nach Château Clément heimführte, selbst gedacht, die Leute in der Provence seien faul, unfreundlich und mit einem harten Akzent geschlagen.

Sie hat festgestellt, dass der Akzent und die Unfreundlichkeit zutreffen, aber auch wenn ihr Mann jeden Nachmittag seine sieste hält, ist er doch alles andere als faul. Yves steht früh auf, um das Licht der Morgendämmerung mit seiner Kamera einzufangen, und arbeitet bis spät in die Nacht in seiner Dunkelkammer. Er ist ein gebildeter Gutsherr: Er liest in seiner Bibliothek, er verfasst Gedichte, er zeichnet. Anders als die meisten Männer in dieser Gegend geht er nicht auf die Jagd. Stattdessen beobachtet er die Vögel, die im Geäst der Platanen und Olivenhaine sitzen, und macht sich Notizen zu ihnen: der Kurzzehenlerche und dem Brachpieper im Frühling, der Kolbenente und dem Mariskenrohrsänger im Herbst.

Yves’ aufmerksame Augen beobachten die Geschöpfe des Waldes, das Verfärben der Blätter, den Wechsel des Lichts im Laufe des Tages, im Laufe der Jahreszeiten. Mit dem unentwegten Klicken seiner Kameras hält er die Welt um sich herum fest.

Und doch sieht er es nicht.

Kapitel 2

Gegenwart

Oakland, Kalifornien

Cady Anne Drake

Cady war nie bewusst gewesen, wie viele leere Worthülsen die Leute von sich gaben, wenn sie mit Trauer konfrontiert wurden, wie sie sich gezwungen fühlten, etwas zu sagen, irgendetwas zu sagen, um auf eine Situation zu reagieren, für die es keine Antwort, keine Reaktion gab. Keine Lösung.

Die brutale Wahrheit war, dass es nichts zu sagen gab. Maxine war gestorben.

Eben war sie noch da gewesen, Cadys allgegenwärtiger Fels im Treibsand des Lebens. Und im nächsten Augenblick war sie hinter der Kasse zusammengebrochen, zu Boden gestreckt von einem Herzinfarkt. Maxine war in den Äther entschwunden, einfach so, zusammen mit ihren kauzigen Kommentaren und ihrem weisen Blick und ihrer ruhigen, leicht hochnäsigen Art, die Cadys innere Dämonen stets besänftigte. Sie war nicht mehr da. Niemand sonst in diesem Leben würde das Glück haben, Maxine Caroline Clark zu kennen.

Alles, was von der alten Frau geblieben war, war ihr Laden, »Maxines Schätze« genannt, sein schrottreifes (oder kreativ-künstlerisches, je nach Sichtweise) Inventar und das Hinterzimmer, in dem Cady ihr Fotostudio und ihre Dunkelkammer eingerichtet hatte. Cady hatte nicht die Absicht, Maxines Antiquitätenladen zu übernehmen und weiterzuführen, aber sie war auch nicht bereit, ihr Studio aufzugeben. Ganz abgesehen davon, dass sie – was streng genommen nicht legal war – im Hinterzimmer des Ladens lebte, seit sie vor ein paar Monaten ihre relativ günstiges Apartment verloren hatte, als das Haus in Eigentumswohnungen umgewandelt worden war.

Was jetzt? Wohin sollte sie gehen? Was sollte sie tun?

Maxine war ihre Familie. Sie war alles, was Cady hatte.

Eine verzweifelte, atemlose Erschöpfung streckte ihre eisigen Finger nach Cadys Knochen aus und legte sich darum. Und sie kam nicht von der Anstrengung, Gus zu schleppen, ihre hölzerne Karussellfigur. Die Glasaugen des Kaninchens blickten sie vorwurfsvoll an, während sie es in den Laden bugsierte. Konnte das Schwinden dieses letzten Funkens Hoffnung die wohlverdiente Strafe dafür sein, dass sie versucht hatte, es zu verkaufen?

Maxine hatte ihr Gus vor zehn Jahren zur Hochzeit geschenkt. Die Ehe hatte nicht lange gehalten, und das Einzige, was Cady daraus mitgenommen hatte, abgesehen von einer bitteren Erfahrung, war Gus, das Kaninchen.

Es war peinlich zuzugeben, aber Gus hatte ihr immer das Gefühl gegeben … geliebt zu sein.

Maxine zufolge war Gus ein echtes Stück Karussellgeschichte, handgeschnitzt von dem berühmten französischen Bildhauer Gustave Bayol. Was bedeutet hätte, dass er Tausende, vielleicht Zehntausende, wert war. Aber heute Morgen waren Cadys letzte finanzielle Träume von einem ernsten jungen Mann namens Scott Ripley zerschlagen worden. Durch ein riesiges Vergrößerungsglas hatte der anerkannte Experte des Antiquitäten-Forums für europäische Schnitzkunst des 19. und 20. Jahrhunderts die sich lockernden Fugen des Kaninchens betrachtet, hatte gesehen, wie sich die Lindenholzstreifen oben an den Beinen voneinander lösten, und die Lücke bemerkt, wo die Halspartie in den Körper überging. Karussellfiguren sind innen hohl, ähnlich wie Kisten aus Holzlatten gebaut, die zusammengefügt, beschichtet, dann geschnitzt und schließlich grundiert werden, um die Fugen zu überdecken. Gus zerfiel nicht nur in seine Bestandteile – seine Ohren waren kaum noch mit seinem leicht schief hängenden Kopf verbunden –, sondern auch die leuchtende Farbe und die Vergoldung blätterten ab, stellenweise schimmerte bereits die Gessogrundierung hindurch.

Schließlich hatte sich Ripley aufgerichtet, mit den Schultern gezuckt und verkündet: »Das ist kein Bayol.«

»Sie täuschen sich«, erwiderte Cady. »Sehen Sie noch einmal genau hin.«

»Ihr Kaninchen ist aller Wahrscheinlichkeit nach europäisch und stammt aus Bayols Epoche, um die Wende zum 20. Jahrhundert. In mancher Hinsicht ähnelt es durchaus seinem Stil; Bayol hat Bauernhoftiere mit süßen Gesichtern wie diesem hier geschnitzt, das kommt also hin. Aber ein typisches Merkmal von Bayols Holzskulpturen war ihre Schlichtheit. Sein Werk beinhaltete fast nie Verzierungen wie dieses Maiglöckchen hier.« Er zeigte auf die beanstandete Blume. »Und diese im Hochrelief geschnitzte Rose, mit den detaillierten Dornen? Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.«

»Aber Bayol hat doch Auftragsarbeiten angefertigt, oder?«, entgegnete Cady. »Könnte es nicht sein, dass ein Kunde um die Blumen gebeten hat?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich kenne Bayols Werk gut; und ich bin auch sehr vertraut mit den amerikanischen Schnitzern Dentzel, Looff und Carmel. Wie alle Künstler drücken auch Karussellschnitzer ihrem Werk ihren Stempel auf, wie eine Signatur. Bayol hat an den Sätteln seiner geschnitzten Tiere fast immer eine kleine Plakette angebracht, und Ihres trägt keine. Ihr Kaninchen könnte von einem von Bayols Lehrlingen geschnitzt worden sein oder von einem Konkurrenten – wenn Sie seine Herkunft nachweisen könnten, wäre es mehr wert.«

Cadys erster Impuls war es, sich mit Ripley anzulegen, ihn zu beschimpfen, seine beruflichen Qualifikationen und seine Abstammung mit abfälligen Bemerkungen in Zweifel zu ziehen.

Aber es war nicht seine Schuld. Maxine hatte sich getäuscht. Das war kein Wunder: Maxine hatte immer darauf beharrt, in dem Gerümpel, das andere Leute wegwarfen, Chancen zu sehen.

Daher hatte Cady sich darauf konzentriert, ihre Emotionen zu zügeln und gegen einen fast überwältigenden und gänzlich untypischen Drang anzukämpfen, in Tränen auszubrechen.

Reiß dich zusammen, Drake, schalt sie sich. Wir haben schon Schlimmeres überstanden. Viel, viel Schlimmeres. Wir müssen uns einfach einen anderen Plan einfallen lassen.

Als Kind hatte Cady die Marotte entwickelt, im königlichen Pluralis Majestatis mit sich selbst zu sprechen; abgesehen davon, war das Wir in ihrer Welt reines Wunschdenken. Später bedeutete das Wir Cady und Maxine, und jetzt waren es Cady und Gus, das Kaninchen. Es war eine alberne, kindische Angewohnheit, aber Cady hatte in letzter Zeit ganz andere Sorgen, wie zum Beispiel die Frage, woher sie das Geld nehmen sollte, um der sündhaft teuren San Francisco Bay Area zu entkommen, um in eine Stadt zu ziehen, wo normale Leute einer regelmäßigen Arbeit nachgehen und sich eine anständige Bleibe leisten konnten und wo sie eine Pflegemutter werden oder vielleicht sogar ein Kind adoptieren könnte. Der Gedanke an Veränderung machte ihr Angst, aber sie sehnte sich verzweifelt danach, die Art Familie zu schaffen, die sie sich immer gewünscht hatte. Als Fotografin zu arbeiten, war vielleicht nicht die beste berufliche Option in einer Kleinstadt, aber es war ihr egal, womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente. Sie war nicht wählerisch.

