Das Kinderverstehbuch - Sandra Winkler - E-Book

Das Kinderverstehbuch E-Book

Sandra Winkler

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Beschreibung

Kinder verstehen leicht gemacht Warum lieben Kinder es, Knöpfe zu drücken? Warum haben sie ganz plötzlich Angst vor Fremden? Warum verstecken sie sich so gern – und sind trotzdem so verdammt schlecht darin? Unsere kleinen Mitmenschen sind merkwürdige Wesen. Sie bewegen sich vor allem hüpfend vorwärts, tun selten, was man ihnen sagt, und wollen sich nur von Nudeln und Süßigkeiten ernähren. Sandra Winkler, Mutter zweier Töchter, geht der Sache auf den Grund: Anhand von Erkenntnissen aus Psychologie, Entwicklungspädiatrie und Neurologie erklärt sie anschaulich und unterhaltsam, warum die Kleinen so anders ticken als wir. Ein Buch, das uns Kinder besser verstehen lässt und die Augen für das Wundersame und Wundervolle an ihnen öffnet. - Das eigenartige Verhalten kleiner Kinder wissenschaftlich entschlüsselt und humorvoll erzählt - Zweifarbig illustriert - Das perfekte Geschenk für alle Eltern und Großeltern

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Seitenzahl: 205

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Sandra Winkler

Alles über Gemüseverweigerer, Popelmonster und Matratzenhüpfer

Inhaltsverzeichnis

Warum lieben Kinder Kuscheltiere abgöttisch?Warum werfen Kinder Bauklotztürme um, immer und immer wieder?Warum haben Babys ganz plötzlich Angst vor Fremden?Warum wollen Kinder ständig gekitzelt werden?Warum muss auf Matratzen immer erst einmal gehüpft werden?Warum haben Kinder Angst vor Monstern unter ihrem Bett?Warum essen Kinder immer das Gleiche?Warum machen Kinder einem alles nach?Warum sind Jungen so wild?Warum schmeißen Kinder alles runter?Warum steckt in kleinen Kindern so viel Wut?Warum sind Kinder so gut im Memory?Warum lieben Kinder Reime?Warum spucken Kinder beim Autofahren?Warum schreien Babys immer zur gleichen Zeit am Abend?Warum sind Kinder von Verletzungen fasziniert?Warum popeln Kinder ungehemmt?Warum sind Geschwister meist so verschieden?Warum lieben Kinder Sand?Warum haben Mädchen die rosa Phase?Warum lieben alle Jungs Bob den Baumeister?Warum sind Kinder so versessen auf Süßigkeiten?Warum können kleine Kinder keine Geheimnisse für sich behalten?Warum haben Kinder ständig Langeweile?Warum drücken Kinder so gern Knöpfe?Warum trödeln Kinder immer so?Warum schlafen Kinder so schlecht ein und dann nicht durch?Warum quälen Kinder Tiere?Warum verkleiden Kinder sich ständig?Warum schaukeln Kinder so gern und unermüdlich?Warum heißt es irgendwann »Jungs gegen Mädchen«?Warum schlafen Kinder quer im Bett?Warum fragen Kinder so viel nach dem Tod?Warum sammeln Kinder alles?Warum streiten Geschwister sich andauernd?Warum pinkeln Babys immer auf dem Wickeltisch?Warum können kleine Kinder nicht teilen?Warum verstecken Kinder sich so gern – und sind trotzdem so verdammt schlecht darin?Warum pflücken Kinder Blumen?Warum machen Kinder so oft nicht das, was man ihnen sagt?Die ExpertenrundeLiteraturverzeichnisDank an

Warum lieben Kinder Kuscheltiere abgöttisch?

Die Maschine, die den Kindern im Labor vorgeführt wird, sieht hochwissenschaftlich aus: zwei Boxen mit Knöpfen, Schaltern, Lichtern. In einer liegt ein grüner Holzblock. Ein anwesender Forscher schließt die Deckel beider Boxen, lässt Lichter blinken, ein Signal ertönen. Und dann liegt plötzlich in der zweiten Box ebenfalls ein grüner Holzblock. Was die Kinder nicht wissen: Durch die Forscherhand ist er dorthin gelangt.

