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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Andrea von Lehn schlug die Augen auf und blickte in die Dunkelheit. War das nun noch Traum oder bereits Wirklichkeit – dieses dumpfe Brausen, in das sich ein heftiges Klappern und Klirren mischte, so, als schlügen zwei Fensterflügel gegeneinander? Andrea richtete sich etwas auf und stützte sich auf ihren Ellenbogen. Nun war sie ganz sicher, dass dies nicht mehr zu ihrem aufregenden Traum gehörte, in dem sie, zusammen mit ihren beiden jüngeren Brüdern Nick und Henrik, versucht hatte, vor einer gefährlichen Sturmflut davonzulaufen. In ihrem Traum war das Wasser ständig näher gekommen. Sie hatte schreien wollen, aber kein Ton war aus ihrer Kehle gekommen. Noch jetzt fühlte sie sich ganz erschöpft von diesem Albtraum. Andrea lauschte in die Nacht hinaus. Ein heftiger Sturm tobte um das Haus. Diese Geräusche waren wohl schuld an ihrem Traum gewesen. Und nun vernahm sie auch das Klappern und Klirren wieder, das aus dem oberen Stockwerk zu dringen schien. Andrea warf einen kurzen Blick zu Hans-Joachim hinüber, der trotz des nächtlichen Lärms tief und fest schlief. Kein Wunder, denn er hatte einen anstrengenden Besuch hinter sich. Bei einem Bauern waren zwei Kälbchen und ein rundes Dutzend Ferkel angekommen. Beinahe geräuschlos erhob sich die junge Frau. Sie warf einen leichten Morgenmantel über und schlüpfte in die Hausschuhe. Dann rannte sie hinauf in das Obergeschoss. Das halb geöffnete Fenster hatte sie rasch gefunden. Doch ehe sie die beiden Flügel fest verriegelte, beugte sie sich hinaus und lauschte in die Nacht. Ganz deutlich konnte sie die Schreie der beiden Esel drüben im Tierheim vernehmen.
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Seitenzahl: 156
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Andrea von Lehn schlug die Augen auf und blickte in die Dunkelheit.
War das nun noch Traum oder bereits Wirklichkeit – dieses dumpfe Brausen, in das sich ein heftiges Klappern und Klirren mischte, so, als schlügen zwei Fensterflügel gegeneinander?
Andrea richtete sich etwas auf und stützte sich auf ihren Ellenbogen. Nun war sie ganz sicher, dass dies nicht mehr zu ihrem aufregenden Traum gehörte, in dem sie, zusammen mit ihren beiden jüngeren Brüdern Nick und Henrik, versucht hatte, vor einer gefährlichen Sturmflut davonzulaufen. In ihrem Traum war das Wasser ständig näher gekommen. Sie hatte schreien wollen, aber kein Ton war aus ihrer Kehle gekommen. Noch jetzt fühlte sie sich ganz erschöpft von diesem Albtraum.
Andrea lauschte in die Nacht hinaus. Ein heftiger Sturm tobte um das Haus. Diese Geräusche waren wohl schuld an ihrem Traum gewesen. Und nun vernahm sie auch das Klappern und Klirren wieder, das aus dem oberen Stockwerk zu dringen schien.
Andrea warf einen kurzen Blick zu Hans-Joachim hinüber, der trotz des nächtlichen Lärms tief und fest schlief. Kein Wunder, denn er hatte einen anstrengenden Besuch hinter sich. Bei einem Bauern waren zwei Kälbchen und ein rundes Dutzend Ferkel angekommen.
Beinahe geräuschlos erhob sich die junge Frau. Sie warf einen leichten Morgenmantel über und schlüpfte in die Hausschuhe. Dann rannte sie hinauf in das Obergeschoss.
Das halb geöffnete Fenster hatte sie rasch gefunden. Doch ehe sie die beiden Flügel fest verriegelte, beugte sie sich hinaus und lauschte in die Nacht. Ganz deutlich konnte sie die Schreie der beiden Esel drüben im Tierheim vernehmen. Und nun das aufgeregte Schnattern der beiden Affen. Dazwischen das beruhigende Gebrumm der Bärin Isabell.
Gleich darauf vernahm Andrea überhaupt nichts mehr. Nur das Fauchen einer neuen Windbö – und das dumpfe Krachen eines Astes, der zu Boden fiel.