Am wichtigsten war es, einen Neuanfang zu machen. Sich selbst neu zu erfinden. Cady sehnte sich nach der Anonymität einer zweiten Chance, einem sauberen Schnitt, einer Tabula rasa. Danach, sich irgendwo ein Zuhause zu schaffen, wo niemand wusste, woher sie kam, wo niemand wusste, dass sie nichts und niemanden hatte.

Keine familiären Bindungen, keine Maxine, kein … Baby.

Ihre Hand glitt unwillkürlich zu ihrem Bauch. Die einzige Wölbung dort rührte daher, dass sie vor lauter Stress unzählige Tüten Kartoffelchips und Packungen mit Petit-Écolier-Keksen – von denen sie in einem peinlich kindischen Ritual die Schokolade abgekratzt hatte – in sich hineingestopft hatte, während sie wochenlang auf der Couch gesessen und sich endlose Wiederholungen von Leben im Chaos angesehen hatte.

Die Schwester in der Notaufnahme hatte nach Desinfektionsmittel gerochen und war sehr nett gewesen, auf die unpersönliche Art eines freundlichen Menschen, der viel zu viel um die Ohren hatte. Sie hatte Cady angewiesen, die Antibiotika wie verschrieben zu Ende zu nehmen, sechs Wochen auf Sex zu verzichten (kein Problem – Cady konnte sich ohnehin nicht vorstellen, überhaupt wieder mit irgendjemandem intim zu sein), sich viel Ruhe zu gönnen und auf plötzliche Hormonschwankungen vorbereitet zu sein, während sich ihr Körper an das anpasste, was auf ihrem Krankenblatt als »SAB« verzeichnet wurde: Spontanabort.

Das Baby, das Cady bei einem außerordentlich seltenen One-Night-Stand ungeplant empfangen hatte, das sie zu behalten und zu lieben nach Wochen voller Angst und Zittern entschieden hatte, hatte sie in einem grauenhaften Schwall aus Schmerz und Krämpfen und Blut verloren, eine zutiefst aufwühlende Erfahrung, die schlicht als SAB bezeichnet wurde.

Ein SAB.

Cadys entsetzlicher, ungewohnter Drang zu weinen musste auf Hormonschwankungen beruhen. Nichts weiter. Na klar.

Erst war Maxine gestorben. Dann hatte Cadys Körper sie im Stich gelassen. Und jetzt hatte sich sogar ihr kostbares Karussellkaninchen nicht als das entpuppt, wofür sie es immer gehalten hatte.

Cady hatte das Gefühl, sich selbst auf einem Karussell zu befinden, und egal, wie schnell sie galoppierte, sie landete immer wieder an derselben Stelle.

Ihre Augen brannten, Tränen drohten zu fließen. Also… okay. Vielleicht würde sie es sich gestatten, im Hinterzimmer des Ladens ein paar Minuten zu weinen, während sie Mr. Scott Ripley vom Antiquitäten-Forum und seine sogenannte Expertise verfluchte.

Und dann würde sie einen neuen Plan machen.

Kapitel 3

GEGENWART

OAKLAND

Cady

Das Hämmern an der Tür hörte einfach nicht auf. Cady hatte das GESCHLOSSEN-Schild an die Scheibe der Ladentür gehängt, zusammen mit einer Notiz über Maxines Tod. Aber einige von Maxines Stammkunden konnten so hartnäckig und lästig wie ein abgebrochener Zahn sein.

»Gehen Sie weg!«, brüllte sie aus dem Hinterzimmer.

Das Hämmern hielt an. Sie stellte den Fernseher lauter.

»Cady?« Die Stimme einer Frau. Olivia.

Cady sah Maxine oft als die einzige Person auf der Welt, von der sie geliebt wurde, aber es gab auch noch Olivia Gray.

Sie hatten sich vor Jahren, unmittelbar nach Cadys Scheidung, bei einem Fotokurs kennengelernt – richtige, altmodische Fotografie und Filmentwicklung, unterrichtet von einem kauzigen alten Mann, der nichts von dem hielt, was er »diesen modernen digitalen Schwachsinn« nannte.

Olivia war alles, was Cady nicht war, aber schon immer sein wollte: hübsch, zierlich, immer schnell bereit, zu lächeln und über sich selbst zu lachen. Damals begriff Cady zum ersten Mal, was es hieß, für ein anderes Mädchen zu schwärmen; sie war ganz vernarrt in Olivia, warf Olivia unter ihrem Pony hervor verstohlene Blicke zu und folgte ihr in den Pausen zu den Süßigkeitenautomaten.

Eines Abends schluckte der Automat Olivias zerknitterten Dollarschein. Sie hämmerte erfolglos dagegen und brüllte: »Verflixt und zugenäht!«

Cady hatte noch nie jemanden so etwas sagen hören, außer im Fernsehen.

»Frühkindliche Erziehung«, erklärte Olivia Cady mit einem verlegenen Lächeln und einem leicht verärgerten Schulterzucken. »Meine Mom nimmt es sehr genau, was höfliche Sprache betrifft. Wenn sie richtig, richtig sauer wird, sagt sie vielleicht: ›Verdammt!‹ Aber gleich darauf ergänzt sie jedes Mal: ›Entschuldige meine Ausdrucksweise!‹«

Cady lächelte und schlug gegen den Automaten, während sie von hinten hineingriff, wie sie es als böses Kind ohne Taschengeld gelernt hatte. Der Mechanismus begann zu rasseln, und ein Schokoriegel fiel scheppernd in die Metallschale.

»Bitte sehr.«

»Danke! Netter Trick. Wie heißt du eigentlich?«

Olivia wusste nicht einmal ihren Namen? Das passte. Eingebildete Zicke.

Aber an den Rändern ihrer Wut nagte Scham. Sosehr sie sich auch bemühte, Cady nahm soziale Signale einfach nicht so wahr wie andere Leute. Sie fragte sich oft, ob es angeboren war – irgendein geheimnisvoller genetischer Code, den sie von ihren unbekannten Eltern geerbt hatte – oder ob es aus ihrer gefühlsarmen, rastlosen Kindheit herrührte. Letztendlich spielte es keine Rolle. Sie hatte schon immer gewusst, dass sie nicht … liebenswert war.

Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zurück zum Kursraum.

Nach dem Unterricht, während Cady ihre Sachen zusammenpackte, kam Olivia zu ihr. »Also, ich bin eine Idiotin. Und Namen kann ich mir sowieso nie merken.«

Cady zuckte die Schultern und zog den Reißverschluss des ramponierten Lederrucksacks zu, den sie für fünf Dollar auf dem Flohmarkt ergattert hatte.

»Aber ich bin auch eine kleine Spürnase. Und stur.« Olivia streckte die Hand aus. »Freut mich, dich offiziell kennenzulernen, Cady Drake. Ich bin Olivia Gray. Wie geht es dir?«

Cady starrte einen Moment auf ihre Hand.

»Wie ich bereits sagte, ich weiß, dass ich keine Peilung habe«, fuhr Olivia fort. »Aber da wir in diesem Kurs die Einzigen unter vierzig sind, habe ich mich gefragt, ob wir vielleicht noch was trinken gehen wollen.«

Maxines Stimme flüsterte in ihrem Kopf: »Spring über deinen Schatten, Mädchen. Geh nicht immer davon aus, dass jeder dir Böses will.«

Daher nickte Cady, und sie gingen zu George O’s. Es war eine schmuddelige Spelunke, typisch für diese Gegend von Oakland, aber als sie hineingingen, leuchteten Olivias Augen auf wie die eines Kindes am Weihnachtsmorgen.

»Das ist ja toll«, meinte sie, während sie die Dartscheibe, die veralteten Halloween-Dekorationen und ein halbes Dutzend Männer, die an der Bar hingen, in Augenschein nahm. Sie bestellte einen Bourbon on the rocks und Cady dasselbe.

»Also«, begann Olivia, während sie ihre Drinks zu einem Tisch trugen, »›Cady‹ ist ein hübscher Name. Auf der Teilnehmerliste habe ich gesehen, dass du ihn nicht auf die traditionelle Weise K-A-T-Y schreibst.«

»Ja«, antwortete Cady. »Ich meine, den hatte ich schon immer.«

Olivia lächelte. »Ich habe meinen Namen immer gehasst.«

»Warum?«

»Die Kinder in der Schule haben mich damit aufgezogen, haben mich Olivenöl oder Eulia genannt«, sagte sie leise, als würde sie Cady ein peinliches Geheimnis anvertrauen.

»O Gott«, gab Cady prompt zurück, »das muss ja schwer traumatisch für dich gewesen sein.«

Olivia blickte verblüfft, dann begann sie zu lachen. »Du hast eben einen Witz gemacht! Und ich dachte schon, du wärst immer ganz ernst.« Sie erhob ihr Glas. »Lass uns anstoßen. Um es mit Humphrey Bogart zu sagen: ›Ich glaube, das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.‹«

Und seltsamerweise war es das tatsächlich. Nach dem Ende des Fotografiekurses schrieben sie sich für Französisch ein, dann für thailändisches Kochen, dann für Botanik. Olivia und ihr Freund, Sebastian, luden Cady und Maxine zum Essen zu sich ein, und als sie heirateten, war Cady im Rathaus ihre Trauzeugin. Olivia liebte es, mit Cady über Antiquitäten-Flohmärkte zu bummeln, während sie Fragen stellte und ihr baufälliges viktorianisches Haus in West Oakland mit einem Teil nach dem anderen einrichtete. Schließlich zog sie einen Job beim Sunset-Magazin an Land und schob Cady hin und wieder einen freiberuflichen Fotografie-Auftrag zu.