Nein, Kindern sollte man nichts vormachen. Aber hier, an der University of Bristol, geschah es im Namen der Wissenschaft. Den Jungs und Mädchen, alle zwischen drei und sechs Jahren, musste für einen Versuch weisgemacht werden, dass vor ihnen ein Gerät steht, das von jedem x-beliebigen Gegenstand mal eben schnell eine identische Kopie anfertigen kann. In diesem Glauben durften die Kinder dann das Gerät selber ausprobieren. Dafür hatten sie Spielzeuge mitgebracht. Viele auch ihr liebstes Kuscheltier oder Kuscheltuch – eines, an dem ihr Herz hing, mit dem sie regelmäßig schliefen und das sie schon länger als ein Drittel ihres Lebens besaßen. Ihre Spielsachen kopieren zu lassen, fiel den meisten Kindern nicht schwer. Und fast alle wollten danach lieber die nigelnagelneue Version mit nach Hause nehmen. Warum auch nicht? Anders sah es allerdings bei den Kuscheltieren und -tüchern aus. Zunächst einmal weigerte sich ein Viertel der Kinder vehement, überhaupt ein Duplikat von ihnen anfertigen zu lassen. Die anderen konnte man zwar überreden, doch sie bereuten es sofort – und fast alle wollten unbedingt das Original zurück, nicht die vermeintliche Kopie. Die Angst war anscheinend groß, dass beim Kopieren des Lieblings etwas ganz Besonderes verloren gehen könnte, eine Art magische Essenz.

Viele Kinder lieben ihren Teddy, Schnuffel, Puschel so innig, als wäre sein Herz nicht bloß aus Stoff und Füllmaterial. Sie schlafen mit ihm, tragen ihn herum, umsorgen ihn, sprechen mit ihm, weinen in ihn hinein und vertrauen ihm Geheimnisse an, von denen nicht einmal Mama und Papa etwas wissen dürfen. Als Erwachsener hat man da manchmal das Gefühl, diese Zuneigung gehe fast schon ein wenig zu weit: Wenn zum Beispiel der Stoffaffe plötzlich eine eigene Stimme im Familienrat bekommt (»Bono möchte jetzt auf den Spielplatz gehen«), der wattierte Hase bestimmt, was es zu essen gibt (»Löffel und ich mögen nun mal keine Karotten«), oder der Plüschtiger einem auf der Couch den Platz streitig macht (»Weg da, hier sitzt doch Schnurr!«).

Auch die Liebe meiner Tochter zu ihren Kuscheltieren finde ich beizeiten etwas – nun ja – befremdlich. Zu ihrem zweiten Geburtstag bekam sie einen Stoffhund. Viele Kinder besitzen dieses Modell, es stammt von einem großen schwedischen Möbelhaus. Wauwau avancierte schnell zum absoluten Liebling. Und weil wir gelesen hatten, dass Eltern fürs Kind am besten einen Ersatz parat haben sollten, falls der Liebling in die Waschmaschine muss oder verloren geht, kauften wir, als wir mal wieder im Möbelhaus waren, einen weiteren Hund – und noch einen und noch einen. Wir versteckten sie für den Fall der Fälle im Schrank. Wo sie meine Tochter irgendwann fand. Nun schläft sie mit einer ganzen Hundefamilie im Bett. Jeder und jede hat einen Namen (Wauwau, Wauwina, Wuffi, Wuffa, Bello, Bella), trägt ein aus Wollfäden selbst geflochtenes Halsband und wird mit Liebe und Dankbarkeit überschüttet. Denn: »Meine Hunde beschützen mich. Wenn sie da sind, ist alles gut«, erklärt meine Tochter. »Sie sehen zwar süß aus, werden aber zu Karate-Monstern, wenn ein Räuber kommt.« Und natürlich lebten sie. Das dürften sie nur nicht zeigen. Das fand ich ja ganz niedlich. Bis meine Tochter eines Abends im Bett lag, umringt von ihren Tieren, und ganz aufgelöst war. Sie weinte. Ich fragte, was los sei. »Ich kann mich nicht entscheiden«, schluchzte sie. »Wenn heute Nacht ein Feuer ausbricht, was soll ich dann tun: zuerst euch retten oder die Hunde?« Was für eine Frage. Als ob diese mit Polyester gefüllten Teile genauso wichtig wären wie wir. Als ob sie uns ersetzen könnten.