Frühlingsstürme, die gab es in jedem Jahr. Doch Andrea konnte sich nicht erinnern, jemals einen so schlimmen Sturm miterlebt zu haben.
Andrea wollte das Fenster schließen, als sie drüben im Tierheim einen schwachen Lichtschein bemerkte. Das musste Helmut Koster sein, der nach den Tieren schaute. Also war auch er von dem dumpfen Brausen in der Luft wach geworden.
Unvermittelt fühlte sich die junge Frau beruhigt, fast geborgen. Noch jemand war in dieser Nacht wach. Allein dieser Gedanke wirkte schon beruhigend.
In diesem Moment fuhr das gezackte Band eines Blitzes vom Himmel nieder. In der gleichen Sekunde erfüllte ein ohrenbetäubender Donner die Luft. Das Gewitter war unmittelbar über dem Haus.
Andrea schauerte in ihrem dünnen Morgenmantel zusammen. Plötzlich sehnte sie sich nach ihrem warmen Bett und der Nähe ihres Mannes. Hastig drehte sie den Fensterriegel herum, schloss die Zimmertür hinter sich und huschte wieder hinab ins Erdgeschoss.
Unten angekommen, machte sie zwei alarmierende Entdeckungen. Als sie in der Diele das Licht anknipsen wollte, funktionierte die Lampe nicht. Der Blitz schien irgendwo eingeschlagen zu haben. Beinahe mechanisch hob Andrea den Telefonhörer ab. Auch hier war die Leitung tot …
Die zweite alarmierende Entdeckung machte Andrea im Schlafzimmer. Das Bett ihres Mannes war leer, die Decke zurückgeschlagen.
Andrea hastete zum Fenster. Doch sie konnte nichts erkennen, denn draußen ging eben eine schwere Wasserwand nieder. Wo mochte Hans-Joachim stecken? Andrea fühlte, wie ihr Herz plötzlich in der Kehle klopfte. Vielleicht steht er auf der Terrasse und schaut zum Tierheim hinüber, dachte sie. Er wird die Tiere auch gehört und sich Sorgen gemacht haben.
Doch als Andrea die Terrasse betrat, konnte sie ihren Mann auch hier nicht entdecken.
Als Hans-Joachim drei Minuten später erschien, blutete er an der Stirn und war schneeweiß im Gesicht. Bei Andreas Anblick atmete er erleichtert auf. »Hier bist du also«, murmelte er und nahm sie fest in seine Arme, als kehre sie gerade von einer Weltreise zurück.
Andrea schaute ihn verwundert und ein wenig ängstlich an. »Was hast du?«, fragte sie mit belegter Stimme.
Er fuhr sich über die Stirn und antwortete: »Ich wachte plötzlich auf, hörte den Krach draußen und sah, dass du verschwunden warst. Mein erster Gedanke war, dass du zu den Tieren gelaufen sein könntest. Also rannte ich hinüber. Doch ich fand dich nirgends.« Er zog sie wieder enger in seine Arme. »Ich war so erschrocken«, murmelte er. »Es war entsetzlich!«
»Aber du bist doch verletzt, Hans-Joachim«, sagte Andrea und fuhr sehr vorsichtig über die Stirn ihres Mannes.
»Ach das«, entgegnete er und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Als ich zum Tierheim rannte, streifte etwas meine Stirn. Ich glaube nicht, dass die Wunde sehr gefährlich ist.« Plötzlich flog ein Grinsen über sein sympathisches Gesicht. »Bilde dir bloß nicht ein, dass du nun Witwe wirst«, erklärte er. »Eine hübsche junge Witwe, der alle Männer nachlaufen! Das kommt überhaupt nicht infrage. So rasch wirst du mich nicht los.«
»Aber Hans-Joachim«, erwiderte Andrea leise und presste ihr Gesicht an seine Brust. »Darüber darfst du keine Witze machen. Es war furchtbar, als ich ins Schlafzimmer kam und dein leeres Bett sah. Ich hatte entsetzliche Angst, dass dir etwas passiert sein könnte. Komisch, ich bin doch sonst nicht so schreckhaft …«
Hans-Joachim legte seine Hand unter das Kinn der jungen Frau und zwang sie, ihn anzuschauen. »Mir ist ja nichts passiert, mein Liebling«, entgegnete er leise. »Und unsere Tiere scheinen auch alle wohlauf zu sein. Helmut Koster war schon bei ihnen, als ich kam. Aber ich fürchte, dass nicht alle so gut bei diesem Sturm weggekommen sind wie wir. Zweifellos hat der Sturm bös gehaust. Wir werden es morgen früh wohl hören.«
*
Am nächsten Morgen, als die Kinder von Sophienlust gerade beim Frühstück saßen, ging plötzlich die Tür des Speisesaals auf und Denise von Schoenecker kam herein. Ihre beiden Söhne Nick und Henrik folgten ihr auf dem Fuß.