Über die Jahre hinweg witzelten sie immer wieder darüber, wer bei ihrer »Trauma-Olympiade« die Nase vorn hatte, und jedes Mal wenn sie ihre Kindheit anführte, ging Cady klar als Siegerin hervor. Aber Olivia hatte ihre eigenen Kämpfe auszutragen.

»Cady!«, rief Olivia wieder durch die Tür von »Maxines Schätzen«. »Mach auf. Ich habe Kaffee mitgebracht, eigenhändig gekocht.«

Widerstrebend tauchte Cady aus dem Hinterzimmer auf und durchquerte den vollgestopften Verkaufsraum.

»Ich will keinen«, sagte Cady durch die Glasscheibe der Ladentür.

»So ein Pech aber auch. Mach auf.«

Cady schob den Riegel zurück und bückte sich, um den Gummistopper zu entfernen, den sie immer unter die Tür schob. Er gab ihr ein Gefühl von Sicherheit.

»Hier«, sagte Olivia, sobald die Tür offen war, hielt ihr einen Thermobecher hin und drängte an Cady vorbei in den Laden. »Das ist französische Röstung, dein Lieblingskaffee. Gern geschehen.«

»Ich habe geschlafen.«

»Nein, das hast du nicht«, sagte Olivia. Sie zog eine Augenbraue hoch, während sie den Blick über das verstreute Inventar schweifen ließ. »Und du hast offensichtlich nicht viel Zeit mit Aufräumen verbracht.«

»Nicht meine Stärke.«

»Also, hast du gearbeitet?«

»Ein bisschen.«

Olivia ging voran ins Hinterzimmer, wo sie sich an den kleinen Tisch neben der Kochnische setzten. Zu spät erkannte Cady, dass überall Beweise für ihr Lotterleben in jüngster Zeit herumlagen: zerknüllte Cheetostüten und Kekspackungen, alte Schachteln vom Chinesen, eine leere Wodkaflasche.

»Lügnerin«, erklärte Olivia, während sie den Anblick in sich aufnahm. »Was hast du wirklich gemacht?«

»Geweint.« Cady ließ sich aufs Sofa fallen.

»Aber das ist doch etwas Gutes, oder?« Mitgefühl glänzte in Olivias großen schokoladenbraunen Augen. »Früher hast du nie geweint. Das betrachte ich als persönliches Wachstum.«

Cady lachte humorlos auf. »Nur du könntest Weinen als etwas Positives sehen.«

»Also, ich habe nachgedacht«, sagte Olivia, während sie mit ihrem Kaffeebecher spielte, auf dem das leuchtend orange-schwarze Logo des Baseballteams von San Francisco prangte. »In Paris gibt es viele Karussells. Jede Menge. Ich weiß es noch von damals, als Sebastian und ich auf Hochzeitsreise dort waren. Da schien es auf jedem öffentlichen Platz ein Karussell zu geben.«

»Und?«

»Du liebst es, Karussells zu fotografieren. Hast du schon mal daran gedacht, ein Buch mit Fotografien herauszubringen?«

»Von Pariser Karussells?«

»Ja! Wozu haben wir denn all die Jahre Französisch gelernt, wenn du deine Sprachkenntnisse gar nicht nutzt? Und du weißt nie, was du finden könntest. Das Essen, der Wein, die Kopfsteingassen …« Sie seufzte. »C’est magique!«

Cady brachte ein leises Lächeln zustande. »Du findest doch alles magisch.«

»Und du nichts. Aber du täuschst dich.« Olivia nahm noch einen Schluck und stieß einen tiefen, zufriedenen Seufzer aus. Sie hatte eine Art, ihren Kaffee zu genießen, als wäre er das Elixier des Lebens, das Heilmittel aller Krankheiten, die Quelle jeglicher Zufriedenheit. Und vielleicht war er das ja tatsächlich: Olivia war der sonnigste Mensch, dem Cady je begegnet war. Bevor sie Olivia traf, hatte Cady geglaubt, anhaltendes Glück sei der Stoff, aus dem Romane waren, etwas, was es nur im Märchen gab.

»Seit wann bist du eigentlich ein San-Francisco-Giants-Fan?«, fragte Cady in einem plumpen Versuch, das Thema zu wechseln.

Olivia lachte, hielt ihren Becher hoch und inspizierte das Logo, als hätte sie es noch nie zuvor gesehen. »Ich habe keine Ahnung, wo der herkommt. Er ist einfach aufgetaucht, wie es die Dinge in meinem Haus offenbar ständig tun. Aber ich mag es, wie er sich in meinen Händen anfühlt.«

Wahllose Gegenstände tauchten in Olivias Haus auf, weil ständig Leute zum Essen und zu Partys vorbeikamen, einmal übernachteten oder wochenlang blieben, auf der Couch schliefen und Handtücher, eine Haarbürste, einen Kaffeebecher zurückließen. Aber Olivia nahm die sich ständig wandelnde Landschaft ihres Zuhauses gelassen hin, als würden die Dinge durch irgendeine Art zauberhafte Magie erscheinen und wieder verschwinden.

Das würde mich in den Wahnsinn treiben, dachte Cady. Sie hatte gern alles organisiert, berechenbar. Selbst in dem scheinbaren Durcheinander von Maxines Laden wusste Cady genau, wo sich jeder einzelne Gegenstand befand.

»Jedenfalls, hör auf zu versuchen, das Thema zu wechseln, darauf falle ich nicht herein«, erklärte Olivia, während sie den Becher abstellte. »Vielleicht ist ein Tapetenwechsel genau das, was du brauchst. Und unsere einheimischen Karussells hast du bereits zur Genüge fotografiert.«

»Du vergisst unseren Roadtrip zum House on the Rock, um das größte Karussell der Welt zu sehen.«

»Nicht dass ich irgendetwas gegen Wisconsin hätte, aber ich dachte, Paris könnte einen etwas aufregenderen Tapetenwechsel bieten.«

Cady zuckte die Schultern. »Ich denke darüber nach.«

»Die Sache ist die, Cady: Meine Mutter hat mir immer eingeschärft, keine ungebetenen Ratschläge zu erteilen. Aber ich werde es trotzdem tun, denn ich liebe zwar meine Mama, aber dich auch, und du hattest außer Maxine niemanden, der dir die Ratschläge gibt, die du brauchst.«

»Dir ist aber schon klar«, erwiderte Cady, »dass du nicht dafür zuständig bist, mein Leben in Ordnung zu bringen. Ich bin …«

»Entschuldige«, unterbrach Olivia sie. »Als ich im Krankenhaus war, wer hat mir da Thai-Nudeln und Cherry-Garcia-Eiscreme gebracht?«

»Das hättest du dir auch vom Lieferdienst bringen lassen können.«

»Tatsächlich? Und hätte dieser Lieferdienst mir auch absolute Hingabe geschenkt und mich dazu gezwungen, die Chemotherapie zu überleben, ganz zu schweigen von der Operation? Hätte besagter Lieferdienst mir im Krankenhaus 84, Charing Cross Road von Anfang bis Ende vorgelesen und den Korken einer Flasche Champagner knallen lassen, als ich mit der Chemo fertig war? Hätte er sich endlose Runden Basketball mit Sebastian angesehen, damit er nicht verrückt vor Sorge wird?«

»Das war purer Egoismus von meiner Seite«, erwiderte Cady. »Du bist meine einzige Freundin.«

Mit quälender Klarheit erinnerte sich Cady an jenen Moment vor drei Jahren, als Olivia verkündet hatte, dass bei ihr Brustkrebs festgestellt worden sei. In jenem Augenblick hatte Cady schlagartig begriffen, welche Gefahr darin lag, jemanden zu lieben: die absolute Panik bei dem Gedanken, dass diese Person die Erde verlassen könnte.

Olivias einzige Reaktion war ein sanftes Lächeln.

»Und woher sollte ich überhaupt das Geld dafür nehmen?«, fragte sich Cady laut. Sie starrte wütend auf ihr enttäuschendes Kaninchen, das in der Ecke lehnte.

Olivia horchte auf, als sie einen möglichen Sieg witterte. »Dein Vermieter hat dir doch Geld angeboten, um den Mietvertrag für den Laden aufzulösen, oder? Und das Inventar kannst du liquidieren, was auch ein hübsches Sümmchen einbringen dürfte. Und ich werde dir genug für das Flugticket leihen.«

Cady schnaubte spöttisch. »Als ob du und Sebastian so viel übrig hättet.«

»Wir haben ein bisschen was für schlechte Zeiten auf die Seite gelegt; und falls es dir noch nicht aufgefallen ist, meine Freundin, die Zeiten sind mehr als schlecht.«

»Es sind meine schlechten Zeiten, nicht deine.«

»Das spielt keine Rolle.« Sie tat Cadys Einwand mit einer Handbewegung ab. »Was nützt mir denn Geld, wenn ich einer Freundin nicht helfen kann? Und ich glaube an deine Kunst. Wie lautet dieser alte Spruch? Anonymus war eine Frau?«

»Was hat das denn mit irgendwas zu tun?«

»Weil du zwangsläufig anonym bleiben wirst, wenn du mit deiner Kunst nicht an die Öffentlichkeit gehst, um sie den Leuten zu zeigen. Mit Schülerporträts kannst du vielleicht die Rechnungen bezahlen, aber du bist Künstlerin. Und ich kann deine Mäzenin sein! Oder so ähnlich. Wenigstens ein Flugticket kann ich dir kaufen!«

Für eine Fotografin war Cady ziemlich erfolgreich. Sie schleppte ihre schwere Kameratasche durch die ganze Bay Area, von Marin bis Morgan Hill, von den Stränden des Pazifischen Ozeans bis zu den Skihängen am Lake Tahoe, und sie lehnte nie einen Auftrag ab. Sie fotografierte Hochzeiten, Bar- und Bat-Mizwas, Erstkommunionen, Jahresfeiern, Geburtstage und Familientreffen. Sie hatte regelmäßige Aufträge für Jahrbuchporträts an hiesigen Schulen, darunter die Berkeley French American International School. Und sie machte hin und wieder Aufnahmen für das Sunset-Magazin und ein paar Wohndesign-Kataloge.