Doch tatsächlich ist genau das ihre Aufgabe. Der erste Wissenschaftler, der sich ernsthaft mit Kuscheltieren beschäftigte, war der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott. Mitte des 20. Jahrhunderts prägte er den Begriff »Übergangsobjekte«. Bilden Mutter und Säugling nach der Geburt zunächst eine Einheit, kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem das Kind sich lösen muss. Kuscheltiere sind ein vom Kind gewählter vorübergehender Ersatz für die Bezugsperson, die dann nicht mehr immer verfügbar ist – weil sie vielleicht eine Mail verschicken muss oder nur mal allein auf die Toilette gehen möchte. Mama oder Papa können nicht immer Händchen halten, dann ist es gut, wenn der Stoffbär seine Pfote reicht. Mit seinem Kuscheltier hat das Kind eine Strategie gefunden, das Alleinsein erträglicher zu machen. Es hilft aber auch bei anderen Herausforderungen – zum Beispiel wenn man als Kind plötzlich in einem eigenen Bett schlafen soll oder in den Kindergarten kommt. Und mit jedem Erlebnis, das man gemeinsam meistert, wächst die Bedeutung des flauschigen Gefährten. Genauso wie bei realen Freunden: Mannomann, was wir schon alles durchgemacht haben!

Zum Übergangsobjekt bauen Kinder zum ersten Mal in ihrem Leben eigenständig eine Beziehung auf – und das bereits im ersten Lebensjahr. Wer oder was geliebt wird, ist dann zunächst austauschbar und beliebig. Dann wird die Sache konkreter, wobei der Favorit in den ersten zwei, drei Lebensjahren noch wechseln kann. Zwischen dem zweiten und sechsten Lebensjahr haben die meisten Kinder ihr ganz spezielles Kuscheltier. Es kann auch eine Puppe sein, ein Tuch – wie Linus von den Peanuts es hinter sich herzieht – oder ein Spielzeug. Es soll Kinder geben, die sich nachts an einen Kipplaster kuscheln oder ihren geliebten Eierlöffel bei sich tragen. Daumenlutschen oder imaginäre Freunde haben übrigens eine ähnliche Funktion.

Vielleicht überlegen Sie nun: »Hm, mein Kind hat nichts von alledem. Warum wohl?« Wahrscheinlich weil es einfach keinen besonderen Beschützer, Einschlafhelfer, Seelentröster, Unterstützer, Kummerkasten, Angstnehmer braucht. Alle Menschen haben unterschiedlich große Bedürfnisse nach Geborgenheit, nach Nähe und nach Beziehung. Und vielleicht ist Ihr Kind, obwohl so klein, recht autonom und selbstständig.

Wobei ein Kuscheltier eigentlich nie schaden kann. Es ist nämlich außerdem Entwicklungshelfer in viele Richtungen. Zum Beispiel ermöglicht es dem Kind, Erlebnisse besser zu verarbeiten. Und im Leben eines Kindes gibt es schließlich so einiges zu reflektieren und zu bewältigen. In Rollenspielen geht Hasi deshalb noch einmal stellvertretend zum Arzt, Bobo streitet sich mit einem Kindergartenfreund oder Affi durchleidet eine Haarwäsche. Stürzt das Kind vom Sofa und schlägt sich den Kopf an, muss danach wahrscheinlich Teddy von der Couch fliegen. Er weint, wird getröstet, seine Beule muss gekühlt und geküsst werden. In imaginären Kuscheltier-Dialogen können Kinder Gefühle aussprechen, Gedanken ordnen, Wünsche formulieren: »Sag mal, Schnuffel, möchtest du auch so gern wie ich eine kleine Schwester?« Oder: »War das nicht gemein, was der Junge zu mir gesagt hat?« Wer dabei mal heimlich mithört, wird einiges über sein Kind erfahren. Wird der Teddy umsorgt, gehegt und gepflegt, gefüttert, liebevoll zugedeckt und auf Ausflüge mitgenommen, fördert das Verantwortungsgefühl, Empathie und Fürsorge. Mit ihm kann man darüber hinaus hervorragend Grenzen austesten: Mal sehen, was passiert, wenn Teddy »Arschloch« sagt. Da wird Mama bestimmt ordentlich mit ihm schimpfen. Kinder lieben Bestätigung.