Denise ging sofort auf Frau Rennert zu, die wie gewöhnlich zusammen mit den Kindern frühstückte, und gab ihr die Hand. »Ich wollte mich nur erkundigen, wie Sie hier in Sophienlust diese schreckliche Nacht überstanden haben«, begann sie, nachdem sie neben Frau Rennert Platz genommen und sich von der Heimleiterin Kaffee hatte eingießen lassen. »Die Kinder sind doch hoffentlich alle wohlauf?«
Frau Rennert nickte. »Den Kindern geht’s gottlob gut«, antwortete sie. »Aber sie waren heute Nacht natürlich sehr aufgeregt. Schwester Regine und ich, wir hatten unsere Last, bis wir sie alle beruhigt hatten.«
»Die Telefonleitungen sind unterbrochen«, fuhr Denise fort. »Ich wollte bereits in der Nacht hier anrufen. Und auch bei Andrea drüben. Aber das Telefon war stumm. Erst in solchen Situationen merkt man, wie hilflos der Mensch Naturkatastrophen gegenübersteht. Man kann nichts tun, als stumm dasitzen und abwarten. Schrecklich ist das!«
Die Heimleiterin nickte. »Für die Kinder war es natürlich am schlimmsten, als der Strom plötzlich ausfiel«, berichtete sie. »Ich fürchtete allen Ernstes, dass eine Panik ausbrechen würde. Die Kleineren haben geweint und nach Ihnen gerufen, Frau von Schoenecker. Zum Glück besaßen die älteren Kinder Disziplin genug, um sich nicht ebenfalls aus der Fassung bringen zu lassen. Pünktchen hat uns viel geholfen. Und die Geschwister Langenbach ebenfalls.«
Denise lächelte. »Sie sind ja auch schon sehr lange bei uns«, entgegnete sie. »Ist an den Gebäuden etwas beschädigt worden? Bei uns drüben in Schoeneich wurden einige Bäume entwurzelt und das Dach einer Scheune abgedeckt. Aber das sind zum Glück Schäden, die man rasch wieder beheben kann. Wenn Menschen bei einem solche Unwetter verletzt werden, ist das natürlich viel schlimmer.«
Frau Rennert nickte bekräftigend. »Da haben Sie recht«, meinte sie. »Bei uns hier in Sophienlust wurde zum Glück überhaupt nichts beschädigt. Justus berichtete mir, dass die Ponys noch immer sehr unruhig seien. Anschließend beschwerte sich Magda ganz schrecklich über ihn. Der gute Justus scheint aus der Küche den ganzen Würfelzucker für die Ponys mitgenommen zu haben.«
Denise hatte lächelnd zugehört. Nun fragte sie ernst: »Haben Sie schon etwas von Andrea gehört? Oder von meinem Schwiegersohn? Ich bin so unruhig. Seit ich weiß, dass Andrea ein Kind erwartet, bin ich viel aufgeregter als sie selbst. Dieser Sturm heute Nacht … Andrea muss doch wach geworden sein. Bestimmt hat sie sich geängstigt.«
Schmunzelnd erwiderte Frau Rennert: »Soweit ich Andrea kenne, lässt sie sich nicht so rasch aus der Ruhe bringen, Frau von Schoenecker. Da machen Sie sich bestimmt unnötigerweise Kopfzerbrechen.«
»Trotzdem habe ich meinen Mann gebeten, sofort bei Andrea vorbeizufahren und sich zu erkundigen, wie sie diese Nacht überstanden hat. Eher habe ich doch keine Ruhe«, erklärte Denise.
»Trinken Sie noch eine Tasse Kaffee mit uns«, lud Frau Rennert die Herrin von Sophienlust ein. »Und schauen Sie die Kinder an. Sie haben den Sturm längst vergessen und sind schon wieder übermütig und vergnügt.«
»Wenn man nur ebenfalls so rasch vergessen könnte wie die Kinder«, meinte Denise nachdenklich.