Trotzdem, jeden Monat ihre Rechnungen zahlen zu können, war das eine, regelmäßig etwas auf die Seite zu legen, etwas völlig anderes.

»Danke, Olivia, aber für ein paar Wochen nach Paris davonzulaufen, wird nichts lösen.«

»Sieh es so, dass du zu etwas hinläufst. Wie auch immer, ich muss zurück ins Büro. Versprich mir nur eins«, sagte Olivia, während sie ihre Sachen zusammenpackte, um aufzubrechen. »Du wirst dich keiner Möglichkeit verschließen. Wenn dir etwas Aufregendes in den Schoß fällt, wirst du es ergreifen.«

»Etwas Aufregendes? Was denn zum Beispiel?«, fragte Cady gereizt. Sie liebte Olivia, aber wann war ihr denn zuletzt etwas Großartiges »in den Schoß gefallen«? Das war etwas, was behüteten, in einem Vorort aufgewachsenen Leuten wie Olivia passierte, nicht ungewollten Waisenkindern wie Cady. Cady hatte kämpfen und intrigieren – und hin und wieder stehlen – müssen, um irgendetwas von dem zu kriegen, was sie hatte.

Aber Olivia zog nur die Augenbrauen hoch und schenkte ihr ein selbstgefälliges Lächeln. »Man kann nie wissen, was die Zukunft bereithält.«

Jetzt musste Cady doch lachen, umarmte ihre Freundin und sah dann zu, wie Olivia zurück zu ihrem Wagen schlenderte, das Gesicht in die Morgensonne gereckt, während sie sich Zeit ließ, um einem vorbeikommenden Radfahrer zuzuwinken. Olivia sah in allem die Schönheit: dem Sonnenuntergang, den Großstadtlichtern, die über der Bucht funkelten, einem Fremden auf einem Fahrrad.

Wohingegen Cady bei demselben Anblick den Smog, den Stau auf dem Freeway, ein Verkehrsrisiko sah.

Einen Moment lang lehnte sie den Kopf gegen den Türrahmen, ignorierte den Staub, der sich auf dem Inventar des Ladens sammelte, und versuchte, nicht auf die Stelle hinter der Kasse zu starren, wo Maxine gestürzt war. Sie wurde Maxine nicht gerecht – oder auch nur ihrem Vermieter, um genau zu sein. Sie wurde sich selbst nicht gerecht oder Olivia oder irgendjemandem sonst.

Sie sah sich nicht als echte Künstlerin, wie Olivia angedeutet hatte. Aber … Cady Anne Drake hatte dieser Welt doch sicher irgendetwas zu bieten?

Wenn sie nur wüsste, was.

Kapitel 4

1915

PROVENCE

CHÂTEAUCLÉMENT

Yves Clément

Sie ist wieder da draußen, fährt auf dieser verfluchten Karussellmaschine.

Es ist ein gespenstischer Anblick: eine erwachsene Frau, die auf einem Kinderspielzeug fährt, in silbriges Mondlicht getaucht, während ihr weißes Kleid hinter ihr herflattert, wie ein aus der Zeit gefallenes Geschöpf. Was denkt sie? Was will sie? Joséphine ist ein Rätsel, das Yves nie gelöst hat, nie lösen können wird. Vielleicht war sie zu jung, als sie geheiratet haben, oder er war zu alt. Der Altersunterschied scheint sie nicht zu stören, aber ihm gibt er zu denken. Immer mehr im Laufe der Zeit.

Yves denkt zurück an den Birnengarten seines Vaters. Arbeiter steckten zu Beginn des Frühjahrs Flaschen über knospende Zweige, sodass die Früchte im Glas zu ihrer vollen Größe heranwuchsen, als poires prisonnières, gefangene Birnen. Sobald die Birne reifte, wurde die Flasche mit Weinbrand gefüllt, eau de vie genannt, Lebenswasser. Und nach der Ernte wurde die Flasche auf ein hohes Regal gestellt und zu besonderen Anlässen hervorgeholt, und alle fragten sich, wie dieses Wunder geschehen, wie die Birne in die Flasche gekommen war.

Bis an sein Lebensende würde der Klang von Windspielen Yves an die glitzernden Glasflaschen erinnern, die von diesen Zweigen baumelten und in den berühmten Winden aneinanderklirrten, die über die Felder und Obstgärten der Provence fegten.

Seine Joséphine ist wie eine Knospe in einer Flasche, eine Gefangene des Glases, die auf ihr eau de vie wartet.

»Wonach sucht sie?«

Seine Gedanken, ausgesprochen von einem anderen. Marc-Antoine, ihr geliebter Sohn, tritt zu Yves ans Fenster der Bibliothek und starrt Joséphine durch das Bleiglas an, ebenso verständnislos wie sein Vater.

Yves legt eine Hand auf die neuerdings muskulöse Schulter seines Sohns, vermisst das stechende Gefühl der zarten Schulterblätter eines kleinen Jungen unter seiner Handfläche. Marc-Antoines dunkle Haare und Augen ähneln den geheimnisvollen Zügen seiner Mutter, und anders als Yves war Marc-Antoine schon immer groß für sein Alter. Vor zwei Jahren, als er erst zwölf Jahre alt war, hat er Yves an Größe überholt. Unser Sohn wird zu einem jungen Mann, denkt Yves, während die Angst seinem Herzen einen Stich versetzt. Allzu bald wird Marc-Antoine ihn hier in diesem einst prächtigen Château allein zurücklassen, allein mit Joséphine – dem blassen Abbild der Frau, die er einst geheiratet hat.

»Wonach sucht sie, wenn sie nachts auf diesem albernen Karussell fährt?« Marc-Antoine stellt die Frage zum hundertsten Mal.

Yves gibt keine Antwort.

Es gibt keine Antwort, nur das Dunkel der Nacht und das unheimliche Lied des Karussells.

Kapitel 5

GEGENWART

OAKLAND

Cady

Cady war bei ihrem zweiten Drink, als sie sich die Zehe hart an einem Bein der Couch anstieß. Wütend und frustriert schnellte sie herum und verpasste Gus einen Tritt.

Härter als beabsichtigt.

Das geschnitzte Kaninchen kippte um und knallte gegen die Granitkante eines Beistelltischs. Mehrere bereits gelockerte Fugen gaben nach, und geschnitzte Holzteile kullerten über den Boden wie Elemente aus einem Spielzeugbaukasten: die Ohren, zwei Latten aus einer Seite, die Vorderbeine.

»Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid …«

Scham überwältigte sie. Das war etwas, was sie als Kind getan hätte. Cady war zur Therapie gegangen, zu Achtsamkeitskursen, hatte Dutzende von Selbsthilfebüchern gelesen, um zu lernen, ihre Gewaltausbrüche in den Griff zu bekommen. Sie nahm sich einen Moment Zeit, um die Augen zu schließen, einzuatmen, bis sie bis vier gezählt hatte, die Luft bis sieben anzuhalten und bei acht wieder auszuatmen, genau wie Maxine es ihr beigebracht hatte.

Und dann schnappte sie sich ihre Kamera. Sie nahm die Welt deutlicher wahr, wenn sie durch das Objektiv blickte. Das ermöglichte es ihr, sich zu konzentrieren, in sich selbst zu versinken und die Außenwelt auszublenden.

Wie durch eine Korrekturbrille konnte sie durch das Kameraobjektiv auf eine Art sehen, auf die sie es mit dem bloßen Auge nicht konnte.

Jetzt erkannte Cady: In der Bauchhöhle des Kaninchens war etwas versteckt.

Ein in rosa Stoff gewickeltes Bündel.

Sie hockte sich hin und versuchte, es herauszuziehen, aber es steckte fest. Sie würde noch eine der beschichteten Holzlatten entfernen müssen, um da ranzukommen. Nach kurzem Zögern kam Cady zu dem Schluss, dass dem armen zerbrochenen Gus ohnehin ein paar schwere Reparaturen bevorstanden, daher stemmte sie den Rumpf behutsam auseinander.

Der rosa Seidenstoff fühlte sich unglaublich weich an und schimmerte sanft im Schein der Deckenbeleuchtung. Cadys Herz hämmerte vor gespannter Erwartung, während sie den Stoff zurückschob.

Darin lag ein geschnitztes Holzkästchen.