Meist sind Kuscheltiere etwa bis zum sechsten Lebensjahr von Bedeutung, dann verlieren sie ihre Magie. Das Übergangsobjekt wird nur noch in Notfällen hervorgeholt. Aber selbst wenn ein Kind seinen Gefährten länger abgöttisch liebt, ist das auch in Ordnung. Solange es mit anderen Spielsachen und Freunden spielt – und bei einem Feuer bitte zuerst die Familie rettet.

Warum werfen Kinder Bauklotztürme um, immer und immer wieder?

Man tut, was man kann. Im Alter von ein bis zwei Jahren ist das noch nicht viel. Gemessen in gestapelten Bauklötzen, schafft es ein 15 bis 18 Monate altes Kind aus zwei, drei Klötzen einen Turm zu bauen. Mit 20 Monaten kann es vier Klötze aufeinandersetzen, mit 24 Monaten acht. Entwicklungsexperten haben da ziemlich genaue Vorstellungen.

Bevor Babys zu Hochstaplern werden, dauert es also. Und da Umschmeißen leichter ist als Aufbauen, spielen sie so lange Abrissbirne. Fragt man eine Einjährige, »Wollen wir etwas Schönes bauen?«, schreit sie zwar »Jaaa!« – aber eigentlich will sie gar nichts Schönes bauen, sondern etwas, das man schön umwerfen kann.

Als Eltern stapelt man trotzdem los. Der Turm steht, Baby-Godzilla kommt und schlägt zu. Die Klötze purzeln, es kracht. »Umdefalle!« Das Kind ist begeistert von seiner eigenen Kraft und fasziniert, dass der Turm jedes Mal ein wenig anders einstürzt. Wahnsinn, wie laut das wieder war und wo die Bauklötze überall hingeflogen sind!

Für uns Erwachsene mag dieses kleine Spektakel auf unserem Fußboden nicht ganz so aufregend sein. Aber vielleicht können diejenigen die Begeisterung ihres Kindes nachempfinden, die zum Beispiel schon einmal eine Gebäudesprengung gesehen haben, bei der die Masse gejubelt hat wie bei einem Feuerwerk. Oder die, die – wie ich früher – stundenlang den ›Domino Day‹ im Fernsehen verfolgen mussten, weil sie nicht abschalten konnten, bis der letzte Stein gefallen war.

Das Kind denkt nach dem Turmfall also: Das war toll – noch mal! Mama oder Papa krabbeln bereits auf allen vieren durchs Zimmer, um die Klötze aufzusammeln und von vorn mit dem Bau zu beginnen. An die ständige Repetition im Dienste der Nachwuchsförderung hat man sich als Eltern ja irgendwann gewöhnt: immer wieder Dinge aufheben, immer wieder das entlaufene Kind zurückholen, immer wieder dasselbe sagen.

Beim Bauklötzestapeln hat das permanente Wiederholen folgenden positiven Nebeneffekt: Wer für sein Kind einen Turm aufbaut, baut auch eine Beziehung auf. Du stapelst, ich werfe um, du stapelst, ich werfe um – ist eine der ersten Formen des Zusammenspiels.

Das klingt nach einer Menge sinnvollem Spaß. Und das kann es auch sein, ist es aber nicht immer. Denn es gibt überraschend häufig noch einen anderen Grund für die Turmstürze. Wenn am Kinderspital in Zürich die Entwicklung der feinmotorischen Fähigkeiten mithilfe von Klötzen untersucht wird, bauen Mama oder Papa ihrem Nachwuchs die Türme oft vor – Schau mal, so geht das! – und wollen, dass er es ihnen gleichtut. Auch wenn er es eigentlich noch gar nicht kann. Das Resultat: Die Kinder sind überfordert und schmeißen den Turm nicht aus Lust, sondern aus Frust um. Ähnlich rebellisch erlebt man sie auch zu Hause, wenn ältere Geschwister bereits besser bauen können als sie. Zack, umgehauen! Ein Schlag gegen die Rivalen.