Doch Frau Rennert und Denise täuschten sich. Die Kinder hatten diese schreckliche Nacht keineswegs schon vergessen. Auch bei ihnen drehte sich das Gespräch ausschließlich um den Sturm. Nick erklärte gerade mit überlegener Miene: »Ich weiß gar nicht, weshalb ihr euch so anstellt! Schließlich ist ein Blitzableiter auf dem Dach hier. Da kann euch also gar nichts passieren. Wenn ein Blitz runtergeht, dann geht er in den Draht. Und von dort weiter in die Erde. Es ist also eine völlig ungefährliche Angelegenheit.«
Die Kleineren blickten voller Bewunderung zu ihm auf. Toll, was Nick alles wusste! Aber auch Pünktchen war dieser Ansicht. Für sie war Nick einfach einmalig.
Eines von den kleinen Kindern fragte: »Was ist nun aber, wenn ein dicker Baum auf das Dach fällt? Da nützt doch der Blitzableiter gar nichts.«
Nick musste ein paar Sekunden lang überlegen, bevor er mit der gleichen überlegenen Miene wie zuvor entgegnen konnte: »Ach, weißt du, der Dachstuhl von Sophienlust ist sehr stabil gebaut. Da kann schon mal ein dicker Baumstamm draufknallen, ohne dass etwas passiert. Du siehst ja, er hat schon viele Jahre gehalten. Da wird er auch in Zukunft standhalten.«
In diesem Moment wurde Nick auf seinen jüngeren Bruder aufmerksam. Henrik saß am Tisch und grinste übers ganze Gesicht. Misstrauisch erkundigte sich Nick: »Was gibt’s denn da zu lachen?«
Noch immer feixend antwortete Henrik: »Ich wusste gar nicht, dass du dich so wenig vor Gewittern fürchtest, Nick. Heute Nacht, als es so fürchterlich blitzte und krachte, da bist du auf einmal aus deinem Zimmer gekommen und die Treppe hinuntergerannt …«
»Das interessiert die anderen doch bestimmt nicht«, unterbrach Nick seinen Bruder rasch.
Doch Henrik war so schön in Fahrt, dass er sich von Nick jetzt auf gar keinen Fall das Konzept verderben lassen wollte. Unbeeindruckt fuhr er fort: »Da bist du die Treppe hinuntergerannt und hast Vati gefragt, ob man drunten im Keller nicht sicherer sei als droben in den Schlafzimmern.«
Wütend funkelte Nick seinen kleineren Bruder an. Von oben herab entgegnete er: »Das war doch nur für den Notfall gedacht. Wenn tatsächlich das Dach einstürzen oder in Brand geraten sollte. Mit so etwas muss man schließlich rechnen.«
Wie stets, so half Pünktchen auch diesmal wieder ihrem großen Freund aus der Patsche. »Wenn er euren Vater mal etwas fragt, das kannst du ihm doch nicht als Feigheit auslegen«, wies sie den Kleineren zurecht.
»Ich meine ja bloß«, verteidigte sich Henrik. Er hatte plötzlich einen roten Kopf bekommen. Sehr fair war das ja wirklich nicht von ihm gewesen. Da musste er Pünktchen recht geben.
Zu Henriks Erleichterung betrat in diesem Moment sein Vati den Speisesaal. Die Augen sämtlicher Anwesenden richteten sich sofort auf ihn.
Alexander von Schoenecker sagte lächelnd zu seiner Frau: »Andrea und Hans-Joachim geht es gut. Du brauchst dich also nicht länger zu beunruhigen.«
»Gott sei Dank«, murmelte Denise.
»Allerdings hat der Sturm auch bei ihnen schlimme Schäden angerichtet«, fuhr Alexander in seinem Bericht fort. »Das Dach des Tierheims wurde abgedeckt. Sie merkten es jedoch erst heute Morgen, als es hell wurde. Dabei ist Hans-Joachim in der Nacht ein Dachziegel knapp am Gesicht vorbeigeflogen und hat ihn sogar geringfügig an der Stirn verletzt, als er zum Tierheim ging. Aber er hatte keine Ahnung, was für ein ›Wurfgeschoss‹ das war.«
Denise hatte wieder erschreckte Augen bekommen. »Ich fahre nachher gleich nach Bachenau hinüber«, entschied sie.