Ein atemberaubend schönes Kästchen. Ein Kunstwerk. Aus hellem Eschenholz geschnitzt, mit Akanthusblättern, Blumen und Schnörkeln verziert, lackiert, poliert und mit einem Messingschloss gesichert.

Wer würde ein solches Kästchen in einem Karussellkaninchen verstecken? Und warum? Wenn sie das Schloss aufbrach, würde sie dann ein Stück Geschichte zerstören? Oder … könnte darin irgendetwas sein, das bares Geld wert war? Etwas, das eine Reise nach Paris finanzieren oder es ihr vielleicht sogar ermöglichen könnte, umzuziehen und einen Neuanfang zu machen, wie sie es sich von Gus erhofft hatte?

Könnte das hier das kleine Stück Magie sein, von dem Olivia immer behauptete, dass Cady es eines Tages finden würde?

Nein, rief sie sich in Erinnerung. So etwas passiert mir nicht.

Zum Teufel mit der Geschichte. Cady schnappte sich ein Spachtelmesser, steckte es unter die Kante des Schlosses und klopfte mit einem Hammer auf das Ende des Messers. Sie musste das Kästchen an mehreren Stellen aufstemmen, bevor das Schloss endlich aufsprang.

Sie öffnete den Deckel.

Ein kindischer Teil von ihr hoffte auf ein Geheimfach voller Juwelen oder Gold, als hätte ein Pirat seine Beute in diesem Kinderspielzeug versteckt. Stattdessen fand sie eine alte sepiafarbene Fotografie einer Frau, einen streng geflochtenen Zopf dunkelbraunen Haars, eine kunstvoll geschnitzte hölzerne Rose und eine Notiz, in schrägen Lettern verfasst. Die Tinte war zu hellem Braun verblasst, und die Schrift war schwer zu entziffern, aber Cady konnte erkennen: Je t’aime toujours, et encore. Souviens-toi de moi.

»Ich liebe dich auf immer und ewig«, übersetzte Cady laut. »Gedenke meiner.«

Sie untersuchte das Kästchen auf einen doppelten Boden, nur um ganz sicher zu sein, aber da war sonst nichts. Mit Sicherheit kein Schatz. Enttäuschung durchflutete sie.

»Das war’s? Das ist dein großes Geheimnis?« Cady funkelte das Kaninchen wütend an. »Ich muss schon sagen, Gus, nach all den Jahren lässt du mich jetzt wirklich hängen.«

Trotzdem schoss sie noch ein paar Fotos von dem versteckten Kästchen.

Es sei denn … der Mann auf der Antiquitätenmesse hatte ihr gesagt, es könnte Gus’ Wert steigern, wenn seine Herkunft nachweisbar wäre. Gab es irgendwelche Hinweise darauf, woher die Kaninchenfigur gekommen war?

Cady strich über den seidigen Haarzopf und inspizierte die kunstvoll geschnitzte hölzerne Rose, komplett mit winzigen Dornen. Sie erinnerte Cady an die Blume an Gus’ Seite, die Scott Ripley so beleidigt hatte. Es gab keine Signatur oder Kennzeichnung irgendeiner Art, schon gar keine Messingplakette, die einen Hinweis auf die Herkunft der Figur gab.

Sie nahm die Fotografie in die Hand. Die Frau stand steif vor einem Karussell, ohne zu lächeln, und sah genau in die Kamera. Sie schien jung zu sein, vermutlich Anfang zwanzig. Ihre Haare waren hochgesteckt, mehrere Strähnen hatten sich gelöst und umrahmten ein herzförmiges Gesicht. Sie trug ein dunkles, hochgeschlossenes Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte, darüber eine Arbeitsschürze. Keine sichtbaren Spitzen oder andere Verzierungen. Cady war wohl kaum eine Modeexpertin, aber es sah aus, als stamme es aus der Zeit der Jahrhundertwende, mit Sicherheit vor dem Ersten Weltkrieg.

Die Fotografie war etwas unscharf und schief, wie von einem Amateur aufgenommen. Aber auf einem professionell aussehenden Fotografenstempel in der Ecke rechts unten stand: Château Clément.

Cady schaltete ihren Computer ein und suchte im Internet, fand aber nichts zu diesem Namen. Sie las, dass nur noch ein paar Dutzend Châteaus in gutem Zustand existierten; meist war die Instandsetzung zu teuer, nachdem sie während der Französischen Revolution aufgegeben und später, im Laufe der beiden Weltkriege, weiter beschädigt worden waren. Die überwiegende Mehrheit war verfallen.

Wahrscheinlich war die Frau nicht die Dame des Hauses gewesen – für einen Fototermin hätte sie doch sicher ihr feinstes Kleid angelegt, oder? Tatsächlich sah sie mit der Schürze und den unordentlichen Haaren eher wie eine Bedienstete aus. Was zur nächsten naheliegenden Frage führte: Wer hätte eine Fotografie von einer Bediensteten aufgenommen und sie dann zusammen mit einer Liebesbotschaft in einem Kästchen versteckt? Und warum?

Cady holte ihre Fotografenlupe, um die unscharfen Details des Karussells im Hintergrund genauer zu betrachten. Sie erkannte zwei geschnitzte Pferde, eine Kutsche und ein Kaninchen, das ein bisschen wie Gus aussah.

Gus. Sie starrte auf ihr armes, ausgeweidetes Kaninchen.

»Es tut mir leid, kleiner Mann. Lass uns sehen, was wir tun können, um dich wieder in Ordnung zu bringen.«

Sie hob ihn auf den großen Projekttisch und legte ein bisschen Edith Piaf auf, um in Stimmung zu kommen.

Als Cady damals anfing, für Maxine zu arbeiten, um sie für Gegenstände zu entschädigen, die sie aus ihrem Laden hatte mitgehen lassen, hatte sie lediglich geputzt und aufgeräumt und geordnet. Aber im Laufe der Zeit zeigte Maxine ihr ein paar grundlegende Reparaturarbeiten an Antiquitäten, wie man neue Dinge mit Krakelierfarbe und Schmirgelpapier alt aussehen ließ oder den Inhalt des Staubsaugerbeutels in Ritzen und Hohlräume rieb. Sie lernte, Gold- und Silbervergoldungen aufzutragen, eine richtige Schellackpolitur durchzuführen und mithilfe von Glasuren anzudeuten, dass es sich um eine Antiquität handelte, um den Wert zu steigern. An den Wochenenden, auf dem Flohmarkt, zeigte Maxine ihr, was wertvoll war, was eine billige Nachahmung war und wie man den Unterschied erkannte.

Trotzdem war Cady keine ausgebildete Restauratorin, daher hatte sie immer gezögert, an dem Kaninchen zu arbeiten, voller Angst, ihre Bemühungen würden seinen Wert eher mindern statt steigern. Aber jetzt, da Gus ohnehin nicht das war, wofür sie ihn gehalten hatte, könnte sie ihn doch wenigstens wieder zusammensetzen, nahm sie an. Cady genoss es, mit den Händen zu arbeiten und sich aufs Wesentliche zu besinnen: schmirgeln und schaben und beschichten. Der Prozess war beruhigend, heilsam.

Während Edith Piaf von ihrer Liebe zu Paris säuselte, ließ Cady die Gedanken schweifen und grübelte über die Frau auf der Fotografie nach. War die Botschaft für sie oder von ihr geschrieben worden? Und wie könnte man Château Clément ausfindig machen? Könnte es der Name eines alten Fotostudios sein anstatt eines tatsächlichen, echten »Châteaus«?

Das Telefon klingelte. In letzter Zeit hatte Cady Anrufe ignoriert, aber das hier war Olivia. Wenn sie ihre Anrufe ignorierte, würde Olivia wieder persönlich vor der Tür stehen.

»Hey«, meldete sich Cady. »Was gibt’s?«

»Weißt du noch, wie ich dir vor ein paar Tagen gesagt habe, du solltest auf ein bisschen Magie in deinem Leben hoffen?«

»Ja … warum?« Hatte Olivia irgendwie intuitiv erahnt, was Cady in Gus’ Bauch gefunden hatte?