Eltern sollten ihre Kinder nicht drängeln. Nur weil ein Kind 15 Monate alt ist, muss es nicht zwei Bauklötze stapeln können. Bei manchen dauert es einfach länger, bis ein Turm zustande kommt. Wenn Eltern sich an etwas orientieren wollen, dann nicht an den Zeitangaben zu den einzelnen Entwicklungsschritten, sondern besser an ihrer Reihenfolge. Die ist nämlich immer gleich, weil sich bei allen Kindern das Gehirn auf eine ähnliche Weise entwickelt, und geht so: Um den ersten Geburtstag herum beginnen kindliche Bauarbeiten mit einer großen Vorliebe für das Ein- und Ausräumen von Behältern. Was steckt denn da drin? Wie kann man es rausholen? Wie wieder reinstecken? Bücherregale und Sockenschubladen werden geleert, Töpfe und Schalen ineinandergestellt, der Teddy in eine Dose gequetscht oder vielleicht mal ein paar Hausschuhe in der Toilettenschüssel versenkt. Erst danach geht das Stapeln los: zunächst vertikal (Türme), dann horizontal (Züge und Straßen), später vertikal und horizontal (Treppen). Man kann sich also merken, was der Kinderarzt Remo Largo dazu aufschrieb: »Kein Kind baut Türme, wenn es sich nicht vorher mit Behältern und deren Inhalt beschäftigt hat, oder fügt Würfel zu einem Zug zusammen, ohne vorher Türme gebaut zu haben.«

Sind Kinder schließlich imstande, ihre eigenen Türme zu errichten, geben sie sich nicht mit mittelhohen Exemplaren zufrieden. Sie wollen immer das Maximum. Mit einer unglaublichen Beharrlichkeit probieren sie aus, was geht. Sie wollen den Burj Khalifa unter den Bauklotzstapeln. Mindestens. Alles andere wäre doch Babykram.

Warum haben Babys ganz plötzlich Angst vor Fremden?

Gerade Eltern von winzigen Babys meinen, den Menschen in ihrer Umgebung beweisen zu müssen, dass sie alles im Griff haben: sich, das neue Leben zwischen Windeleimern und Spucktüchern – und auch ihr Kind, das natürlich so unkompliziert und strahlefreundlich ist wie Florian Silbereisen bei den ›Festen der Volksmusik‹. Zum Glück all dieser Eltern sind die meisten Babys in den ersten Lebensmonaten mit ihrem Lächeln sehr freizügig. Bei jedem Duziduzidu der Nachbarin strahlen und glucksen sie, für einmal Guck-Guck vom Paketboten quieken sie vor Freude. Es sind Wonneproppen, von denen jeder bekommt, was er sich wünscht. Die Kleinen betreiben noch keinen Personenkult.

Doch von einem Tag auf den anderen ist plötzlich Schluss mit lustig. Sobald sich jemand, der nicht Mama, Papa, Bruder oder Schwester ist, dem Baby nähert, klebt es wie ein feucht gewordener Bonbon an einem Elternteil. Dabei starrt es das fremde Gegenüber angstvoll an, dicke Wolken ziehen im Gesicht des einstigen Sonnenscheins auf, ein Schauer von Tränen bricht los. Das Baby fremdelt.

Eine schwierige Phase fürs Kind – und für die Eltern. Jeder Besuch von oder bei Freunden wird zum Spießrutenlauf. Schließlich mag niemand Babysirenen, die jedes Mal losgehen, sobald man ihnen zu nahe kommt. In Cafés sitzen Mütter, wenn sie mal austreten müssen, jetzt ungelenk mit dem Kind auf dem Schoß auf der Toilette. Es einfach einer Freundin in den Arm zu drücken: »Hier, halt mal!«, während man kurz Pipi macht, das war vielleicht gestern noch möglich, heute: undenkbar. Das ist blöd, aber nur halb so schlimm im Vergleich zu dem Moment, in dem das Kind zum ersten Mal eine Panikattacke bekommt, weil die eigene Oma es anlächelt. Dann hat man ein echtes Problem – und Erklärungsnot: »Oh nein, du bist nicht der Grund. Es liegt bestimmt an deiner Brille, an deinem Parfüm«, versucht man die gekränkte Großmutter zu beschwichtigen.