Lachend entgegnete ihr Mann: »In Ordnung, du werdende Großmutter. Mir glaubst du ja doch nicht, sondern musst dich durch eigenen Augenschein davon überzeugen, dass Andrea gesund und munter ist. Bevor unser Sohn Henrik geboren wurde, warst du nicht halb so aufgeregt wie jetzt.«
Lächelnd antwortete Denise: »Ich glaube, das ist immer so, wenn man Großmutter wird. Das musst du verstehen …«
»Ich bemühe mich ja«, antwortete Alexander schmunzelnd und legte den Arm um ihre Schulter. »Ich bin ja auch aufgeregt bei dem Gedanken an mein erstes Enkelkind. Schließlich hat man eine Menge Verantwortung als werdender Großvater.«
Während sich die beiden Eheleute zärtlich in die Augen schauten, stand Frau Rennert auf und sagte zu den Kindern: »Nun ist es aber Zeit, dass ihr eure Schultaschen holt. Der Bus ist schon längst vorgefahren.«
»Bist du heute Mittag noch hier, Mutti?«, erkundigte sich Nick, ehe er den Speisesaal verließ.
»Ich weiß es nicht, Nick«, antwortete Denise. »Ich werde jetzt zuerst zu Andrea fahren. Wenn dort alles in Ordnung ist, komme ich zum Mittagessen zurück.«
*
Als Denise eine halbe Stunde später in Bachenau eintraf, saß Andrea im Wohnzimmer auf der Couch und starrte den Radioapparat an wie ein giftiges Reptil. »Hast du eben die Nachrichten gehört, Mutti?«, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.
Denise schüttelte den Kopf. »Nein, ich höre nicht gern Radio, wenn ich am Steuer sitze.«
Andrea deutete anklagend auf den Radioapparat. »Eben haben sie von dem Sturm heute Nacht berichtet«, erklärte sie. »In Bayern muss er noch viel schlimmer gehaust haben als hier.«
»Das ist in Gebirgsgegenden doch häufig so«, versuchte Denise, ihre aufgeregte Tochter zu beruhigen. Sie fuhr ihr über die Stirn und sagte besorgt: »Du siehst blass aus, Andrea. Konntest du nach dem Sturm nicht mehr einschlafen, Kind? Dann solltest du dich jetzt ein wenig hinlegen.«
Aber davon wollte Andrea nichts wissen. Aufgeregt fuhr sie fort: »Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Mutti. Wirklich nicht. Aber dort in Bayern, da hat es ein schlimmes Unglück gegeben.«
Betroffen schaute Denise ihre Tochter an. »Was ist denn passiert?«, fragte sie. »War es diese Radiomeldung, die dich so aufgeregt hat?«
Andrea nickte. »Erinnerst du dich an die Hofers, Mutti?«, fragte sie gleich darauf.
Denise schüttelte den Kopf.
»Der Name kommt mir allerdings bekannt vor«, meinte sie nachdenklich.
»Der Einödhof in der Nähe von Berchtesgaden … Erinnere dich doch, Mutti!«, rief Andrea atemlos. »Hans-Joachim und ich, wir waren schon öfters zu einem kurzen Urlaub dort. Übers Wochenende oder zu Pfingsten.«
»Ja, natürlich!« Denise schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Jetzt weiß ich endlich, wen du meinst. Was ist mit den Hofers? Hat man im Radio über sie berichtet?«
Andrea nickte heftig. »In den Bergdörfern muss der Sturm ganz furchtbar gehaust haben, Mutti. Es hat in Bayern tatsächlich ein paar Tote gegeben. Ein Mann wurde von einem umstürzenden Baum erschlagen, ein anderer von einem zusammenbrechenden Dachstuhl.«
»Und was ist mit den Hofers?«, unterbrach Denise ihre Tochter.
»Herr Hofer ist schwer verletzt und wurde in ein Krankenhaus gebracht. Das sagten sie in dem Rundfunkbericht. Seine Frau und die beiden Kinder sind ebenfalls verletzt, aber allem Anschein nach nicht ganz so schlimm. Sie wurden nach ambulanter Behandlung wieder entlassen. Der Reporter sprach sogar mit Frau Hofer. Ich habe ihre Stimme ganz deutlich erkannt.«
Denise strich ihrer Tochter über die etwas wirren Haare.