»Addison Avenue Books will dir einen Vertrag für einen Bildband über Pariser Karussells anbieten.«

»Wovon redest du da?«

»Welchen Teil hast du nicht verstanden?«

»Sie bieten mir einen Buchvertrag an? Wer sind diese Leute?«

»Es ist ein kleiner Verlag mit Sitz in San Francisco, aber es gibt ihn schon lange. Sie veröffentlichen vor allem hochwertige Bildbände. Es ist ein Nischenmarkt, aber ein lukrativer. Eine der leitenden Lektorinnen spielt mit Sebastian Golf, und er hat ihr die Idee schmackhaft gemacht. Ich habe ihr einen Link zu deiner Website geschickt, und sie hat sich dein Online-Portfolio angesehen. Ich habe ihr erzählt, dass das Magazin wahnsinnig gern mit dir zusammenarbeitet, dass du so professionell und exklusiv und sehr gefragt bist, bla, bla, bla.«

»Im Grunde hast du gelogen.«

»Ich habe nicht gelogen. Ich habe aufgewertet. Jedenfalls, da du keinen Agenten hast, habe ich ihr gesagt, sie soll mir den Vertrag schicken, damit ich ihn für dich durchsehen kann. Den juristischen Fachjargon und das alles.«

»Ich weiß nicht … ich meine … ich weiß wirklich nicht …«

»Cady, das Universum überreicht dir gerade ein Riesengeschenk. Nimm das Angebot deines Vermieters an, den Mietvertrag aufzulösen, verkauf Maxines Inventar, lagere dein Zeug in meiner Garage ein und fahr nach Paris.«

»Apropos Geschenke vom Universum, hör dir das an: Gus ist umgekippt – ehrlich gesagt, habe ich ihn getreten – und zerbrochen und …«

»Du hast ihn getreten? Armer Gus.«

»Ja, aber hör zu: In seinem Bauch war ein Kästchen versteckt.«

»Was war darin? Goldmünzen? Diamanten? Ein Haufen Geld in irgendeiner altertümlichen Währung?«

»Nein, leider nicht. Nur eine Fotografie und ein Haarstrang. Und eine Liebesbotschaft und eine hölzerne Rose.«

»Das ist ja cool! Irgendwelche Hinweise auf Gus’ Herkunft?«

»Auf Anhieb nicht, aber ich habe den Namen eines Châteaus gefunden. Allerdings habe ich keine Ahnung, wo es ist. Im Internet steht nichts darüber.«

»Na ja, das Buchangebot besagt ausdrücklich, Fotos von Pariser Karussells, aber es gibt keinen Grund, weshalb du deine Kreise nicht ein bisschen weiter ziehen solltest, wenn du erst einmal im Land bist«, meinte Olivia. »Du könntest dieses Château ausfindig machen. Du und ich, wir wissen doch beide, dass du sowieso bald besessen von deinem geheimnisvollen Kästchen sein wirst. Du kannst gar nicht anders.«

Das stimmte: Cady las sich die Botschaft schon jetzt immer wieder durch, starrte auf die Fotografie, strich über den Haarzopf, grübelte über die Bedeutung der Rose nach. Maxine hatte immer gesagt, sobald irgendetwas Cadys Interesse geweckt hätte, sei sie wie ein Hund mit einem Knochen. Einerseits hatte ihre Zielstrebigkeit ihr bei ihrer Arbeit als Fotografin geholfen; andererseits trieben ihre Besessenheiten mitunter einen weiteren Keil zwischen sie und die anderen.

»Im Ernst, Cady«, fuhr Olivia fort. »Trau dich. Du weißt doch, was man sagt: Die Welt ist deine Auster.«

»Ich mag keine Austern.«

»Hast du jemals Austern probiert?«

»Nein.« Cady mochte es, wenn die Dinge berechenbar waren. Für einen Fotoauftrag nach Paris davonzulaufen, fühlte sich … tollkühn an. Allein schon bei der Vorstellung wurde ihr schwindelig, so wie damals, als sie zum ersten Mal das Meer gesehen hatte und am Rand einer sehr steilen Klippe gestanden hatte.

»Die Bezahlung ist nicht besonders, aber du lebst ja bescheiden, daher dürfte es schon reichen. Im Ernst, Cady, was hast du schon zu verlieren?«

Cady umklammerte das Telefon so fest, dass ihre Knöchel schmerzten. Selbst sie musste zugeben: Es fühlte sich an, als würde das Universum ihr einen richtig harten Schubs in Richtung La Belle France geben.

»Du hast doch gar keinen Platz in deiner Garage«, wandte Cady ein. »Sie ist schon jetzt vollgestopft mit Zeug von allen möglichen Leuten.«

»Ich werde Platz schaffen«, antwortete Olivia mit einem triumphierenden Unterton. »Das heißt, das ist ein Ja?«

»Mais oui«, erwiderte Cady, womit sie sie beide verblüffte.

Kapitel 6

1900

ANGERS, FRANKREICH

DIEKARUSSELLFABRIKVONGUSTAVEBAYOL

Maëlle Tanguy

Ein Blatt Papier, zerknittert und feucht davon, dass sie es stundenlang in der Hand gehalten hat, enthält die kostbare Adresse der Fabrik: 215 bis, Rue de Paris, in Angers. Maëlle Tanguy ist erschöpft von der Zugfahrt, und ihre Muskeln schmerzen, nachdem sie ihre Tasche den ganzen Weg vom Bahnhof hierher getragen hat … aber trotzdem, in dem Moment, in dem sie eintritt, weiß sie, dass das Atelier des Meisters der Ort ist, an den sie gehört.

Sie weiß von den Düften des frisch gesägten Holzes, dem beißenden Geruch von Terpentin und dem milden Aroma von Leinöl. Orangefarbenes Nachmittagslicht strömt durch riesige Fenster herein, die trübe von anhaftendem Sägemehl sind. Halb gebaute Tiere liegen auf den Werkbänken verstreut wie Kadaver, aber anstatt geschlachtet zu werden, warten sie darauf, dass die letzten Holzstreifen zugeschnitten und beschichtet, zusammengefügt und geschnitzt werden. Sie müssen mit Holzkitt und Spachtelmasse ausgebessert, abgeschmirgelt und mit Gesso grundiert werden. Vor allem fehlen ihnen die leuchtenden Farben von Braun und Gelb, Türkisblau und Scharlachrot; die Gold- und Silber- und Kupfervergoldungen; die geschnitzten Quasten, Glöckchen, Juwelen und Rosetten, die sie in zauberhafte Karussellfiguren verwandeln werden.

Maëlle weiß es.

»Bonjour, mademoiselle. Was kann ich für Sie tun?«

Maëlles Träumerei wird von dem schönsten Mann unterbrochen, den sie je gesehen hat. Sein Gesicht erinnert sie an einen Engel, der von einem alten Meister gemalt wurde. Seine kräftigen, muskulösen Arme sind wie die des Metzgersohns, der einen ganzen Wildschweinkadaver über der Schulter tragen konnte, ohne ins Keuchen zu kommen; aber die Intelligenz, die in seinen graugrünen, meerfarbenen Augen funkelt, ist etwas völlig anderes. Der glänzende Schweiß auf seiner breiten Stirn – und auf dem faszinierenden Dreieck aus Haut, das sein offener Kragen entblößt – macht ihn nur noch attraktiver.

»Bonjour, monsieur«, antwortet Maëlle, auf einmal atemlos. Der Mann sieht viel zu jung aus, um der berühmte Monsieur Bayol zu sein, aber Maëlle kann sich nicht sicher sein.

Sein Blick verharrt einen Moment auf ihrem Gesicht, bevor er dreist über ihren Körper gleitet. »Was willst du, kleines Mädchen?«

»Sie sind … sind Sie der Meister?«

Das Lachen des Mannes ist ein tiefes, volltönendes Geräusch, das ein verwirrendes, unerwünschtes Kribbeln irgendwo tief unten in ihrem Bauch auslöst. Maëlle ist nicht vollkommen ahnungslos, was Männer angeht. Sie hat zwei ziemlich einfallslose Heiratsanträge kurz in Betracht gezogen und dann abgelehnt: einen von dem Metzgersohn und einen anderen von einem Witwer mittleren Alters mit einem kleinen Bauernhof außerhalb der Stadt. Aber die Männer aus ihrem Fischerdorf verblassen im Vergleich zu dem Mann, der jetzt vor ihr steht.

»Nein, ich bin nicht der Meister – noch nicht. Ich bin Léon Morice«, erwidert er. »Es freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Ich bin Maëlle Tanguy. Enchantée.«

»Sie sind aus der Bretagne?«

Sie nickt. Ihr Akzent und ihr Name verraten sie. Sie weiß, dass der Rest von Frankreich seine gallische Nase über die Bretonen rümpft, aber sie versteht nicht, warum; die Felsenküste ist wild und bezaubernd, die Fischerdörfer sind malerisch, die Häuser stehen hoch und aufrecht. Aber es stimmt, dass ihr Dorf der majestätischen Architektur von Angers nicht das Wasser reichen kann; auf ihrem Weg vom Bahnhof ist sie an einer alten steinernen Burg vorbeigekommen und an den Resten mittelalterlicher Stadtmauern entlanggegangen. Es gab Fachwerkhäuser mit Bleiglasfenstern und Balkonkästen voller Blumen, riesige, mit Balkonen verzierte Gebäude mit weißen Kuppeln und die allgegenwärtigen dunklen Schieferdächer, denen die Stadt ihren Spitznamen »die Schwarze Stadt« verdankte.

Maëlle hatte den Fehler gemacht, im Gehen zu den Dächern hinaufzustarren, sodass sie um ein Haar von einer Kutsche überfahren worden wäre.

»Sehen Sie dort drüben den Mann mit dem Schnurrbart, der das Huhn schnitzt?« Léon beugt sich nah an sie heran, und sein langer Arm zeigt auf die andere Seite des Studios. »Er ist der Meister, den Sie suchen: Monsieur Gustave Bayol.«

»Ich … danke.« Maëlle erinnert sich an ihre Mission. Sie knöpft den hohen Kragen ihrer Bluse zu, steckt eine widerspenstige dunkle Haarlocke wieder unter ihren Hut, streicht ihren Reisemantel glatt, drückt die Schultern durch und bahnt sich einen Weg durch das überfüllte Atelier, um sich neben den kleinen Mann mit dem breitkrempigen Hut zu stellen. Die gewachsten Enden seines Schnurrbarts ringeln sich nach oben und bilden zwei seitliche Fragezeichen, eines auf jeder Wange.