Tatsächlich fremdelt das Baby einfach. Und das macht jedes Kind irgendwann. Wirklich jedes. Die Abneigung Fremden gegenüber (oder Verwandten, die es nur selten sieht) ist ein ganz normaler Entwicklungsschritt, der fast immer in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres stattfindet, meistens, wenn das Kind acht oder neun Monate alt ist. In dieser Zeit entwickelt sich im Gehirn der Hippocampus, und das früheste Gedächtnis entsteht. Babys gelingt es nun erstmals, ihnen bekannte und unbekannte Menschen voneinander zu unterscheiden. Ihnen wird bewusst: »Hm, diese Person habe ich noch nicht so oft gesehen.« Etwas ist anders, als das Baby es gewohnt ist. Das sorgt für Unbehagen und den Wunsch nach Flucht. Weg von dem Fremden – hin zu Mama oder Papa.

An denen hängt das Baby eh gerade besonders, nicht nur, weil es Angst vor »den anderen« hat. Durch sein neu erworbenes Gedächtnis erlebt es zugleich zum ersten Mal Trennungsangst. Tatsächlich können Kinder vorher Personen oder Dinge nicht bewusst vermissen. Wer oder was aus dem Blickfeld verschwindet, ist für sie bis zum Alter von etwa acht Monaten kurzerhand nicht mehr existent. Setzt man ihnen in Versuchen zum Beispiel einen Teddy vor die Nase und hält dann ein Stück Pappe davor, fangen sie nicht an, danach zu suchen. Das Gleiche gilt für Mama und Papa, wenn sie den Raum verlassen. Quasi: aus den Augen, aus dem Sinn. Und solange sich jemand anderes um Essen, Wickeln, Rumtragen, Streicheln kümmert, gibt es wenig Grund zur Klage. Das Urvertrauen des Kindes – jemand ist da und kümmert sich – nimmt keinen Schaden.

Aufgrund von größerer geistiger Reife beginnen die Kleinen allerdings irgendwann, zwischen Personen zu unterscheiden. Sie weinen, wenn Mama oder Papa sie verlassen. Der sogenannte Trennungsprotest. Und sie weinen wieder, wenn Mama oder Papa zurückkommen – aus Erleichterung und weil ihnen einfällt, wie traurig sie darüber waren, dass man sie verlassen hat. Es beginnt also diese nervige Zeit, in der man mit Tränen in den Augen und schlechtem Gewissen aus der Kita stolpert, weil man sein schreiendes Kind beim Erzieher zurücklässt. Vielleicht hilft es dann, zu wissen: Das Weinen ist ein gutes Zeichen. Denn nur Kinder, die sich der Liebe ihrer Bezugsperson gewiss sind (man nennt es »sicher gebunden«), zeigen ihre Gefühle deutlich. Am besten nehmen Sie das Geschrei Ihres Kindes als eine Art Auszeichnung für ihre gelungene Beziehungsarbeit.

Wie heftig das Fremdeln und Vermissen ausfällt, hängt zum einen vom Temperament des Kindes ab. Manche verziehen nur leicht die Mundwinkel, andere bekommen ständig hysterische Anfälle. Zum anderen scheint der Umstand, wie gesellig ein Baby seine ersten Lebensmonate verbracht hat, eine Rolle zu spielen. Werden Babys von Anfang an von verschiedenen Personen betreut, haben sie tatsächlich kaum Angst vor Fremden. Und auch Kinder, die in einer Großfamilie aufwachsen, fremdeln anscheinend weniger stark. Aber sie fremdeln.

Und das ist wichtig. Denn die Angst vor Fremden ist auch ein Schutzmechanismus. Jemand, der gerade erst gelernt hat, die Welt rollend, robbend oder auf eigenen Knien zu erkunden, und von Neugier getrieben ist, braucht eine eingebaute Bremse, die ihn davon abhält, übermütig zu werden. Sonst gerät er womöglich noch auf den falschen Schoß und in die falschen Hände. Fremd kann ja nun mal gefährlich sein.