»Bestimmt wird auch Herr Hofer wieder ganz gesund werden …«
»Aber das ist ja noch nicht alles, Mutti«, unterbrach Andrea ihre Mutter. »Der Hof – er soll beinahe völlig zerstört sein. Wo sollen die armen Leute denn nun wohnen?«
Rat suchend schaute Andrea in das Gesicht von Denise. Dort zeigte sich zum ersten Mal ein Lächeln. »Nun verstehe ich«, sagte Denise. »Du machst dir Sorgen, wo Frau Hofer und ihre beiden Kinder nun wohnen sollen, nicht wahr?«
Andrea nickte heftig.
»Dann schreib ihr doch ganz einfach«, schlug Denise vor. »Du weißt, in Sophienlust haben wir immer Platz für Leute, die in Not geraten sind. Und wenn wir einmal kein freies Zimmer haben sollten – nun, dann rücken die Kinder ganz einfach mal zusammen. Das haben sie schon öfters getan. Und niemand hat gemurrt.«
In Andreas Augen war ein Hoffnungsfunke aufgeglommen.
»Du meinst also …?«, fragte sie zaghaft.
Denise lachte und strich ihrer Tochter über die Haare. »Ich weiß, dass die kleine Veronika Hofer dein Liebling ist und dass du deine Ruhe bestimmt nicht eher wiederfindest, bis du sie in Sicherheit weißt. Also, setz dich mit den Leuten in Verbindung. Sag ihnen, dass sie herkommen können.«
»Das geht aber nicht, Mutti«, meinte Andrea kleinlaut.
»Was geht nicht, Kind?«
»Ich kann mich nicht mit den Hofers in Verbindung setzen. Das Telefon funktioniert doch nicht …« Andrea hatte den Kopf sinken lassen.
Denise konnte nur mit Mühe ein Schmunzeln verbeißen. »Du hast es also schon versucht?«
»Schlimm, Mutti?«
Jetzt musste Denise laut lachen. »Nein, Andrea, natürlich nicht. Um ganz ehrlich zu sein, ich hätte mich fast gewundert, wenn du nicht auf der Stelle etwas unternommen hättest. Tja, wie willst du dich nun mit den Hofers in Verbindung setzen?«
»Ich hab es mir schon überlegt, Mutti«, gestand Andrea. Ihre blassen Wangen waren plötzlich gerötet, in ihren Augen lag keine Müdigkeit mehr. »Hör zu, wie ich mir das gedacht habe.«
*
»Hans-Joachim, wir müssen unbedingt nach Berchtesgaden fahren«, empfing Andrea ihren Mann, als dieser zum Mittagessen aus seiner Tierarztpraxis kam.
Er runzelte die Stirn. »Nach Berchtesgaden?«, fragte er ein wenig ratlos. »Meinst du zu den Osterfeiertagen? Da könnte ich es sicher einrichten, die Praxis für ein paar Tage zu schließen und …«
»Nein, nicht zu Ostern. Jetzt, sofort!«, unterbrach Andrea ihn.
Hans-Joachim schüttelte verwundert den Kopf. »Wie kommst du denn auf eine solche Idee?«
»Erinnerst du dich an die Familie Hofer?«, antwortete Andrea mit einer Gegenfrage.
Hans-Joachim hatte sich immer noch nicht ganz von seiner Überraschung erholt. »Freilich erinnere ich mich an die«, sagte er langsam. »Nette Leute. Wir waren ja schon ein paarmal bei ihnen …«
»Herr Hofer ist schwer verletzt und liegt im Krankenhaus«, platzte Andrea nun heraus. »Auch seine Frau und die beiden Kinder sind verletzt, aber zum Glück nicht ganz so schlimm. Sie brauchten nicht im Krankenhaus zu bleiben.«
»Und weshalb willst du zu ihnen fahren?«, erkundigte sich Hans-Joachim geduldig. »Wenn der Mann schwer verletzt ist, kommt unser Besuch doch bestimmt nicht sehr gelegen. Frau Hofer wird dann kaum Gäste aufnehmen wollen …«
»Aber ich will doch nicht bei ihnen wohnen, Hans-Joachim!«, rief Andrea. »Ihr Haus ist fast ganz zerstört worden bei dem schrecklichen Sturm heute Nacht. Sie brauchen jetzt jemanden, bei dem sie unterschlüpfen können.«
Hans-Joachim schmunzelte. »Aha, so langsam dämmert es bei mir. Du möchtest also zu den Hofers fahren und sie herholen. Vermutlich sollen sie nach Sophienlust. Stimmt’s? Hast du denn schon mit deiner Mutter darüber gesprochen?«