»Bonjour, Monsieur Bayol. Ich bin Maëlle Tanguy.« Die Worte, die sie sich auf der Zugfahrt zurechtgelegt hat, fliegen so sicher und schnell davon wie die Sumpfvögel, die der Jagdhund ihres Vaters aufscheucht. Anstelle der eloquenten Zeilen, die sie aufsagen will, platzt sie heraus: »Ich möchte bei Ihnen in die Lehre gehen.«

Gustave Bayol lacht so heftig, dass sein Schnurrbart bebt.

Dabei hören die Hände des Meisters nie auf, sich über dem riesigen Huhn zu bewegen: Jede einzelne Feder wird individuell gearbeitet, und Holzspäne fliegen, während er mit Hobel und Messer zu Werke geht. Schrapp, schrapp, schrapp. Seine Hände sind schwielig und kräftig, narbig von unzähligen Kerben, die die Klingen und Meißel geschlagen haben. Die Hände eines Bildhauers.

»Bitte.« Maëlles Herz flattert, aber ihre Stimme ist fest. »Ich habe ein Empfehlungsschreiben von einem begabten Bildhauer, bei dem ich viele Jahre gelernt habe.«

»Sagen Sie mir, Mademoiselle«, erwidert Monsieur Bayol, »dieser Bildhauer hat einer jungen Frau gestattet, bei ihm in die Lehre zu gehen? Wie lautet sein Name?«

»Émile Tanguy.« Maëlle spürt, wie ihr die Hitze in die Wangen steigt. »Er ist mein Vater, das ist wahr, aber er ist sehr begabt, und er hat mich alles gelehrt, was er weiß.«

»Mademoiselle …« Bayol schüttelt den Kopf, seine Belustigung schlägt in Ärger um.

»Ich bin bereit, sechs Wochen ohne Lohn zu arbeiten, Monsieur. Wenn Sie mit meiner Arbeit nicht zufrieden sind, können Sie mich gern fortschicken.« Maëlle muss ihre Stimme erheben, um sich über dem Hämmern und Scheppern und den gelegentlichen Wortwechseln in dem kleinen Heer von Männern Gehör zu verschaffen, die wie Ameisen durch die Karussellfabrik wuseln. »Ich werde Sägemehl zusammenfegen und Kaffee kochen; ich kann Ihre Fenster für Sie putzen, sodass Sie mehr Licht zum Arbeiten haben. Ich bin sehr geübt darin, Werkzeuge zu schleifen und Messer zu schärfen. Aber vor allem kann ich schnitzen. Ich bin eine Künstlerin, Monsieur.«

Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als ein Teil dieser Welt zu sein, zu arbeiten, zu erschaffen, das Holz unter ihren Händen zu spüren, einen schlichten Stumpf in etwas Neues und Magisches zu verwandeln. Nur dann fühlt sie sich wirklich lebendig. Wie würde andernfalls ihre Zukunft aussehen?

Ihr Vater, der arme Mann, hatte vier Mädchen und nur einen einzigen Sohn gezeugt, Erwann, der kränklich ist und ohne Talent für irgendetwas, außer Gedichte zu schreiben. Maëlle ist das Kind, das im Alter von vier Jahren das Messer des Vaters in die Hand nahm, sanft mit dem Finger darüberstrich, fasziniert von seinem Griff und Glanz, und mit der Zeit lernte, es am Riemen zu schärfen und abends am Feuer die Klinge am Schleifstein zu wetzen. Maëlle ist diejenige, die verzückt zusah, wie ihr Vater seinen Meißel an das Holz anlegte und mit dem Hammer daraufklopfte, sodass winzige Teile hochstoben, um die Gestalt freizulegen, die dem innewohnte, was einst ein Baum gewesen war.

Maëlles Vater ist eher Möbeltischler als Bildhauer, aber nur aus Notwendigkeit, nicht weil sein Talent beschränkt wäre. Er ist ein verhinderter Künstler, wie sie selbst. Ihr Vater hatte für jedes seiner Kinder einen Zwerg geschnitzt; ihrer war weich und geglättet von ihren Händen, die immer wieder über ihn rieben, während sie die Ritzen und Vertiefungen ertastete und den Kurven und Linien folgte.

Ihr Bruder, Erwann, Maëlles engster Freund und Vertrauter, als sie aufwuchsen, hat sie ermutigt, nach Angers zu gehen. Um schnitzen zu lernen, um für das zu kämpfen, was sie wollte, so absurd es vielleicht auch schien. Erwann hat für sie ein Sonett mit dem Titel »Der aufstrebende Lehrling von Angers« geschrieben. Sie bewahrt es in ihrer Tasche auf, hat es im Zug immer wieder gelesen, schöpft Kraft aus der Erinnerung, wie sie nachts auf ihrer geteilten Schlafstatt miteinander flüsterten und sich ihre Träume, ihre Ziele anvertrauten. Bis sie zu alt wurden, um sich ein Bett zu teilen, und sie zum Schlafen zu ihren Schwestern geschickt wurde. Trotzdem ist Erwann noch immer ihr bester Freund. Er versteht sie.

Erwanns Gedicht ist neben dem Zwerg ihres Vaters das einzige Andenken, das Maëlle mit nach Angers genommen hat. Abgesehen von diesen Schätzen enthält ihre Tasche lediglich einen Satz Wechselkleidung, eine Arbeitsschürze, eine Rolle mit ihren Entwürfen und eine wunderschön geschnitzte Rose, die in ein Stück rosa Seide gewickelt ist. Sie hat sie aus einem einzigen Stück Kastanienholz geschnitzt, das sie ganz allein von dem Hügel vor der Stadt nach Hause geschleppt hat, nahe dem Friedhof, auf dem ihre Mutter begraben liegt. Maëlle hat monatelang an der Rose gearbeitet, während sie Erwann nachts husten hörte, manchmal so schlimm, dass er Blut spuckte.

Maëlle ist auch krank. Krank in der Seele, weil sie für die Sünde bezahlt, als Mädchen geboren zu sein und zu einer Frau heranzuwachsen. Es macht sie wütend, und die Wut verleiht ihr Kraft.

»Das hier sind einige meiner Projekte«, sagt Maëlle, während sie ihre Entwürfe vorzeigt. Sie streicht die Papiere glatt, so gut es auf der staubigen Werkbank geht. »Aber bitte glauben Sie mir: Ich besitze weitaus mehr Talent fürs Schnitzen als fürs Zeichnen.«

Bayol wirft einen Blick auf die Entwürfe und nickt geistesabwesend.

Dann wickelt sie ihr Glanzstück aus. Ihre Rose – die Blüte zart, die Blätter fein geädert, und alles perfekt proportioniert bis hin zu den Dornen.

Monsieur Bayol legt Hammer und Meißel beiseite und streckt die Hand aus, und Maëlle legt die Rose in seine offene Handfläche. Er studiert die handwerkliche Ausführung, dreht die Blume, um sie aus allen Winkeln zu betrachten. Er tauscht einen Blick mit seinem Lehrling, Léon, der hinzugetreten ist, um zu sehen, was Maëlle mitgebracht hat.

Léons einzige Reaktion ist ein Schulterzucken.

»Bitte, Messieurs, ich flehe Sie an«, sagt Maëlle, während sie zwischen den beiden Männern hin und her sieht. »Ich habe alles, was ich habe, für die Zugfahrkarte ausgegeben. Ich weiß nicht, wohin ich mich sonst wenden soll.«

»Sie sind ohne finanzielle Mittel in eine fremde Stadt gekommen?« Bayol runzelt die Stirn. »Sie haben keine Verwandten in Angers?«

Sie schüttelt den Kopf. Maëlle ist nur mit dem, was sie in ihre Tasche gestopft hat, von zu Hause weggelaufen. Sie war sich so sicher gewesen.

»Dann haben Sie sich schon jetzt als ein törichtes Mädchen erwiesen«, erklärt Bayol, gibt ihr die Rose wieder und gleitet mit den Fingern über die Partie mit Federn, die er eben geschnitzt hat, um die Tiefe der Rillen zu überprüfen.

»Ich erlaube mir zu widersprechen«, entgegnet Maëlle verzweifelt. »Würden Sie dasselbe sagen, wenn ich ein Mann wäre?«

Sie zuckt zusammen, als sie schallendes Gelächter hört. Hinter ihr haben sich mehrere andere Arbeiter versammelt, um ihrem Gespräch zuzuhören.

»Aber Sie sind kein Mann, mein Kind«, erwidert Monsieur Bayol geistesabwesend. Er nimmt sein Aushöhlmesser in die Hand, schneidet damit einen winzigen Teil des Holzes heraus und pustet den Abfall beiseite. »Sie sind ein Mädchen. Die grundsätzlichen Unterschiede muss ich Ihnen doch sicher nicht erklären.«

»Männer sind Tapferkeit bei einer Frau nicht gewohnt«, entgegnet Maëlle, froh, dass ihre Stimme, trotz des Hämmerns ihres Herzens, so ruhig klingt. Empörung beflügelt ihr Selbstbewusstsein. »Sie verwechseln sie mit Torheit. Wir stehen am Beginn eines neuen Jahrhunderts, sollten wir da nicht bereit sein, eine neue Lebensweise zu akzeptieren?«

Bayol richtet sich auf, legt eine Hand auf sein Huhn und wirft einen Blick hinter Maëlle zu Léon und den anderen. Als er zu Maëlle zurücksieht, hebt sich eine Seite seines Schnurrbarts, während er ihr ein Lächeln schenkt.