Babys schätzen dabei das Gefahrenpotenzial ihrer Mitmenschen unterschiedlich ein: Männer machen ihnen mehr Angst als Frauen, Bärtige mehr als Rasierte und Erwachsene mehr als Kinder oder Kleinwüchsige. Für die Wahl des neuen Babysitters bedeutet das also: »Suche kleine Frau ohne Damenbart.« Diskriminierend, irgendwie. Aber aus evolutionspsychologischer Sicht gibt es durchaus Erklärungen für die gezielte Abneigung gegen große Männer. Eine ist die evolutionär begründete Angst vor Infantizid. Kindstötungen kommen bei fast allen Primaten vor. Übernimmt ein Männchen eine fremde Gruppe, bringt es häufig erst einmal die Kinder der Konkurrenten um. Warum sollte man fremde Gene verbreiten? Außerdem bekommen Weibchen, nachdem das zu stillende Kind weg ist, schneller wieder einen Eisprung und können von dem neuen Männchen begattet werden.

Fremdeln kann man dem Baby übrigens nicht abgewöhnen. Selbst wenn manche Eltern meinen, ihre Babys mit einer Art Konfrontationstherapie heilen zu müssen: »Der Onkel ist ein ganz Netter, der tut dir nichts.« Man muss abwarten und in dieser Zeit den Sicherheitsabstand des Kindes respektieren. Am besten nimmt der Angefremdelte ein besonders interessantes Spielzeug in die Hand und macht erst einmal gar nichts. In der Regel siegen Neugier und Abenteuerlust. Das Baby kommt irgendwann von selbst an. Und keine Sorge: Nach ein paar Wochen oder Monaten ist der Spuk eh wieder vorbei. Das Fremdeln lässt langsam nach. Spätestens bis zum dritten Lebensjahr verschwindet es ganz. Bis dahin sollte man sein schreiendes, heulendes, kritisch dreinschauendes Kind nicht mit Scham, sondern mit Stolz herumtragen. Es macht schließlich alles genau richtig.

Warum wollen Kinder ständig gekitzelt werden?

Als ich noch keine Kinder hatte, erzählte mir ein Vater, sein Sohn wolle andauernd gekitzelt werden. Andauernd! Und lange. Am liebsten endlos. Der Kleine bettelte: »Papa, bitte hör nicht auf. Auch wenn ich ›Stopp!‹ schreie. Hör nicht auf!« Damals kamen mir dieser Vater und sein Sohn sehr seltsam vor.

Heute haben meine Töchter das Codewort »Dornenkranz«. Ich weiß nicht, wo sie das Wort aufgeschnappt haben, sie wachsen in einem unreligiösen Umfeld auf. Aber sagen sie »Dornenkranz«, dann muss ihr Vater aufhören, sie mit dem Kitzelfinger zu bearbeiten. Ich bin kein Fan des Kitzelns. Ich bin also raus bei dem Spiel. Trotzdem bittet meine kleine Tochter, die Fünfjährige, mich manchmal: »Kannst du mich kitzeln?« »Aber warum nur?«, habe ich sie einmal gefragt. »Das fühlt sich so gut an, und Lachen macht Spaß. Wenn ich lachen muss, lachen alle mit«, meinte sie.

Tatsächlich sieht es sehr komisch und süß aus, wenn sie gekitzelt wird. Und es klingt auch lustig. Ein bisschen Kille-kille, und sie lacht wie ein Monster aus der ›Muppet Show‹. Aus ihrem offenen Mund kommen tiefe Hahahas. Sie zuckt, rollt auf dem Boden herum, schlägt und tritt wild um sich, bis sie erschöpft um Gnade winselt: »Dornenkranz!«

Beim Kitzeln werden durch bestimmte Berührungsreize Reflexe ausgelöst, die krampfartige Zuckungen hervorrufen. Selbst wer es mag, tut alles, um der Attacke zu entkommen, lacht aber paradoxerweise bei der spielerischen Quälerei. Von »Quälen« darf man hier sprechen, denn im Mittelalter soll Kitzeln als Foltermethode und grausame Strafe beliebt gewesen sein. Wie nah Lachen und Leiden beieinanderliegen, wenn jemand mit krabbeligen Fingern bearbeitet wird, hat die amerikanische Psychologin Christine Harris untersucht: Sie fotografierte Gesichtsausdrücke mehrerer Personen in verschiedenen Situationen: Einmal erzählte ihnen ein Comedian Witze, das andere Mal wurden sie gekitzelt, und zum Schluss steckten ihre Hände in so kaltem Eiswasser, dass es wehtat. Glücklich wirkten die Personen nur auf den Fotos beim Witze-Hören. Die anderen beiden Gesichtsausdrücke zeigten auffallende Ähnlichkeit. Jemand, der Schmerzen hat, sieht demnach aus wie jemand, der gekitzelt wird.