Maëlle spürt ein süßes Triumphgefühl durch ihre Adern fließen.

Kapitel 7

GEGENWART

PARIS

Cady

Die entfremdende, entmenschlichende Erfahrung einer internationalen Flugreise, über die sich die meisten Leute beklagten, war für Cady nichts Neues. Sie hatte als Kind gelernt, Schlange zu stehen und zu warten, leise von einem Kontrollpunkt zum nächsten zu schlurfen und sich dabei in ihren Gedanken zu verlieren.

Paris hingegen war beängstigend. Die fremde Sprache, die unbekannten Straßen – selbst die charmante, aber winzige Wohnung auf dem linken Seineufer, die sie gemietet hatte, drei Stockwerke eine gewundene Steintreppe hoch –, all das warf sie aus dem Gleichgewicht und gab ihr noch mehr als sonst das Gefühl, fehl am Platz zu sein.

Daher konzentrierte sie sich auf die Karussells.

Vor einem Monat, in einer, wie es jetzt schien, anderen Welt – als sie noch in Oakland und die Planung dieser Reise nur eine theoretische Übung gewesen war –, hatte Cady recherchiert und ihre »Unverzichtbar«-Liste Pariser Karussells erstellt. Während Sebastian das Abendessen kochte, hatten Cady und Olivia einen Stadtplan von Paris auf dem Küchentisch ausgebreitet, die Standorte der historischen Gefährte ausfindig gemacht und die nächstgelegenen Métrostationen notiert. Es gab so viele Karussells zu besichtigen, an Orten mit verlockenden, exotisch klingenden Namen: Trocadéro, Montmartre, Jardin du Luxembourg, Forum des Halles, Bois de Vincennes, Jardin du Ranelagh, Musée des Arts Forains, Square des Batignolles.

Jetzt, während die Tage verstrichen, hatte Cady große Freude daran, ein Karussell nach dem anderen von ihrer Liste abzuhaken und detaillierte Anmerkungen zu dem Datum, der Tageszeit und dem Wetter sowie die Namen und E-Mail-Adressen der Eltern jeglicher Kinder zu notieren, die auf ihren Fotos zu sehen waren.

Am Morgen nach ihrer Ankunft hatte sich Cady noch vor Sonnenaufgang aus dem Bett gequält, um das Trocadéro-Karussell zu fotografieren. In traditionellem Holz gestaltet und mit Pariser Szenen illustriert, mit dem orange-rosa Licht der Morgendämmerung, das in dem riesigen Wasserspiegel des Warschauer Brunnens schimmerte, war es der perfekte Ort, um den Pariser Sonnenaufgang zu fotografieren.

Es schien klischeehaft, das Eiffelturm-Karussell in ein Buch über Pariser Karussells aufzunehmen, aber andererseits, wie könnte sie es nicht tun? Cady schlug den Weg zur Ecke Pont d’Iéna und Quai Branly ein, genau unter den funkelnden Lichtern des Eiffelturms gelegen. Mit seinen tänzelnden weißen Pferden bot das zweistöckige Karussell die ideale Gelegenheit für eine klassische Aufnahme des Eiffelturms – mit einem Karussell im Vordergrund. Sie hielt die Kamera so, dass sie auch ein paar Palmen in der Nähe erfasste, deren Wedel träge in der Brise wehten.

Als Nächstes nahm sie sich das Karussell beim Hôtel de Ville vor, dem Rathaus von Paris. Das abendliche Licht warf harte Schatten auf die hübschen Farbtöne der Paneele, die mit klassischen Szenen bemalt waren. Das kunstvolle Doppeldecker-Karussell ähnelte dem beim Trocadéro, daher stellte Cady sicher, dass das Rathaus als Erkennungszeichen im Hintergrund zu sehen war.

Das kleine Karussell mit dem grünen Dach im Jardin du Luxembourg behauptete, das älteste von Paris zu sein, aus dem Jahr 1879. Die ziemlich heruntergekommenen, verwitterten Tiere, die seit über einem Jahrhundert von Tausenden Kindern geritten worden waren, hatte Charles Garnier entworfen, der Architekt des Pariser Opernhauses. Die Hauptattraktion des Karussells, lernte Cady, während sie zusah, wie das Gefährt sich drehte, war das jeu de bagues oder Ringstechen: Kinder, die auf den äußeren Pferden saßen, versuchten im Vorbeifahren, mithilfe von Stöcken blecherne Ringe aufzuspießen. Ein runzeliger älterer Mann lud die Ringe mit einer komplizierten, geübten Bewegung rasch auf alte Holzschäfte.

Jeden Tag, wenn Cady an den Orten, an denen sie fotografierte, zum Mittagessen in ein Bistro oder eine Brasserie in der Nähe ging, versuchte sie, den Kellner in ein Gespräch über Karussells zu verwickeln, aber fast alle schienen hoffnungslos gelangweilt und nicht interessiert an dieser amerikanischen Touristin und ihren Fragen.

Cady ließ sich davon nicht beirren und fand sogar Gefallen an dieser Schroffheit. Sie erschien ihr … authentisch. In Oakland war es ihr immer peinlich gewesen, zu ihrem Lebensmittelgeschäft zu gehen, wo die arme Kassiererin gezwungen war, ihren Namen auf dem Beleg zu lesen und »Danke, Mrs. Drake« zu sagen. Selbst in einem warmen Tonfall geäußert, waren die freundlichen Worte nicht aufrichtig gemeint; Cady stellte fest, dass ihr die eher reservierte Haltung der Pariser lieber war.

Daher blieb sie für sich, erkundete die verwirrenden Kopfsteingassen, fand heraus, wie man Lebensmittel einkaufte, suchte Karussells auf und wechselte möglichst wenig Worte mit den Eltern, die sie um Erlaubnis bat, ihre Kinder bei den Karussellfahrten zu fotografieren.

Und doch, während sie zusah, wie sich die Karussells, jedes neue entzückender als das zuvor, immer und immer wieder im Kreis drehten, spürte Cady, wie sich irgendetwas in ihr veränderte. Sie fühlte sich immer wohler in der Anonymität, die sie empfand, während sie durch die Straßen von Paris schlenderte. Mit jeder neuen Bekanntschaft, mit der sie in ihrem holperigen Französisch mühsam ein Gespräch zustande brachte, fühlte sie sich freier, ein neues Gesicht, einen anderen Aspekt von sich zu zeigen.

Etwa einen Monat nach ihrer Ankunft saß Cady in einem Straßencafé bei einer reichhaltigen Mahlzeit, die ihr von einem effizienten, aber unfreundlichen Kellner serviert worden war, und blickte auf den belebten Platz vor dem Panthéon, als ihr auf einmal bewusst wurde, dass Olivia recht gehabt hatte. Allmählich fühlte sich Cady … wenn nicht glücklich, dann zumindest irgendwie wohl in ihrer Haut. Irgendwie schien ihr normales Auftreten, das die Leute im freundlichen Kalifornien als übermäßig forsch und direkt bezeichneten, hierher zu passen. Vielleicht war es auch nur so, dass sie in der Fremde, wo sie Sprache und Gebräuche nicht wirklich verstand, vieles einfach an sich abperlen ließ, anstatt zu versuchen, jede Kleinigkeit zu analysieren.

Und jeden Abend, wenn sie sich in ihre winzige Wohnung zurückzog, öffnete Cady das geheimnisvolle Kästchen, das sie in Gus gefunden hatte. Immer wieder las sie die handschriftliche Notiz, strich über den seidigen Haarzopf, studierte die hölzerne Rose und die Fotografie der Frau, die geliebt hatte oder geliebt worden war. Oder beides.

Souviens-toi de moi.

Irgendwie schien es wie eine Antwort auf eine Frage, bei der sie nie genau gewusst hatte, wie sie sie stellen sollte.

Kapitel 8

2001

OAKLAND

Cady, 13 Jahre alt

Ihre Kindheit war nicht nur schlecht gewesen. Cady hatte undeutliche, verschwommene Erinnerungen, wie sie auf dem Schoß einer Frau gehalten wurde, die nach Talkumpuder und Mandelhandcreme roch, überlagert von dem leicht säuerlichen Geruch alter Milch. Sie erinnerte sich noch immer an die warme Haut der Frau und das besänftigende Pochen ihres Herzens. Kräftige, dralle Arme umfassten sie wie eine Liebesfessel, die sie niemals loslassen würde.

Und es gab Mrs. Greta mit ihrer tiefen, freundlichen Stimme und ihrem unbekümmerten Lachen. Sie hatte eine Dose mit knallroten Bonbons, die sie verteilte, und brachte die Kinder zum Kichern, wenn sie sagte: »Jetzt stellt euch für eure Vitamine an, Kinder, und esst sie alle schön auf.«

Aber jedes Mal, wenn Cady anfing, sich zu entspannen, zu lernen, wie die Welt funktionierte, und Zuneigung zu jemandem zu entwickeln, wurde sie herausgerissen und in eine andere Situation gebracht. So nannten die Sozialarbeiter die aufeinanderfolgenden Häuser und Wohnungen, denen sie zugewiesen wurde: »Situationen.« Eine Serie von Pflegestellen, dann eine Reihe von Wohngruppen, von einer zur nächsten verlegt aus Gründen, die für sie keinen Sinn ergaben; sie verstand nur, dass sie sich, den Entscheidungsträgern zufolge, »schwer einfügte«.