Meine Tochter nimmt den quälenden Teil gern in Kauf. »Das macht doch nichts«, sagt sie. Das Hin und Her zwischen »Hör auf!« und »Bitte mach weiter!« scheint für sie sogar den Reiz an der Sache auszumachen. Kitzeln ist nicht einfach nur schön, sondern auch aufregend, spontan, spielerisch, übermütig, ausgelassen. Und wahnsinnig intensiv.

Als Kind gefiel mir das ebenfalls. Mein Vater, mein Bruder und ich haben uns auf dem Sofa richtige Kitzelkämpfe geliefert. Heute sind mir der Kontrollverlust und die Hemmungslosigkeit dabei unangenehm. So traurig es klingt: Ich bin zu erwachsen dafür.

Dabei ist es immer etwas Besonderes, gekitzelt zu werden, weil wir es nicht allein tun können. Versuchen wir es, erkennt das Kleinhirn sofort, dass wir es selbst sind, und gibt Entwarnung: Nur ruhig, das bist doch nur du. Und nicht etwa eine haarige Spinne oder ein stechendes Insekt, die abgeschüttelt werden müssen.

Christine Harris, die Psychologin, die gekitzelte Menschen fotografierte, vermutet in den Abwehrreaktionen und den unangenehmen Gefühlen eine evolutionär wichtige Funktion. Früher, so meint sie, könnte unsere Kitzligkeit ein Schutzreflex gewesen sein. Besonders kitzelig sind wir nämlich zum Beispiel an den Rippen und der Taille, worunter wichtige Organe liegen. Die ebenfalls kitzeligen Fußsohlen brauchen wir zum Weglaufen. Wahrscheinlich mussten wir also lernen, diese Körperstellen besonders schnell und gut gegen menschliche und tierische Angreifer zu verteidigen.

Und das unweigerliche Lachen? Es führte vielleicht dazu, dass die kitzelnden Trainingspartner in der Gruppe motiviert waren, weiterzumachen. Der Gekitzelte lacht ja so schön. Das würde auch erklären, warum Kinder grundsätzlich kitzeliger sind als Erwachsene. Sie müssen ihren Schutzreflex ja noch trainieren, sprich: viel gekitzelt werden.

Was bei einer Kitzelattacke im Gehirn passiert, haben Wissenschaftler der Humboldt-Universität zu Berlin in Versuchen mit Ratten erforscht. Ratten, das muss man dazu wissen, sind furchtbar kitzlig. Sie lieben es vor allem, am Bauch gekitzelt zu werden, vollführen danach Freudensprünge und rennen immer wieder zu der Hand, die sie gekillert hat. Das Lachen der Tiere ist ein extrem hohes Fiepen, das Menschen nicht hören, aber mit einem Ultraschallgerät messen können. Bei ihren Untersuchungen haben die Forscher herausgefunden, dass Kitzeln im Gehirn die gleichen Reize auslöst, die beim Spielen mit Freunden entstehen. Vielleicht dient unsere Kitzligkeit also dazu, Individuen zum gemeinsamen Spielen zu bringen.

Kitzeln hat somit vermutlich eine Bedeutung für das soziale Miteinander. Wenn wir mit den Fingern über den Körper eines anderen krabbeln, bringt uns das unweigerlich nahe. Niemals würden wir es bei jemandem machen, den wir nicht mögen. Für Kinder geht es beim Gekitzeltwerden vor allem um Aufmerksamkeit und Zuneigung. Egal, ob die sanfte Variante, Knismesis genannt, oder Gargalesis, die Kitzelattacke – es ist eine besonders intensive Art von Körperkontakt, »Hardcore-Kuscheln« oder »Streicheln extrem« sozusagen. Der Fokus liegt dabei ganz auf den Kleinen, und sie können ihre Eltern damit sogar noch zum Lachen bringen. Besser geht’s kaum.